John Sinclair - Sammelband 2 - Jason Dark - E-Book

John Sinclair - Sammelband 2 E-Book

Jason Dark

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Beschreibung

Dieser Sammelband enthält die Folgen:

Folge 638: Das Palazzo-Gespenst

Folge 639: So freundlich wie der Teufel

Folge 640: Das Blut-Rätsel

Folge 641: Geisterbahn

Folge 642: Horror im Harem I

Folge 643: Das fliegende Grauen

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Seitenzahl: 788

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Inhalt

Cover

Impressum

Das Palazzo-Gespenst

So freundlich, wie der Teufel

Das Bluträtsel

Geisterbahn

Horror im Harem I

Das fliegende Grauen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Vicente Ballestar – Norma

E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-8387-0287-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Das Palazzo-Gespenst

»Glauben Sie mir, Signora Goldwyn, diese Nacht ist für den Tod wie geschaffen. Es ist ihre Nacht, Signora, ihre …« Das letzte Wort war nur mehr ein Hauch, und es hätte Lady Sarah nicht gewundert, wenn er von einem Nebelstreif begleitet gewesen wäre.

Sie drehte sich nicht um, weil sie wußte, wer gesprochen hatte. Eine alte Italienerin, die ebenfalls in Urlaub gefahren war und das Morbide ebenso liebte wie den Tod.

Statt dessen genoß die Horror-Oma den Blick von der Freitreppe, hinein in den prächtigen Garten, dessen Grundstücksende vom Brenta-Kanal begrenzt wurde.

Die Villa del Sole lag einfach wunderbar. Ein altes Schlößchen aus dem sechzehnten Jahrhundert. Eine Welt, in der die Zeit stehengeblieben war. Wie ein Schutz umgab der große Garten das außergewöhnliche Haus, das vier gleiche Fassaden aufwies. Ein Novum, eine wirkliche Rarität und ein Ort der Ruhe.

Man konnte hier entspannen, kuren, sich erholen, in den Gärten lustwandeln, denn die Wege wurden stets gepflegt. Hecken schirmten sie gegen den Wind ab, der manchmal über die Alpen hinwegblies, wenn er von Norden kam und kalt war. Wehte er aus Richtung Osten, dann brachte er den Geruch vom Lido mit.

Manchmal auch fauligen, ein Gruß aus Venedig, der sonnendurchglühten und der morbiden Stadt, die allmählich ihrem Untergang entgegenweinte.

Hinter Lady Sarah knirschten die Schritte der Italienerin. Vor der Treppe blieb sie stehen. Sie besaß nur drei breite Stufen. Dahinter begann der Garten.

Die Signora stützte sich auf ihren Stock, eine alte Krücke mit einem silbernen Knauf. Lady Sarah hatte sie erzählt, daß sie aus irgendeiner Wein-Dynastie stammte und regelmäßig die Villa del Sole besuchte. Die schmalen Nasenfügel ihrer Hakennase bewegten sich, als sie die Luft einatmete.

»Haben Sie etwas, Signora?«

Die Frau lachte. »Ich sagte Ihnen doch, diese Nacht kann gefährlich werden. Der Mai ist ein schlimmer Monat.«

»Weshalb gerade der Mai?«

»Da ist sie gestorben, aber das wissen Sie doch, Signora Goldwyn.«

»Ich wollte nur noch einmal nachfragen. Es ist so unwahrscheinlich, verstehen Sie?«

»Viele glauben es nicht«, flüsterte die Frau. »Man ist hier sehr diskret, was gewisse Dinge betrifft.«

»Die wären?«

»Das Wegschaffen der Leichen!«

Lady Sarah schluckte. Irgendwie hatte sie die Antwort geschockt, obwohl gerade sie einiges gewohnt war, was den Umgang mit Grusel, Grauen und Horror anging.

»Jetzt sagen Sie nichts mehr, Signora.«

»Ich muß erst nachdenken.« Lady Sarah räusperte sich. Sie kam sich vor wie auf einer Bühne stehend, von wo sie in den noch leeren Zuschauerraum hinabschaute. Hier war alles anders. Man hatte das Gefühl, an der Zeit vorbeizulaufen. Im Costello wurde viel über den Tod gesprochen, der ein ständiger Gast sein sollte.

»Wer schafft die Leichen weg?«

»Das Personal. Wissen Sie, die Leute sind daran gewohnt. Sie leben mit dem Fluch und dem Tod. Beide begleiten sie, man gewöhnt sich halt daran.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen. Ich habe nicht gedacht, hier so etwas anzutreffen. Dennoch ist das Haus wunderschön.« Lady Sarah schaute sich um.

Zwischen den Säulen standen Bänke. Hellweiß gestrichen, Oasen der Ruhe. Auch im Haus störte kein Lärm. Gäste und Personal waren es gewohnt, sich leise zu bewegen.

Die Italienerin schnüffelte wieder. »Ich weiß, daß es in dieser Nacht passieren wird. Heute noch schlägt das Palazzo-Gespenst zu.« Dann lachte sie. »Es ist wie Russisches Roulett. Niemand weiß, wen es erwischt. Das ist einmalig. Diese Ungewißheit lockte viele Menschen in die Villa. Menschen, die alt sind, so wie wir. Die irgendwann sterben können, sehr plötzlich sterben wollen, deshalb gehen sie diesen hinterlistigen Poker mit dem Tod ein.«

»Ich fühle mich noch nicht alt«, widersprach Lady Sarah.

»Darauf nimmt sie keine Rücksicht. Wenn Sie Venetia sehen, ist es zu spät.«

»Woher wissen Sie das?«

Die alte Italienerin legte ihre Hände übereinander auf den Knauf. »Woher ich das weiß? Die alten Geschichten stimmen. Sie werden sterben, Signorina Goldwyn. Sie hätten nicht herkommen dürfen, oder haben Sie nicht gewußt, was Ihnen bevorsteht?«

»Nein.«

»Dann beten Sie, daß Sie die Nacht überstehen. Reisen Sie morgen früh am besten ab.«

»Ich werde es mir nicht noch einmal überlegen. Mir gefällt es hier, Signora Brandi.«

»Machen Sie keinen Fehler.« Die alte Frau zog die Stola enger um die Schultern. »Ich finde es etwas kühl. Sie nicht auch, Lady Sarah?«

»Nein.«

»Ich werde hineingehen. Wir sehen uns noch bei einem spätabendlichen Drink?«

»Vielleicht.«

»Kommen Sie lieber. Genießen Sie ihn. Es könnte Ihr letzter sein. Das dürfen Sie nie vergessen.« Signora Brandi hustete, drehte sich um und ging. An der Tür blieb sie noch einmal stehen und gab ihre letzte Warnung ab. »Wenn Sie ein kalter Hauch streift, Signorina, ist das nicht allein der Abendwind, das ist der Anfang vom Ende. Das Vereisen, wissen Sie … das Vereisen …«

Die letzten Worte verklangen, dann hörte Lady Sarah nur mehr die Schritte der Frau.

Über die Lippen der Horror-Oma huschte ein Lächeln. Sie wußte nicht so recht, wie sie die Worte auffassen sollte. Aber eine Spinnerin war Signora Brandi nicht, es hatte tatsächlich einige Vorfälle in dieser alten, herrlichen Villa gegeben, dem Palazzo, der von einem Gespenst heimgesucht worden war.

Venetia …

Eine Frau, der Geist einer Frau, der in den Mai-Nächten umherspukte und tötete.

Sein Pech war, daß sich eine englische Lady unter den Toten befunden hatte. Eine entfernte Bekannte der Lady Sarah, aber gleichzeitig eine Frau, deren Familie die besten Beziehungen zu den Ministerien besaß. Einem gewissen Sir James Powell hatte sie die Hölle heißgemacht, damit er seine besten Leute schickte, die sich um den Fall kümmern sollten.

Es war nur einer nach Italien mitgefahren. Suko, der Chinese. John Sinclair hatte in Germany zu tun, da der Fall drängte, war Sir James nichts anderes übriggeblieben, als Suko an Lady Sarahs Seite mit nach Italien zu schicken.

Der Inspektor wohnte nicht in diesem alten Palazzo, sondern in der Nähe, was ihm auch besser gefiel.

Das Dinner lag hinter ihr. Es hatte Fisch gegeben, dazu Reis und einen trockenen Wein. Lady Sarah würde später noch auf einen Drink in die Halle gehen, wo man sich traf, saß und auf irgend etwas wartete, das nie eintrat. Aber man wartete immer, man hoffte, und wenn es wieder eine Leiche gab, war man erstens deshalb zufrieden, weil es einen selbst nicht erwischt hatte und zweitens, weil endlich wieder etwas geschehen war.

Ein perverser und irgendwo auch morbider Kreis, aber sehr eingefahren, und das Palazzo-Gespenst tat sein übriges.

Lady Sarah betrat den großen Garten. Der war etwas Besonderes mit seinen menschenhohen Hecken. Buchsbaum und Rhododendron wechselten sich ab. Der Geruch eines alten Friedhofs lag bei Tiefdruckwetter wie ein Schleier über dem Garten und vermischte sich mit dem des Kanals.

Im Garten standen vereinzelt Bänke und meist versteckt Statuen, die wohl unentdeckt bleiben wollten.

Zumeist war es ruhig. Bis auf eine Stelle, wo ein kleiner, halbrunder Teich von einem Brunnen gespeist wurde. Das Wasser floß aus dem aufgerissenen Maul eines Löwen und klatschte permanent auf die Oberfläche des Teichs, so daß diese Melodie nie abriß.

Als Garten der Lüste konnte er wirklich nicht angesehen werden, eher als ein Areal der Besinnung.

Auch Lady Sarah war allein. Das prächtige Haus blieb hinter ihr zurück. Wenn sie den Kopf drehte, glitzerte die Fassade.

Sie ging mutterseelenallein und hörte nur das Knirschen ihrer Schritte.

Die Horror-Oma atmete die kühl gewordene Abendluft ein. Ein heißer Tag lag hinter ihr, und die Luft schmeckte nach abgestandenem Wasser.

Eine ungewöhnliche Mischung, und der Gedanke an den Friedhof verstärkte sich immer mehr.

War das die Zeit für das Gespenst?

Lady Sarah hütete sich, darüber zu lächeln. Es hatte Tote gegeben. Über die genaue Anzahl wollte man ihr nichts sagen, auch wenn sie fragte, aber die Engländerin, deretwegen sie hergekommen war, konnte niemand mehr ins Leben zurückrufen.

Der direkte Weg vom Palazzo zur Kreuzung hin war der breiteste. Wer die Villa anfuhr, mußte an der Rückseite halten, wo auch die Straße herführte. Vorn grenzte der alte Kanal das Grundstück ab.

An der Kreuzung blieb Lady Sarah stehen. Sie schaute hoch zum Himmel, der einen bläulichen Schein abgab. Vielleicht lag es auch am Mond, der seine Fülle fast erreicht hatte.

Sie freute sich, daß ihre Tarnung nicht aufgefallen war. Selbst Sir James hatte dafür gestimmt, Lady Sarah mit nach Italien fahren zu lassen, damit Sukos Bemühungen nicht auffielen. Zudem spielte die Horror-Oma für ihr Leben gern Detektiv. Jane Collins hatte sie nicht mitnehmen können, denn sie befand sich mit John Sinclair in Germany.

Eigentlich war die Nacht wunderschön. Sarah Goldwyn schaute auf die Uhr. Eigentlich war die Zeit schon da. Suko gehörte zu den Menschen, die eigentlich nie unpünktlich waren. Auch jetzt war er da.

Sein Räuspern klang hinter Sarah auf.

»Aha«, sagte sie nur, ohne sich umzudrehen. »Ich dachte schon, du hättest mich enttäuscht.«

»Nie. Wie kommst du darauf?«

»Nur so.«

Er kam näher, stellte sich vor die wesentlich ältere Frau hin und betrachtete das Gesicht, über das die Schatten der Nacht gefallen waren und die grauen Haare, die ein Friseur zu einer flotten Frisur geschnitten hatte.

Lady Sarah trug ein auberginefarbenes Kleid mit weißen Knöpfen. Sie wirkte ein wenig irritiert, weil Suko sie anschaute. »Sag ehrlich, habe ich etwas an mir?«

»Ja. Ich vermisse deine Ketten.«

Da mußte sie lachen. Leise allerdings, so gehörte es sich. »Ja, ich vermisse sie auch, Suko, aber ich habe sie bewußt nicht angelegt. Du weißt selbst, daß ich mit einer Kette nicht leben kann, es müssen schon mehrere sein. Und wenn ich mich bewege, klirren sie gegeneinander. Geräusche, an die ich mich gewöhnt habe, die andere Gäste allerdings stören würden. So ist das nun einmal in der Villa. Dort sind wir vornehmer. Es geht alles ein wenig leiser zu. Die Menschen sind älter, zurückhaltender. Oft habe ich das Gefühl, als würden sie sich nur zeitlupenhaft bewegen. Wie Figuren in einem Theater kommen sie mir vor. Und sie scheinen auf etwas zu warten.«

»Auf den Mord, nicht?«

Sarahs Augen leuchteten in der Dunkelheit, als sie den Inspektor anschaute. »Du sagst es, Suko, auf den Mord. Sie warten tatsächlich auf den nächsten Mord.«

»Wann könnte der geschehen?«

»In dieser Nacht!«

Suko zeigte sich verunsichert, weil Lady Sarah dies mit einer derart festen Stimme behauptet hatte. »Nein, das ist …«

»Man sagte es mir.«

»Wer? Der Mörder?«

»Eine Signora Brandi.«

»Sie ist aber nicht die Mörderin?«

Lady Sarah lächelte schmal. »Wo denkst du hin, Suko? Sie ist eine italienische Signora, die viel Geld geerbt hatte, die sich langweilt und fest davon überzeugt ist, daß in dieser Nacht noch das Palazzo-Gespenst erscheint.«

Suko hob die Schultern. »Wenn sie das so steif und fest behauptet, müßten wir davon ausgehen.«

»Das denke ich auch.«

»Dann frage ich dich, was wir unternehmen sollen.«

»Du – nichts!« erklärte Sarah Goldwyn mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

Suko zeigte ein amüsiertes Lächeln. »Soll ich wieder nach London zurück?«

»Nein, nur in der Nähe bleiben. Wie fühlst du dich eigentlich in deinem neuen Zuhause?«

»Es ist wunderbar, der reinste Luxus. Ich habe schon immer davon geträumt, auf einem alten Hausboot leben zu können, der auf einem Kanal dümpelt.«

»Es ist ja nicht für immer.«

»Hoffentlich.« Suko kam wieder zum Kern der Sache. »Wie also kann es weitergehen? Du wartest darauf, daß etwas geschieht, daß dieses Palazzo-Gespenst erscheint.«

»Wir alle warten.«

»Dann drücke ich euch die Daumen.«

»Auch wenn es einen Toten gibt?«

Suko hob die Schultern.

»Ich muß auch noch die Hintergründe herausbekommen, weshalb das Palazzo-Gespenst eigentlich erscheint. Jeder unnatürliche Vorgang hat seine eigene Geschichte, das wird sich hier nicht anders verhalten.« Sie nickte Suko zu. »Du weißt also Bescheid, ich werde mich jetzt auf den Rückweg machen und abwarten.«

»Soll ich in der Nähe des Hauses bleiben?«

»Wenn, dann nicht so, daß man dich entdeckt. Ich glaube, es ist nicht nötig.«

»Wir werden sehen.« Suko strich über Lady Sarahs Wange. Eine zärtliche Geste. »Gib auf dich acht, Goldstück, wir brauchen dich noch.«

Da konnte die Horror-Oma ein Lachen nicht unterdrücken. »Herrlich, wie du das sagst, denn das habe ich lange nicht mehr gehört, ehrlich.«

»Ich mache mir eben Sorgen.«

»Okay.« Sie nickte, drehte sich um und ging, während Suko so schattenhaft verschwand, wie er gekommen war.

Langsam und in Gedanken versunken ging Sarah Goldwyn zurück. Jetzt schaute sie auf die Villa, sah die erleuchteten Fenster und hinter manchen von ihnen auch Bewegungen.

Das Haus erschien ihr unwirklich. Sie verglich es mit einem Traum, der plötzlich Gestalt angenommen hatte. Es wirkte in diese Welt wie hineingestellt, einfach herabgelassen aus einer fernen Dimension, um Gäste aufzunehmen, wobei die Mauern unter der schweren Last der Geschichte stöhnten.

Von innen prächtig. Vielleicht Fresken, kostbare Möbel, Zimmer mit hohen Decken und großzügig geschnittenen Bädern. Das alles hatte natürlich seinen Preis und konnte nur von Vermögenden bezahlt werden.

Auch Bäume wuchsen im Garten. Sie schirmten das Gebäude zur Rückseite hin ab, damit es zum Süden hin offen lag und jeden Morgen im Glanz der Sonne erstrahlte.

Vier gleiche Fassaden, vier breite Gänge, aus verschiedenen Richtungen, die im Innern dort zusammenliefen, wo sich der große Saal befand und man sich traf.

Lady Sarah betrat den Palazzo. Die Tür ließ sich leicht aufdrücken. Dann schritt sie hinein in die Kühle der Halle, sah das Licht und auch die brennenden Kerzen, das Personal, das sich lautlos bewegte, aber dieser Gesamteindruck verschwand hinter einem Frösteln, das über die Haut der Horror-Oma glitt.

Sie erinnerte sich an die Worte der Signorina Brandi. Hatte sie nicht davon berichtet, daß die Ankunft des Palazzo-Gespenstes angezeigt wurde. Durch eine Kälte, die schon unnatürlich war?

So jedenfalls kam sie Lady Sarah vor. Und plötzlich wußte sie, daß dieses Gespenst nicht mehr weit entfernt war.

Es lauerte bereits, und die erste Leiche war für Lady Sarah nur eine Frage der Zeit …

***

Es gefiel Suko nicht, die Horror-Oma allein gehen zu lassen. Er wäre ihr am liebsten gefolgt. Das wiederum würde nicht passen, denn unter den Gästen der Villa wäre er aufgefallen wie ein Papagei am Nordpol. Deshalb hielt er sich zurück, aber er wollte das Haus auch nicht außer Kontrolle lassen, so hatte er beschlossen, zu einer bestimmten Zeit noch einmal in seine Nähe zurückzukehren.

Die Zeit legte er um Mitternacht an. Sie erschien ihm genau richtig. Mitternacht war der Zeitpunkt der Geister, wenn der Tag kippte, tauchten sie auf.

Jedenfalls in der Regel …

Auch Suko fühlte sich allein, als er durch den Garten in Richtung Kanal schritt. Bei Tageslicht verhielt es sich anders, da verschönte die Sonne. In der Nacht aber kam ihm die Umgebung unwahrscheinlich düster vor. Es gab nur die Düsternis, nichts, was ihn eventuell aufgeheitert hätte, selbst das Plätschern des Brunnens erinnerte ihn an eine Verhöhnung.

Die Natur konnte ihren Friedhofscharakter einfach nicht ablegen, und manchmal strichen die seichten, fast unsichtbaren Spinnennetze über Sukos Gesichtshaut.

Vor dem Brunnen blieb er stehen. Die hintere Einfassung bestand aus einer halbrunden Steinmauer, aus deren Mitte der Löwenkopf mit seinem aufgerissenen Maul hervorschaute und das Wasser ausspie. Es klatschte in den Brunnen hinein und tropfte auch auf die Blätter, die wie kleine Boote auf der Oberfläche schwammen.

In der Dunkelheit hatte das Wasser einen undefinierbaren Farbton angenommen. Er lag irgendwo zwischen Grün und Schwarz und sah aus, als wollte er das langsame Sterben der Natur dokumentieren.

Manche Leute sprachen dem Garten einen melancholischen Charme zu. Suko sah es anders. Ihm war es zu feucht, zu klamm, er liebte die Sonne.

Durch ein kleines Tor konnte er das Grundstück verlassen. Seine Füße standen schon bald auf dem weichen Gras des Uferstreifens, der von Laubbäumen gesäumt wurde und aus diesem Grunde etwas Alleeartiges bekommen hatte.

Der Kanal roch.

Es war der Gestank von fauligem Wasser, von altem Laub aus dem vergangenen Winter. Suko sah die Mückenschwärme tanzen. Über der Wasserfläche fühlten sie sich wohl.

Schrille Melodien rissen die Stille auf. Zirkaden und Grillen meldeten ihren Nachtgesang an. Über manchen Stellen trieben feine Dunstschleier wie Totenhemden.

In dieser Umgebung fiel einem sensiblen Menschen der Selbstmord relativ leicht, aber Suko verschwendete daran keinen Gedanken. Ihn interessierte das Palazzo-Gespenst, dem angeblich zahlreiche Morde zugeschrieben wurden, wobei Suko die genaue Zahl nicht bekannt war.

Bis zu seinem Boot mußte er etwa zehn Schritte laufen. Es war ein alter Kahn, der fest am Ufer vertäut war und hin und wieder bewohnt wurde.

Reiche Gäste brachten dort ihr Personal unter. Größer konnte man den Unterschied nicht dokumentieren, aber die Arroganz der Menschen starb nie aus.

Ein schmaler Steg bildete die primitive Gangway, über die Suko das Deck erreichte.

Dort blieb er stehen, umschwirrt von Mücken, nach denen er nicht mehr schlug.

Schwarz und unbeweglich lag das Wasser vor ihm. Tagsüber war der Kanal befahren, jetzt aber, am späten Abend, herrschte die absolute Stille.

Suko räusperte sich, weil er den fauligen Geschmack aus seinem Hals wegbekommen wollte, bevor er über eine alte Holzleiter unter Deck stieg, wo die drei Kajüten lagen.

Es waren Räume, die man vergessen konnte. Sehr eng, vergleichbar mit Sardinenbüchsen. Zudem rochen sie faulig, das Wasser drang überall durch. Nicht, daß sich Lachen gebildet hätten, aber Feuchtigkeit war es immer.

Neben der Koje stand Sukos Reisetasche. Mehr hatte er nicht mitgenommen. Wenn er schlief, zog er sich nicht aus, das feuchte Laken förderte Rheuma.

Toiletten gab es nicht. Auch keinen Abtritt. Wer hier lebte, benutzte den Kanal.

In der Kombüse schräg gegenüber stand ein alter, mit Speiseresten verschmierter Kocher. Bevor er sich dort eine Mahlzeit zubereitete, würde Suko lieber hungern.

Als Sitzplatz diente nicht nur die Koje, ein alter Regiestuhl stand ebenfalls dort. Er kam Suko vor, als hätte ihn jemand vergessen. Die Tür am Ende des Niedergangs, die zu den Kojen führte, hatte Suko nicht geschlossen. Die Koje selbst besaß keine mehr, der Eingang sah aus, als hätte man ihn in die Wand gesprengt.

Selbst das Leinen des Stuhls war feucht. Die Nässe drang durch den Hosenstoff. Trotz allem brauchte Suko etwas in den Magen.

Kochen konnte er sich hier nichts, deshalb hatte er vorgesorgt. In seiner Reisetasche befanden sich unter anderem eine Salami, Weißbrot und eine Dose Saft.

Zehn Minuten später packte Suko die Hälfte der Salami wieder ein und fühlte sich besser.

Verändert hatte sich nichts. Nach wie vor lag die Luft wie Blei über dem Kanal. Die Mücken schwirrten, die Grillen zirpten noch immer, und der Himmel bot sich dar mit seiner Sternenpracht.

Ein Italien-Himmel, von Hunderttausenden von Touristen beschwärmt, einfach wunderbar.

Suko stand auf, weil er sich einfach bewegen mußte. Außerdem wollte er sich an Deck umschauen.

Die Kühle war geblieben. Vom Wasser her stiegen feuchte Tücher und breiteten sich aus. Sie blieben nicht nur auf die Kanalbreite begrenzt, sondern krochen an den Rändern in die Höhe, um sich auf dem flachen Gelände zwischen den Bäumen ausbreiten zu können, wobei sie anschließend an den Stämmen hochkrochen, das Geäst erreichten und es mit gespenstisch wirkenden Wolken umgaben.

Die Kühle nahm zu. Sie war wie ein Schleier, den niemand aufhalten konnte. Sukos Mißtrauen erwachte allmählich, denn er dachte an die Worte der Horror-Oma.

Hatte sie nicht von einer unnatürlichen Kälte gesprochen, die das Kommen des Gespenstes ankündigte?

Der Inspektor war auf der Hut. Mit dem Rücken lehnte er sich an einen der Aufbauten und wartete ab. Noch zeigte der Nebel seine natürliche Form, eine Gestalt jedenfalls konnte Suko innerhalb der Schwaden nicht entdecken.

Das Gespenst mußte eine Frau sein. Man hatte auch von einer Weißen Frau gesprochen, die von der eisigen Kälte des Todes begleitet wurde, wenn sie sich dem Opfer näherte.

Noch schaute Suko in den graublauen Dunst, der sich in die Dunkelheit hineindrängte, aber keine Gestalt aus ihr hervorzauberte. Manchmal war die Stille wie ein Panzer, der, zusammen mit dem Nebel, Sukos Brust umschnürte.

Es würde etwas passieren, das stand für ihn fest. Der Tod näherte sich lautlos.

Suko merkte, daß Schweiß auf seiner Stirn lag. Oder war es nur Feuchtigkeit. Er wischte darüber hinweg und betrachtete seine nassen Handflächen. Sein Herz schlug ungewöhnlich schnell, was ihn sehr störte, denn so etwas erlebte er nur in Streßsituationen.

Hier aber herrschte Ruhe. Trügerisch und gefährlich zwar. Suko traute dem Nebel längst nicht mehr, und wie von selbst wanderten seine Finger dorthin, wo die Dämonenpeitsche im Gürtel steckte. Die Beretta ließ er an ihrem Platz. Einem Gespenst mit einer Kugel begegnen zu wollen, hatte noch nie etwas gebracht.

Die Mörderin lauerte in der Nähe …

Suko drehte sich um, während er gleichzeitig mit der Peitsche einen Kreis schlug.

Drei Riemen rutschten aus der Öffnung und klatschten mit ihren Spitzen gegen die Planken. Jetzt fühlte er sich etwas sicherer, auch wenn er seinen Gegner noch nicht sah.

Kalte Fingerspitzen krochen über seinen Rücken. Er löste sich von den alten Aufbauten, ging zwei Schritte, blieb wieder stehen, startete seinen Rundblick, ohne allerdings die Gefahr erkennen zu können.

Nur der Dunst schwebte über das Deck und verfing sich im Bewuchs an beiden Uferseiten.

Er schaute wieder nach vorn, dem Bug des Bootes entgegen, denn dort zeigte der Nebel seine größte Dichte.

Im nächsten Augenblick holte er Luft, als würde er Wasser trinken, denn in dem Dunst war etwas entstanden:

eine Frauengestalt, ein Gespenst …

Venetia!

***

Suko hatte natürlich damit rechnen müssen, trotzdem stand er unbeweglich und starrte einzig und allein auf dieses Wesen, das sich trotz der Dunkelheit aus den wallenden Schwaden abhob.

Drei Farben überwogen bei ihr.

Da war zunächst einmal das sehr bleiche Haar, dokumentiert durch ein helles Weiß. Das Gesicht dagegen besaß einen blauen Farbton, auch sehr unheimlich anzusehen. Und es war bekleidet. Ein geblümtes Etwas, möglicherweise ein Kleid, zitterte ebenfalls durch den Dunst, wobei die Farbe rosé überwog. Aus den Ärmeln schauten lange Hände hervor, wie das Gesicht ebenfalls bläulich schimmernd.

Venetia sah fest aus, fast stofflich, dennoch war sie ein feinstoffliches Wesen, das sich innerhalb der Schwaden ebenso wallend bewegte wie diese selbst.

Das Gespenst schaute Suko an, und dieser wiederum konzentrierte sich auf die Augen.

Pupillen besaß die Erscheinung nicht. Und wenn, dann konnte man den hellweißen Hintergrund oder die Füllung innerhalb der Augen als Pupillen ansehen.

Sehr rasch hatte Suko den ersten Schock überwunden, und über seine Lippen huschte ein hartes Lächeln. »Wie schön«, flüsterte er, »wie schön, daß du gekommen bist. Dann können wir alles erledigen. Los, komm näher, ich will dich in Reichweite haben.«

Als hätte die Erscheinung Sukos Worte verstanden, so geriet Bewegung in sie, und der Körper wallte nach vorn. Er drängte auf Suko zu wie ein großes Tuch, das geräuschlos über die feuchten Planken hinwegschwebte.

Suko hielt die Dämonenpeitsche in der rechten Hand. Den Arm hatte er bereits zum Schlag erhoben. Er fühlte sich in diesem Moment siegessicher, denn die Peitsche hatte ihm schon so manches lebensgefährliche Problem vom Hals geschafft.

Das Palazzo-Gespenst zeigte weder Furcht noch Widerwillen. Es ließ sich überhaupt nicht beeindrucken und schien die Magie der drei Riemen ebenfalls nicht zu spüren.

Das hätte Suko eigentlich mißtrauisch machen müssen. Er aber war dermaßen von seinem Erfolg überzeugt, daß er darauf nicht achtete. Ihm kam es auf das gezielte Schlagen an.

Einen halben Meter ging er zur Seite. Hinter ihm befand sich der Niedergang mit der alten Holzstiege.

Durch die Erscheinung ging ein Ruck, dann schwebte sie näher, als hätte sie einen Windstoß bekommen.

Jetzt war sie da!

Und Suko schlug. Das Grinsen auf seinen Lippen blieb, er war fest davon überzeugt, es zu schaffen. Die drei Peitschenriemen fächerten auseinander. Sie erwischten das Gespenst und hätten es zerfetzen müssen, damit es in drei Teilen wegtrieb.

Es war nicht möglich!

Innerhalb einer Sekunde erlebte Suko Himmel und Hölle zugleich. Sein siegessicheres Grinsen verschwand von den Lippen. In die Augen trat ein erstaunter Ausdruck, und die eisige Todeskälte kam über ihn.

Suko fror ein!

Es begann am rechten Arm, dann kroch es weiter. Noch konnte er die Beine bewegen, ging zurück, landete auf der ersten Stufe und verfehlte die zweite.

Suko polterte rücklings den Niedergang hinab. Er krachte mit dem Rücken auf die Kanten, so daß einige Stufen zusammenbrachen. Erfolglos suchte Suko nach Halt. Wo er hingriff, er faßte ins Leere.

Innerhalb des Niedergangs blieb er auf dem Rücken liegen, die Peitsche noch in der Hand haltend und sich zunächst auf die eisige Todeskälte konzentrierend, die sich nicht nur auf den rechten Arm beschränkte und den gesamten Körper umfassen wollte.

Das Gespenst lähmte ihn und saugte ihm den Widerstand aus den Knochen. Suko spürte die innerliche Vereisung, er sah aber auch, wie das Gespenst die zerstörten Stufen des Niedergangs hinabschwebte und diesen eisigen Hauch verbreitete.

Überdeutlich sah er das Gesicht. Es hatte etwas Puppenhaftes an sich. Oder zeigten die blassen Lippen bereits den Triumph? War auf ihnen das Lächeln des Todes zu lesen?

Vergeblich suchte Suko den Widerstand. Es gelang ihm einfach nicht, den rechten Arm mit der Dämonenpeitsche in die Höhe zu bekommen. Er konnte ihn nicht einmal bewegen.

Der andere Arm war ebenfalls wie mit Eis gefüllt. Erfrieren durch einen magischen Zauber auf einem alten Hausboot. Und selbst die Kraft der Dämonenpeitsche hatte nicht ausgereicht.

Dieses Wissen war für Suko wie ein Schock. Er fraß sich tief in sein Gedächtnis, das noch funktionierte, und er bekam mit, wie das Palazzo-Gespenst den Körper nach vorn rückte, um sich über ihn zu beugen. Es wollte Suko den Rest geben.

»Stirb …«

Wie ein Hauch erreichte Suko das eine Wort. Wobei er nicht einmal wußte, ob das Gespenst es ausgesandt hatte oder er selbst.

Angst überkam ihn, aber sie trieb keine Wärme in ihm hoch. Nur die Kälte vermehrte sich. Sie kroch weiter als tödliches Übel und war dabei, sein Herz zu umspannen.

Nur Sekunden, dann würde es aufhören zu schlagen.

Bläulichbleiche Hände, zu Würgeklauen gespreizt, zielten gegen Sukos Hals, rutschten daran herab, erreichten die Brust und drückten leicht zu.

Der Inspektor wollte aufschreien. Den Mund hatte er bereits aufgerissen, nur kam es zu keinem Schrei.

Es war nicht mehr möglich, denn die Vereisung hatte ihn voll und ganz erwischt.

Mit offenem Mund blieb Suko unbeweglich liegen. Das Gespenst aber zuckte plötzlich zurück. Es zeigte sich irritiert, was auch auf seinem bleichen Gesicht abzulesen war, denn es bekam einen Ausdruck, als sollte Porzellan zerspringen.

So lautlos, wie es gekommen war, huschte es wieder davon. Diesmal nicht zufrieden mit seinem Erfolg.

Aber es gab noch mehr Ziele.

Der Palazzo, wo die Gäste warteten, als wären sie zum Sterben angetreten …

***

Noch immer wirkte die Halle des Palazzos wie die Kulisse eines Fellini-Filmes.

Sie paßte einfach nicht in die moderne Zeit; da war ein gewaltiges Stück Vergangenheit zurückgeblieben und dabei mit Menschen gefüllt, die ebenfalls der Vergangenheit entsprungen zu sein schienen.

Sie bewegten sich wie Puppen oder Schauspieler, die bestimmte Regie-Anweisungen befolgten.

Man saß in der Halle und wartete. Worauf, das wußte niemand genau. Darauf, daß etwas passierte, der Tod kam und seine Knochenhände ausstreckte.

Das Piano war verwaist. Der Spieler hatte heute seinen freien Tag. Aus vier verschiedenen Richtungen liefen die Gänge zusammen, hinein in den Saal mit der hohen, halbrunden Kuppeldecke und den mit Fresken und Malereien verzierten Wänden.

Der glatte Marmorboden schimmerte in einem braunrötlichen Ton und gab das Licht der Kerzen als Reflexe wider. Zierliche Möbel, aus der Rokoko- und Barockzeit bildeten das Interieur. Die kleinen Tische mit den geschwungenen Beinen sahen aus, als würden sie jeden Augenblick zusammenbrechen, allerdings nicht unter dem Druck der gehäkelten Decken oder zierlichen Vasen.

Sie saßen zu zweit, zu dritt oder viert, aber auch allein. Sie unterhielten sich flüsternd oder schauten ins Leere, ihren eigenen Gedanken nachhängend.

Alte Aristokraten, die ihren Smoking trugen wie andere ihre Jeans, bewegten die Augen kaum, als Lady Sarah die Halle betrat. Im Gegensatz zu ihren Begleiterinnen, die genau hinschauten, ihre Köpfe mit den manchmal tragisch-lustig geschminkten Gesichtern nickend bewegten und die Lippen zu einem schmalen Lächeln der geschminkten Striche verziehend.

Erst in der Halle lagen die Teppiche, so daß die Schritte eines Ankömmlings ziemlich spät gedämpft wurden.

Zwei junge Mädchen, Serviererinnen, die sich vorkommen mußten wie in einer kostbar ausstaffierten Gruft, warteten im Hintergrund. Sie flankierten einen grauhaarigen Ober, dessen Frack ihn zu einem Pinguin machte. Der Mann war es gewohnt, seine Fassung zu bewahren, er bewegte nur seine Augen und verfolgte den Gang der Lady Sarah, die vor einem kleinen runden Rokoko-Tisch ihren Platz fand.

Sehr schnell wurde sie von dem »Pinguin« nach ihren Wünschen gefragt.

»Einen Tee.«

»Sehr wohl, Signorina. Mit Gebäck?«

»Nein, ohne.«

»Sehr wohl.«

Er zog sich zurück und gab die Bestellung an eines der Mädchen weiter. Es trug, wie auch ihre Kollegin, schwarze Kleidung und eine weiße, gestärkte Schürze.

Sarah Goldwyn fühlte sich unwohl. Was hätte sie darum gegeben, jetzt in ihrer Dachkammer zu sitzen und sich einen Video-Film anzuschauen. Aber nein, sie konnte es nicht lassen, mußte wieder auf Gespensterjagd gehen und hockte nun zwischen diesen Grufties, wobei sie sich selbst nicht als Gruftie ansah.

Auch die Mädchen hätten sich in einer Disco wohler gefühlt, als hier die Alten zu bedienen.

Die Gespräche waren wieder aufgenommen worden. Natürlich wurde nur geflüstert. Signora Brandi befand sich nicht unter den Gästen, was Lady Sarah mit Verwunderung feststellte, aber keinen Kommentar gab und sich ihrem Tee widmete, der bald serviert wurde.

Über ihr hing der prächtige Kronleuchter, ebenfalls eine wertvolle Antiquität. Ein wahres Prunkstück aus Kristall, der nur nicht herabfallen durfte. Er blähte sich auf wie ein Ballon. Die zahlreichen Pailetten blitzten durch den Lichtschein wie Goldtaler und blendeten mit ihrer Pracht. Lady Sarah hatte den Tee noch etwas ziehen lassen, bevor sie eingoß. In einer Silberkanne war noch heißes Wasser serviert worden, um den Tee später verdünnen zu können.

Nur wenige Tische in der Halle waren frei. Immer wenn ein Gast sich erhob, schauten die anderen ihm nach, um seinen Weg genau verfolgen zu können.

Lady Sarah war von dem Tee sehr angetan. In London bekam sie kaum besseren.

Schritte klapperten auf dem Marmorboden, danach dämpfte sie der Teppich. Dann kamen sie auf Lady Sarah zu und stoppten neben ihrem Stuhl. Sie hob den Kopf.

Signorina Brandi stand vor ihr, lächelte verkrampft, weil sie wahrscheinlich Furcht davor hatte, daß ihre Schminke abblätterte, die sie dick aufgetragen hatte.

Sie trug ein rotes Chanel-Kostüm, sehr »kantig« geschnitten. Der Rock endete über dem Knie. Irgendwie paßte die Kleidung nicht zu ihr. Es kam nicht darauf an, wieviel Geld ein Mensch besaß, sondern auch darauf, ob er Geschmack zeigte.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Lady Sarah deutete auf den freien Stuhl. »Gern, Signorina Brandi, ich habe Sie schon vermißt.«

Sie lachte. »Sagen Sie nur. Wer vermißt mich denn schon?«

»Ich, zum Beispiel.«

Sie räusperte sich. »Nun ja …« Dann drehte sie den Kopf und fragte flüsternd. »Oder hatten Sie Angst um mich?«

»Das auch.«

»Sie haben es nicht vergessen?«

»Nein, nicht.«

»Das ist gut, sage ich Ihnen, das ist gut. Schauen Sie sich die Menschen an. Sie alle wissen über Venetia Bescheid, aber glauben Sie nur nicht, daß einer von ihnen das Thema anschneidet. Nein, sie halten sich zurück. Sie wollen es einfach nicht wahrhaben, so ist das eben.«

»Ja, das fürchte ich auch.«

Signorina Brandi legte ihren Schmuck zurecht, sie trug mehrere Goldketten und schaute auf, als der Ober sich zu ihr hinabbeugte.

»Bringen Sie mir bitte einen Martini.«

»Trocken?«

»Selbstverständlich.«

Der Pinguin zog ab.

»Sie haben hier einen sehr guten Martini. Den müssen Sie unbedingt probieren.«

»Später.«

Die Brandi bewegte ihre Stirn. »Falls es für uns ein Später noch gibt, Sarah.«

Die Horror-Oma lachte. »Ich bitte Sie, Signora. Natürlich wird es für uns ein Später geben. Davon bin ich überzeugt, und Sie sollten es ebenfalls sein.«

»Nein, nein, ich kenne mich schon aus, meine Teuerste. In dieser Nacht wird es eine Leiche geben. Vielleicht auch zwei. Wer kennt sie schon genau?« Sie deutete in Richtung Eingang. »Haben Sie gesehen, wie sich der Nebel draußen verdichtete?«

»Nein.«

»Ich sah es von meinem Fenster aus. Von dort kann ich bis zum Kanal schauen. Da wallte er hoch wie Tücher.«

»Ist das unnatürlich?«

»Bestimmt nicht.« Die Brandi hob den rechten Zeigefinger. »Aber es ist ihr Wetter.«

»Ich warte auf sie.«

Signorina Brandi erschrak, gab vorerst keinen Kommentar ab, da ihr Martini serviert wurde. »Wie können Sie so etwas nur sagen. Sie versündigen sich.«

»Darüber denke ich anders. Aber ich habe eine Frage.« Lady Sarah stellte sie, nachdem die Brandi genippt hatte. »Wenn alle hier Bescheid wissen, daß es Tote gibt, weshalb hat dieses Haus noch Gäste? Können Sie mir das sagen?«

Die Italienerin trank wieder einen Schluck. »Si, ich kann es sagen oder nur raten. Die Menschen haben Vermögen, besitzen Geld, sind aber in den Ruhestand getreten. Ob freiwillig oder nicht, das möchte ich dahingestellt wissen. Jedenfalls haben sie eines gemeinsam: die Langeweile. Ja, sie langweilen sich. Sie hocken hier in der Halle, denken an die Vergangenheit und hoffen, daß etwas passiert. Es ist wie ein Stück, das jeden Tag neu aufgeführt wird, ohne daß es bestimmte Regeln gibt. Sie treten auf, aber sie bewegen nichts, und sie bewegen sich selbst nicht. Alle warten darauf, daß etwas geschieht. Und was kann Besseres passieren als ein Mord?«

»Das klingt zynisch.«

»Ist aber die Wahrheit. Sie spüren das innerliche Prickeln. Sie stellen sich die Frage: Wen trifft es als nächsten? Ich habe Ihnen den Vergleich des Russischen Rouletts genannt. So ist es in der Tat. Dieses Warten ist ein tödliches Roulettspiel.«

»Ich glaube, daß das nicht meine Welt ist.«

»Wieso kamen Sie dann hierher?«

»Gute Frage«, murmelte Lady Sarah, trank einen kleinen Schluck Tee und sprach von einer Freundin, die sie aufmerksam gemacht hatte. »Eleonora schwärmte von der Villa del Sole.«

»Schwärmte, sagen Sie?«

»Ja, sie starb hier.«

Die Brandi saß starr, überlegte, schaute Lady Sarah an, in deren Gesicht sich kein Muskel regte. »Dann habe ich sie bestimmt gekannt. Stammte sie aus Oxford?«

»So ist es.«

»Ja, sie war hier. Und sie reagierte ähnlich wie Sie, Sarah. Wenn das kein schlechtes Omen ist.«

»Inwiefern?«

»Auch Eleonora glaubte nicht an das Palazzo-Gespenst. Sie hielt es für eine Sage, für ein Hirngespinst.«

»Das habe ich nie gesagt.«

»Stimmt. Doch ich sehe es einem Menschen an, ob er überzeugt ist oder nicht.«

»Und ich bin nicht überzeugt?«

»So ist es.«

Vom Nebentisch erhob sich ein Paar, grüßte steif in die Runde und wünschte eine gute Nacht.

Wieder schauten zahlreiche Augenpaare den beiden nach, wie sie in einem der Gänge verschwanden.

Jemand sagte laut, so daß es fast störend wirkte: »Der Nebel verdichtet sich.«

»Na und?«

»Das ist ihr Wetter, Signor.«

Die Gäste schwiegen. Plötzlich bekamen ihre Gesichter einen betretenen Ausdruck. Der Name war nicht ausgesprochen worden, aber jeder wußte, worum es ging.

Nur Signora Brandi lächelte. »Jetzt steigt die Spannung«, wisperte sie Sarah Goldwyn zu, die dabei war, sich eine frische Tasse Tee einzuschenken.

»Ist das immer so?«

»Fast immer. Ich sage Ihnen, hier muß man sehr genau beobachten. Auch wenn offiziell nicht viel geschieht, sind die Reaktionen der Menschen doch sehr typisch.

Sarah schaute auf die Uhr. Bis zur Tageswende war es noch eine Stunde Zeit.

»Lassen Sie das. Venetia hält sich nie an bestimmte Zeiten. Sie erscheint, wann es ihr paßt.«

»Schön.« Sarah lehnte sich zurück. Allmählich wurde ihr der Stuhl unbequem. »Wenn ich davon ausgehe, daß es diese Venetia gibt, dann muß sie auch ein Motiv gehabt haben, verstehen Sie? Es muß einfach einen Grund geben, daß eine Person als Geist oder Gespenst zurückkehrt. Wie ist ihre Geschichte?«

»Blutig«, flüsterte Signorina Brandi. »Sehr, sehr blutig, das kann ich Ihnen sagen.«

»Ich möchte Einzelheiten wissen.«

»Sie hat hier gewohnt. Sie war die erste in diesem Palazzo, und sie war eine Mörderin.«

»Wen tötete sie?«

»Ihre Gäste.«

Lady Sarah legte die Stirn in Falten. »Das verstehe ich nicht. Man lädt nicht Gäste zu sich ein, um sie anschließend zu töten. Für mich ist das widersinnig.«

»Aber nicht für Venetia. Sie tötete die Gäste, weil sie es einfach mußte. Sie war wie in einem Blutrausch. Eine frühe Lucia di Lammermoor. Als sie starb, bekam sie keinen Frieden. Man hat sie, glaube ich, in Eisklumpen eingepackt und sie dann in den alten Brunnen geworfen.«

»Auch ein ungewöhnlicher Tod.«

»So ungewöhnlich wie ihr Leben war. Der Geist fand keine Ruhe. Jetzt kehrt er zurück und mordet weiter.«

»Wie?«

»Sie vereist die Menschen. Wenn sie erscheint, geht ihr die Kälte des Todes voraus.«

Lady Sarah nickte. »Kompliment, Signorina Brandi. Sie wissen sehr gut Bescheid.«

»Si, das ist wahr. Manchmal ist Venetia für mich wie eine Schwester, wie eine böse Schwester.«

»Die Sie hassen?«

»Ich glaube schon. Und alle anderen hier hassen sie auch. Obwohl jeder auf ihr Erscheinen wartet und hofft, daß es ihn nicht erwischt.«

»Irgendwann ist es doch vorbei. Dann ist keiner der Gäste mehr übrig.«

»Das wäre auch so, wenn Venetia das ganze Jahr durchmorden würde. Aber sie beschränkt sich allein auf die erste Hälfte des Monats Mai. Danach ist Schluß.«

Sarah Goldwyn schüttelte den Kopf. »Egal, was Sie auch denken, Signora, ich finde es weiterhin seltsam.«

Sie leerte ihr Glas und stellte es sanft ab. »Aber es ist spannend, da können Sie nichts gegen sagen.«

»Und lebensgefährlich.«

»Was haben wir Alten noch zu verlieren? Man soll uns diesen Spaß mit dem Tod doch gönnen.«

»Sorry, darüber denke ich anders. Ich lebe, das können Sie mir glauben, gern und intensiv. Ich möchte meine Jahre genießen und kein Spielball für den Tod sein.«

»Das verstehe ich auch.«

»Aber Sie denken anders?«

»Ja, ich habe alles abgegeben. Die Firma befindet sich in der Hand meiner Nachkommen. Wir machen Nudeln, in Italien sehr krisensicher. Ich habe genügend Vermögen, um reisen zu können.«

»Und Ihr Gatte?«

»Der lebt schon seit fünf Jahren nicht mehr. Es war nicht schade um ihn. Er war ein alter Fremdgänger, hat mich von hinten und vorn betrogen, aber ich habe das Geld, das war wichtig. Heute will ich noch etwas Spannung haben, früher war es nur die Langeweile gewesen. All das hat mich angeödet. Die Feste, das angebliche dolce vita oder dolce far niente. Es ist beides nichts für mich. Keine Spannung.«

Sarah enthielt sich eines Kommentars. Sie hatte schon viele Menschen kennengelernt, aber die Brandi gehörte zu den seltsamsten, die ihr je untergekommen waren.

»Jetzt sind Sie geschockt, nicht wahr?«

»Nein.« Die Horror-Oma gab eine ehrliche Antwort. »Das bin ich nicht. Wissen Sie, ich bin schon einiges gewöhnt. Ich frage mich nur, wie die Familie zu Ihrem ungewöhnlichen Hobby steht?«

»Sie weiß von nichts. Außerdem sehe ich die Leute kaum.« Sie redete sehr neutral darüber. »Wir treffen uns nur zu offiziellen Anlässen. In der Regel sind es dann Pressetermine.«

»So kann man leben?«

»Ich schon.« Sie winkte den Ober herbei und bestellte das nächste Glas Martini. »Wissen Sie, die Familie besitzt zwar in Italien einen hohen Stellenwert, aber nicht überall.« Die Brandi lachte gackernd. »Nun ja, ich genieße mein Leben und auch die Spannung.« Sie beugte sich über die Tischkante, um näher bei Lady Sarah zu sein. »Schauen Sie sich mal unauffällig um. Dann wird Ihnen auch die Unruhe auffallen, die die meisten der Gäste befallen hat. Sie spüren genau, daß etwas kommt.«

»Sie auch?«

»Ja. Ich sagte Ihnen schon. Der Nebel ist ihr Wetter. Da wird sie aus ihrem Versteck herauskommen und sich ein neues Opfer suchen. Ich finde es gut.«

»Nun ja, ich weniger.«

»Machen Sie sich nichts daraus. Vielleicht haben Sie Glück, und es trifft einen anderen.«

»Ein schwacher Trost.«

»Besser als keiner.«

Der Martini wurde serviert.

Die Brandi nippte wieder und schaute dabei über den Rand des Glases hinweg auf die anderen Gäste.

»Sie werden immer nervöser. Wie sie mit ihren Händen über die Lehnen rutschen, das sind Zeichen.«

»Dann soll sie doch endlich kommen, zum Teufel!« Sarah Goldwyn hatte den Satz kaum ausgesprochen, als es geschah.

Plötzlich flackerte das Licht. Der Kronleuchter über ihrem Kopf schien in Bewegung geraten zu sein. Das Licht ging aus, wieder an, wieder aus – und es blieb dunkel.

Sekundenlang war es still. Nur im Hintergrund brannten einige Wandleuchten.

Ein leises Räuspern klang überlaut. Das fade Dämmerlicht blieb, die Menschen hielten den Atem an.

Was würde geschehen?

Auf einmal war der kalte Hauch da. Er strich wie mit Totenfingern gezeichnet durch die alte Halle, vorbei an den Gesichtern der Gäste.

Auch Lady Sarah merkte ihn. Sie erschrak, drückte den Oberkörper nach vorn und zog das Kinn an die Brust.

Der Hauch glitt vorbei.

Von rechts wehte ihr das Wispern der Tischpartnerin entgegen. »Haben Sie es gespürt?«

»Sicher.«

»Jetzt ist sie gekommen. Von nun an gibt es kein Zurück. Sie werden Venetia erleben.«

Noch erlebte Lady Sarah nichts, nur die Atmosphäre war eine andere geworden. Wie ein Wintereinbruch mitten im Sommer kam es ihr vor, und sie drehte sich auf ihrem Stuhl nach links, denn auch die Brandi tat dies.

Beide Frauen blickten, wie auch die anderen Gäste, in eine bestimmte Richtung.

Nur eine Armlänge von der Wand entfernt hockte sie auf einem der leeren Stühle.

Venetia – das Palazzo-Gespenst!

Sarah Goldwyn hörte neben sich das tiefe, stöhnende Atmen und dann den Kommentar. »Sie ist es, Himmel, sie ist es. Venetia, und sie hat sich fast manifestiert.«

Es war unwahrscheinlich. Selbst die relativ abgebrühte Sarah Goldwyn, die so leicht nichts erschrecken konnte, war bleich geworden und rührte sich nicht. Sie hockte ebenso unbeweglich auf dem Stuhl wie all die anderen auch.

Es war schlimm. Venetia zeigte sich als eine Mischung aus Geist und Gespenst. Das bläuliche, puppenhafte Gesicht, das bleiche Haar, ein roséfarben schimmerndes Kleid auf dem Körper, darunter ein Nichts, keinen Körper eigentlich, aber kalte, blaue Hände, die aus den Ärmeln des Kleides hervorschauten.

Furchtbar …

»Glauben Sie mir nun?« hauchte die Brandi.

Sarah nickte nur und beobachtete. Das Gespenst wirkte wie jemand, der es sich gemütlich gemacht hatte. Es hockte auf dem Sessel. Für Lady Sarahs Geschmack strahlte dieses Wesen eine Selbstsicherheit aus, die sie als furchtbar einstufte.

Venetia tat nichts. Sie hockte nur da und genoß ihren Auftritt. Das Gesicht schien aus Porzellan gemeißelt worden zu sein. Es paßte nur zu der übrigen geisterhaften Erscheinung, und die Hände kamen Lady Sarah vor wie Mörderklauen, die nach einem Opfer forschten, um es zu töten.

Jeder konnte es sein, und mit keinem Zeichen gab das Gespenst zu erkennen, wen es sich ausgesucht hatte.

Es saß still und bewegte nur den Kopf, um sich einen Rundblick zu gestatten.

Ein jeder fühlte die harten, weißen Augen auf sich gerichtet, aber keiner war in der Lage, etwas dagegen zu tun.

Regungslos blieben die Gäste hocken. Ein jeder hoffte, daß der Kelch an ihm vorbeigehen würde.

Auch Sarah spürte die Blicke.

Eisig, ohne Gefühl. Sie sezierten ihre Seele, dieses Gespenst kam an, es drang durch, es verbreitete eine Aura des Grauens und der Gefühllosigkeit.

Nicht jeder Gast hatte sich unter Kontrolle. Es waren einige dabei, die sehr stark, scharf und hörbar ein- und ausatmeten. Sie alle spürten den Druck, der auf ihnen lastete wie ein Gewicht.

Und zwei Frauen schrien leise auf, als sich die Gestalt einen Ruck gab und aufstand.

Es war ein sich Bewegen und Schweben zugleich. Sarah Goldwyn hatte so etwas noch nicht erlebt, sie bekam große Augen, denn die Gestalt berührte zwar mit ihren nackten, blau schimmernden Füßen den Steinboden, aber sie glitt trotzdem über ihn hinweg, und kein Laut war dabei zu hören.

Wenn sie jetzt eine magische Waffe bei sich getragen hätte, irgendeinen Dämonenbanner, möglicherweise auch ein einfaches Kreuz, dann wäre sie gegen einen Angriff gefeit gewesen, aber sie hatte bewußt nichts dergleichen mitgenommen, es lag oben im Koffer. Lady Sarah wollte das Gespenst nicht verschrecken.

Jetzt bedauerte sie es, und sie bedauerte auch, Suko nicht an ihrer Seite zu wissen.

Es schwebte weiter, ohne daß ein Laut zu hören gewesen wäre. Fahnengleich wischte es über den Boden, ein Wunder der Magie, das gleichzeitig Angst ausströmte.

Wen suchte es sich aus?

Plötzlich blieb es stehen.

Lady Sarah krampfte ihre Hände um die Holzlehnen. Sie spürte sehr deutlich, daß es jetzt darauf ankam, und im nächsten Augenblick verdichtete sich die Gestalt.

Es hatte den Anschein, als würde sie kristallisieren, glitt nach vorn, so daß Lady Sarah jetzt mehr erkennen konnte und mit ansah, wie sich das Gespenst über den Körper eines Mannes beugte, der regungslos auf dem Stuhl saß.

Im nächsten Moment schrie er.

Nein, er wimmerte, er ächzte und stöhnte. Laute, die nicht zum Aushalten waren.

Die Horror-Oma reagierte als einzige. Sie stand so rasch wie möglich auf, wollte hin – und wurde festgehalten. Die Brandi zerrte an ihrem Kleid.

»Nicht, Sarah, nicht!«

Es war zu spät.

Das Opfer gab ein letztes Röcheln von sich, dann wurde es still. Bis zu dem Zeitpunkt, als das helle, schrille und wahnsinnig klingende Lachen durch die Halle gellte, bei den Menschen einen Schock hinterließ. Niemand verließ seinen Platz.

Jeder spürte die Kälte, die wie eine Wolke kam und den eisigen Hauch des Todes vorbeistreifen ließ.

Ein letzter Gruß des Gespenstes, denn einen Lidschlag später gab es Venetia nicht mehr.

Ein phantomhafter Nebelstreifen huschte auf den Eingang zu – und war verschwunden.

Danach flammte der Kronleuchter wieder auf. Die strahlende Helligkeit ergoß sich in die Halle und beleuchtete ein makabres Bild, das sich allerdings kaum von dem unterschied, wie es vor dem Ereignis gewesen war.

Nur ein Mann saß völlig regungslos auf seinem Platz!

Keiner der Gäste traute sich aufzustehen und auf ihn zuzugehen. Man blieb hocken, wie Eisfiguren.

Vom Personal war niemand mehr zu sehen. Der Mann und die beiden Mädchen wußten genau, was sie tun mußten, wenn diese unheimliche Erscheinung den Palazzo in Besitz nahm.

Die Zeit wurde lang. Sekunden flossen dahin, klebten an einem zähen Band, das vom zurückgelassenen Grauen umklammert wurde. Einer aus ihrer Mitte würde sich nicht mehr erheben.

Das wußte auch Lady Sarah. Sie war die einzige, die sich traute. In ihren Knien spürte sie eine gewisse Weichheit, obwohl sie sehr staksig ging und neben dem Mann stehenblieb.

Er war schon sehr alt. Bestimmt achtzig. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck der Todesangst. Wie eingemeißelt lag sie auf seinen Zügen. Da spannte sich die dünne Haut mit den Altersflecken über seinen Knochen. Der Mund stand weit offen, als wollte er noch ein letztes Mal richtig Luft holen.

Er hatte es nicht geschafft …

Auch Lady Sarahs Hand zitterte, als sie die Finger auf das Gesicht des Toten zuschob. Sie wollte etwas Bestimmtes herausfinden – und sah sich nicht getäuscht, denn als sie über die Haut des Toten tastete, hatte sie den Eindruck, Eis anzufassen.

So kalt war sie.

Lady Sarah zog ihre Hand zurück. Auf der Stelle drehte sie sich. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Ein jeder erwartete von ihr einen Kommentar.

Sie nickte. Erst einmal, dann wiederholte sie diese Geste, bevor sie anfing zu sprechen.

»Ihr wißt, daß er tot ist. Wenn ihr ihn berührt, dann ist seine Haut wie Eis.«

Sie sagten nichts, nickten nur, denn sie erlebten es nicht zum erstenmal. Einige aber atmeten auf, denn jetzt konnten sie weiterleben. Zumindest einen Tag. Wer wußte schon, wen es in der folgenden Nacht erwischen würde? Dann begann die Spannung von vorn.

Rosanna Brandi meldete sich mit einer so zittrigen Stimme, wie Lady Sarah sie bei ihr noch nicht gehört hatte. »Ich habe es Ihnen gesagt, Sarah, sie ist eine Person, die sich rächt. Sie ist immer unterwegs, glauben Sie mir. Auch wenn Sie das Gespenst nicht sehen.«

Die anderen Gäste nickten wie Marionetten, als sie die Erklärungen der Frau vernahmen.

Sarah Goldwyn lachte hart auf. »Okay, ich habe verstanden. Aber wie geht es weiter?«

»Wir halten uns an das Ritual.«

»An was bitte?«

Rosanna Brandi kam auf die Horror-Oma zu. »Nach jeder Leiche läuft das gleiche ab, Sarah, Sie werden es schon sehen.«

»Aber Signora, wir müssen die Polizei …«

Die Brandi lachte, als stünde sie auf der Bühne. Die halbe Tonleiter rauf und runter. »Meine liebe Signora Goldwyn, was denken Sie eigentlich von uns?«

»Das sage ich lieber nicht.«

»Sie sind ebenfalls Gast hier. Sie werden sich an das Ritual gewöhnen müssen.«

Sarah hob die Hand. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß eine Bekannte von mir gestorben ist. Die Dame aus Oxford. Hat sie sich auch dem Ritual hingeben müssen?«

»Nein, sie war eine Ausnahme. Wir haben für Ihre Überführung in die Heimat gesorgt.«

»Sehr gut.« Sarah deutete auf die Leiche. »Was ist mit diesem Mann? Muß er nicht auch überführt werden? Zumindest an seinen Heimatort.«

»Wir werden natürlich seine Angehörigen benachrichtigen, das steht außer Zweifel. Was dann geschieht, überlassen wir einzig und allein ihnen. Dafür sind wir nicht mehr zuständig.«

Mrs. Goldwyn schüttelte den Kopf. Sie kam nicht mehr mit. Was hier ablief, war mehr als dekadent, trotzdem nicht einmal überraschend. Es paßte zu der gesamten Stimmung, die sich in den Mauern des Palazzos ausgebreitet hatte.

Auch Rosanna Brandi war ihr ein Rätsel. Die Frau reagierte ihr einfach zu sprunghaft. Einmal gab sie sich ihrer Furcht hin, dann wiederum zeigte sie eine ungewöhnliche Härte, wie zuletzt, als sie über das nun folgende Ritual sprach.

Vielleicht lag es auch an der Erleichterung, daß es sie nicht getroffen hatte.

»Nun, Signora Goldwyn?«

Sarah legte die Stirn in Falten und zeichnete mit der Zeigefingerspitze die rechte Augenbraue nach. »Ich muß mich noch immer daran gewöhnen, sorry.«

»Si, hier ist einiges anders. Aber was wollen Sie machen? Wir alle sind Akteure auf der Bühne des Lebens. Gerade in einer derartigen Umgebung wie dieser fühlt man sich so.«

Die Horror-Oma schaute sich um. Die Gäste flüsterten wieder miteinander, manche prosteten sich zu, und immer wieder wurden dem Toten scheue Blicke zugeworfen.

»Wie lange dauern die unheimlichen Vorfälle noch?«

»Nur bis Mitte Mai.«

»Dann ist Schluß?«

»Si, das gesamte Jahr über, Signora. Stellen Sie sich das vor. Aber wenn der nächste Mai kommt, werden hier sicherlich ein Teil der Gäste sitzen, die Sie auch jetzt sehen. Die Spannung läßt sie nicht mehr los. Sie haben in ihrem relativ langen Leben alles gehabt, was bleibt ihnen da noch, um es interessant zu machen? Ich kann Ihnen sagen, daß ich ebenfalls so denke, Signora.«

»Ich allerdings nicht. Meine Hobbys füllen mich so aus, daß ich an so etwas nicht denke.«

»Da ist eben jeder verschieden.«

Aus einem der Seitengänge erklangen Schritte. Wie auf Kommando erhoben sich die Gäste von ihren Stühlen und blieben in steifen Haltungen davor stehen.

Einige von ihnen hatten sich auf ihre Stöcke gestützt. Keiner drehte sein Gesicht der Quelle dieser Schritte zu, denn jeder – außer Lady Sarah – wußte Bescheid.

Die sah es Sekunden später, als die drei Personen den Gang verließen und in die Halle traten.

Es waren der Ober und die beiden Mädchen, die in der Halle die Gäste bedienten.

Nur wirkten sie jetzt anders. Zwar trugen sie noch ihre normale Dienstkleidung, hatten allerdings Kittel darüber gestreift und ihre Finger von Handschuhen bedeckt. Die neue, graue Kleidung ließ sie aussehen wie Friedhofswächter, und auch in ihren Gesichtern regte sich kein Muskel, als sie gemessenen Schrittes auf den Toten zugingen, ihn einrahmten und sich verbeugten.

Rosanna Brandi hatte von einem Ritual gesprochen. Lady Sarah mußte ihr recht geben. Was hier ablief, das verdiente diesen Namen durchaus. Auch die Gäste verneigten sich vor dem Toten. Lady Sarah machte mit, sie wollte nicht auffallen.

Dann beugte sich der Ober noch tiefer und hob die Leiche an. Die beiden Mädchen halfen ihm dabei. Und wieder konnte Sarah nur den Kopf schütteln, als sie sah, daß es ihnen nichts ausmachte. Die drei besaßen eine gewisse Routine, was den Abtransport des Toten anging.

Sie faßten ihn so unter, daß sie ihn leicht tragen konnten und verschwanden in einem der Gänge, wo ihre Schritte allmählich verklangen und wieder Stille einkehren konnte.

Die Lady Sarah durch ihre leise gestellte Frage unterbrach. »Jetzt würde mich noch interessieren, wo der Tote hingeschafft wird.«

»Leichen muß man kühl lagern.«

»Sie haben ein Kühlhaus?«

Rosanna Brandi lächelte. »Ganz so ist es nicht, meine Liebe. Aber die Keller hier verdienen den Namen noch. Sie sind in der Regel feucht und kalt. Das bleiben sie selbst in den heißen Sommertagen.«

»Und dort bleibt der Tote jetzt?«

»So ist es.«

Lady Sarah überlegte. »Wäre es vermessen zu fragen, ob ich den Keller besichtigen kann?«

Die Brandi schwieg. Es war nur das Rücken der Stühle zu hören, als sich die anderen Gäste wieder setzten.

»Nun?«

»Warum wollen Sie das?«

»Möglicherweise interessiere ich mich für alte Keller. Ist das so ungewöhnlich?«

»Ja.«

»Nicht für einen Gast dieses Palazzos.« Lady Sarah lächelte. »Zeigen Sie mir den Weg.«

»Wir werden noch etwas warten. Ich möchte das Personal auf keinen Fall stören.«

»Wie Sie meinen.«

Plötzlich erklang Musik. Keine Trauerklänge, schöne beschwingte Weisen. Leichte Tafelmusik aus der Zeit des Barocks.

Rosanna Brandi lächelte, während sie den Kopf erhoben hatte und ihren Blick über die Fresken an der Decke gleiten ließ. »Normalerweise wird nach dieser Musik auch getanzt. Sie verstehen, nicht wahr?«

Lady Sarah lächelte nicht einmal. »Aber nicht in Anbetracht der unheimlichen Vorfälle.«

»Doch, meine Liebe, doch. Gerade die Musik und der Tanz zeigen uns doch, daß wir den Tod überwunden haben. Er wollte uns nicht, er streifte an uns vorbei. Deshalb können wir uns des Lebens wieder freuen.«

»Bis zum morgigen Abend.«

»Da haben Sie recht. Dann beginnt das Ritual wieder von vorn. Vielleicht erwischt es mich oder Sie? Ich glaube, daß Sie eher an der Reihe sind, Sarah.«

»Weshalb denn?«

»Haben Sie den Blick der Venetia nicht gesehen? Haben Sie nicht erkannt, wie diese Person Sie angeschaut hat?«

»Nein.«

»Es war, das kann ich Ihnen versichern, schon so etwas wie ein Todesblick. Ein Zeichen, daß es Sie erwischen wird. Morgen, Sarah, morgen wird sie kommen und sich mit Ihnen beschäftigen. Da können Sie sagen, was Sie wollen.«

»Oder abreisen.«

»Aber nicht doch. Wollen Sie wirklich so feige sein und einfach von hier verschwinden?«

»Es wäre vielleicht besser.«

»Keiner denkt so«, erklärte Rosanna bedauernd. »Keiner von uns würde nur einen Gedanken daran verschwenden. Wo blieb denn der Sinn unseres Lebens, wenn wir dermaßen ängstlich reagierten? Was haben wir alles zu verlieren, Sarah?«

»Immerhin unser Leben.«

»Das längst hinter uns liegt. Wir gönnen uns halt den kleinen Bogen der Spannung, nicht wahr?«

Lady Sarah war da anderer Meinung. Nur hatte es keinen Sinn, darüber mit Rosanna Brandi reden zu wollen. Sie würde es niemals schaffen, die Frau zu überzeugen.

Der Ober und die beiden Mädchen erschienen wieder. Diesmal trug der Mann weiße Handschuhe, deutete ein Klatschen an. Die Geste wurde verstanden, das Gemurmel der Gäste verstummte.

»Da wir die Spannung des Abends hinter uns gelassen haben, möchte ich Sie jetzt bitten, die Getränkebestellungen aufzugeben.«

»Champagner!« krächzte eine alte Frau und zielte mit dem rotlackierten Fingernagel des Zeigefingers auf den Ober.

»Ja, Champagner!« riefen auch die anderen. »Wir wollen Champagner haben.«

»Vom besten!« dröhnte die Baßstimme eines männlichen Gastes. »Bringen Sie uns vom besten.«

Der Ober verneigte sich. »Sehr wohl, die Herrschaften, ich werde mich bemühen.«

Die Mädchen waren bereits eingeweiht und hatten auch die Vorbereitungen getroffen. Wahrscheinlich tranken die Gäste jeden Abend Champagner, denn auf großen Silbertabletts standen die schlanken Gläser für den edlen Saft wie aufgereiht.

»Wollen Sie auch ein Glas, Sarah?«

»Nein, ich möchte zunächst in den Keller.«

Rosanna Brandi lächelte. Ihre Lippen zuckten dabei. »Gut, ich habe Ihnen versprochen, an Ihrer Seite zubleiben, deshalb werde ich Sie führen.«

»Darum bitte ich.«

Als die Korken knallten und die Gäste sich um die Mädchen drängten, da fiel es kaum auf, als zwei Frauen den Saal verließen. Es stimmte nicht, daß Lady Sarah eine besondere Schwäche für Keller besaß, in diesem Fall aber mußte sie einfach hinunter, um zu sehen, wie der Tote aufgebahrt worden war.

Das ungute Gefühl ließ sich nicht vertreiben …

***

Sie waren dorthin gegangen, wo auch die Küchen- und Wirtschaftsräume des Palazzos lagen, betraten diese allerdings nicht, sondern lenkten ihre Schritte in eine kleine Nische, deren Rückseite eine Tür bildete. Ihre Füße berührten diesmal keinen Marmor, sondern einfachen grauen Stein, der sich als Treppenstufen fortsetzte, als sie in die Tiefe stiegen und von einer Feuchtigkeit umfangen wurden, als wären unsichtbare Tücher um ihre Körper gelegt worden.

Empfangen wurden sie von einer bedrückenden Stille. Die Ruhe des Todes überdeckte den Keller, dessen Räume nicht an das Stromnetz angeschlossen worden waren. Die Frauen mußten sich deshalb auf die beiden Kerzen verlassen, die auf flachen Tellern standen und ein flackerndes Licht abgaben.

Jede von ihnen trug einen Teller. Sarah Goldwyn hatte Rosanna Brandi vorgehen lassen, denn sie kannte sich in diesen Gewölben aus. Die Horror-Oma schalt sich eine Närrin, überhaupt den Wunsch geäußert zu haben, den Keller zu besichtigen. Dieser Platz wäre ideal für das Palazzo-Gespenst gewesen. Wenn es jetzt erschienen wäre, um sich der Lady anzunehmen, hätte sie sich keinen Vorwurf machen dürfen.

Aber der Geist wehte nicht herbei. Dafür strich etwas anderes durch ihr Gesicht. Eine hauchzarte klebrige Masse, an der noch winzige Tropfen hingen.

Es waren Spinnweben, die von der Decke herabhingen und auch an den Wänden klebten. Sarah schüttelte sich, als die feinen Fäden sie berührten.

»Was haben Sie?«

»Ich mag keine Spinnweben.«

Rosanna Brandi lachte. »Damit müssen Sie in derartigen Gewölben rechnen.«

Sie nahmen die letzten beiden Stufen und blieben auf dem feucht glänzenden Boden stehen. Er bestand aus hartem Lehm, nur hin und wieder wurde die Fläche von einer grauen Steinplatte unterbrochen.

Der größte Teil des Gewölbes blieb im Dunkeln. Nur wo die beiden Frauen sich aufhielten, flackerte der Schein und zeichnete Muster über ihre Gesichter und die Wände.

»Was denken Sie jetzt?« fragte die Italienerin, als sie in das gespannte Gesicht ihres Gegenübers schaute.

»Ich denke an Venetia.«

Rosanna nickte sehr bedächtig. »Das kann ich mir vorstellen, Es ist auch einfach, an sie zu denken. Dieses Gewölbe ist ihre Welt, hier müßte sie sich wohl fühlen.«

»Ist sie denn hier?«

»Keiner weiß es. Niemand kennt ihren Platz. Sie kann überall sein, denn sie ist die wahre Herrscherin.«

Rosanna hatte mit einer vor Ehrfurcht und Angst triefenden Stimme gesprochen, und Sarah sah ein, daß es jetzt keinen Sinn hatte, sie über die Hintergründe auszufragen.

»Lassen Sie uns nicht zu lange warten. Ich möchte noch nach oben zu den anderen.«

»Gehen Sie vor.«

Die Brandi setzte ihre Schritte sehr behutsam. Den Teller hielt sie vorgestreckt, und sie folgte der flackernden Lichtinsel durch einen Torbogen hinweg in ein offenes Verlies hinein, das Lady Sarah wenig später betrat.

Rosanna Brandi trat ein wenig zur Seite, damit sie für Sarah den nötigen Platz schuf.

Die Horror-Oma war auf einiges vorbereitet. Was sie allerdings in dieser feuchten, muffigen und nach Verwesung riechenden Umgebung sah, versetzte ihr einen regelrechten Schock, der sich tief in ihren Körper hineinfraß.

Das Licht der sich bewegenden Kerzenflammen fiel auf mehrere Leichen, die nebeneinander lagen und wie aufgereiht wirkten. Drei Frauen und zwei Männer.

Die Toten befanden sich in den verschiedenen Stadien der Verwesung. Am schlimmsten hatte es eine Frau erwischt, deren Haut sich schon dunkel verfärbt hatte.

»Das sind die letzten Maiopfer!« hauchte Rosanna.

Lady Sarah wollte sich abwenden. Sie konnte nicht, handelte wie unter einem inneren Zwang und näherte sich den auf dem Steinboden liegenden Toten.

Starre Gesichter sahen im Spiel von Licht und Schatten aus, als würde ihnen neues Leben eingehaucht. Es machte ihr keine Freude, die Toten zu untersuchen, aber Sarah wollte nur etwas Bestimmtes herausfinden.

Sie berührte die Haut der Toten und stellte fest, daß sie kalt wie Eis war.

»Jetzt haben Sie alles gesehen«, sagte Rosanna leise, als Sarah sich aufrichtete.

»Ja, das habe ich. Aber die Toten sollen doch abgeholt werden, sagten Sie mir.«

»Ich weiß nicht, wie ihre Angehörigen darüber gedacht haben und weshalb sie es nicht taten.«

»Wer hat ihnen denn Bescheid gegeben?«

»Ich war es nicht.«

Sarah nickte. Ihre Gedanken drehten sich bereits um andere Dinge. Ihr und Suko mußte es gelingen, diesem killenden Geist das Handwerk zu legen.

»Gehen wir.«

»Gern.«

Diesmal ging Sarah Goldwyn vor. Sie atmete nur durch die Nase, denn dieser eklige Geruch sollte nicht noch mehr ihren Mund ausfüllen. Er hing sowieso in ihren Kleidern, und es würde lange dauern, bis er wieder verschwand.

Wieder an der Oberwelt, lehnte sich Lady Sarah gegen die Wand und atmete tief durch. Sie war sehr blaß geworden, die Hände zitterten, und die Haut am Hals bewegte sich durch das heftige Schlucken.

Rosanna legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Sie hätten nicht in den Keller hineingehen dürfen, Sarah, das war nicht gut. So etwas ist nichts für schwache Nerven.«

Mrs. Goldwyn winkte ab. »Sagen Sie das nicht, ich bin stark, keine Sorgen.«