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Joseph Conrad (1857-1924) war ein englischer Schriftsteller polnischer Herkunft. Er wurde zunächst Seemann und fuhr viele Jahre auf Schiffen der britischen Handelsmarine über die Weltmeere. Die dabei gemachten existenziellen Erfahrungen bilden die Grundlage vieler seiner Romane und Erzählungen. Conrad wurde berühmt als ein Autor, der extreme Schauplätze und Situationen meisterhaft zu schildern vermag. Er gehörte zugleich zu den frühen Kritikern des Kolonialismus. Zahlreiche seiner Werke wurden verfilmt, unter anderem ist Francis Ford Coppolas "Apocalypse Now" von Motiven aus Conrads Roman "Herz der Finsternis" inspiriert. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
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Seitenzahl: 233
Peter Nicolaisen
Joseph Conrad (1857–1924) war ein englischer Schriftsteller polnischer Herkunft. Er wurde zunächst Seemann und fuhr viele Jahre auf Schiffen der britischen Handelsmarine über die Weltmeere. Die dabei gemachten existenziellen Erfahrungen bilden die Grundlage vieler seiner Romane und Erzählungen. Conrad wurde berühmt als ein Autor, der extreme Schauplätze und Situationen meisterhaft zu schildern vermag. Er gehörte zugleich zu den frühen Kritikern des Kolonialismus. Zahlreiche seiner Werke wurden verfilmt, unter anderem ist Francis Ford Coppolas «Apocalypse Now» von Motiven aus Conrads Roman «Herz der Finsternis» inspiriert.
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Peter Nicolaisen, geb. 1936 in Hamburg, lehrte bis zu seiner Pensionierung englische und amerikanische Literatur an den Universitäten Flensburg und Kiel. Veröffentlichungen über Ernest Hemingway, William Faulkner, die Literatur der amerikanischen Südstaaten. Für «rowohlts monographien» schrieb er außerdem die Bände über Thomas Jefferson und William Faulkner. Peter Nicolaisen starb 2013 in Flensburg.
rowohlts monographien
begründet von Kurt Kusenberg
herausgegeben von Uwe Naumann
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023
Copyright © 1988 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten
Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung any.way, Hamburg
Coverabbildung privat (Joseph Conrad in New York, 1923)
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01777-1
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Ich weiss, dass ein Romancier in seinen Werken lebt, hat Joseph Conrad in seinem Buch Über mich selbst gesagt. Da steht er, in einer erdachten Welt die einzige Wirklichkeit inmitten vorgestellter Dinge, Ereignisse und Menschen. Indem er über sie schreibt, schreibt er nur über sich selbst. Doch die Enthüllung ist nicht vollständig. Bis zu einem gewissen Grade bleibt er eine Gestalt hinter einem Schleier; mehr eine vermutete als eine wahrgenommene Gegenwart – eine Bewegung und eine Stimme hinter dem Vorhang der Dichtung.[1]
Joseph Conrad hat die Stimme, in der er mit seinem Leser spricht, nicht nur in seinem erzählerischen Werk, sondern auch in seinen autobiographischen Schriften sehr bewusst gestaltet. Wie er später schrieb, stürzte er sich im Alter von siebzehn Jahren, als er sein Heimatland Polen verließ, in eine bindungslose Existenz.[2] Diese galt es zu rechtfertigen, vor sich selbst, vor seinen Lesern, vor der Geschichte. Immer wieder fühlte er sich gedrängt, die Wirklichkeit seines Lebens zu erklären und ihr eine bestimmte Form zu verleihen; am Ende sollte das Bild einer Persönlichkeit entstehen, deren Herkunft und Handlungen einen begründbaren Zusammenhang ergeben.[3]
Das Bestreben Conrads, der eigenen Lebensgeschichte eine bestimmte Gestalt zu verleihen, gibt seinen autobiographischen Schriften ihren besonderen Charakter. Sie werben um Verständnis und um Gemeinsamkeit, doch dabei verbergen sie häufig mehr, als sie offenbaren. Dies gilt auch für einen großen Teil der Korrespondenz des Erzählers. Conrad stellte sich auf sein Gegenüber ein; in persönlichen Dingen aber übte er gewöhnlich Zurückhaltung. Um zu erfahren, wie er wirklich war, müssen wir nicht selten zwischen den Zeilen lesen. Homo duplex hat in meinem Falle mehr als eine Bedeutung, schrieb er an einen Bekannten, der wie er seine Heimat verlassen hatte.[4] Das Bild eines ausgeglichenen, in sich selbst ruhenden Menschen, das der Autor in seinen Selbstzeugnissen gern präsentierte, war in der Tat nur eine Vision, und Conrad war sich der offenkundigen Gegensätze in seiner Biographie, der Widersprüche in seinem Wesen, seiner Fremdheit und Ruhelosigkeit wohl bewusst. Sichtbar werden die Spannungen, die er in seiner Person vereinigte, am ehesten in seinem erzählerischen Werk.
Leben und Werk Conrads sind in jüngster Zeit in zwei großangelegten Biographien ausführlich dokumentiert worden: in «Joseph Conrad: The Three Lives» von Frederick R. Karl (1979) und in «Joseph Conrad: A Chronicle» von Zdzisław Najder (1983). Die folgende Darstellung stützt sich insbesondere auf die Arbeit von Najder, hat aber auch von jener Karls viele Anregungen erhalten. Auf die überaus reiche Sekundärliteratur zum Werk Conrads kann in den Anmerkungen nur sehr gelegentlich verwiesen werden; die Bibliographie führt die wichtigsten Arbeiten auf.
Ich bin kein populärer Autor und werde wahrscheinlich nie einer sein, schrieb Conrad einer Freundin aus den Tagen seiner Kindheit und fügte hinzu: Das macht mich nicht traurig, denn ich habe nie den Ehrgeiz gehabt, für das allmächtige Volk zu schreiben.[5] Aber seine Leser waren ihm nicht gleichgültig, und er wollte verstanden werden: Ich möchte für mich so viel Einsicht beanspruchen, sagte er, wie in einer von Anteilnahme und Mitgefühl geleiteten Stimme ausgedrückt werden kann.[6]
In einem Gedicht, das Conrads Vater zur Taufe seines Sohnes schrieb, finden sich die Verse: «Mein kleiner Sohn – keine Furcht; / schlaf nur, die Welt ist dunkel, / Du hast keine Heimat, kein Land. / […] Fremde Geister werfen ihre Schatten, / …] Der Himmel und die Gottheit umgeben Dich; / Sei gesegnet, mein kleiner Sohn: / Sei ein Pole!»[7] Apollo Korzeniowski, der Vater Conrads, war ein glühender Patriot; die «Schatten fremder Geister», die er in seinem Taufgedicht beschwört, sind jene Russlands, Preußens und Österreichs, die das ehemalige Königreich Polen im Zuge der drei Teilungen zwischen 1772 und 1795 politisch entmachtet und untereinander aufgeteilt hatten. In Prinz Roman, einer der wenigen Erzählungen, die er in Polen ansiedelte, sprach Conrad später von seinem Heimatland als diesem Land, das geliebt werden will, wie kein anderes Land je geliebt worden ist, mit der trauernden Inbrunst, die man für unvergessliche Tote hegt, und mit dem Feuer einer hoffnungslosen Leidenschaft, wie sie nur ein lebendiges, atmendes, warmes Ideal in uns zu entzünden vermag[8]. In seiner polnischen Herkunft sah Conrad eine Verpflichtung, zu der er sich stets bekannte, die ihn aber zugleich schmerzhaft belastete.
Józef Teodor Konrad Korzeniowski wurde am 3. Dezember 1857 in Berditschew in der heutigen Ukraine geboren. Seine Kindheit und Jugend sind aufs engste mit der politischen Situation Polens zur damaligen Zeit verbunden. Sowohl die väterliche wie die mütterliche Familie gehörte dem polnischen Landadel an, der Schicht der «Szlachta», die seit Jahrhunderten die tragende politische und gesellschaftliche Kraft im polnischen Königreich gebildet hatte. Beide Familien, schrieb Conrad später an seinen Freund Edward Garnett, opferten ihr Vermögen, ihre Freiheit, ihr Leben für die Sache, an die sie glaubten, und nur wenige machten sich Illusionen über den Erfolg[9]. Der Ton ist typisch: Bei aller Bewunderung für jene, die sich für die Sache Polens eingesetzt und für sie gekämpft haben, bleibt Conrad distanziert. Im selben Brief charakterisiert er seine Großväter: Mein Großvater väterlicherseits Theodor N. Korzeniowski diente in der Kavallerie. Ausgezeichnet mit dem Kreuz «Virtuti Militari» … Erwarb den Rang eines Hauptmanns, als 1830 der russisch-polnische Krieg ausbrach … Zwei Verwundungen. Zog sich auf ein kleines Erbgut zurück … Mein anderer Großvater, Joseph Bobrowski, Landbesitzer, ein geistreicher Mann, Eigentümer einer berühmten Zucht von Steppenpferden, lebte und starb auf seinem Gut Oratow; geschätzt und viel beklagt … Hinterließ eine große Familie mit Söhnen und einer Tochter Eva – meiner Mutter.[10]
Joseph Conrads Vater Apollo (1820–69) studierte an der Universität von St. Petersburg Sprachen, Literatur und Rechtswissenschaft und war zunächst als Gutsverwalter tätig. Seine Werbung um Eva Bobrowski (1831–65) stieß auf erheblichen Widerstand der Familie Bobrowski, und erst nach dem Tod von Evas Vater, zehn Jahre nachdem sie sich kennengelernt hatten, wurde den beiden gestattet zu heiraten. Einer der wesentlichen Gründe für die Ablehnung Korzeniowskis lag in dessen politischer Gesinnung. Conrads Vater gehörte zu den «Roten», die ihre Hoffnung für Polens Zukunft in offenem Aufstand und einer militärischen Auseinandersetzung mit der russischen Regierung sahen; die Bobrowskis dagegen zählten zu den «Weißen», die, um die Unabhängigkeit Polens zu erreichen, eher auf Verhandlungen und die diplomatische Hilfe auswärtiger Mächte, vor allem Englands und Frankreichs, setzten. Die Fraktion der «Weißen» war vorwiegend konservativ und bestrebt, die überkommenen sozialen Strukturen zu erhalten, während die «Roten» mit dem Kampf gegen die russische Unterdrückung zugleich weitreichende soziale Reformen verfolgten. Ein entschiedener Gegner Apollos und der von ihm vertretenen Politik war Tadeusz Bobrowski, der älteste Bruder Evas, der später Conrads Vormund wurde.
Apollos Erfolg als Gutsverwalter war gering. Seine wahren Neigungen gehörten der Literatur und der Politik. Er schrieb Gedichte, Dramen, literarische Aufsätze und politische Streitschriften und verfasste zahlreiche Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen ins Polnische. Um dem Zentrum des Widerstands gegen die Russifizierungspolitik von Zar Alexander II. (1818–81) näher zu sein, ging er im Frühjahr 1861 nach Warschau; seine Frau und der dreijährige Junge folgten wenige Monate später. Wegen seiner Aktivitäten im Untergrund – er hatte Aufrufe gegen das Regime verfasst und verbreitet sowie geheime Treffen polnischer Widerstandsgruppen organisiert – wurde Korzeniowski im Oktober 1861 von der russischen Polizei verhaftet. Das Urteil gegen ihn, nach über sechsmonatiger Haft in der Warschauer Zitadelle gefällt, lautete auf Verbannung in die Provinz Perm. Auf Grund ihrer Mittäterschaft wurde Eva in die Bestrafung eingeschlossen.
Nach einer Intervention des Provinzgouverneurs wurde die Familie statt nach Perm unter polizeilicher Begleitung in das nördlich von Moskau gelegene Wologda gebracht. Die Folgen des Exils waren bitter. Zwar verlegten die Behörden die Korzeniowskis schon im Januar 1863 nach Tschernigow in der nördlichen Ukraine, und Eva und der Junge durften einen mehrmonatigen Urlaub auf dem Besitz der Bobrowskis verbringen, doch der gesundheitliche Verfall Evas, beschleunigt durch das ungesunde Klima in Wologda und mangelnde ärztliche Betreuung, war nicht aufzuhalten. Conrads Mutter starb am 18. April 1865 an Tuberkulose, im Alter von knapp 34 Jahren.
Apollo, selbst durch ein Tuberkuloseleiden geschwächt, war zutiefst getroffen. Als ihm im Januar 1868 endlich erlaubt wurde, Russland zu verlassen, zog er zusammen mit seinem zehnjährigen Sohn in den damals österreichischen Teil Polens, zunächst nach Lemberg, dann nach Krakau. Hier starb er, 49 Jahre alt, im Mai des darauffolgenden Jahres. In Begleitung von Mitgliedern der Familie und eines Freundes des Vaters marschierte der Junge Conrad an der Spitze des riesigen Trauerzugs, der «dem zu früh verstorbenen Dichter und großen Sohn Polens die letzte Ehre erwies», wie es in einem zeitgenössischen Bericht heißt.[11] Im Rückblick deutete Conrad die Beerdigungszeremonie als eine Kundgebung des Geistes der Nation: Sie waren gekommen, um der glühenden Treue eines Mannes Tribut zu zollen, dessen Leben ein furchtloses Bekenntnis in Wort und Tat zu dem Glauben gewesen war, den das einfachste Herz in der Menge fühlen und verstehen konnte.[12] Wiederum spürt man die leise Distanzierung dessen, der hier spricht. Nicht von den eigenen Gefühlen, sondern von denen anderer, vom einfachsten Herz in der Menge ist die Rede. Ob Conrad die Trauer um den Vater geteilt hat, bleibt offen.
Welche Wirkung die von Leid, enttäuschten Hoffnungen und Verzweiflung geprägten Jahre der Kindheit und der frühe Verlust der Eltern auf Conrad gehabt haben, ist schwer zu ermessen. Er wuchs ohne Spielgefährten auf, an einen regelmäßigen Schulbesuch war unter den Bedingungen des Exils nicht zu denken. Überdies war der Junge kränklich und musste oftmals der Obhut von Verwandten überlassen werden. Die Zeit nach dem Tod der Mutter war besonders bedrückend, zumal der Vater das Kind kaum zu stützen vermochte. Zwar blieb Apollo trotz seiner geschwächten Gesundheit bis kurz vor seinem Tod politisch und literarisch tätig, aber seine späten Briefe sind von Klagen durchzogen: «Das arme Kind: es weiß nicht, was ein gleichaltriger Spielkamerad ist; es sieht meine Trauer und meine Schwäche, und wer weiß, ob sein junges Herz bei diesem Anblick nicht verkümmert und seine Seele grau wird … Meine Gesundheit nimmt rasch ab, und mein lieber, kleiner Wicht versorgt mich – nur wir beide sind auf dieser Erde nachgeblieben.»[13] In seinem Erinnerungsband Über mich selbst hat Conrad einen seiner letzten Eindrücke vom Vater festgehalten: Mein Vater saß von Kissen gestützt in seinem tiefen Sessel. Später sah ich ihn nicht mehr außerhalb des Bettes. Er erschien mir weniger als ein hoffnungslos kranker denn als ein tödlich erschöpfter – ein überwältigter Mann. Der Akt der Vernichtung rührte mich deshalb so tief, weil er wie eine Kapitulation wirkte. Indessen nicht wie eine Kapitulation vor dem Tode. Für einen Menschen von so starker Gläubigkeit kann der Tod kein Feind gewesen sein.[14]
Wie Zdzisław Najder bemerkt, sieht Conrad in seinen Erinnerungen den Vater vor allem als einen politisch gescheiterten Mann und folgt darin, ob bewusst oder unbewusst, dem Urteil seines Onkels und Vormunds Tadeusz Bobrowski, für den Apollo zeit seines Lebens ein weltfremder Träumer blieb, dem es an Umsicht und politischer Klugheit mangelte. Verhaltene Kritik am Vater spricht auch aus dem schon erwähnten Brief Conrads an Garnett, in dem er Apollo als einen äußerst sensiblen Mann bezeichnet, ein träumerisches und exaltiertes Temperament, düster und mit scharfer Ironie begabt, dabei von einem starken religiösen Gefühl getragen, das nach dem Verlust seiner Frau in einen mit Verzweiflung gepaarten Mystizismus abglitt.[15]
Eindeutig positiv ist dagegen das Bild der Mutter. Ihr Briefwechsel mit meinem Vater und ihren Brüdern … war eine Offenbarung für mich, heißt es; in Über mich selbst erinnert sich Conrad an seine Ehrfurcht vor ihrem geheimnisvollen Ernst und übernimmt dann fast wörtlich eine Passage aus den «Memoiren» seines Onkels Tadeusz: Sie wurde hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu dem Mann, den sie schließlich heiratete, und dem Bewusstsein, dass sich ihr verstorbener Vater unmissverständlich gegen diese Verbindung ausgesprochen hatte … Indem sie mit ruhiger Standhaftigkeit den grausamen Prüfungen eines Lebens entgegentrat, in welchem sich all die nationalen und sozialen Missgeschicke der Gemeinschaft spiegelten, erfüllte sie aufs schönste ihre Pflichten als Ehefrau, als Mutter und Patriotin, teilte die Verbannung ihres Gatten und verkörperte in edler Weise das Ideal der polnischen Frau.[16]
Von den politischen Aktivitäten seiner Eltern kann Conrad als Kind nur wenig gewusst haben, wohl aber erinnerte er sich an die schriftstellerische Tätigkeit des Vaters. Früher und intensiver als andere Kinder machte sie ihn mit einer Fülle von literarischen Werken vertraut. Seit meinem fünften Lebensjahr war ich ein eifriger Leser, sagt er in seinen Erinnerungen; mit zehn Jahren hatte ich viel von Victor Hugo und anderen Romantikern gelesen. Ich hatte polnisch und französisch gelesen, Geschichtliches, Reisebeschreibungen und Romane. Ich kannte «Gil Blas» und «Don Quijote» in gekürzten Ausgaben; als Knabe hatte ich polnische und auch einige französische Lyriker gelesen.[17] Zu den Werken Hugos, die er schon damals kennenlernte, zählt der Roman «Les Travailleurs de la Mer», von dem er seinem Vater von Anfang bis Ende zu dessen voller Zufriedenheit die Korrekturfahnen seiner [Apollos] Übersetzung vorgelesen hatte. Diese Lesung, heißt es weiter, war übrigens meine erste Bekanntschaft mit dem Meer in der Literatur.[18] Der Vater führte den Jungen ebenfalls in die Werke Shakespeares ein, vor allem aber in die polnische Literatur des 19. Jahrhunderts. Noch im Jahre 1914 erinnerte sich Conrad: Das Polnische habe ich von Mickiewicz und Slowacki übernommen. Mein Vater las mir laut aus «Pan Tadeusz» vor und ließ es mich laut vorlesen. Nicht nur ein- oder zweimal. Ich mochte damals «Konrad Wallenrod» und «Grazyna» lieber. Später zog ich Slowacki vor. Wissen Sie, warum Slowacki? Il est l’âme de toute la Pologne, lui [er ist die Seele Polens].[19] Die Wirkung dieser in früher Jugend gewonnenen literarischen Eindrücke war erheblich; sie haben Conrads späteren Weg als Schriftsteller entscheidend geprägt. Er fühlte sich in einer literarischen Welt heimisch; der Umgang mit den großen Werken der europäischen Literatur war ihm etwas Selbstverständliches, ein nie in Frage gestelltes Erbe aus dem väterlichen Hause.
Joseph Conrads Schulbesuch blieb auch nach dem Tod des Vaters unregelmäßig. Ob er tatsächlich, wie er später angab, das St. Annen-Gymnasium in Krakau besucht hat, ist nicht zweifelsfrei zu klären. Zunächst wurde der Junge in einem Pensionat in Krakau untergebracht; später wohnte er bei seiner Großmutter mütterlicherseits, die seinetwegen nach Krakau gezogen war. Vor allem aber war es Tadeusz Bobrowski, der sich von jetzt ab seines jungen Neffen annahm und für dessen Unterhalt und Erziehung sorgte.
Tadeusz Bobrowski war in vieler Hinsicht das Gegenteil von Apollo Korzeniowski, lebenstüchtig, pragmatisch, politischen Wagnissen abhold und ein kluger Verwalter seines Besitzes. Schon wenige Monate nach dem Tod Apollos richtete er einen mahnenden Brief an sein Mündel, in Ton und Inhalt das Programm vorwegnehmend, das er auch in späteren Jahren nicht müde wurde, Conrad zu predigen: «Ohne eine gründliche Erziehung wirst Du es in der Welt nie zu etwas bringen, wirst nie für Deinen Unterhalt aufkommen können … Ein Mann, der nichts gründlich kann, der keine Charakterstärke hat, nicht selbständig arbeiten und sich keine Richtung geben kann, der ist kein Mann mehr, sondern eine Puppe, zu nichts nutze. Darum tue Dein Bestes, mein Kind, damit Du keine solche Puppe bist oder wirst, sondern ein nützlicher, fleißiger, tüchtiger und damit ein wertvoller Mann, und belohne uns auf diese Weise für unsere Mühe und Sorgen in der Zeit Deines Heranwachsens.»[20] Bobrowski blieb bis zu seinem Tod im Jahre 1894 ein väterlicher Freund Conrads, der ihm auch in schwierigsten Zeiten die Unterstützung nicht versagte. Conrad nannte ihn einen Mann von Charakterstärke und ungewöhnlichen geistigen Gaben; seiner Sorge, Hingabe und seinem Einfluss, sagte er, verdanke ich die guten Eigenschaften, die ich vielleicht besitze[21]. Der Widerstreit, der sich aus den so unterschiedlichen Temperamenten seines Vaters und seines Vormunds ergibt, hat in seinem Werk deutliche Spuren hinterlassen.
Auf Wunsch Bobrowskis verließ Conrad im Sommer des Jahres 1873 Krakau und ging nach Lemberg, wo er abermals in einem kleinen Pensionat wohnte, das von Verwandten Bobrowskis geleitet wurde. Er wurde in das Gymnasium eingeschult, konnte dem Unterricht allerdings wenig Interesse abgewinnen. Die Erinnerungen einer Cousine Conrads geben ein Bild des damals fünfzehnjährigen Knaben: «Er wohnte zehn Monate bei uns, als er in der siebten Klasse des Gymnasiums war. In geistiger Hinsicht war er allen anderen weit voraus, aber er lehnte die Routine der Schule ab, er fand sie langweilig und ermüdend. Er pflegte zu sagen, dass er sehr begabt sei und ein großer Schriftsteller werden wolle. Solche Äußerungen, zusammen mit seinem sarkastischen Gesichtsausdruck und häufigen kritischen Bemerkungen, schockierten seine Lehrer und riefen Gelächter unter seinen Klassenkameraden hervor. Er hatte eine Abneigung gegen jede Form von Beschränkung. Zu Hause, in der Schule oder im Wohnzimmer lümmelte er herum. Er hatte oft starke Kopfschmerzen und nervöse Anfälle; die Ärzte meinten, dass ein Aufenthalt an der Küste ihn kurieren könnte.»[22]
Eines der wenigen Schulfächer, das Conrad schätzte, war die Geographie. Gern erzählte er später davon, dass er als Kind, während er eine zeitgenössische Landkarte von Afrika … betrachtete und einen Finger auf den weißen Fleck legte, der damals das ungelöste Geheimnis dieses Kontinents repräsentierte … mit absoluter Gewissheit und erstaunlicher Kühnheit … sagte: «Dort will ich hin, wenn ich erwachsen bin.»[23]
Noch vor dem Umzug nach Lemberg hatte Bobrowski seinen Neffen in Begleitung eines Tutors, des Medizinstudenten Adam Pulmann, auf eine längere Reise in die Schweiz geschickt. Die Reise hatte allerdings nicht den beabsichtigten Erfolg. Sie sollte den jungen Conrad von einem Wunsch ablenken, den er seit längerem mit großer Beharrlichkeit vorgetragen hatte: Er wollte zur See fahren. Das Vorhaben rief eine Unmasse von Vorwürfen, Empörung, mitleidigem Staunen, bitterer Ironie und schlichtem Hohn hervor, wie Conrad in seinen Erinnerungen schrieb, doch schließlich gab die Familie nach.[24] Noch ehe er die normale Schulzeit im Gymnasium abgeschlossen hatte, verließ der knapp siebzehnjährige Junge Polen. In Marseille sollte er eine Laufbahn in der französischen Handelsmarine beginnen. Später schrieb ihm sein Onkel: «… mit bangem Herzen … aber frei, wie es Dein Wunsch war, ließen Großmutter und ich Dich in die Welt ziehen, mit unserem Segen, unserem Rat und unserer Hilfe.»[25]
Welche Vorhaltungen die Familie Conrad damals gemacht hat, wissen wir nicht, wohl aber steht fest, dass er später unter dem Vorwurf zu leiden hatte, mit dem Verlassen seiner Heimat Polen verraten zu haben. Er stellte sich diesem Vorwurf, akzeptierte ihn bis zu einem gewissen Grade auch, aber hielt ihm die Überzeugung entgegen, dass der Mensch noch in einem scheinbaren Akt des Verrats Treue bewahren kann: … weshalb sollte ich, der Sohn eines Landes, das von … Männern mit der Pflugschar aufgerissen und mit ihrem Blut getränkt worden ist, mich aufmachen, um auf den weiten Meeren Pökelfleisch und Schiffszwieback zu essen? Dem Nachsichtigen muss das zumindest eine unbeantwortete Frage bleiben. Ach! Ich bin der Überzeugung, dass es Männer von fleckenloser Rechtschaffenheit gibt, die bereit sind, verachtungsvoll das Wort Fahnenflucht zu murmeln. So kann einem der Geschmack an unschuldigen Abenteuern verdorben werden … Der Vorwurf der Treulosigkeit sollte niemals leichtfertig erhoben werden … Die innere Stimme mag sich in geheimem Ratschluss von Treue leiten lassen, und die Treue einer bestimmten Tradition gegenüber mag auch in den Begebenheiten eines fremdartigen Daseins gewahrt bleiben, das gläubig dem vorgezeichneten Wege eines unerklärlichen Impulses folgt. Es würde zu lange dauern, das enge Bündnis der Widersprüche in der Natur des Menschen zu erklären, das der Liebe gelegentlich das Aussehen des zum Letzten entschlossenen Verrates gibt. Vielleicht gibt es auch keine brauchbare Erklärung.[26]
Gerade das enge Bündnis der Widersprüche in der Natur des Menschen und insbesondere das Verhältnis von Verrat und Treue bilden ein zentrales Motiv in Conrads späterem Werk. Damals freilich, als er Krakau verließ, konnte er nicht wissen, dass er im Laufe seines Lebens nur dreimal und jeweils nur für relativ kurze Aufenthalte in seine Heimat zurückkehren sollte, noch konnte er ahnen, dass er eines Tages als einer der großen Schriftsteller englischer Sprache gefeiert werden würde. Der Vorwurf des Verrats, mit dem er sich später auseinanderzusetzen hatte, hängt aber vor allem mit seinem schriftstellerischen Schaffen zusammen. Darum ist es durchaus gerechtfertigt, in dem Wunsch des Siebzehnjährigen, zur See zu gehen, zunächst tatsächlich nichts anderes als das Fernweh und die Abenteuerlust eines Jungen zu sehen, den in der Heimat wenig hielt – kein Elternhaus, keine Ausbildung, die ihn interessierte. Zudem drohte ihm die Gefahr eines langjährigen Militärdienstes in der russischen Armee. Ich stieg im Jahre 1874 in Krakau in einen Zug (den Express nach Wien), wie man in einen Traum geraten kann, schrieb Conrad vierzig Jahre später an John Galsworthy.[27] Nüchterner sagte er an anderer Stelle: Die Hauptsache war, wegzukommen.[28]
Einen unbelehrbaren, hoffnungslosen Don Quijote hatte Adam Pulmann Conrad genannt, als dieser sich auf der Reise in die Schweiz von seinen Seefahrtsplänen nicht abbringen ließ.[29] Manche Erlebnisse des jungen Mannes in Marseille erinnern tatsächlich an den Ritter von La Mancha; andererseits lernte Conrad in den vier Jahren, die er in Frankreich und auf französischen Schiffen verbrachte, auf den Wegen seines Berufes zu wandeln und zuzunehmen in der Liebe zur See, wie er es in Spiegel der See (The Mirror of the Sea) etwas pathetisch formuliert hat.[30] Zielstrebig allerdings war er nicht – lange Mahnbriefe des Onkels legen Zeugnis davon ab, dass es ihm nicht leichtfiel, seinen Weg zu finden.
Materiell war Conrad durch ein bescheidenes Erbe und die Hilfe Bobrowskis versorgt. Bobrowski hatte ebenfalls schon vor Conrads Abreise Verbindungen nach Marseille geknüpft, um seinem Neffen den Start in der französischen Handelsmarine zu erleichtern. Zunächst nahm sich der Lotse Baptistin Solary seiner an; als le petit ami de Baptistin, schreibt Conrad in Über mich selbst, machte mich die Lotsenkorporation zu ihrem Gast und erlaubte mir, mich bei Tag oder Nacht nach Belieben in ihren Booten aufzuhalten. Viele Tage und auch Nächte verbrachte ich unterwegs mit diesen rauhen, gutartigen Männern, unter deren Anleitung mein Vertrautsein mit der See begann.[31] Schon bald folgten erste größere Reisen zur See, als Passagier auf einem Segelschiff nach Martinique, dann als Leichtmatrose abermals zu den westindischen Inseln. Doch Conrad scheint auch das Leben an Land genossen zu haben. Marseille war schon damals eine überaus lebendige Stadt; mit ihren vielen Cafés, den Theater- und Opernhäusern, mit dem lebhaften Hafenbetrieb und dem florierenden Handel muss sie den jungen Polen beeindruckt haben. Er gab viel Geld aus, und Bobrowski musste mehrfach helfend einspringen. Später zitierte Conrad den Ratschlag Mme. Delestangs, der Gattin des Reeders, auf dessen Schiffen er fuhr: «Il faut … faire attention à ne pas gâter sa vie»; … man muss darauf achten, sein Leben nicht zu verpfuschen.[32] Der Gedanke an eine solche Gefahr, fügte er hinzu, sei ihm freilich ganz und gar abwegig erschienen.
Einige der Reisen, die er auf den Schiffen Delestangs unternahm, haben Spuren in seinem Werk hinterlassen. So etwa diente ihm der Korse Dominic Cervoni, dem er auf dem Segelschiff «Saint-Antoine» begegnete, als Vorbild für die Figur Nostromos in dem gleichnamigen Roman wie auch für jene Peyrols in Der Freibeuter (The Rover). In Spiegel der See nennt er Cervoni einen gewaltigen Seefahrer und rundet das Porträt in romantisch überhöhter Weise ab: Wenn er an Bord … in einen schwarzen «caban», den malerischen Mantel der Seeleute des Mittelmeeres, eingehüllt dastand, sah er mit dem dichten Schnurrbart und seinen wissenden, durch den Schatten der tiefen Kapuze betonten Augen piratenhaft und mönchisch aus und überdies geheimnisvoll eingeweiht in die furchtbarsten Mysterien des Meeres.[33] Es ist nicht auszuschließen, dass er auf einer der Westindienfahrten mit Cervoni zusammen einen kurzen Abstecher an die Küste von Venezuela gemacht hat; in einem späteren Brief spricht er von einem Aufenthalt von zweieinhalb bis drei Tagen an jener trostlosen Küste[34]. Erinnerungen an diese Tage müssen bei der Abfassung des Romans Nostromo wachgeworden sein.
Conrads Briefe an seinen Vormund sind ausnahmslos verlorengegangen, aber aus den Reaktionen Bobrowskis auf die Mitteilungen seines Neffen können wir eine ungefähre Vorstellung von dem Auftreten des jungen Mannes in Marseille gewinnen. Er muss stolz und überaus empfindlich gewesen sein, zu impulsiven Handlungen geneigt und auf Kritik eher hochfahrend reagiert haben. Sein Onkel erkannte in solchen Eigenschaften Spuren des väterlichen Erbes und hielt Conrad zu Vernunft und Mäßigung an. Doch seine Mahnungen blieben ohne Erfolg. Der Neunzehnjährige ließ sich alsbald auf ein Abenteuer ein, das ihn an den Rand des Selbstmords trieb.
Den Kern dieser Affäre, die bis heute nicht ganz geklärt ist, bildete Conrads eigener Darstellung zufolge der Versuch einer kleinen Gruppe von Personen, unter ihnen Conrad selbst, zur Unterstützung des spanischen Thronprätendenten Don Carlos Waffen aus der Gegend von Marseille nach Spanien zu schmuggeln. Wie wir in Conrads spätem Roman Der goldene Pfeil (The Arrow of Gold) und in Spiegel der See lesen, wurden die Waffen angeblich auf der «Tremolino», einem kleinen Segelschiff, das Conrad anteilig gehörte und von Dominic Cervoni geführt wurde, von Marseille an die Costa Brava verschifft. Nach einer Reihe von erfolgreichen Fahrten wurden die Schmuggler verraten, gerieten in eine Falle der spanischen Küstenwache und mussten das Schiff versenken. In Der goldene Pfeil stellt Conrad das Schmuggelabenteuer überdies in den Zusammenhang einer romantischen Liebesgeschichte – der Erzähler des Romans, ein Monsieur George, in dem wir unschwer den jungen Conrad erkennen, lässt sich auf den Waffentransport vor allem um seiner Liebe zu einer Doña Rita willen ein. Rita ist die frühere Geliebte des Don Carlos; George gewinnt ihr Herz und wird später in einem Duell mit einem Rivalen schwer verwundet, Rita aber verlässt ihn.