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Mit der Dunkelheit hatte ein feiner Nieselregen eingesetzt, der über New York niederging und auch die Randbezirke erreichte. Die stillgelegte Fabrik lag fernab der Lichter und des Trubels der Metropole, die niemals schlief.
Das alte Gebäude mit den zwei hohen, gemauerten Schornsteinen erhob sich hinter einem Drahtzaun, an dem in unregelmäßigen Abständen verwitterte Warnschilder angebracht waren.
Das Licht zweier Scheinwerfer bohrte sich in die Finsternis. Ein dunkler Van näherte sich dem Gelände. Er blieb vor einem Tor stehen. Das Geräusch des Motors erstarb.
Hinter den getönten Scheiben glühten zwei orangerote Augen auf. Das Grauen war in diese Stadt gekommen ...
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Seitenzahl: 156
Cover
Impressum
Insel der Angst
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Sandobal
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9667-6
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
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Insel der Angst
von Marc Freund
Mit der Dunkelheit hatte ein feiner Nieselregen eingesetzt, der über New York niederging und auch die Randbezirke erreichte. Die stillgelegte Fabrik lag fernab der Lichter und des Trubels der Metropole, die niemals schlief.
Das alte Gebäude mit den zwei hohen, gemauerten Schornsteinen erhob sich hinter einem Drahtzaun, an dem in unregelmäßigen Abständen verwitterte Warnschilder angebracht waren.
Das Licht zweier Scheinwerfer bohrte sich in die Finsternis. Ein dunkler Van näherte sich dem Gelände. Er blieb vor einem Tor stehen. Das Geräusch des Motors erstarb.
Hinter den getönten Scheiben glühten zwei orangerote Augen auf. Das Grauen war in diese Stadt gekommen …
Und das Grauen wurde bemerkt.
Die drei Männer, die sich um diese Zeit auf dem Gelände herumtrieben, blickten nacheinander aus dem Fenster der kleinen Baracke, die vor vielen Jahren einmal als Pförtnerhaus gedient hatte.
»Wer, zum Teufel, ist das?«, fragte Bernardo Caudill, in dessen Adern noch das Blut seiner spanischen Vorfahren pulsierte. »Ihr habt doch keinem was davon gesagt, wo wir sind, oder?«
»Bist du bescheuert?«
Darryl Logan, ein untersetzter Typ mit blasser Haut und Pockennarben warf seinem Komplizen einen funkelnden Blick zu.
»Bleibt ganz ruhig«, meldete sich Casey Townes, der Dritte im Bunde, zu Wort.
Er hielt sich im Hintergrund auf und hatte sich bereits wieder dem wackligen Tisch zugewandt, auf dem sie kurz zuvor eine Plastiktüte entleert hatten. Auf der feuchten, von Schimmel überzogenen Holzplatte waren ein paar zerknitterte Dollarnoten und einige Münzen verteilt. Die klägliche Beute, die ihnen der Überfall auf den Drugstore eingebracht hatte.
Townes wandte seinen Blick von dieser Enttäuschung ab und sah zu seinen Komplizen hinüber.
»Was passiert draußen? Beobachten die nur das Gelände, oder ist jemand ausgestiegen?«
»Bis jetzt noch nicht«, antwortete Caudill.
Er rieb sich mit dem Daumennagel über die Stoppeln seines dünnen Oberlippenbärtchens. Seinen Blick hielt er stur auf den Wagen vor dem Zaun gerichtet, der durch das Licht einer entfernt stehenden Laterne nur spärlich beleuchtet wurde. Der Nieselregen hatte sich wie ein dünner Film über den Van gelegt und begann damit, Perlen auf dem dunklen Lack zu bilden.
»Jetzt tut sich etwas«, bemerkte der Dunkelhaarige und gab seinem Kumpel Logan ein Zeichen.
Der Pockennarbige drängte sich an das kleine Fenster und kam gerade noch rechtzeitig, um mitzuerleben, wie sie kurz nacheinander beide Türen des Fahrzeugs öffneten.
Zwei Gestalten stiegen aus. Zwei Männer, wenn sie dem trüben Licht Glauben schenken konnten. Der eine von ihnen lehnte sich gegen den Wagen und zog an einer Zigarette.
»Verdammt, hast du das gesehen?«, presste Caudill hervor und stieß seinem Nebenmann einen Ellenbogen in die Rippen.
»Ja, Mann«, antwortete Logan leise. »Er hat an der Zigarette gezogen, aber statt dem Glimmstängel haben seine Augen aufgeleuchtet.«
»So als würden sie glühen«, schob Caudill hinterher.
Hinter ihnen blickte Casey Townes auf. Er löste sich von der Beute und trat ein paar Schritte näher.
»Wollt ihr mich verarschen oder was?«
Caudill wandte kurz den Blick in Richtung ihres Komplizen, dann schüttelte er den Kopf.
»Die beiden Typen gehen auf das Tor zu«, erklärte Logan inzwischen. Seine Körperhaltung verriet Anspannung bis in den letzten Muskel hinein.
Casey Townes nickte entschlossen und trat auf die Tür der Baracke zu, die ein wenig schief in den Angeln hing. Sachte öffnete er sie und blickte durch den Spalt nach draußen.
Er sah den vor Nässe glänzenden Van. Dahinter der Zaun und die beiden Männer. Einer von ihnen trug lange Lederstiefel. Mit einem davon trat er gegen das Tor, das daraufhin explosionsartig aus den Angeln flog.
»Heilige Scheiße«, flüsterte Logan.
Die Männer verschwanden auf dem Gelände, das zur alten Fabrik führte.
Townes öffnete die Tür weiter, bis sie leise knarrend gegen die Innenwand prallte. Er stand in der Öffnung, auf der Schwelle, während ihm der feine Nieselregen ins Gesicht wehte.
»He, Darryl. Raff die Kohle zusammen, und dann lass uns von hier verschwinden, klar?«
»Okay«, kam es zurück. Der Pockennarbige machte sich an die Arbeit.
Townes trat einen Schritt vor die Baracke und blickte sich um. Die beiden Kerle waren nicht mehr zu sehen, aber das bedeutete nichts. Das Gelände rund um die stillgelegte Fabrik war unübersichtlich und bot tausend Versteckmöglichkeiten.
Was immer die Fremden hier draußen taten, Townes würde jede Wette eingehen, dass es sich dabei um nichts Legales handelte.
Während sie selbst nur drei kleine Fische waren, die in dem riesigen Ozean New York jeden Tag aufs Neue dem Kampf ums nackte Überleben aufnahmen.
Als Townes hinter sich die Münzen und das Papiergeld in die Plastiktüte wandern hörte, ließ er seinen Blick erneut über den Van gleiten. Er traute sich durchaus zu, das Ding kurzzuschließen, auch wenn das bei den neueren Modellen gar nicht mehr so einfach war. Er hatte so etwas schon ein paar Mal im Laufe seines Lebens gemacht. Zweimal war er dafür in den Knast gewandert. Aber alles im Leben hatte schließlich seinen Preis, oder nicht? Und immer galt es vorher, ein gewisses Risiko abzuwägen. Und genau das tat Casey Townes in diesem Augenblick wieder.
Seine beiden Komplizen drängten sich hinter ihm ins Freie.
»Und was jetzt?«, wollte Logan wissen.
»Wir sehen uns das Baby da mal an«, entschied Townes und setzte sich in Bewegung, ohne eine Reaktion der beiden anderen abzuwarten.
Sofort hatte Caudill ihn eingeholt. »Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«
»Warum nicht?«, gab Townes zurück. »Ist doch nichts dabei, oder?«
Der Mann mit dem Oberlippenbärtchen hatte es plötzlich eilig. Er beschleunigte seine Schritte und tänzelte beinahe um Townes herum.
»Ich weiß nicht recht. Mir gefallen die beiden Kerle nicht. Hast du gesehen, was der Stiefeltyp mit dem Tor gemacht hat?«
»Denkst du, ich könnte das nicht?«, schnappte Townes zurück. Sein Tonfall war aggressiv, sodass der schmächtigere Caudill unwillkürlich zurückzuckte.
»Townes hat recht«, sagte Logan, während sie sich dem geparkten Wagen weiter näherten. »Der Tag war beschissen genug, und wer konnte auch ahnen, dass die Kasse von dem verdammten Drugstore leerer war als der letzte Zug nach Poughkeepsie?«
Townes nickte seinem Mitstreiter anerkennend zu.
»Seht ihr? Und deswegen werden wir nur mal einen kurzen Blick hineinwerfen. Und dann nehmen wir das Schmuckstück mit. Ich kenne einen Typen in Queens, der uns ganz sicher fünf Riesen für die Schleuder gibt.«
Den Rest des Wegs, etwa zehn bis zwölf Meter, legten sie schweigend zurück.
Währenddessen durchdrangen Townes’ Blicke immer wieder das Geflecht des Maschendrahtzauns und wanderten über das brach liegende Gelände. Die Asphaltdecke war an unzähligen Stellen aufgebrochen. Unkraut wucherte heraus. Die Natur holte sich zurück, was einst ihr gehört hatte.
Von den Männern nach wie vor keine Spur.
Townes lächelte zufrieden. Er umrundete den Van und korrigierte die Summe, die die Karre bringen würde, gedanklich um ein paar weitere Riesen nach oben.
Die beiden Typen hatten ihnen ein Geschenk direkt vor die Füße gestellt. Sie brauchten nur noch einzusteigen und loszufahren.
Townes streckte seine Hand nach dem Griff der Fahrertür aus. Er gab nach, und die Tür öffnete sich mit einem dezenten Geräusch.
Das Grinsen im Gesicht des Mannes wurde breiter, als er oberflächlich das Armaturenbrett und das Steuer überprüfte.
»Der Schlüssel steckt«, stellte er fest. »Na, wenn das keine Einladung ist, dann weiß ich es auch nicht.«
»Ich finde, wir sollten uns beeilen«, sagte Caudill. Er blickte sich immer wieder in Richtung der verlassenen Fabrik um. Außerdem wusste er nicht, wohin mit seinen Händen. Jede Bewegung Caudills verriet Nervosität. Er atmete sie regelrecht aus.
»Ich will erst wissen, womit wir es hier zu tun haben«, sagte Townes und wandte sich von der Fahrertür ab. Er trat zum Heck des Wagens hinüber. »Könnte ja sein, dass die Burschen ne Leiche hinten drin haben. Damit würde ich nicht unbedingt durch die halbe Stadt kutschieren wollen.«
Townes streckte die Hand nach dem Griff der Hecktür aus.
Caudill kam ihm dazwischen und lehnte sich mit dem Handballen gegen das Metall.
»Warte noch.«
»Was ist?«, fuhr ihn Townes an.
Caudill zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß nicht so recht. Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Lass uns lieber von hier verschwinden. Zu Fuß.«
Townes blinzelte für den Bruchteil einer Sekunde. Er tauschte einen Blick mit Darryl Logan, dann hatte er seine alte Sicherheit wieder zurückgewonnen.
Er schlug Caudills Hand beiseite. »So ein Blödsinn! Das hier ist eine einmalige Chance. Die lass ich mir doch nicht entgehen.«
Townes öffnete die rechte Türhälfte mit einem kräftigen Ruck und starrte in das Dunkel hinein.
Obwohl … vollkommen finster war es im Innern nicht. Da war so etwas wie eine Bewegung gewesen. Außerdem kam es ihm so vor, als würde ihn etwas aus den Schatten heraus beobachten.
Townes kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Er streckte seinen Kopf ein Stück vor.
In derselben Sekunde schoss etwas aus dem Dunkel auf ihn zu, packte ihn am Nacken und zog ihn mit einem fürchterlichen Ruck ins Wageninnere.
☆
Darryl Logan wurde wie aus dem Nichts von einem gewaltigen Schlag getroffen. Er taumelte zurück und spürte durch die Welle aus Schmerz hindurch, dass mit seiner Nase etwas nicht in Ordnung war.
Es dauerte mehrere Sekunden, bis er begriff, dass es sich um die Wagentür gehandelt hatte, die Townes offenbar noch mit einer Hand festgehalten hatte und die ihm mit voller Wucht ins Gesicht geknallt war. Er betastete aus einem ersten Reflex heraus vorsichtig sein Gesicht und zog seine blutverschmierte Hand sofort wieder zurück, als er seinen Schmerz noch weiter anstachelte.
Dann setzten die Schreie aus dem Wageninnern ein.
Ein dumpfes Poltern war zu hören, dann weitere Schreie. So hoch und schrill, dass die beiden Männer außerhalb des Vans kaum glauben konnten, dass es sich um die Stimme ihres Komplizen Townes handelte.
»Scheiße, was ist das?«, rief Caudill, dessen Blick auf das Heck des Wagens geheftet war. Seine Augen waren weit aufgerissen. »Was, um alles in der Welt, passiert da drinnen?«
Der Van wurde von weiteren Schlägen und Stößen erfasst, die das schwere Gefährt auf und ab federn ließen.
Und währenddessen schrie Townes weiter, steigerte sich noch, bis sich seine Stimme überschlug und im nächsten Moment ganz versagte. Aber selbst das heisere Röcheln, das darauf einsetzte, war durch die Blechwand des Vans zu hören.
Caudill trat unschlüssig einen Schritt auf den Wagen zu und hob die Hand in Richtung des hinteren Türgriffs.
»Bist du verrückt geworden?«, presste Logan hervor, während das Blut in Sturzbächen aus seiner gebrochenen Nase sprudelte. »Hau ab, Mann! Nichts wie weg hier!«
Caudill war unfähig, sich zu rühren. Wie in Zeitlupe sah er Darryl Logan an sich vorbei stolpern. Dann erst, schreckliche Sekunden später, setzte langsam sein Verstand wieder ein. Er begriff, dass sie Townes nicht mehr helfen konnten. Niemand konnte das. Was auch immer in dem Wagen war, es hatte ihren Komplizen und Anführer auf vermutlich grauenvolle Weise getötet.
Bernardo Caudill starrte Logan hinterher, wollte ihm noch etwas zurufen. Dass er auf ihn warten solle, etwas in der Art. Doch der Mann mit dem Bärtchen kam nicht mehr dazu.
Die Hintertür des Vans flog auf. Caudill, der sich bereits bis zum vorderen Kotflügel bewegt hatte, hörte das Geräusch und wusste, was es zu bedeuten hatte. Er wandte seinen Blick in Richtung des Wagens, hörte zunächst ein Scharren und beobachtete mit geweiteten Augen, wie der Van schwankte, mit seinen Stoßdämpfern ächzte und wie schließlich die Federung des Wagens erleichtert aufzuatmen schien, als etwas Schweres von der Ladefläche nach draußen sprang. Ein riesiger Satz.
Caudill hörte das Scharren von gewaltigen Tatzen oder Pranken auf dem rissigen Asphalt.
Es war der Moment zu fliehen. Caudill wusste das. Doch seine Beine fühlten sich an, als wären sie tief mit dem Untergrund verwurzelt.
Aus dem Van war kein Geräusch mehr zu hören. Und Logan war bereits nicht mehr zu sehen.
Als das Wesen hinter dem Heck des Wagens hervorkam, drehte Caudill sich endlich um und rannte. Irgendwo hinter sich hörte er ein dunkles, gutturales Geräusch, das wie das Knurren eines großen Raubtiers klang.
Ein schwerer Körper setzte sich in Bewegung und jagte hinter ihm her.
Der Fliehende hörte, wie scharfe Krallen über den Asphalt kratzten.
Caudill begann, verzweifelte Laute auszustoßen, während er um sein Leben rannte. Dabei wusste er, dass er nicht den Hauch einer Chance hatte. Das, was Townes getötet hatte, würde auch ihn holen. Und zwar im nächsten Augenblick.
Caudill spürte die Bewegung in seinem Rücken mehr, als dass er etwas sah. Es war zunächst kaum mehr als ein Lufthauch.
Aus einem Urinstinkt heraus ließ er sich fallen, während ein großer, massiger Körper in einem gewaltigen Satz über ihn hinwegfegte. Caudill wurde an der Schulter getroffen. Der Schlag presste ihn auf den Boden und ließ ihn mit der Stirn auf den Asphalt schlagen.
Als er seinen Kopf wieder anhob, sah Caudill einen hellen Körper, der um einiges größer war als der eines Menschen, in der Dunkelheit verschwinden.
Nur wenige Sekunden später war ein gellender Schrei zu hören.
Darryl!, schoss es Caudill durch den Kopf. Das Wesen aus dem Van war seiner Blutspur gefolgt und hatte ihn als Nächsten geholt.
Wie in Trance rappelte sich Caudill auf und begann zu laufen, dieses Mal in die entgegengesetzte Richtung.
Er hörte nicht mehr damit auf, bis er sich auf einer vielbefahrenen Straße mitten in New York City befand.
☆
Im Innern der alten Fabrik war es kalt und dunkel. Die beiden späten Besucher hatten dennoch keine Mühe, sich hier drinnen zurechtzufinden. Das hatte einen einfachen Grund: Sie waren nicht so wie andere. Sie waren keine Menschen, auch wenn sie menschliche Namen angenommen hatten.
Delray Doom und Ty Frazier.
Der Erste war ein Schlangendämon, der sich selbst der Dämonenfänger nannte. Über seinen kahlen Schädel hatte er ein dunkles Tuch gebunden, das am Hinterkopf verknotet war. Seine gelben Reptilienaugen durchdrangen die Dunkelheit.
»Folge mir einfach«, wies er seinen Begleiter an. Zusammen setzten sie sich in Bewegung und drangen immer tiefer in das Innere des verlassenen Gebäudes.
Ty Frazier ging neben Doom her. Er hatte eine menschliche Gestalt, schlank und hochgewachsen. Er trug einen teuren, maßgeschneiderten Anzug und hatte sich ein rotes Seidentuch um den Hals gebunden. An seiner linken Hand befand sich ein goldener Ring.
Frazier rauchte eine filterlose Zigarette, die in einer langen, schwarzen Spitze steckte. Seine Lippen zuckten leicht, in Erwartung dessen, weswegen sie hierhergekommen waren.
»Wo ist er?«, fragte Frazier, während sie eine leere Halle durchschritten. Über ihnen gähnten größtenteils leere Fensterhöhlen. Der Boden der Fertigungshalle war mit Glassplittern übersät.
»Nur ruhig Blut, mein Freund«, entgegnete Delray Doom. Die Absätze seiner grünen, lederartigen Stiefel erzeugten helle Laute, die von den hohen Wänden zurückgeworfen wurden. »Wir werden unserem Auftraggeber gleich gegenübertreten.«
Frazier zog an seiner Zigarettenspitze. In seinen Augenhöhlen glomm dabei ein unheilvolles Feuer auf. Es loderte in der Mitte seiner Pupillen und breitete sich rasch zu den Seiten aus.
»Was ist mit unserem Freund aus dem Wagen?«, hakte er nach. »Er ist auf Wanderschaft gegangen, und es hat Tote gegeben.«
Für einen Augenblick schien Delray Doom ernsthaft über die Worte nachzudenken. Dann zuckte er leichtfertig mit den Schultern.
»Er wird zurückkommen.«
»Sicher?«
»Ganz sicher«, erwiderte Doom lächelnd. »Diese Stadt ist ihm nicht vertraut. Er könnte keinen Meter weit gehen ohne aufzufallen. Und das weiß er. Deswegen wird er sich zurück in den Van begeben, nachdem er sich geholt hat, was er braucht.«
Ty Frazier wiegte seinen Kopf hin und her und ließ es dann dabei bewenden.
Sie erreichten ein eisernes Rolltor, das halb heruntergelassen war.
Behände schlüpften die beiden Dämonen darunter hindurch und fanden sich im nächsten Augenblick in einer Lagerhalle wieder, die ein heilloses Durcheinander bildete. Einige der hohen Wandregale waren mitsamt ihrem Inhalt umgestürzt.
Doom und Frazier bahnten sich ihren Weg und blieben schließlich in der Mitte der Halle stehen, die entfernt an eine Waldlichtung erinnerte.
Ty Frazier tat einen tiefen Zug an seiner Zigarette. Er drehte sich um und richtete ein leeres Metallfass auf, in das er ein wenig seiner glühenden Asche hinuntertropfen ließ. Der Inhalt des Fasses fing Feuer, und es dauerte nicht lange, bis hohe Flammen daraus schlugen, die bizarre, zuckende Schatten an die Wände warfen.
»Für diejenigen unter uns, die etwas sehen wollen«, bemerkte der Gentleman und zuckte dabei entschuldigend mit den Schultern.
Delray Doom ging über die Bemerkung hinweg. Es wurde deutlich, dass er auf die Ankunft seines Gebieters wartete, der nun bald auch das Kommando über Frazier übernehmen würde.
Zunächst tat sich nichts. Bis auf das Knistern des Feuers war kein Geräusch zu hören.
Dann jedoch schlugen die Flammen plötzlich höher, als hätte jemand in die Glut geblasen. Funken sprühten, und die Schatten an der Wand führten einen ekstatischen Tanz auf.
Und plötzlich war er da. Der Schatten an der Wand, der alles andere überragte. Der so gigantisch und mächtig war, dass Ty Frazier kurz zusammenzuckte, als er ihn bemerkte.
Selbst Delray Doom blinzelte. Er tat sogar noch mehr: Er deutete dem Schatten gegenüber eine Verbeugung an.
»Wie ich sehe, hast du Wort gehalten und bist erschienen«, sagte Doom mit einer Spur von Ehrfurcht in seiner Stimme.
»Hattest du etwa Zweifel daran?«, grollte eine tiefe Stimme aus dem Innersten des Schattens zurück.
Der Spuk hatte gesprochen!
☆
Der dunkle Schatten klebte über ihnen an der Wand, lauerte und wartete ab.
Das Züngeln der Flammen in der Tonne hatte sich gelegt, als hätte selbst das Feuer Respekt vor der Gegenwart des mächtigen Dämons und größten Widersacher der Hölle.
Der Spuk.
Wenn man genau hinsah, erkannte man innerhalb der dunklen Umrisse zwei Augen, die auf die beiden Gestalten in der Halle herabblickten.
»Ty Frazier«, hallte die Stimme des Spuks durch den Raum. »Wie ich sehe, hast du dich meinem Abgesandten Delray Doom angeschlossen. Du warst die meiste Zeit deines Daseins ein Diener der Hölle. Ein Leibeigener Asmodis’.«
Die Worte dröhnten durch den Raum und erzeugten ein unheilvolles Echo, bevor sie endlich verhallten.
»Das bin ich gewesen«, stimmte Frazier zu. Der Halbdämon mit den feurigen Augen hatte seine Zigarette sinken lassen. Dünner, weißer Rauch kräuselte daraus empor.
»Asmodis hat es mir sehr übel genommen, dass er das Sumpfhaus verloren hat. Er macht mich persönlich dafür verantwortlich und verlangt von mir, dass ich ihm die versprochenen Seelen anliefere. Er beruft sich auf einen Pakt, den wir vor langer Zeit geschlossen haben.«
»Und du?«, dröhnte die Stimme zurück. »Was ist dein Plan?«
Fraziers dünne Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Asmodis hat geschworen, mich zu vernichten, pardon, qualvoll zu vernichten. Das waren seine Worte. Ich schätze, das macht ihn und mich zu so etwas wie Todfeinden.«