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Sie schlug die Augen auf, als sie den Gesang und den stampfenden Beat hörte. Die Dunkelheit um sie herum war beinahe vollkommen. Bis auf zwei Punkte, die darin zu schwimmen schienen. Ein harter Blick, der auf ihr ruhte.
Als sie ihn erwiderte, für den Bruchteil einer Sekunde nur, wusste sie, dass sich ihre Welt für immer verändern würde ...
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Seitenzahl: 152
Cover
Rock Me, Baby!
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Rock Me, Baby!
von Marc Freund
»Rock me, give me that kick now!
Rock me, show me that trick now!
Roll me, you can do magic, Baby!
And I can't get enough of it!«
(B. Andersson / B. Ulvaeus)
Sie schlug die Augen auf, als sie den Gesang und den stampfenden Beat hörte. Die Dunkelheit um sie herum war beinahe vollkommen. Bis auf zwei Punkte, die darin zu schwimmen schienen. Ein harter Blick, der auf ihr ruhte.
Als sie ihn erwiderte, für den Bruchteil einer Sekunde nur, wusste sie, dass sich ihre Welt für immer verändern würde ...
Was war das? Irgendetwas hatte in der Dunkelheit aufgeleuchtet und war dann genauso schnell wieder verschwunden.
Augen, dachte sie. Solche, die noch dunkler waren als die Schwärze um sie herum. War das überhaupt möglich?
Becky Ward lag in verkrümmter Haltung auf etwas, das sich nach einer alten Matratze anfühlte. Als sie versuchte, sich in die Höhe zu stemmen, bildete sich unter ihrer rechten Faust eine Pfütze aus Nässe, die ihre Fingerknöchel benetzte.
Wie durch einen Filter hindurch nahm sie einen widerwärtig beißenden Geruch wahr, der sofort einen starken Brechreiz in ihr erzeugte. Sie zog ihre Hand von der Matratze und schaffte es zunächst, sich auf die Knie zu wälzen und dann langsam aufzustehen. Ein heftiger Schmerz hämmerte hinter ihren Schläfen. Für einen Moment blieb sie wankend auf der nachgiebigen Unterlage stehen, als hätte sie nichts als Gelee unter sich, abwartend, ob sie sich übergeben musste oder nicht.
Das Zeug, das sie sich vor Stunden oben in einer Nische des Clubs reingezogen hatte, war offensichtlich von so minderer Qualität gewesen, dass sie vermutlich drauf und dran gewesen war, sich damit ins Jenseits zu katapultieren.
Noch immer nahm Becky die Geräusche von oben wahr. Wie aus weiter Ferne hörte sie den Betrieb, die Stimmen, das Lachen, den treibenden Beat, die Musik.
Die Drums dröhnten stakkatoartig, während sich die E-Gitarre langsam aber sicher zu einem infernalischen Solo steigerte. Die Menge johlte nebenbei. Alles fügte sich zu einem Klangbrei zusammen, der ihren Kopf ganz auszufüllen schien.
Becky johlte nicht. Sie verzog nicht einmal ihre Mundwinkel zu einem Lächeln. Wie, zum Teufel, war sie nur hierher geraten? Alles, woran sie sich noch dunkel erinnerte, war, dass sie mit ein paar Typen ein paar Drinks gekippt hatte. Später war sie mit ihnen in einer der Nischen gelandet, in der noch ganz andere Dinge abliefen. Jemand hatte dieses Zeug dabeigehabt, hatte es klammheimlich unter dem versifften Tisch hervorgezogen. Danach setzte der Filmriss ein.
Becky tastete ihren Körper ab. Alles in Ordnung, scheinbar. Wer auch immer sie hier herunter geschafft hatte, er hatte es offenbar nicht darauf abgesehen, sie in irgendeiner Form anzufassen.
Glück gehabt, Kleine, dachte sie.
Sie trat einen Schritt nach vorne, noch immer wankend. Dann noch einen, nur runter von dieser verfluchten Matratze, die vermutlich mit allen nur erdenklichen Körperflüssigkeiten vollgesogen war.
Fester Grund unter ihren Sneakers. In der Dunkelheit stieß sie gegen eine offene Blechdose mit kohlensäurehaltiger Flüssigkeit. Der Inhalt ergoss sich zischend über den Boden.
Rebecca!
Die junge Frau zuckte zusammen und wäre beinahe wieder rücklings auf der Matratze gelandet, hätte sie nicht im letzten Moment ihr Gleichgewicht wiedergefunden. Sie hatte die Stimme ganz deutlich gehört.
Mit aufgerissenen Augen versuchte sie, die Dunkelheit zu durchdringen. Ihr Herz pochte als versuchte es, sich dem treibenden Beat über ihr anzupassen. War das wirklich eine fremde Stimme in ihrem Kopf gewesen?
Sie hatte sie Rebecca genannt, nicht Becky. Ein im Grunde harmloses Detail, welches sie jedoch beunruhigte. Seit ihrer Kindheit hatte niemand mehr diesen Namen benutzt.
»Wer ist da?«
Ihre eigene Stimme kam ihr plötzlich fremd vor. Sie hatte die drei Worte nur geflüstert, aber es schien, als würde ein unheimliches Echo von den Wänden auf sie zurückfallen.
Beckys Finger tasteten nach dem Feuerzeug in ihrer Jeanshacke. Sie zog es heraus und hielt es so fest umklammert wie eine Staffelläuferin ihren Stab kurz vor dem Augenblick der Übergabe.
Eine kleine Bewegung ihres rechten Daumens. Das Rädchen drehte sich mit einem leisen Ritsch.
Eine winzige Feuerzunge flammte auf, leckte an der Dunkelheit und gab ein Gesicht preis, das nur wenige Zentimeter von Beckys Kopf entfernt war. Ein zischendes Geräusch, ein eiskalter Lufthauch, ausgestoßen von einem schnabelartigen Etwas, und die Flamme erlosch.
Becky schrie auf und schlug wie wild um sich. Währenddessen versuchte ihr Hirn noch, die Eindrücke zu verarbeiten, die sie für den Bruchteil einer Sekunde wahrgenommen hatte.
Eine knorrige, rabenartige Gestalt mit den dunkelsten Augen, die Becky je gesehen hatte. Dazu ein spitzer Krähenschnabel und über der Stirnpartie eine Haube aus langen blauschwarzen Federn. Das Wesen überragte die Frau um mindestens eine Kopflänge.
Becky wich zurück, doch sie kam nicht weit. Unsanft prallte sie mit dem Rücken gegen ein Regal aus Leichtmetall. Es schepperte, als ein paar leere Lackdosen auf dem Boden auftrafen und vermutlich in alle Richtungen sprangen.
Die junge Frau atmete schwer. Noch immer hielt sie das Feuerzeug in der Hand. Ihr Daumen machte eine Bewegung, die er nie zu Ende führen sollte.
Die Stimme meldete sich zurück.
»Du wirst es hier unten nicht mehr benötigen!«
Die Worte klangen wie ein Versprechen, düster und nicht menschlich. Sie hatten etwas Krächzendes, und vor allem waren sie in ihrem Kopf aufgebrandet.
Becky Ward spürte das Regal in ihrem Rücken. Sie nahm noch immer den unangenehmen Geruch des Kellers wahr. Sie hörte die Musik von oben, spürte ihren Herzschlag mehr als deutlich. Er hämmerte in ihr, peitschte hinter ihren Schläfen.
Wenn sie also in der Lage war, dies alles zu empfinden und diese Dinge real waren, was war dann mit der entsetzlichen Gestalt, die sich scheinbar noch immer keinen Millimeter gerührt hatte?
Becky erkannte die schwarzen Augen in der Dunkelheit. Sie glänzten wie zwei geheimnisvolle Murmeln. Etwas in Becky wollte diese Eindrücke auf das Zeug schieben, das sie eingenommen hatte, doch insgeheim wusste sie, dass sie sich damit nur etwas vormachte. Becky hatte die Gestalt gesehen, weil sie existierte. Hier und jetzt.
»Wer bist du?«
Die Worte waren ihr wie automatisch über die Lippen gegangen. Sie zitterte dabei, aber sie wollte nicht sterben, ohne eine Antwort auf diese Frage zu erhalten.
»Ich habe nicht die Absicht, dich zu töten«, antwortete die Stimme und fügte hinzu: »Ich werde dir meinen Namen verraten, wenn die Zeit reif dafür ist.«
Becky nickte. Sie dachte für einen winzigen Augenblick daran, dass das Wesen diese Bewegung in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, aber das stimmte nicht. Die Kreatur nahm jede noch so kleine Reaktion ihrerseits wahr, selbst wenn ihre Augenlider nur leicht zuckten, so wie jetzt.
»Ich habe eine Aufgabe für dich.«
Becky zeigte keine Reaktion. Sie wusste insgeheim, dass es nicht notwendig war. Sie würde ohnehin keine Wahl haben. Und seltsamerweise erschien ihr dies nicht einmal als besonders tragisch. Im Gegenteil: Sie spürte, wie die Angst nach und nach aus ihrem Körper wich und dafür etwas anderem Platz machte, das sie sich noch nicht traute, Zuversicht zu nennen.
Erst jetzt bemerkte sie, dass die Musik verstummt war. Schon seit einer Weile. Und noch etwas erschien ihr merkwürdig: Es folgte kein Applaus, der normalerweise immer aufbrandete, und sei es nur spärlich, wenn eine besonders miese Band spielte. Es war totenstill da oben!
Obwohl, nein, das stimmte nicht ganz. Gelegentlich waren Schritte zu hören. Etwas polterte, als sei einer der Barhocker umgefallen.
»Wir haben nicht viel Zeit«, meldete sich die Stimme zurück. »Sie werden gleich hier sein.«
Becky unternahm gar nicht erst den Versuch, zu erfragen, wer SIE waren oder was das alles zu bedeuten hatte. Sie hörte zu, weil sie wusste, dass es allein darauf jetzt ankam.
»Ich habe dich nicht zufällig ausgewählt, Rebecca. Ich will, dass du auf deine Fähigkeiten vertraust. Du wirst schon bald feststellen, dass du mit einigen ganz besonderen ausgestattet bist.«
Eine kurze Pause entstand. Oben im Club rührte sich etwas. Türen wurden aufgerissen. Stimmen riefen durcheinander und gaben Anweisungen. Schritte hasteten die Treppe hinunter. Becky widerstand dem Impuls, im Dunkeln zur Tür hinüber zu blicken.
Etwas legte sich auf ihre Schultern. Eine Klaue strich an ihrer linken Wange entlang und legte sich auf ihren Kopf.
Die junge Frau öffnete den Mund. Es handelte sich um einen Reflex. Die alte Becky hätte jetzt vermutlich geschrien, doch diese Frau blieb stumm und ließ die Bilder auf sich wirken, die sie mit einem Mal vor ihrem geistigen Auge sah.
Eine Aufgabe, dachte sie. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.
Die Bilder wechselten in rascher Folge und hinterließen in ihrem Körper ein wohliges Kribbeln. Becky hatte verstanden, und als sie erneut in die schwarzen Augen blickte, empfand sie keine Furcht mehr, sondern Stolz.
»Woher weiß ich, wann meine Aufgabe erledigt ist?«, fragte sie leise und fast tonlos.
Die Schritte kamen näher. Sie hatten die Treppe hinter sich gelassen und den Keller erreicht. Jemand probierte die Klinke. Kurz darauf hämmerte etwas gegen die Tür.
Die Gestalt nahm ihre Klauen von Beckys Schultern. Ein Geräusch war zu hören, das wie das leise Auseinanderfächern von Gefieder klang. Becky fühlte sich wie elektrisiert. Es hielt sie kaum noch auf der Stelle, doch wollte sie zwingend noch die Antwort abwarten.
Und sie folgte: »Ich werde immer in deiner Nähe sein. Und ich werde bei dir sein, wenn es so weit ist.«
Der Eindruck war verflogen wie ein schnell verblassender Traum. Nur dass es keiner gewesen war. Becky war sich dessen so sicher, wie sie hier stand und ihren Herzschlag spürte. Das Blut, das durch ihre Adern pulsierte, ihre Muskeln, die mit einem Mal straff gespannt waren.
Ein schwerer Gegenstand, vermutlich ein Rammbock, traf die eiserne Kellertür über ihr und ließ sie in ihren Grundfesten erbeben. Putz löste sich aus dem alten Mauerwerk und regnete auf sie herab.
Instinktiv wandte sie sich nach links, weiter in den Keller hinein. Obwohl Becky zuvor noch nie hier unten gewesen war, wusste sie, wohin sie sich zu wenden hatte. Ein leiser Hauch von Zugluft auf ihrer heißen Stirn wies ihr den Weg zu einem leicht geöffneten Fenster. Entfernter Straßenlärm drang herein.
Becky sah sich rasch um und registrierte einen ausgedienten Besen, der mit Staubflusen behaftet in einer Ecke lehnte. Kurzerhand machte sie einen Schritt darauf zu und schlug mit dem hölzernen Stiel die Fensterscheibe ein. Gleichzeitig drückte sie das von Rost zerfressene Schutzgitter heraus, das davor angebracht war.
Sie schlüpfte durch die Öffnung ins Freie und landete auf der untersten Stufe einer schmutzigen Treppe, die nach oben führte.
Aus dem Keller hinter ihr war ein berstender Laut zu hören. Die Tür war aus den Angeln geflogen. Der weitläufige Raum wurde von Polizeibeamten geflutet, die vermutlich eine Razzia durchführten.
Es kam Becky so vor, als sei sie gerade eben erst aufgewacht und in ihrem neuen Leben gelandet. Und schon befand sie sich auf der Flucht.
Die Beamten hinter ihr flößten ihr nicht die geringste Angst ein, allenfalls ein annehmbares Maß an Respekt. Sie wusste, dass sie ihre neuen Fähigkeiten nicht leichtfertig aufs Spiel setzen durfte.
Rasch hastete sie die Stufen nach oben und fand sich in einem engen Hinterhof wieder. Er war erfüllt von flackernden Lichtern der Einsatzfahrzeuge. Eines davon hatte die Zufahrt versperrt.
Die Stimmen hinter Becky wurden lauter, klangen jetzt eindeutig aufgeregt. Sie riefen durcheinander. Schritte. Sie waren jetzt am offenen Fenster angelangt. Becky hörte das zerbrochene Glas unter ihren Absätzen knirschen.
Sie blickte nach vorn, zum einzigen Ausgang. Ein schwarzer Van parkte vor dem Hintereingang des Clubs. Die Schiebetür stand offen, sodass nur ein Teil des seitlichen Schriftzugs erkennbar war: The Goa... las Becky.
Sie erkannte in dem Wagen auf den ersten Blick, was er für sie bedeutete: Eine Chance zur Flucht! Sie konnte ... durfte! ... nicht riskieren, von den Polizisten aufgehalten zu werden. Die brachten es fertig, sie über Wochen, vielleicht sogar Monate oder Jahre in den Knast zu stecken, mit dem Zeug, das ihr die Männer zugesteckt hatten und das sich vermutlich noch immer in den Taschen ihrer Jeansjacke befand. Teufel noch mal, sie hatte bis jetzt nicht einmal Zeit dazu gehabt, richtig nachzusehen.
Regen hatte eingesetzt. Becky stand auf dem Hinterhof und betrachtete den Van noch immer mit neugierigem Blick.
Aus dem hellen Viereck des Clubeingangs trat ein Schatten heraus. Ein hochgewachsener Mann, der einen langen Instrumentenkoffer in der Hand trug.
Praktisch auf dem Fuß folgte ihm eine weitaus zierlichere Gestalt. Eine junge Frau in einem dünnen, silbern glänzenden Top und langen Haaren, die ein wenig zu mähnenartig aufgetürmt waren, um echt zu sein.
»Was soll das heißen?«, rief sie ihrem Kollegen hinterher. »Wieso haben wir keine Kohle bekommen?«
Der Musiker verstaute seinen Koffer im Van und drehte sich zu seiner Begleiterin um. Sein Gesicht glänzte vom Regen.
»Was soll die bescheuerte Frage, Claire? Du hast doch wohl mitbekommen, was da drinnen los ist. Verflucht, wir können froh sein, dass uns die Bullen überhaupt ziehen lassen.«
»Das beantwortet meine Frage nicht! Und es klärt auch nicht mein Problem!« Ihre Finger krallten sich in den Ärmel seiner Jacke. »Ihr lasst euch doch sonst auch vorher auszahlen. Wieso ausgerechnet heute nicht?«
»Du weißt genau, dass Connor das meiste einsackt und dass erst am Ende der Tour abgerechnet wird. Und das Bisschen, was wir heute bar auf die Hand gekriegt haben, hat uns dieser verdammte Matthews gleich wieder abgenommen, als die Bullen gekommen sind. Wir können froh sein, wenn wir mit dem letzten Rest Sprit noch bis zum nächsten Auftrittsort kommen!«
»Wer, zur Hölle, ist Matthews?«, fragte sie. Sie funkelte ihr Gegenüber mit einem irritierten Blick an. Ihr Make-up verlief, aber das schien weder sie noch ihn zu stören.
»Toby Matthews gehört doch der verdammte Club hier«, antwortete er. »Sag mal, kriegst du überhaupt noch irgendwas mit?«
Claire ließ den Musiker los, scheinbar widerwillig. Für die Dauer von zwei oder drei Sekunden verharrte ihre Hand bei seinem Arm. Trotzig wie eine kleine Göre sagte sie: »Ich brauche das Geld aber.«
»Du bekommst welches. Morgen.«
»Das reicht mir nicht, Zach. Außerdem behaupten du und die anderen das schon seit Tagen. Ich brauche es heute, verstehst du? Heute Nacht noch!«
Ihr Gegenüber rollte mit den Augen.
Claire durchbohrte ihn mit einem funkelnden Blick. »Es ist mein Ernst! Ich lasse mich nicht mehr länger von dir und den anderen hinhalten. Das war das letzte Mal, ich habe die Schnauze endgültig voll!« Sie fuhr sich mit dem rechten Zeigefinger unter ihrer Nase entlang. »Gestrichen voll!«
Die Augen des Mannes weiteten sich unmerklich. »Was willst du damit sagen?«
Die Sängerin in dem mittlerweile durchnässten Top musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihrem Bandkollegen auf gleicher Höhe in die Augen sehen zu können.
»Für mich ist hier und heute Schluss, hast du kapiert? Ich bin raus!«
Ein Faden Speichel flog von ihren Lippen und vermischte sich auf seinem Gesicht mit der Nässe des Regens.
So standen sie sich für einen Moment gegenüber. Schließlich wandte er sich ab und drängte sich an der Sängerin vorbei.
»Mach doch, was du willst, Claire. In ein oder zwei Wochen kommst du ja doch wieder angekrochen. Wahrscheinlich schon wesentlich früher.«
Die Frau im dünnen Top, das wie eine zweite Haut auf ihr klebte, sah Zach nach, wie er im Eingang des Clubs verschwand.
»Das werden wir ja sehen«, sagte sie leise. »Das werden wir ja sehen.«
Becky Ward, die Zeugin dieser Szene geworden war, hob interessiert ihre Augenbrauen, als sich die Sängerin in Bewegung setzte und mit energischen Schritten auf den Eingang zuhielt.
Hinter Becky wurden abermals Geräusche laut. Der erste Beamte versuchte, sich durch die geborstene Öffnung des Kellerfensters zu zwängen.
Es war an der Zeit, zu verschwinden. Und Becky hatte möglicherweise ein erstes Ziel vor Augen.
Jemand hatte ihr den Weg beschrieben. Jemand, eine Angestellte des Clubs, eine junge Frau, die wegen der soeben stattgefundenen Razzia verunsichert schien. Die letzten Beamten verließen in diesen Sekunden das Gebäude. Hektische Schritte im Haus, draußen wurden die Motoren der Einsatzfahrzeuge angelassen.
Claire Mason tropfte vor Nässe, als sie sich einen Weg durch die aufgescheuchte Menge bahnte, die nun ihrerseits versuchte, in Richtung der Ausgänge zu strömen.
Offenbar war es zu einigen Verhaftungen gekommen. Claire kümmerte das nicht. Diese Leute waren vermutlich selbst schuld daran. Sie verschwand durch eine Tür mit der Aufschrift privat und schloss sie sorgsam wieder hinter sich.
Ein dämmriger Flur lag vor ihr. Es roch nach abgestandenem Zigarettenrauch und dem Muff von Jahrzehnten. Braungrüne Tapeten an den Wänden, hier und da bekritzelt mit obszönen Bildchen und Telefonnummern, deren Besitzer vermutlich schon längst das Zeitliche gesegnet hatten.
Eine Treppe mit ausgetretenen und abgeschabten Holzstufen führte in den ersten Stock hinauf.
Claire beeilte sich. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Sie würde sich holen, was ihr zustand und dann von hier verschwinden. Mit der Band hatte sie gebrochen. Sie war es leid, sich dieses Tingeltangel-Leben noch weiter anzutun. Von der Hand in den Mund zu leben, am Morgen nicht zu wissen, wo man am Abend landete oder schlief, das hatte sie die letzten drei Jahre zu Genüge gehabt.
Sie waren von einem Auftritt zum anderen gejagt worden, von Leuten, die für ihre Dienste die Hand aufhielten. Leute wie Connor Hunt, der sich als Tourmanager und Förderer der Band ausgab, sich aber in Wirklichkeit nur die eigenen Taschen füllte und sich einen Dreck um die Entwicklung der Band scherte.
Mehr als einmal waren sie schon mit ihm aneinandergeraten, und immer wieder war der Kerl mit seiner Masche durchgekommen. Einmal hatte er sogar Zack eine schallende Ohrfeige verpasst, nur weil er es gewagt hatte, nach einem Vorschuss zu fragen.
Claire hatte lange an die Lügen geglaubt, die man ihnen erzählt hatte. All die Sprüche, dass die Band eine Menge Potenzial hatte, dass man es aber noch herausarbeiten müsse, wie bei einem Rohdiamanten, der erst noch den nötigen Schliff verpasst bekommen müsse.
Es sei alles nur eine Frage der Zeit und des Durchhaltewillens. Niemand würde über Nacht zum Star. Hinter jeder Erfolgsstory stehe eine Geschichte voller Entbehrungen, Rückschläge und finanziellen Durststrecken.
Was für ein verlogener Scheißdreck, dachte Claire, während sie zielsicher die Stufen nach oben eilte.
Drei Türen am Ende eines kleinen Korridors. Eine von ihnen war nur angelehnt. Claire stieß sie vorsichtig auf und erkannte im selben Moment, dass sie goldrichtig war. Ein kleiner viereckiger Raum, dominiert von einem ramponierten Schreibtisch, auf dem eine altmodische Banker Lampe mit grünem Glasschirm brannte.