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Die Karriere des Opernbaritons Jonasch Parzival ist nie weiter gediehen als bis zum Chorsänger eines Provinztheaters und endet mit der wenig anspruchsvollen Partie des Hinter-den-Kulissen-Echos eines Kollegen. Nachdem ihm sein Psychiater geraten hat, seine Memoiren zu verfassen, stürzt er sich - auch zu dessen Verwunderung - mit der Narrenfreiheit eines entfesselten Rentners ins pralle Leben und verliebt sich in die lebenslustige und tatkräftige Powerfrau Venussa. Letztere bringt den bisher eingefleischten Junggesellen nicht nur unter ihre Haube, sondern verwickelt ihn auch in die Irrungen und Wirrungen lokaler Politik und des Wahlkampfs zwischen den "Freien Kulturpessimisten" und der "Besenpartei".
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Seitenzahl: 177
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«Das wird ein Sänger», rief seine Mutter, als Jonasch auf die Welt kam und aus Leibeskräften schrie.
«Nein, ein Philosoph», scherzte der Vater. «Seht euch die hohe Stirn an.»
«Aus dem wird nichts», sagte die eine Hälfte der Verwandtschaft.
«Aus dem wird gar nichts», die andere.
Um es Allen recht zu machen, wurde Jonasch von allem etwas.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kaptel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Tosender Applaus. Jonasch steht im gleissenden Scheinwerferlicht im Kostüm des Don Giovanni auf der Bühne, den Federhut in der Hand, und verbeugt sich immer wieder vor dem jubelnden Publikum, das von den Sitzen aufgesprungen ist. Dann hebt er beschwörend die Hände und ruft: «Es reicht, liebe Freunde! Es reicht!» Es ist zwecklos. Seine Worte gehen im Jubel unter. Rote Rosen fliegen auf die Bühne. Einzelne Zuschauer sind auf die Stühle geklettert. Und die Menge skandiert: «Jonasch! Jonasch! Jonasch!»
Plötzlich mischte sich in den Jubel das trockene Knattern eines Motors. Dann heulte eine Motorsäge auf. Die Bühne, das Publikum und Jonasch waren weg. Der Traum war aus und nur der Lärm des Motors blieb. Jonasch war erwacht. Er tastete nach dem Schalter seiner Tischlampe und schaute auf den Wecker. Sieben Uhr. Er setzte sich auf den Bettrand und schüttelte den Kopf. Nach einer Weile schlüpfte er in seine Pantoffeln und schlurfte zum Fenster. Er öffnete die Fensterläden und sah, wie die riesige Krone der Platane im Hof das Gleichgewicht verlor und sich wie in Zeitlupe zur Seite neigte. Es sah aus, als würde ein riesiger Besen über den Himmel wischen. Der Stamm barst mit einem lauten Knall, Holz krachte, Zweige splitterten. Dann folgte ein dumpfer Schlag. Kurz darauf verstummte der Motor. Es war totenstill.
Jonasch beugte sich aus dem Fenster und sah drei Männer in grellroten Overalls und gelben Helmen mit geschlossenem Visier in einer Staubwolke stehen. Einer von ihnen legte die Säge auf die hellgelbe Schnittfläche des Stamms und schob das Visier hoch. «Hallo, entschuldigen Sie?», rief Jonasch. «Darf ich fragen, wieso Sie die Platane gefällt haben?» Die drei Männer blickten hoch. Dann schauten sie einander an und murmelten etwas. «Wir sind von der Stadtreinigung», sagte einer von ihnen und hielt schützend die Hand über seine Augen. «Der Baum war krank.» «Krank?» rief Jonasch zurück und zeigte mit dem Finger auf den Baum. «Seht euch doch die Krone an, sie steht in voller Blüte. Was für eine Krankheit soll das denn sein?» Die drei Männer schauten auf die Krone, die nichts mehr von einer Krone hatte und wie ein verschmähter Blumenstrauss auf dem Boden lag. Sie wirkten ratlos und nach einer Weile sagte einer von ihnen: «Sie war nur im Herbst krank, glaube ich … Aber wenn Sie es genau wissen wollen, müssen Sie die Stadtreinigung anrufen.» «Was? Nur im Herbst krank? Wie denn das …?» rief Jonasch zurück. Die Männer murmelten wieder, zuckten die Schultern oder machten Handbewegungen ins Leere. «Zu viele Blätter …» sagte dann einer von ihnen und bückte sich nach der Motorsäge. «Ja, genau: Zu viele Blätter!» wiederholten die beiden anderen und klappten gleichzeitig ihre Visiere wieder hinunter.
Jonasch warf einen letzten ungläubigen Blick auf den Hof, schloss das Fenster und setzte sich vor das Aquarium. Wenn irgend ein Ereignis seine Vorstellungskraft überstieg, halfen ihm seine Fische, damit klar zu kommen. Er sprach mit ihnen, wenn er sich selber etwas zu erklären versuchte, das er nicht auf Anhieb verstanden hatte. Die Geschichte mit der Platane, die in diesem Augenblick zerstückelt und abtransportiert wurde, gehörte in diese Kategorie. Er drehte und wendete die Gründe, welche die Stadtreinigung dazu bewogen haben könnte, den Baum zu fällen. Er versetzte sich in die Situation der Verantwortlichen, verteidigte hier, klagte dort an - aber er kam zu keinem Ergebnis. Wenn er vor dem Becken sass und sich etwas zu erklären versuchte, kamen die Fische herangeschwommen und stiessen mit ihren vollen Lippen gegen das Glas. Wollten sie gefüttert werden? Jonasch warf eine Prise Fischfutter «De Luxe» ins Wasser, aber sie verharrten unbeeindruckt an Ort und Stelle. Sie bewegten ihre filigranen Flossen wie Fächer und starrten mit ihren Knopfaugen in eine Welt ausserhalb ihres Universums, als wollten sie es um jeden Preis durchdringen.
Wenn Jonasch sich nichts zu erklären hatte, sass er aus einem anderen Grund vor dem Aquarium. Er wollte sich inspirieren lassen. Die sanften Bewegungen der Fische sollten ihm dabei helfen, sich zu sammeln und in sein Inneres zu blicken, denn er hatte die Absicht, seine Memoiren zu schreiben. Aber es half nicht. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass ihn sein letzter Auftritt, der eine gute Woche zurücklag, noch zu sehr beschäftigte. Er war dreissig Jahre lang bei der Oper gewesen und hatte schon Monate zuvor an nichts anderes gedacht und kaum von etwas anderem gesprochen als von seiner Abschiedsvorstellung. Er hatte Eintrittskarten an seine Freunde verteilt. Aber als es dann soweit war, warteten sie den ganzen Abend vergebens auf seinen Auftritt. Aber Jonasch war da. Er stand hinter der Kulisse und verfolgte aufmerksam das Geschehen auf der Bühne, bis zur Schlussszene, in welcher der Held von seinen Feinden niedergerungen wird und mit letzter Kraft ruft: «Warum nur, warum?» Worauf es aus der Kulisse im reinsten Tenor antwortete: «Warum nur … Waruuum?» Dieses Echo war Jonaschs letzte Rolle gewesen. Der Vorhang fiel, die Oper war für immer aus und Jonasch verstimmt. Er ärgerte sich, weil der Assistent ihm vor dem Einsatz ein Zeichen gegeben hatte. Wozu braucht einer einen Einsatz, wenn er das Echo spielt? Er musste doch bloss nachsingen, was der andere vorgesungen hatte, wenn auch leicht verschoben und etwas gedehnt - wie ein Echo eben. Zum Trost bekam er beim Schlussapplaus einen grösseren Blumenstrauss als der Heldentenor. Blumen für dreissig Jahre Opernchor und einen einzigen Soloauftritt. Als Echo. In der Kulisse.
Als am andern Morgen ein grosses Bild in der Zeitung erschien, auf welchem das ganze Ensemble beim Schlussapplaus abgebildet war, war Jonasch allerdings darauf nicht zu sehen. Als ihn seine Freunde fragten, weshalb er nicht auf dem Bild sei, antwortete er: «Ich war in der Garderobe. Der Blumenstrauss war zu gross. Der Fotograf hat gesagt, er bekomme nicht alles aufs Bild, ich müsse den Strauss weglegen. Da habe ich gesagt: ‘Nicht ohne meine Blumen!’ und bin in die Garderobe gegangen.»
Gleich am andern Tag wollte Jonasch mit seinen Memoiren beginnen. Es war nicht seine Idee gewesen, Doktor Ernst hatte ihm dazu geraten. «Ein Blick zurück hat noch niemandem geschadet», hatte er er ihn zu überzeugen versucht. «Man muss sich seiner Vergangenheit stellen.» Jonasch wusste nicht, wem er sich da zu stellen gehabt hätte. Aber Doktor Ernst war Psychiater und kannte sich mit diesen Dingen besser aus. Und schliesslich war er selbst zur Überzeugung gekommen, dass er der Nachwelt seine Erinnerungen nicht vorenthalten durfte. Auch sollten zukünftige Tenöre durch seine exemplarische Karriere wertvolle Anregungen erhalten, die ihnen nützlich sein würden - auch wenn er aus dem Stegreif gerade kein einziges konkretes Beispiel hätte anführen können. «Das wird sich aber geben», sagte er zu sich selbst und setzte sich voller Zuversicht an seine Hermes Baby.
Nach einer Woche sass er immer noch vor einem leeren Blatt. Selbst die stummen Zwiegespräche mit den Fischen hatten ihn nicht weiter gebracht. «Ich war dreissig Jahre bei der Oper, Doktor, und mir fällt keine einzige Zeile ein», sagte er in der nächsten Dienstagssitzung betrübt zu Doktor Ernst. Dieser schwieg. Er nuckelte an einer erkalteten Tabakpfeife und machte ebenfalls ein betrübtes Gesicht. Es war aber nicht sicher, ob dies auf Jonaschs Problem zurückzuführen war oder doch eher darauf, dass er daran war, sich das Rauchen abzugewöhnen. Er räusperte sich nach einer Weile und sagte: «Schreibblockade.» Jonasch lag auf der Couch und rührte sich nicht. «Sie leiden an einer Schreibblockade, lieber Jonasch», wiederholte Doktor Ernst und machte sich eine Notiz im Buch, das er vor sich auf dem Schoss hatte.
Jonasch wusste aus Erfahrung, dass dies nichts Gutes zu bedeuten hatte. Wenn Doktor Ernst erst einmal seine Pfeife aus dem Mund nahm und etwas notierte, bedeutete dies mindestens weitere zehn Jahre Dienstagnachmittag in seiner Gesellschaft. Schönes Wetter hin oder her. Er versuchte das Unmögliche und rief lauter, als er eigentlich wollte: «Schreibblockade? Aber ich habe doch erst letzten Sommer meiner Schwester in Schweinhall eine Ansichtskarte geschrieben!» «Eben», sagte Doktor Ernst, «das ist typisch. Sie haben die Karte nur geschrieben, weil Sie ein Alibi brauchten. Sie wollten sich beweisen, dass Sie gar kein Problem haben.» Jonasch dachte nach. Er wollte etwas sagen, wusste aber nicht was und seufzte statt dessen resigniert. «Sie haben doch seit dieser Karte nichts mehr geschrieben, oder?», bohrte Doktor Ernst weiter. «Nein, ich habe ja nur eine Schwester», sagte Jonasch und schöpfte wieder Hoffnung. «Sehen Sie? Ein klarer Fall! Wenn wir die Blockade nicht behandeln, schreiben Sie nächstes Jahr nicht einmal mehr diese Karte!», sagte Doktor Ernst vorwurfsvoll. «Ich kann Ihnen nur wärmstens empfehlen, in Zukunft auch am Freitag zu kommen!» Nach diesen Worten legte er das Notizbuch auf das Pult und ging zum Fenster, um die schweren Vorhänge zur Seite zu schieben. Das war das Zeichen, dass die Sitzung beendet war. Jonasch erhob sich von der Couch. Sein Blick fiel auf das offene Notizbuch. Der Doktor hatte nur zwei Wörter hineingeschrieben:
«Unbewältigte Analphase».
Jonasch war überzeugt, dass sein Problem noch andere Ursachen haben musste und verdächtigte seine Schreibmaschine. Die Hermes Baby war alt und klapprig und hätte bestimmt einen Heidenlärm gemacht, wenn er darauf geschrieben hätte. Er hatte sie aus lauter Sentimentalität behalten, weil er auf ihr das Maschinenschreiben gelernt hatte, als er vor fünfzig Jahren die Steuererklärung seines Vaters abtippen musste. Aber Sentimentalität hatte jetzt keinen Platz mehr. Er glaubte seine sensible Künstlernatur vor dem monotonen Geklapper schützen zu müssen und beschloss, sich ein Notebook zu kaufen.
Als er am andern Tag das Fachgeschäft betrat, war er der einzige Kunde. Die Verkäufer waren aber trotzdem beschäftigt. Sie standen an den Verkaufstischen und starrten wie unter Hypnose auf die Monitore ihrer Computer. Mit beiden Händen betätigten sie die Hebel einer Konsole und zuckten und vibrierten dabei, als wären sie fortwährend starken Stromstössen ausgesetzt. Aus dem Kasten dröhnte, pfiff und zischte es wie bei einer wilden Schiesserei in einem Italowestern. Jonasch blieb vor einem der Ladentische stehen und wartete. Nach einer halben Stunde blickte der Verkäufer auf, weil ihn etwas störte. Die Störung war Jonasch. «Guten Tag. Könnten Sie mir vielleicht ein Notebook zeigen?», fragte er freundlich. Der Verkäufer wandte sich wieder seinem PC zu und arbeitete weiter. Er tat so, als wäre er gar nicht gestört worden. Jonasch verstand das. «Dieser Mann arbeitet gerne und muss sich konzentrieren», dachte er, «ich mag es auch nicht, wenn ich bei der Arbeit abgelenkt werde.»
Als er sich nach einer weiteren halben Stunde vom Verkaufstisch entfernen und auf einen Stuhl setzen wollte, zeigte der Verkäufer mit dem Daumen über die Schulter und sagte: «Da!» «Da» war ein Regal, auf welchem die neuesten Modelle aufgereiht waren. Jonasch näherte sich ehrfürchtig und schaute sich alle an, wie er früher als Messdiener die goldgefassten Reliquien in der Kirche angeschaut hatte. Nach einer Weile begann er zaghaft die Tasten zu streicheln. Dann drückte er sie hinunter, als wolle er wirklich schreiben. Es gab kein Geräusch. Kein Geklapper. Nichts. Jonasch fühlte einen Stich im Herz. Er wusste, dass er seine Hermes Baby, das Baby seines Vaters, nun endgültig verraten hatte. Er wandte sich wieder an den Verkäufer, der «Da!» gesagt hatte. Der arbeitete immer noch, aber plötzlich rief er so laut, dass Jonasch unwillkürlich beide Hände zur Abwehr hob: «Gewonnen!» Er schaute Jonasch völlig entrückt an und rief wieder «Gewonnen!», während es aus dem Monitor noch ein paar Mal zischte und pfiff. Jonasch nutzte die Gelegenheit und sagte schnell: «Ich nehme den da. Den da drüben!» und zeigte mit ausgestreckter Hand auf das teuerste Modell. Der Verkäufer schaute Jonasch an, als wäre er nicht von dieser Welt. Er hatte gewonnen und dieser Mensch da hatte nichts anderes im Sinn, als auf ein Notebook zu zeigen? Seine Begeisterung fiel von ihm ab, wie ein Stück leuchtender Tapete von einer grauen Wand. Dann fasste er sich, murmelte etwas, das sich wie «Lager» anhörte und verschwand.
Jonasch blieb am Ladentisch stehen und erinnerte sich nun plötzlich wieder an Sigi. Sein Freund Sigi kannte sich mit Hightech aus, und er hatte ihm eingeschärft, sich das Gerät im Geschäft erklären zu lassen. «Lass dir die wichtigsten Funktionen zeigen! Im Laden! Vor deinen Augen! Überzeuge dich, dass es funktioniert. Versprochen?» Und er hatte es versprochen. Sigi hatte drei Notebooks zuhause und keines funktionierte. Trotzdem war er für Jonasch ein Genie, auch wenn er vergessen hatte, wieso. Der Verkäufer kam zurück, legte das Notebook auf das Pult und füllte schweigend den Garantieschein aus. «Können Sie mir sagen, wie das Gerät funktioniert?» fragte Jonasch. Das war er Sigi schuldig. «Kein Problem. Ein Kinderspiel. Sie müssen nur dies und das und weiss ich was. Wirklich ein Kinderspiel!», sagte der Verkäufer und zählte die Scheine nach, die Jonasch auf den Ladentisch gelegt hatte. «Aha», sagte Jonasch. Aber da war er schon allein.
Jonasch ging mit dem Koffer in der Hand durch die Stadt und wusste nicht so recht, ob er sich freuen solle. Einerseits hatte er jetzt ein Notebook, andererseits aber auch ein Problem, bei dem ihm die Fische nicht helfen konnten. Er setzte sich auf die Terrasse eines Cafés und schloss die Augen. Er überlegte sich, wie er Sigi am besten beibringen konnte, dass er keine Ahnung hatte, wie das Ding funktionierte.
Zuhause rief er ihn an und sagte: «Ich habe das Notebook! Es … äähm … es funktioniert … glaube ich.» Sigi schwieg, wie nur Sigi schweigen konnte. Er ahnte nicht nur alles, er wusste auch schon alles. Jonasch wusste auch, dass er schon alles wusste, aber er wollte trotzdem weiterreden. Aber Sigi kam ihm zuvor: «Hast du es dir zeigen lassen?» fragte er mit einer Stimme, die er sich für solche Gelegenheiten von einem Grossinquisitor auslieh. «Äähm … sie haben gesagt, es sei ein … äähm … Kinderspiel», stotterte Jonasch. Sigi schwieg wieder. Jonasch wusste, dass er jetzt an seiner Unterlippe kaute und dass seine Freundin ihn dafür hasste, denn er kaute nur an der Unterlippe, wenn er mit Jonasch telefonierte. «Ein Kinderspiel», sagte dieser nun noch einmal, «du musst nur ‘dies und das und weiss ich was’ …» Sigi schwieg immer noch. Jonasch wusste, dass er jetzt sein weises Haupt schüttelte und dass er schnell noch etwas sagen musste, denn sonst würde Sigi der Kopf abfallen und er müsste einen andern Freund mit drei defekten Notebooks suchen, der dann wieder eine Freundin hätte, die ihn hassen würde. «Ich bringe es dir morgen vorbei», rief Jonasch schnell und hängte auf.
Sigi empfing ihn am andern Tag wie alle, die ihn mit einem Koffer in der Hand aufsuchten. Er sah durch ihn hindurch und hatte nur Augen für den Koffer. Er nahm ihn in Empfang, wie man etwas ergreift, das einem schon immer gehört hat und legte ihn auf ein riesiges Pult, über dem eine grosse Lampe schwebte, wie man sie in Operationssälen sieht. Als er den Koffer öffnete, verklärte sich sein Gesichtsausdruck mit einem Schlag und Jonasch wusste jetzt wieder, wieso Sigi ein Genie war. Er sah jetzt aus wie Einstein. Oder Max Planck. Oder die Marx Brothers. Sigi drückte völlig entrückt alle Tasten und Knöpfe und pfiff dabei leise vor sich hin. Jonasch wusste, dass Genies nicht gestört werden durften und begnügte sich damit, im Gesicht seines Freundes zu lesen. Hatte er die Lösung? Nachdem Sigi alle Funktionen ausprobiert hatte, die nicht funktionierten, zog er plötzlich einen Schraubenzieher mit einem abgekauten Holzgriff aus der Schublade und begann die verschraubten Teile zu öffnen. Als ein paar Kabel herausquollen, stopfte er sie grunzend wieder in den Kasten zurück und leuchtete mit einer winzigen Taschenlampe hinein.
«Siehst du etwas?», fragte Jonasch und bedauerte es auch gleich, denn anstatt zu antworten fluchte Sigi zum ersten Mal. Jonasch sah sich diskret nach einem Fluchtweg um. Als die Pausen zwischen den Flüchen immer kürzer wurden, verliess er den Operationssaal auf Zehenspitzen und meldete sich erst am andern Morgen wieder. Sigi begann erst gar nicht zu kauen, sondern sagte mit stolzer Gelassenheit: «Ich habe es repariert!» Jonasch war ausser sich vor Freude: «Ich kann also heute Abend damit arbeiten?» «Sicher», antwortete Sigi. «Aber nicht allzu lange. Man sollte ein neues Gerät nicht überfordern.» «Klar», antwortete Jonasch verständnisvoll. «Wie lange glaubst du, werde ich es einschalten können?» «Das wird es dir dann schon zeigen», antwortete Sigi, «es ist ein modernes Gerät, das gleich ausschaltet, wenn es sich überfordert fühlt.» Jonasch holte das Notebook bei Sigi, ging nach Hause und probierte es gleich aus. Es war, wie Sigi gesagt hatte. Es startete blitzschnell auf, flimmerte kurz, fühlte sich überfordert und stürzte gleich wieder ab.
Am andern Tag brachte Jonasch das Notebook wieder ins Geschäft und suchte den Verkäufer, der es ihm verkauft hatte. Diesmal war er nicht allein. Ein halbes Dutzend Kunden stand Schlange vor dem Ladentisch, hinter welchem ein anderer Angestellter mit der Konsole arbeitete und die selben Geräusche produzierte wie sein Kollege am Vortag. Sie warteten, bis er «Gewonnen!» rief und wurden dann an einen anderen Tisch verwiesen, wo sich gleich wieder eine Schlange bildete. Eine Stunde später war Jonasch an der Reihe und erklärte dem Mann, welche Probleme er mit dem Notebook habe. Der Verkäufer schaute ihn lange an. Es sah aus, als versuche er in Jonaschs Augen zu lesen, aber dann begann er bloss zu zählen: «Eins, zwei, drei, vier, fünf …» Jonasch schaute ihn mit offenem Mund an. Der Mann zählte nochmals auf fünf und sagte dann: «Es sind fünf Tage her, seit Sie das Gerät gekauft haben. Es gibt aber nur nach höchstens drei Tagen ein neues. Wir müssen es zur Reparatur einschicken und das dauert einen Monat.» Jonasch zählte nach und kam auch auf fünf. Wir können beide auf fünf zählen, dachte er und fasste neuen Mut. «Gibt es noch eine andere Möglichkeit?» fragte er vorsichtig. «Ja», sagte der Verkäufer. «Dass es drei bis vier Monate dauert.» «Aha», sagte Jonasch. «Es kann auch vorkommen, dass das Gerät zurückkommt und gar nicht repariert wurde», fügte der Mann hinzu und schielte auf den Monitor seines Nachbarn, wo sich winzige Männchen Kühlschränke um die Ohren schlugen. Er machte eine kleine Pause. Es schien, als habe er den Faden verloren, doch dann fuhr er weiter: «Wenn das plombierte Gehäuse mit einem abgekauten Schraubenzieher geöffnet wurde, fällt die Garantie weg und wir können gar nichts mehr tun.» Jonasch verliess den Laden, schenkte Sigi das vierte Notebook zum Geburtstag und setzte sich zu Hause an die Hermes Baby.
Ich bin an einem Frühlingstag auf die Welt gekommen. Jonasch betrachtete seinen ersten Satz lange und war stolz auf sich. Er wusste, dass der erste Satz der schwierigste war und dass es von nun an leichter gehen werde. «Von wegen Schreibblockade», sagte er zu sich selbst und überlegte schon, ob er die Besuche bei Doktor Ernst wieder auf den Dienstag beschränken solle. Eine halbe Stunde später schrieb er den zweiten Satz: Die Vöglein zwitscherten. Je länger er ihn betrachtete, desto mulmiger wurde ihm zumute. Er sagte sich ihn mehrmals laut vor, aber es wurde nicht besser. Das schlechte Gefühl blieb. Und wenn er ein schlechtes Gefühl hatte, ging er im Zimmer hin und her und blieb früher oder später beim Aquarium stehen. Er fütterte dann geistesabwesend die Fische ein zweites oder drittes Mal und fühlte sich meist nach kurzer Zeit wieder besser. Es war ein Abstecher in die Natur, der für beide ein Gewinn war. Dann setzte er sich wieder an den Tisch und starrte auf das Blatt. Zwitscherten? Woher weiss ich denn, dass sie zwitscherten? «Ich war doch eben erst geboren und kann das doch gar nicht wissen?», fragte er sich selbstkritisch. «Wenn ich es schon beim zweiten Satz mit der Wahrheit nicht so genau nehme, wie soll ich am Ende wissen, was ich wirklich erlebt habe und was nicht?», setzte er sein Selbstverhör fort.
«Wieso fragen Sie nicht Ihre Mutter?» schlug Doktor Ernst vor, nachdem Jonasch ihm seine Gewissensbisse gebeichtet hatte. «Sie lebt seit zehn Jahren im Altersheim», antwortete Jonasch bekümmert, «ich kann ihr nicht einmal telefonieren. Sie ist schwerhörig.» «Besuchen Sie sie doch mal und fragen Sie sie, ob die Vögel zwitscherten, als sie mit