Journeyman - Fabian Sixtus Körner - E-Book

Journeyman E-Book

Fabian Sixtus Körner

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Beschreibung

Wie kommt man einmal um die Welt, mit nur 255 Euro auf dem Konto? Fabian Sixtus Körner schnappt sich seinen Rucksack und macht sich auf ins Ungewisse. Sein Plan: alle Kontinente dieser Erde bereisen - und überall für Kost und Logis arbeiten. Er legt Tausende von Kilometern in Fliegern, Zügen, Bussen, löchrigen Booten und Rikschas zurück und arbeitet dabei mal als Grafiker, mal als Architekt oder Fotograf. Zwei Jahre und zwei Monate, über 60 Orte, querweltein.

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Fabian Sixtus Körner

JOURNEYMAN

1 MANN, 5 KONTINENTE UND JEDE MENGE JOBS

ullstein extra

Zum Schutz der Personen wurden Namen und Biographien zum Teil verändert und Handlungen, Ereignisse und Situationen an manchen Stellen abgewandelt.

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© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013Umschlaggestaltung: Fabian Sixtus KörnerUmschlagabbildung: Daniel Castro, San Francisco / New York

ISBN 978-3-8437-0619-3

eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

»Die meisten Menschen sind andere Menschen. Ihre Gedanken sind die Meinungen anderer, ihre Leben Nachahmungen, ihre Leidenschaften nur Zitate.«

Oscar Wilde

PROLOG

Im September 2007 flog ich zum ersten Mal alleine nach Übersee. Ich wollte mit einem Rucksack Vietnam bereisen, von Hanoi bis Ho-Chi-Minh-Stadt. Schon am zweiten Tag traf ich während einer Sightseeing-Tour zur Halong Bay auf den US-Amerikaner Jeff. Er überzeugte mich, meinen Plan über Bord zu werfen: »Lass uns die Pfade verlassen, die eine Armada von Reisenden ausgetrampelt hat«, lockte er mich.

Ich folgte ihm in den Nordosten von Laos, wohin sich kein anderer Ausländer verirrte – bis auf Jo, eine junge Australierin. Zu dritt saßen wir in Muong Khua fest, einem größeren Ort am Nam Ou, dem »Reisschüsselfluss«. Der Monsun hatte dafür gesorgt, dass die Straßen von Schlammlawinen bedeckt und unbefahrbar geworden waren. Zwei Tage später kauften wir einem alten Fischer ein ausrangiertes Langboot ab, um durch den Dschungel flussabwärts nach Süden zu paddeln.

»Wir nennen es LAMSIL«, lallte Jo am Abend vor unserem Aufbruch. Mit Lao-Lao, dem laotischen Reisschnaps, tranken wir uns Mut an. Keiner von uns hatte zuvor ein Boot gelenkt. Schlimmstenfalls würden unsere Rucksäcke und das Boot dem Fluss zum Opfer fallen, beschlossen wir. Wir konnten schließlich alle schwimmen. »LAMSIL, das steht für Loosing All My Shit In Laos«, erklärte Jo. Unser Boot hatte einen Namen.

Durch das viele Regenwasser war der Nam Ou gefährlich angeschwollen. Gleich die erste Stromschnelle erfasste unser Boot, machte es manövrierunfähig und brachte es fast zum Kentern. »Paddeln, paddeln, paddeln!«, schrie Jo hysterisch, während Jeff leise fluchte und ich panisch mit dem Paddel nach Grund stocherte. Mit dem Schrecken und unserem Gepäck kamen wir davon – wir hatten die erste Aufgabe als Bootsbesitzer gemeistert, wenn auch ohne Bravour.

Vier Tage paddelten wir in sengender Hitze durch reißende Stromschnellen und tropischen Platzregen, durch dichtbewachsenen Dschungel voller brüllender Affen, kreischender Vögel und zirpender Zikaden, summender Moskitos und lautloser Schlangen. Dann waren wir am Ziel – Muong Ngoi, mit seinen zahlreichen Gasthäusern, Hängematten und darin baumelnden Rucksackreisenden. Was uns jedoch in den verschiedenen Dschungeldörfern, in denen wir zwischen Muong Khua und Muong Ngoi haltmachten, widerfuhr, hätte ich mir vor meiner Reise nach Südostasien nicht träumen lassen. Wir schluckten braunes Wasser und küssten gelben Sand, spielten Billard auf einem selbstgezimmerten Tropenholztisch, verloren unsere Kleidung an streunende Hunde, trafen auf Kinder in zerschlissenen Hemden, die mit Steinschleudern bewaffnet ihr Dorf verteidigten; wir schliefen bei Bauern- und Fischerfamilien auf staubigen Holzböden, kochten auf Feuerstellen, duschten unter Wasserfällen, lachten und tanzten mit den Einheimischen; bei Vollmond tranken wir ein ganzes Dorf unter den Tisch; wir kauften eine Ente bei einer hundertjährigen Frau und schlürften während einer feierlichen Zeremonie zu unseren Ehren das Blut des Tiers; Dr. Lao heilte uns von all unseren Krankheiten; wir kommunizierten mit Händen, Füßen und einem Lächeln; uns wurden frittierte Heuschrecken, lebende Maden und gegrillte Katze gereicht; unsere Gedanken kreisten um Sonnenschutz oder die Frage, wie wir uns auf einem kanuartigen Boot erleichtern konnten, ohne die anderen Insassen anzupinkeln; wir litten an Hunger, Durst und Völlerei, hatten spröde Lippen und aufgeweichte, runzlige Finger; wir wurden argwöhnisch beäugt, neugierig berührt und liebevoll umarmt; der Nam Ou wurde unser Zuhause und der laotische Urwald unser Abenteuerspielplatz; Jeff verliebte sich in Jo und Jo verliebte sich in Jeff; Keilana, die Tochter des Bürgermeisters von Sop Kinh, trug mir die Heirat an. Nichts, was vorher gewesen war, interessierte uns mehr. Wir wollten im Fluss bleiben.

Als der Nam Ou uns zu unserem Ziel trug, waren wir am Ende unserer Kräfte, aber erst am Anfang einer Erkenntnis: Diese vier Tage auf dem Reisschüsselfluss würden unser Leben verändern.

Die nackte Glühbirne an der Zimmerdecke wirft einen gelblichen Schein über die Wand. Kurz vor der Sockelleiste geht der Farbverlauf in sattes Grün über – die Reflexion des Kunstrasens, der in meinem Acht-Quadratmeter-Zimmer als Teppich dient. Es ist Januar und der diesjährige Winter ungewöhnlich kalt. Die Straßen der hessischen Landeshauptstadt werden schon seit Wochen von gefrorenem Schnee gesäumt. Untypisch für eine Stadt wie Wiesbaden, in der sich üblicherweise die Wärme staut.

Seit zwei Monaten bewohne ich das Zimmer unter dem Dach in der Klarenthaler Straße. Für gewöhnlich nutzt es die Studenten-WG im fünften Stock als Abstellraum. Um mich herum vergessenes oder aussortiertes Gerümpel. Es gibt Licht, eine Steckdose und eine Heizung. Außerdem habe ich eine Platte auf zwei Holzböcke gelegt. Meine Arbeitsfläche. Nur der Umstand, dass ich kein Badezimmer und keine Küche habe, somit für Dusch- und Toilettengänge oder einen wärmenden Tee den unliebsamen Gang treppab machen muss, schmälert mein Übergangszuhause. Ich hasse die Kälte. Dabei könnte ich mich jetzt in Kopenhagen neben Metteline aufs Sofa kuscheln, wir könnten es uns mit heißem Tee und einer DVDhyggelig machen, wie man die Extremform der Gemütlichkeit auf Dänisch nennt. Seit einem Dreivierteljahr sind wir ein Paar, kennengelernt haben wir uns während meiner letzten Reise durch Südostasien und das östliche Indien.

Die Bootsfahrt in Laos geht mir dieser Tage häufig durch den Kopf, denn sie ist der Grund für mein Hiersein. Es wird immer diese Geschichte sein, die ich auf die Frage hin erzähle, was mich nach dem Reisen hat süchtig werden lassen. Wie ein Musiker, der sich an das erste Lied erinnert, das er auf seinem Instrument beherrschte. Die erste Freundin, der erste Kuss, das erste Mal Sex. Es ist etwas, was nicht wiederholt werden kann. Der erstmalige Genuss, der einen auf den Geschmack bringt. Jo und Jeff sind immer noch ein Paar. Sie arbeiten gerade auf einer Farm in Neuseeland, um sich ihre nächste Reise zusammenzusparen.

Schon als ich an meiner Diplomarbeit im Fach Innenarchitektur werkelte, kam das Fernweh. Nach meinem Abschluss würde ich wieder losziehen – und diesmal nicht nur für zwei oder drei Monate. Ich wollte länger fortbleiben, umherreisen und das Leben in der weiten Welt erkunden. Aber auch Karriere war ein Begriff, den ich trotz vorhandenem Aussteigergen nicht aus meiner Effizienzdenkweise löschen konnte. Ich steckte in einer Zwickmühle. Einerseits wollte ich meiner kreativen Leidenschaft nachgehen, andererseits aber nicht zu Hause oder im Büro am Schreibtisch sitzen. Es war die Gleichförmigkeit des Alltags, die mir zu schaffen machte. Das Aufstehen am Morgen in der Gewissheit, dass dieser Tag genauso verlaufen würde wie der vorangegangene. Mir fehlten die Überraschungen, die Abenteuer.

Auf der Suche nach einer Möglichkeit, meinen Traumjob und meine Reiselust unter einen Hut zu bringen, stieß ich auf eine mittelalterliche Tradition: die Walz des Handwerksgesellen. Die Burschen in schwarzer Tracht, mit Schlaghosen, Schlapphut und Wanderstock kennt man ja. Im Mittelalter musste ein Handwerker, der seine Ausbildung abgeschlossen hatte, für eine bestimmte Zeit auf Wanderschaft gehen, wenn er den Meistertitel erwerben wollte. Man ging davon aus, dass ein Wandergeselle als ein weiser, weltoffener und an Erfahrungen reicher Mensch von der Walz heimkehren würde, als jemand, der sich zu einer echten Persönlichkeit entwickelt hatte, ein Furchtloser, den die Kulturen der Welt und die Weite des Universums nicht schreckten.

Könnte auch ich dahin kommen? Das wollte ich, unbedingt. Ich recherchierte die Regeln der Walz, übersetzte sie in das Medienzeitalter und passte sie meinem Berufsstand an. Bald standen meine zehn persönlichen Regeln der Walz:

1. Design statt Handwerk: Ich nehme Kurzjobs in Architekturbüros, Werbeagenturen, bei Graphikern, Fotografen usw. an, anstatt in Schreinereien oder als Handwerker auf dem Bau zu arbeiten.

2. ALLES wird mir eine Lehre sein – ob Baustellenbetreuung, Kampagnenentwürfe, Regieassistenz oder der Büroklassiker: Kaffee kochen.

3. Erfahrungsreichtum statt Geldsegen: Auf der Walz arbeite ich lediglich für Kost und Logis – egal ob Brotkanten oder Dreigängemenü, Matratze, Sofa oder Himmelbett.

4. Alles inklusive: Jedwedes zum Arbeiten benötigte Material und Equipment reisen mit, so dass kein zusätzlicher Arbeitsplatz bereitgestellt werden muss. Darunter fallen die üblichen Arbeitsgeräte wie Laptop, Fotokamera etc.

5. Zur Walz gehört ein Tagebuch. Meines heißt: Stories of A Journeyman und ist ein Onlineblog.

6. Von Haus zu Haus: Ein Arbeitsverhältnis dauert etwa einen Monat, Verlängerungen sind die Ausnahme.

7. Sperrgebiet: Es ist mir nicht erlaubt, mich meinem Heimatort auf weniger als 300 km zu nähern.

8. Auszeit: Die Reise soll mindestens ein Jahr, aber nicht länger als zwei dauern.

9. Querweltein: Innerhalb dieser Zeit leiste ich mindestens einen Job auf allen bevölkerten Kontinenten der Erde ab; darunter fallen Europa, Asien, Afrika, Nordamerika, Südamerika und Australien.

10. Der Weg ist das Ziel: Die Route wird nicht im Vorhinein festgelegt, sie ergibt sich auf der Walz.

Ursprünglich wollte ich im Fernen Osten starten. Doch Japan erwies sich als ungeeigneter Ort für einen Walz-Anfänger wie mich. Tokio würde kaum einen Einwohner haben, der mir auch nur einen Quadratmeter Platz überlassen könnte. Als einer meiner ehemaligen Professoren von meinem Plan erfuhr, bot er mir an, bei einem Kollegen in der chinesischen Metropole Schanghai anzufragen, ob er einen Arbeitsplatz für mich habe. Noch vor Antritt meiner Reise fand ich den für mich strittigsten Punkt meiner Agenda bestätigt – es erwies sich als sinnvoll, sich nicht von vornherein auf bestimmte Orte festzulegen. Man weiß nie, wer auf einen zukommt; Kontakte sind hilfreich.

Der Plan war geschmiedet, aus dem Feuer geholt und ins kühlende Wasserbad getaucht worden. Er war nun bereit für die Umsetzung. Doch ich war es nicht. Zur Absicherung wollte ich mir ein kleines Guthaben ansparen. 3000 Euro sollten nach meiner Einschätzung reichen. Aber die Auftragslage war schlecht. Immer wieder flatterten mir Rechnungen ins Haus, hinzu kamen die üblichen Fixkosten; ich musste doch weiterhin meine Miete bezahlen. Bekam ich das Honorar für einen Job überwiesen, war die Summe gleich darauf auf dem Weg zu einem anderen Konto. Ein halbes Jahr ging das so. Ich musste handeln, wollte ich meinen Plan nicht aus den Augen und später aus dem Sinn verlieren. Also entschloss ich mich, meine Sachen in Kartons zu verstauen und mir bis zu dem Zeitpunkt meiner Abreise ein günstiges Zimmer zu suchen. War diese Entscheidung voreilig? Und was würde aus Metteline werden? Was würde aus uns als Paar werden? Schon als wir uns kennenlernten, erzählte ich ihr von meinem Plan, meinem großen Traum, und wir standen vor der Frage, ob eine Beziehung unter diesen Umständen überhaupt Sinn ergab. Aber ergibt Liebe überhaupt je einen Sinn?

»Schaffen wir das?«, fragte ich sie.

»Wir schaffen das«, war ihre Antwort.

So finde ich mich in dem Zimmer wieder, das mir für ein paar verbleibende Tage Unterschlupf gewährt. Alle Rechnungen sind bezahlt, alle Schulden beglichen. Höchste Zeit, mich im Architekturbüro in Schanghai zu melden.

»Ni hao. Ich würde gerne mit Yan Weng sprechen.«

»Haben Sie einen Termin?«, fragt eine Frauenstimme mit chinesischem Akzent.

»Ja, habe ich.« Was soll ich auch anderes sagen.

»Ja, hallo?«, meldet sich eine Männerstimme.

»Hallo, Herr Weng, Fabian Sixtus Körner hier. Mein Professor, Herr Stange, sagte, ich dürfe mich bei Ihnen melden. Es geht um einen Job.«

»Ja«, ist seine knappe Erwiderung.

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie meinen Plan kennen? Und hätten Sie etwas für mich zu tun?«

»Etwas zu tun hätten wir schon. Komm doch nächsten Montag vorbei, dann besprechen wir das.«

Wie bitte? Offenbar weiß er nicht, dass ich noch in Deutschland bin.

»Das wird etwas knapp. Ich bräuchte schon noch zwei Wochen, um hier alles zu regeln.«

»Dann komm doch am Montag in zwei Wochen vorbei.«

»Alles klar. Dann melde ich mich bei Ihnen, wenn ich in Schanghai angekommen bin.«

»Okay, dann schauen wir mal.«

Okay, dann schauen wir eben mal. Was soll schon schiefgehen? Wenn ich den Job nicht bekomme, suche ich mir eben vor Ort etwas anderes. Ich merke, dass ich etwas trotzig reagiere, aber was bleibt mir anderes übrig, als die Gelegenheit beim Schopf zu packen? Es ist die Chance, endlich einen Anfang zu finden.

Vom Honorar meines letzten Auftragsjobs habe ich mir ein One-Way-Ticket Frankfurt–Schanghai gekauft. Die letzte Nacht in meinem Wiesbadener Transitzimmer ist gekommen. Ich habe 200 Euro in bar, 255,69 Euro auf dem Konto und bin allein mit meinen herumschwirrenden Gedanken. Habe ich wirklich die richtige Entscheidung getroffen?

Fakt ist: Ich habe kein Geld. Aber nur weil ich kein Geld habe, bin ich noch lange nicht arm.

Falls ich wirklich in Schanghai stranden sollte, könnte ich auf meine Familie und meine Freunde zählen. Sie würden mir Geld für ein Rückflugticket leihen. Zu Hause angekommen, würde ich meinen gerade erst verlassenen Pfad wieder einschlagen und die Schulden abbezahlen. Es wäre schmerzhaft, mein großer Plan gescheitert. Aber dieses Risiko ist mir beileibe nicht hoch genug, um die Sache einfach sausenzulassen.

Ich bin achtundzwanzig Jahre alt und nenne ein acht Quadratmeter großes Zimmer mit Kunstrasenteppich mein Zuhause. Mache ich jetzt einen Rückzieher, dann werde ich meinen Traum womöglich nie leben. Die Reise muss beginnen.

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Nach einer schlaflosen Nacht im Flugzeug stehe ich übermüdet in der Warteschlange vor der Passkontrolle in Schanghai. Als der Schalter für mich frei wird, greife ich nach meinem Hüftbeutel, in dem mein Reisepass mit eingeklebtem Visum, meine Kreditkarte sowie mein Bargeld verstaut sind. Doch ich greife ins Leere.

Erstaunlich, wie hellwach ich plötzlich bin. Während des Drei-Minuten-Sprints zurück zum Gate überschlagen sich meine Gedanken. Das wäre definitiv ein viel zu kurzer Chinaaufenthalt! Der Flug zurück nach Frankfurt wegen nicht genehmigter Einreise würde mich ruinieren! Und wie stünde ich dann da, mit meinem lächerlich gescheiterten Walz-Plan? Und wenn meine Reise buchstäblich hier endet? Schon sehe ich mich als einen der Flughafensiedler, Dauergäste im »staatenfreien« Raum zwischen Passkontrolle und Flugzeug, die nicht in ihre Heimat zurückdürfen, aber auch keine Einreisegenehmigung erhalten. Wie lange würde ich das durchhalten? Würde mir ein Bett zur Verfügung gestellt, bekäme ich genug zu essen? Würde das Waschbecken bei den öffentlichen WCs meine Morgendusche ersetzen?

Ich erreiche das Gate, werde aber aus Sicherheitsgründen nicht zurück an Bord gelassen. Eine freundliche, entspannt wirkende Airlineangestellte erklärt sich bereit, nachzusehen, kommt aber schon nach kurzer Zeit zurück.

»Kein Pass, keine Tasche«, sagt sie.

»Das kann nicht sein.« Ich bitte sie, noch einmal nachzusehen, und sie erklärt sich zur erneuten Inspektion bereit.

Mittlerweile verlässt auch die Crew die Maschine.

»Einen schönen Aufenthalt in Schanghai«, wünschen mir Pilot und Copilot. Ich nicke unglücklich. »Gibt es ein Problem?«, fragt eine der Flugbegleiterinnen.

»Mein Pass, meine Bankkarte und mein Bargeld müssen noch im Flugzeug sein, aber die vom Bodenpersonal konnten nichts finden«, erkläre ich.

»Oh, das ist ärgerlich«, sagt sie bedauernd.

»Da drücken wir die Daumen«, sagt eine zweite.

»Und einen schönen Aufenthalt in Schanghai«, wünscht mir die dritte, bevor die Frauen munter schnatternd von dannen ziehen.

Na toll! Meine einzige Chance auf Rettung schwindet vor meinen Augen dahin.

Derweil biegt die Angestellte vom Bodenpersonal gemächlich um die Ecke. Um ihre Schulter baumelt mit der Lässigkeit einer Designerhandtasche mein schwarzer Hüftbeutel, die Herberge meiner Personalien. Welche Erleichterung! Als ich bei der Passkontrolle ankomme, ist der Angstschweiß längst getrocknet.

Die Stadt ist riesig, viel größer, als mir die ausgefaltete Straßenkarte weismachen will. Autos links, Autos rechts – vor mir und hinter mir. Autos auf den Brücken über mir und in Tunneln unter mir. Ich fühle mich, als müsste ich ständig in alle Richtungen gleichzeitig blicken, um nicht überfahren zu werden, während ich den Weg von der Metro zu meiner Unterkunft zurücklege. Die Straßen sind so breit, dass die Grünphase der Ampel nicht mal ausreicht, wenn man die in der Ferne liegende sichere Straßenseite im Laufschritt erreichen will. Durchweg verspiegelte Hochhäuser lehnen sich drohend über die verregneten Gehwege. Ich fühle mich wie in einem riesigen Spiegelkabinett. Mein Zimmer im »Captain Hostel« teile ich mit fünf Koreanern und zwei vorlauten jungen Chinesen, von denen einer aussieht wie eine Karikatur des jugendlichen Mao Tse-tung. Nachdem ich meine Schlafnische bezogen habe, wird mir bewusst, dass dies nun mein Zuhause ist. Zumindest, bis ich weiterziehe. Da ich in Deutschland keinen Ort mehr habe, an den ich zurückkehren kann, akzeptiere ich meine Pritsche in dem lieblos eingerichteten Schlafsaal als Basisstation. Ich werde in den kommenden Monaten immer auf dem Sprung sein. Jedes Zuhause ein Wartezimmer. Für mich ist das ein neues Gefühl, und es betrifft Vorstellungen, die ich bislang mit dem Begriff »Heimat« verbunden habe. Nun habe ich keinen Rückzugsort mehr. Im Grunde unterscheide ich mich damit gar nicht so sehr von jenen »unbefristeten Flughafeneinsiedlern« – und es gibt Momente, da könnte ich voller Freude über diese Tatsache mit gereckter Faust in die Luft springen. Vor kurzem habe ich noch geglaubt, dass mir dies Angst machen würde, aber nun stelle ich beruhigt fest: Es gibt kein Problem, und ich fühle mich befreit.

Doch bald gesellt sich Nervosität zu dem Gefühl der Befreiung. Seit Jahren hatte ich kein Vorstellungsgespräch mehr. Metteline schickt mir über Skype beruhigende Worte: »… und falls alle Stricke reißen, freue ich mich auf dich in Kopenhagen.« Sie lächelt schelmisch.

Am Freitag rufe ich nochmals bei Herrn Weng an, um mir den Termin für Montag bestätigen zu lassen, und fahre testweise den Weg zum Büro ab, damit auch ja nichts schiefgeht. Mein Lampenfieber vor Vorstellungsgesprächen, Vorträgen oder sonstigen Situationen, in denen andere an meiner Person interessiert sind, ist abhängig von meiner Tagesform. Es gibt Tage, da schaue ich morgens in den Spiegel, habe ein Lächeln für mich selbst übrig und strotze vor Selbstvertrauen. Und dann wieder ist es ganz anders. So wie heute, als ich mir selbst mit tiefen Schatten unter den Augen und unsicherem Blick begegne.

Herr Weng empfängt mich persönlich. In knappen Worten stellt er mir seine Mitarbeiter vor und geleitet mich ins obere Stockwerk, wo er mir meinen Platz am riesigen Architektentisch zeigt. Bevor er mich wieder verlässt, kündigt er an, der leitende Architekt müsse jeden Moment von der Baustelle kommen. »Er wird mit dir besprechen, was du die nächsten drei Monate tun kannst, und dich in deine Aufgaben einweisen.«

Soll es das etwa schon gewesen sein? Kein »Was glaubst du sind deine Schwächen?« oder »Hast du Erfahrung auf diesem und jenem Gebiet?«. Und wie lässt sich meine Aufgabe hier eigentlich mit den Erfordernissen meiner Wanderschaft vereinbaren?

»Herr Weng«, halte ich ihn auf.

»Nenn mich Yan, wir duzen uns hier alle.«

»Verstehe. Yan. Wie ist das eigentlich mit meinem Angebot, für Kost und Logis zu arbeiten?«

»Ach so, ja«, erinnert er sich. »Das ist für uns sehr viel Aufwand. Ich schlage vor, du suchst dir auf eigene Faust eine Unterkunft. Wir zahlen dir das normale Praktikantengehalt, wenn das für dich in Ordnung ist.«

Verdammt! Das ist absolut nicht in Ordnung. Aber was soll ich tun? Soll ich ihn dazu drängen, meine Regeln einzuhalten? Und den Job absagen, falls er sich weigert? Dabei ist Yans Angebot gerade im Hinblick auf meinen mageren Kontostand sehr verlockend. Ich habe noch nicht einmal meinen ersten Job angetreten und breche schon das oberste Gebot meiner Projektreise. Und das Wort Praktikant gefällt mir ganz und gar nicht. Laut eigener Definition bin ich doch ein Wandergeselle. Unter den gegebenen Umständen muss ich mir jedoch eingestehen, dass ich keinen großen Spielraum für Verhandlungen habe.

Der leitende Architekt kommt kurz darauf im Büro an. Ich höre die Metalltreppe vibrieren, als er hinaufstapft. »Ach, hi. Du bist Fabian? Dann können wir ja gleich loslegen.« Markus ist ein Hüne. Seinem Wesen nach entspricht er genau meiner Vorstellung von einem Bilderbucharchitekten. Er misst knapp zwei Meter und hat unglaublich breite Schultern. Dennoch sieht man auf den ersten Blick, dass er ganz und gar nicht grobschlächtig ist. Er hat Hände, die filigrane Bleistiftstriche ziehen können, und jugendliche Gesichtszüge. Eine knollige Nase wird von einem freundlichen Lächeln und leuchtenden Augen eingerahmt. Er ist mir durchweg sympathisch.

Mein erster Arbeitstag beginnt mit einer Einweisung ins laufende Projekt. Die Residenz der alten britischen Botschaft und zehn benachbarte repräsentative Gebäude aus der Jahrhundertwende sollen in einem Zeitraum von fünf Jahren saniert und zu einem schicken Einkaufszentrum inklusive Kunstgalerie umfunktioniert werden. Bauherr ist die Rockefeller Group, wer sonst, bei einem Projekt, das historische Bausubstanz in moderne Konsumtempel umwandelt. Yan hat mir zu verstehen gegeben, dass eine kurzzeitige Anstellung nur zustande kommt, wenn ich die volle Zeit meiner Visagültigkeit für sein Team arbeite, also drei Monate. Auch das widerspricht meinen Walzregeln.

Ich bin nun Juniorarchitekt in einem international renommierten Architekturbüro. Mit meinem Innenarchitekturstudium bin ich von Haus aus eher Gestalter als Ingenieur, und mein Wissen um statische Zusammenhänge in Großbauten ist sogar für einen Innenarchitekten begrenzt. Aber: Nach meiner Ausbildung hat hier niemand gefragt. Ich arbeite in einem Job, den ich nicht gelernt habe, und soll dreimal so lange bleiben wie eigentlich vorgesehen.

Während ich mich in die Gebäudegrundrisse einarbeite, telefoniere ich parallel Nummern ab, die ich mir tags zuvor von Wohnungsangeboten auf diversen Onlineportalen wie Craigslist notiert hatte. Amanda lädt mich zu einer abendlichen Begehung ein. Sie ist gebürtige Schanghaierin, doch die Wohnung gehört ihrem deutschen Ehemann. Für 1800 Yuan (umgerechnet etwa 220 Euro) monatlich bekomme ich den Zuschlag, so dass ich noch am selben Abend meine Sachen aus dem Hostel in mein neues Zuhause verladen kann.

»Morgen kommt noch ein Deutscher. Er wohnt dann in deinem Nachbarzimmer«, erklärt mir meine Vermieterin.

Gibt es in dieser Stadt vielleicht auch jemanden ohne deutschen Hintergrund? Ich bin doch nicht Tausende von Kilometern gereist, um weiterhin im Dunstkreis meiner Landsleute zu verkehren. Anstatt als Wandergeselle meinen Arbeitshorizont zu erweitern und fremde Kulturen kennenzulernen, wohne ich nun zusammen mit einem deutschen Jurastudenten in einer Wohnung, die einem Deutschen gehört, und bin Praktikant in einem deutsch-englischen Unternehmen mit deutschen und chinesischen Kollegen, die fast allesamt in Deutschland studiert haben. Es ist, als wollte meine Heimat mich nicht aus ihren Fängen lassen. Nicht einmal das Wetter. Der bleiche Himmel und die durchschnittlichen Temperaturen von unter zehn Grad sind nicht anders als in Wiesbaden. Statt einer Heizung gibt es eine stromfressende Klimaanlage, deren Wärme sich unter der Zimmerdecke staut und mir einen heißen Kopf und kalte Füße beschert.

Bei den monatlichen Fixkosten muss ich versuchen, jeden Yuan zu sparen. Ich gewöhne mir an, jede meiner Ausgaben zu notieren, und gebe nicht mehr als fünf Euro täglich aus. Einziger Luxus ist ein gelegentliches Feierabendbier mit meinem Mitbewohner Christian. Mein Mittagessen kaufe ich für gewöhnlich im 7Eleven-Shop hinter unserem Büro, meistens abgepackten Reis, an Festtagen auch mal ein Sandwich und einen Orangensaft. Auf meinem Weg nach Hause setze ich mich in Ismails uigurische Garküche, um eines der Nudelgerichte für einen Euro zu verzehren oder mich an kälteren Tagen mit einer Rinderbrühe aufzuwärmen. Bald bin ich Stammgast in dem kleinen Familienbetrieb, so dass ich meine Mahlzeit mit den drei kleinen Söhnen des Kochs, Ay, Bari und Erkin, sowie seiner strickenden Ehefrau Dilnaz auf der Couch einnehme, während im Fernsehen Jacky-Chan-Filme laufen oder das chinesische »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, eine Kung-Fu-Seifenoper mit Herzschmerz, Handkantenschlägen und Roundhousekicks. Wir sprechen nicht die gleiche Sprache, aber auch ich verstehe, ob nach einem Spezialflugtritt ein »HOO!« oder ein »HA!« angebracht ist. Obwohl ich bei den Uiguren nicht übernachte, kommt ihre Küche für mich einem Zuhause in Schanghai am nächsten. Pfeffrige Gerüche kitzeln meine Nase, warmer Dunst umgibt mich, und während ich mit lautem Schlürfen meine heißen Reisnudeln einsauge, fühle ich mich in der fremden Familie aufgehoben.

Am Morgen stehe ich gegenüber der riesigen Baustelle – meinem Projekt – in einem Geschäft für Arbeitsmonturen. Der Verkäufer hält mir eine steife blaue Jacke vor die Brust, doch ich winke ab. Ich habe mich schon für einen der dünnen olivgrünen Parkas entschieden. Sie kosten nur einen Bruchteil des Preises der blauen Jacke. Der Verkäufer schaut mich mit einem zweifelnden Lächeln an. Grün ist in China die Farbe der Arbeiter, Blau die der Architekten. Yan hat mir Stahlkappenschuhe geliehen, und mit dem orangefarbenen Schutzhelm, den Markus mir an der Baustelle übergibt, ist meine Montur komplett.

Gemeinsam gehen wir über den schlammigen Grund zu einem der Gebäude. Als Erstes wird die Fassade überprüft. Die Klinkersteinwand sollte bis heute von Salzrändern gesäubert werden. Hinter Markus und einem Restaurationsspezialisten aus Berlin steige ich das Bambusgerüst höher und höher, bis wir kurz vor der Dachkante die Fassade begutachten. Mit dem chinesischen Vorarbeiter, der gleichzeitig übersetzt, und drei Arbeitern stehen wir in dreißig Metern Höhe auf durchnässtem Bambus. Es knackt und knarzt, und jede Bewegung der beiden deutschen Riesen versetzt mich in Schwingungen. Jetzt wieder hinabzusteigen wäre allerdings die falsche Entscheidung. Es wird bestimmt nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich hier oben meinem Job nachgehen muss, also gewöhne ich mich besser so schnell wie möglich an die luftige Arbeitsumgebung. Unauffällig taste ich nach einem Fenstersims. Daran werde ich mich festhalten, falls das Baugerüst in sich zusammenstürzt. Ich muss versuchen, mich auf das Gespräch zwischen Architekten und Bauarbeitern zu konzentrieren. Einer der Arbeiter betont: »Doch, wir haben alles abgebürstet« – obwohl der Augenschein das Gegenteil verrät. Die Ränder der Klinkersteine sind mit weißem Baustaub überpudert. Markus erklärt mit ausladenden Gesten die Missstände, läuft dabei aufgeregt an dem Mauerwerk entlang. Die Vibration dringt bis in meine Magengegend vor, und ich muss mittlerweile beide Arme um eines der Metallrohre legen, um mich überhaupt irgendwie sicher zu fühlen. Bloß nicht nach unten schauen! Erleichtert atme ich auf, als Markus endlich das Zeichen zum Abstieg gibt.

Es geht weiter in das Nebengebäude. Eine ehemalige Luxusresidenz Britischer Beamter. Man kann nur noch erahnen, wie prunkvoll es hier einmal ausgesehen haben muss. Die alten Wandvertäfelungen aus Holz wurden abmontiert, Mauerwerk und Fußboden teilweise abgetragen, so dass wir uns im Slalom um mehrere Meter tiefe Löcher schlängeln müssen. Die Vorstellung, dass hier bald neue Luxusbüroetagen stehen sollen, fällt mir schwer. Markus und ich erreichen das Eingangsforum und stoßen dort auf einen weiteren Missstand. Die originale Treppenverkleidung, welche zur Restauration abmontiert wurde, liegt unter Bauschutt begraben. Ruhig erklärt Markus dem Übersetzer, dass dies nicht passieren dürfe. Nach einer zackigen Anweisung auf Chinesisch bergen einige Arbeiter den Schatz, befreien ihn vom Staub und wickeln ihn in eine Plastikplane. Vor mir betritt Markus den entkernten Fahrstuhlschacht mit den Worten: »O nein, nicht schon wieder.« Ein scharfer Geruch schlägt uns entgegen. Auf der Baustelle gebe es keine Dixi-Toiletten, erklärt er mir, daher werde der Fahrstuhlschacht immer wieder als Latrine genutzt. Als wir über eine Baustellentreppe das vierte Stockwerk erreichen, erstreckt sich eine riesige Lagerstätte vor uns.

»Viele der Arbeiter sind Bauern«, sagt Markus. »Sie kommen in die Stadt, um das Geld zu verdienen, das ihnen ihre Felder nicht mehr einbringen. Wie du siehst, bringen sie manchmal auch ihre Familien mit.«

Blaue Plastikplanen wurden hier, unter dem Dach, zu einer Art Zeltstadt zusammengeknüpft, mit Schlafnischen und einem zentralen Ort der Zusammenkunft. Dort brennt ein Gaskocher, rundherum sitzen einige Frauen mit Babys auf den Armen und Männer, die ihre Schichtpause bei ihren Familien verbringen.

»Die wenigsten sind ausgebildet in dem, was sie hier tun, aber sie geben ihr Bestes, und das in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Sie haben nicht viel Gespür für den Wert traditioneller Baukunst, aber das ist ein weitverbreitetes Phänomen. Wahrscheinlich liegt es an der Geschichte des Landes.«

»Inwiefern?«, hake ich nach.

»Na ja, immer, wenn ein neuer Herrscher die Macht über das riesige Reich übernahm, wurde alles Vorangegangene als schlecht bezeichnet. Viele Kulturschätze wurden zerstört. Zuletzt während Maos Kulturrevolution.« Laut Markus folgt auch die Kommunikation mit den Arbeitern eigenen Gesetzen. »Werden in Deutschland Ausreden gesucht, warum eine Arbeit nicht erledigt wurde, so beteuert man hier, dass die Arbeit erledigt wurde – auch wenn das augenscheinlich nicht der Fall ist. Den Arbeitern geht es darum, ihr Gesicht zu wahren. Wenn man das weiß, erspart man sich eine Menge Konflikte.«

»Eine Lüge ist in China also nicht gleich eine Lüge?«

»Genau. Die Unwahrheit zu sagen wird allgemein akzeptiert. Wenn du dich damit nicht arrangieren kannst, wirst du hier keine Freude haben«, erklärt er.

»Aber warum werden keine Wohncontainer aufgestellt und Toiletten?« Der Anblick des provisorischen Lagers hat mich schockiert.

»Das Architekturbüro hat darauf keinen Einfluss. Für die Bauleitung ist ein chinesisches Unternehmen zuständig, und dem ist das offenbar egal …«, erwidert er, während er vor mir hinaus aufs Dach geht.

Hier liegt mein Arbeitsgebiet. Insgesamt acht Dächer und unzählige Balkone auf verschiedenen Etagen müssen vermessen werden. Danach rekonstruiere ich die Bauteile. Das Entwässerungskonzept für die regenreichen Monate ist dabei besonders wichtig, damit die Balkone nicht zeitweise zum Swimmingpool werden. Es ist eine typische Architektenarbeit. So etwas wollte ich eigentlich vermeiden.

Einer meiner chinesischen Kollegen fragt mich am ersten Tag nach den Beweggründen für meine Reise. Ich erkläre ihm, ich sei Innenarchitekt, hätte meinen Lebensunterhalt bisher jedoch meistens mit Graphikdesign-Arbeiten verdient. Und dazu komme meine Leidenschaft: die Fotografie. Diese Reise sei für mich auch ein Versuch, meine wahre Berufung herauszufiltern, jene Tätigkeit zu finden, der ich ein Leben lang nachgehen wolle. Höflich gibt mein Kollege vor, meine Beweggründe zu verstehen, überzeugt mich aber nicht. In China scheint jeder zu wissen, was er will, und zielgerichtet darauf hinzuarbeiten. Ich aber grübele darüber nach, was ich hier eigentlich tue, beim Zählen der Fliesen in Haus 4, auf Balkon Nummer 23 in einer fernöstlichen Stadt für einen westlichen Mogul.

So etwas wie Alltag schleicht sich in mein Leben. Ich gewöhne mich an das Pendeln zwischen meiner Wohnung, dem Büro und der Baustelle und auch an das nasskalte Wetter. Ich habe mich inzwischen auch fast an die Tatsache gewöhnt, dass die Sonne über dieser Stadt niemals scheint. Oder vielleicht tut sie das, versteckt sich dabei aber hinter einer massiven Smogglocke. Sogar an wolkenlosen Tagen ist der Himmel von einem schmutzigem Grau durchzogen, und nur ein vergilbter Fleck deutet die Anwesenheit unseres Fixsterns an.

Nachdem ich nun seit fast drei Wochen in der fernöstlichen Metropole arbeite, sehe ich einer der größten chinesischen Traditionen entgegen: Das chinesische Neujahrsfest steht vor der Tür. Wie alle chinesischen Feste richtet es sich nach dem traditionellen »Bauernkalender«, einem Mondkalender. Beginnend zur Zeit des Neumonds zwischen dem 21. Januar und dem 21. Februar, erstreckt es sich über zwei Wochen. Anders als bei uns steht nicht die Schönheit des Feuerwerks im Vordergrund – es geht vielmehr um den Geräuschpegel. Je lauter die traditionell chinesischen Kracher detonieren, desto größer die Chance, böse Geister im anstehenden Jahr fernzuhalten. So geschieht es, dass ich morgens auf dem Weg ins Büro (die deutsche Belegschaft arbeitet während der chinesischen Feiertage) einen älteren Herrn treffe, der vier gefüllte Plastiktüten neben sich platziert hat. Mit noch müden Augen beginnt er, die Feuerwerkskörper der Reihe nach auf die Straße zu schleudern. Kein bunter Funkenschlag, kein pfeifendes Geräusch, kein Schnickschnack. Ein dumpfes Knallen, mal lauter, mal leiser, für die Großen und die Kleinen unter den bösen Geistern. Als ich mich nach Büroschluss wieder meiner Wohnung nähere, steht der alte Mann immer noch da, umgeben von rotbraunen Papierfetzen, und zündet mit seiner Zigarette die Knaller aus der letzten Tüte an. Wie am Morgen wirkt er beinahe, als würde er einer Pflicht nachgehen. Die Schönheit und Einzigartigkeit des Festes, so wie es mir immer wieder von Einheimischen beschrieben wird, bleibt mir leider verborgen. Sie findet im Inneren statt. Aufwendige Dekorationen aus dunkelrotem Papier mit goldenen Kalligraphien zieren die Wohnstätten der Schanghaier, die zuvor der glückbringenden Tradition nach bis in den kleinsten Winkel gesäubert wurden. Wer während der Festtage sein Heim kehrt, fegt mitunter auch sein Glück weg, deswegen werden alle Putzutensilien weggesperrt. Es wird festlich gespeist, vor allem Süßes, um sich das neue Jahr zu versüßen. Doch bis auf meine uigurische Ersatzfamilie kenne ich hier keine Einheimischen, und Ismail, seine Frau und die drei Söhne haben als Westchinesen mit dieser Tradition nicht viel zu schaffen. Während ich zwischen den sich raufenden Geschwistern die heißen Nudeln einsauge, versuche ich Amanda, meine Vermieterin, zu erreichen, denn in Kürze läuft mein Mietvertrag aus. Amanda und ich hatten abgemacht, dass ich das Zimmer erst einmal für drei Wochen beziehe, da ich mich gerne noch nach etwas Günstigerem umsehen wollte. Seit Tagen versuche ich sie zu erreichen. Jetzt, kurz bevor der Vertrag ausläuft, ruft Amanda zurück und entschuldigt sich, dass sie wegen des Neujahrsfests nicht erreichbar gewesen sei. Ich teile ihr mit, dass ich den Vertrag gern verlängern würde. Dass ich zu faul bin, mich wieder auf Wohnungssuche zu begeben, verschweige ich.

»Oh, das tut mir leid. Übermorgen zieht schon dein Nachmieter ein«, erwidert sie.

»Was?« Ich muss mich etwas von den Jungen entfernen, damit ich sichergehen kann, dass ich sie richtig verstanden habe.

»Übermorgen, also am Montag, kommt ein neuer Deutscher. Der wird dann in dein Zimmer ziehen«, wiederholt Amanda.

»Aber wir hatten doch abgemacht, dass ich verlängern kann«, reagiere ich bestürzt.

»Ja, aber das war vor Wochen. In zwei Tagen läuft dein Mietvertrag aus.«

Ich könnte ihr vorwerfen, dass sie mir nicht rechtzeitig Bescheid gegeben und nicht auf meine Kontaktversuche reagiert hat. Aber ich belasse es dabei. Sie versucht ja doch nur, ihr Gesicht zu wahren.