Mit anderen Augen - Fabian Sixtus Körner - E-Book

Mit anderen Augen E-Book

Fabian Sixtus Körner

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Beschreibung

In seinem neuesten Buch erzählt Fabian Sixtus Körner, was die Intensivstation für Neugeborene und ein Transitraum gemeinsam haben, wie seine Tochter seinen Blick auf die Menschen und die Welt verändert hat, und warum das Reisen mit Kind und Kegel zu den schönsten Erfahrungen zählt, die er jemals gemacht hat.

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Das Buch

»Yanti ist ein Sommerkind. Sie liebt Papageienschreie, Hängematten und Meeresrauschen. Ihre Geschichte ist wie eine Reise in ein fernes Land, aus dem wir verändert zurückkehren: mutiger, offener, voller Staunen. Und wie befreit von unseren eigenen Vorurteilen und Beklemmungen. Als ich am ersten Morgen nach der Diagnose aufwachte, tat mir alles weh. Mein Kopf, meine Glieder. Mir war übel und mein Herz raste. Ich spürte eine Ohnmacht im ganzen Körper. Doch am dritten Morgen fühlte ich, wie meine Kraft zurückkam. Es war dieses Jetzt-erst-recht-Gefühl, das ich von meinen Reisen kannte. Das Abenteuer hatte längst begonnen, ob ich wollte oder nicht. Also würde ich es annehmen. Ich würde nicht nur dafür kämpfen, dass Yanti am Leben blieb, sondern auch dafür, dass sie ihren ganz eigenen Weg gehen, akzeptiert und geliebt würde.«

Fabians Tochter Yanti kommt mit der Diagnose Down-Syndrom auf die Welt. Wie geht man mit einer solchen Nachricht um? Und inwiefern verändert sie das eigene Leben? In seinem berührenden Buch erzählt JOURNEYMAN Fabian Sixtus Körner vom Abenteuer Vater zu sein und sich um seine Tochter zu kümmern – und er schildert wie man trotzdem auf Reisen gehen kann, um die Menschen und das Leben neu zu entdecken.

Der Autor

Fabian Sixtus Körner, Jahrgang 1981, ist Designer, Fotograf, Blogger und stand zuletzt als Reisereporter vor und hinter der Kamera. Anfang 2010 begann er, die Welt zu bereisen und dabei für Kost und Logis zu arbeiten. Seine Erfahrungen darüber schilderte er 2013 in dem Buch JOURNEYMAN (Ullstein extra), das wochenlang ganz oben auf der Bestseller-Liste stand.

Fabian Sixtus Körner

MIT ANDEREN AUGEN

WIE ICH DURCH MEINE TOCHTER LERNTE, DIE WELT NEU ZU SEHEN

ullstein extra

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ISBN 978-3-8437-1755-7

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Covergestaltung: Fabian Sixtus Körner, BerlinUmschlagmotiv: Miriam Krane / © Fabian Sixtus Körner

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

INHALT

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Prolog

Yanti

Q90 – EIN RÄTSELHAFTER BEFUND

Von Bali bis nach Brandenburg – Reiseleben

EIN LEBEN FÜR DIE FREIHEIT

DÄMONISCHE WASSER

HEDONISTAN ODER VOM GLÜCK, IM STAU ZU STEHEN

ABENTEUER VOR DER HAUSTÜR

Bildteil

Ein spezielles Mädchen

DREI WOCHEN FÜR EIN NEUES LEBEN

AUFATMEN

Yantis Reisen

HÄNGEMATTENBLUES

YIN, YANG UND DER ROTE BARON

Epilog

Danksagung

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

PROLOG

Wie verblasste Fähnchen heißen mich die Herbstblätter willkommen, applaudieren dem Nieselregen im aufbrausenden Berliner Westwind. Der Sommer hat sich offiziell abgemeldet, mit Kälte und Nässe, die zielstrebig die Öffnung meiner Hosenbeine anvisiert. Vor drei Tagen saßen wir noch in T-Shirts und kurzen Hosen am Landwehrkanal, schauten den Jungbarschen dabei zu, wie sie für kurze Zeit ihre sicheren Verstecke verließen, um das überlebenswichtige Jagen zu üben. Wie schnell sie sich entwickeln, dachte ich erstaunt. Eine ganz andere Zeitzählung als bei uns Menschen.

Heute, drei Tage später, weiß ich, es braucht manchmal nicht mehr als einen Wimpernschlag, und alles ist verändert.

Der Volkspark umspult mich mit seinen im Kreis joggenden Menschen in Funktionskleidung. Während ich auf der Asphaltbahn stehe und im Grau der Stratuswolken nach Antworten suche, überrunden mich Männer und Frauen in Pink und Grün und Gelb. Und du, denke ich schwach, bleibst auf der Strecke?

Der Park grenzt an das Gelände des Klinikums, mit direktem Zugang zu den Kreißsälen. Gegenüber befindet sich die Neugeborenenstation. Dort liegt in einem der Brutkästen meine Tochter Yanti. Aus ihrer kleinen Stupsnase ragt ein Plastikschlauch, von ihrem zerbrechlich wirkenden Körper suchen sich zahlreiche Kabel ihren Weg aus dem weißen, vom Krankenhaus zur Verfügung gestellten Strampelanzug mit Bärchen-Aufdruck. Auf ihrer Brust, da bin ich mir sicher, liegt schützend die Hand von Nico, ihrer Mutter, meiner Verbündeten. Einen Wimpernschlag nur brauchte es zwischen dem schönsten Berliner Sommer voller Erwartungen und diesem erdrückend fahlen Herbst. Ein sanftes Blinzeln von Yanti, als ich sie nach der Geburt zum ersten Mal im Arm hielt, lila angelaufen und schrumpelig, und ich meine Zukunft plötzlich im Argen liegen sah. Zeit ist eine eigenartige, unumkehrbare Größe.

Ich kürze den Weg zurück zur Klinik durch die Volleyballfelder ab. Feuchter Sand knirscht unter meinen Schuhsohlen, und einen Moment lang denke ich an palmengesäumte Strände. In festen Lederschuhen über Sand zu laufen ist in etwa so, wie mit einer Gabel deine Lieblingssuppe zu essen. Schweren Schrittes laufe ich querfeldein auf den rot-grauen Gebäudekomplex zu. Am Eingang steht, wie fast jedes Mal, wenn ich das Foyer betrete oder verlasse, eine Frau Ende dreißig mit aschblondem Haar in einem hellblauen Nachthemd und raucht. Die Zigarette nervös mit dem Daumennagel schnippend, presst sie den Rauch aus der Lunge, der sich kurz darauf in der Luft verliert. Das sieht nicht nach Genuss aus. Genießt man den Zug an einer Zigarette, zieht der Rauch langsam in einer dicken Schwade davon. Vor zwei Tagen habe ich sie zum ersten Mal hier stehen sehen, fast wie arrangiert, um dem trostlosen Aschenbecher einen Sinn zu verleihen. Nur ihr Unterarm bewegt sich alle zehn bis fünfzehn Sekunden mechanisch zu den Lippen und fällt kurz darauf zurück in die Ausgangsposition. Ihr Blick geht ins Nichts, der Daumen nestelt unaufhörlich am Filter. Vorgestern Nacht hat diese Frau ein Kind zur Welt gebracht, kurz nachdem sie ihre Zigarette hier draußen vor dem Foyer ausgedrückt hatte. Das Neugeborene liegt jetzt vermutlich in seinem Kinderbettchen, nicht in Intensivpflege, sondern im Bereich der Familienstation. Es ist gesund. Wahrscheinlich mit einem unermüdlichen Verlangen nach einer Zigarette, aber gesund.

Und da ist sie wieder. Die Frage nach dem Warum. Warum wir? Warum Yanti? Wir haben doch alles dafür getan, dass wir eine gesunde, für ein unabhängiges Leben gewappnete Tochter bekommen.

Erst als Nachtschwester Marion zu später Stunde wie beiläufig eine Bemerkung macht, wird mir wieder bewusst, dass alles eine Frage der Betrachtungsweise ist, des Blickwinkels.

»Man kann sich sein Kind nicht aussuchen«, murmelt sie, während ihre Hände geschickt neues Wickelmaterial in die weißen Schränke einsortieren. Ob sie diesen abgegriffenen Satz eben wirklich gesagt hat, frage ich mich mit zusammengekniffenen Augenbrauen, als Schwester Marion sich Yantis Inkubator zuwendet und fortfährt: »Es ist nämlich umgekehrt. Kinder suchen sich ihre Eltern aus. Und mit euch hat Yanti eine sehr gute Wahl getroffen.«

Mit Nico hat unsere Tochter ganz sicher eine gute Wahl getroffen.

Nico, wie sind wir hierhergekommen? An diesen Ort, wo alles stillzustehen scheint?

Q90 – EIN RÄTSELHAFTER BEFUND

Berlin, September 2016

Ich bin Pessimist. Darin liegt mein Optimismus. Das Worst-Case-Szenario ist mein ständiger Begleiter – nur beunruhigt es mich nicht. Im Gegenteil hilft es mir, innere Ruhe zu finden. Was kann schon passieren? Was wäre so schlimm, dass es sich nicht lohnen würde, weiterzumachen; weiterzuleben?

Optimisten werden sich nun fragen, wie man mit dieser Einstellung ein glückliches Leben führen kann, dabei liegt es auf der Hand: Es gibt keine bösen Überraschungen. Ausschließlich gute, ständig. Permanent werden meine Erwartungen ans Leben übertroffen. Und wenn doch mal die Frage nach dem »Warum?« aufkommt – »Warum ich? Warum passiert gerade mir so etwas?« –, dann habe ich mir die Antwort darauf meist schon im Vorhinein zurechtgelegt.

An diesem spätsommerlichen Tag Mitte September aber hatte ich es schlichtweg versäumt, mir eine passende Antwort zu überlegen.

Nico fuhr neben mir, hochschwanger, auf ihrem neuen Damenrad. Sie hatte es sich für die Schwangerschaft und die Zeit danach gekauft, um einfacher aufsitzen zu können als bei ihrem Mountainbike.

»Lass uns auf den Bürgersteig wechseln«, sagte sie, als wir durch die Kopfsteinpflastergegend nahe des Landwehrkanals in Kreuzberg radelten. »Nicht, dass ich hier eine Sturzgeburt hinlege.«

Ihre Entspanntheit war so ansteckend, dass auch ich keine Anzeichen von Nervosität verspürte. Es war der Tag des errechneten Geburtstermins, aber es gab keine körperlichen Signale für bald einsetzende Wehen, sodass ihre Gynäkologin uns für einen hoffentlich letzten Termin zur Untersuchung gebeten hatte.

»Die Herztöne sind mir etwas zu flach, und das Fruchtwasser wird knapp. Ich rufe jetzt im Krankenhaus an, um Sie anzukündigen«, erklärte sie uns unaufgeregt. »Wir werden Sie weiterhin an das CTG anschließen, um die Herztöne des Kindes zu überwachen«, wandte sie sich erst an Nico, dann an mich, »und Sie gehen bitte nach Hause, holen die gepackten Taschen und kommen dann wieder hierher, um mit ihrer Freundin ins Krankenhaus zu fahren. Keine Hektik, alles ist in Ordnung. Fahren Sie langsam und aufmerksam.« Tatsächlich war ich nach ihrer Ansage sehr ruhig. Was bei mir hängen blieb, war »alles ist gut« und »es geht gleich los«. Also war ich optimistisch.

Die Geburtsklinik war überfüllt. »Wir haben seit ein paar Wochen einen regelrechten Babyboom in Berlin. Und dann ist morgen Vollmond. Wir gehen davon aus, dass wir heute Nacht zahlreiche akute Fälle reinbekommen«, erklärte uns die diensthabende Stationsärztin. Da bei Nico noch keine Wehen eingesetzt hätten, würde man bei anderen Kliniken anfragen, ob dort noch ein Kreißsaal zur Verfügung stünde.

Während wir warteten, wurde Nicos Bauch erneut verkabelt, die Herztöne unseres Kindes weiterhin überwacht. Wir machten es uns im Kreißsaal gemütlich, stellten uns auf einen langen Tag ein. Zwei Stunden später fällte das Klinikteam eine Entscheidung.

»Die Herztöne sind tatsächlich abnehmend. Wir sollten keine Zeit verlieren, wenn die Geburt natürlich verlaufen soll. Wir bekommen Sie schon irgendwie unter.«

Nico wurde ein Wehen förderndes Mittel in Form einer Kapsel verabreicht, und wir warteten weiter. Nichts passierte. Nach vier Stunden mussten wir den Kreißsaal wegen eines der angekündigten akuten Fälle räumen. Zeitweise wurde uns der Schwesternraum mit einer Schlafcouch zur Verfügung gestellt, ein Bett für Nico sowie ein Monitor für die schwächer werdenden Herztöne unseres ungeborenen Kindes hereingerollt.

Es wurde Nacht. Ständig verrutschten die Elektroden auf Nicos Bauch, sodass wir, kaum waren wir eingeschlafen, vom schrillen Ton des Monitors aufschreckten. Immer wieder blieb mir fast das Herz stehen, bei diesem Geräusch, das einen vermeintlichen Herzstillstand unseres Kindes anzeigte. Unweigerlich machte sich nun doch Anspannung breit.

Um zwei Uhr früh schreckte ich wieder auf. Nico lag nicht mehr neben mir, der Monitor zeigte keine Aktivität. Ich sprang von der Couch, um sie zu suchen, doch als ich die Tür aufriss, stand sie vor mir.

»Es geht los«, sagte sie kehlig, eine Hand fest am Geländer, während die andere versuchte, den Schmerz abzuschütteln. Zwischen Eröffnungswehen und Versuchen, kurz zur Ruhe zu kommen, verging die Nacht im einlullenden Stakkato des CTG, bis am Morgen doch noch ein Kreißsaal frei wurde. Die Wehen kamen und gingen zur Zufriedenheit der Ärzte. Sie wurden stärker, die Abstände geringer. Nico entschied sich für die Badewanne. Ich würde neben ihr sitzen, um ihre Hand im Wasser zu halten. Irgendwann kamen die Presswehen, viel zu früh, ungefähr zur selben Zeit, als meine linke Hand aufgeweicht, runzelig und bleich war, wie die eines Neugeborenen.

»Versuchen Sie, nicht aktiv zu pressen, sparen Sie Ihre Kräfte. Das Kind muss sich noch drehen. Es liegt hundertachtzig Grad in der Vertikalen, eine Position, die man auch Sternengucker nennt. Am besten legen Sie sich wieder in den Geburtsstuhl. Wenn Sie eine PDA gegen die Schmerzen möchten, dann ist jetzt die letzte Gelegenheit«, klärte der Oberarzt nach einer weiteren Untersuchung auf. Nico schüttelte den Kopf und stieß Luft durch ihre gepressten Lippen aus. Sie hatte sich relativ früh gegen eine Betäubung des Unterleibs durch eine Rückenmarksinjektion entschieden. Ich an ihrer Stelle hätte vermutlich schon längst einen Rückzieher gemacht. Nico jedoch blieb eisern, selbst nach über zwölf Stunden Schmerzen, die noch stärker würden, je weiter das Baby in den Geburtskanal rückte.

Als es weitere vier Stunden später endlich so weit war, befand sie sich längst im Schmerzdelirium, während ich die rhythmischen Abfolgen begleitete.

Eine Minute pressen, zwei Minuten schlafen.

Alles in mir hatte auf Instinktmodus geschaltet. Ich dachte nicht mehr, ich funktionierte nur noch, und meine Funktion belief sich einzig darauf, Nico zu unterstützen – ohne dem Arzt und den Geburtshelfern im Weg zu stehen.

»Ich erhöhe noch mal die Dosis des Wehen fördernden Mittels«, verkündete der Arzt.

Eine Minute pressen, zwei Minuten schlafen.

»Hi, hi, hi, hi, huuuuuuu. Atme mit mir, Nico«, versuchte ich sie auf die nächste Wehe vorzubereiten, um sie danach wieder in eine Kurzschlafphase zu verabschieden.

Eine Minute pressen, zwei Minuten schlafen.

»Ick sehe schon wat!«, sprach die sitzende Hebamme vom Fußende herüber.

»Die Wehen lassen nach«, sagte die Schwester.

»Die Herztöne auch. Wir können jetzt keinen Kaiserschnitt mehr machen. Nach all der harten Arbeit wäre das sehr schade. Ich drehe den Tropf voll auf. Noch zweimal pressen, dann ist Ihr Kind da«, entschied der Arzt. Nico hielt meine Hand fest umklammert. Das Geräusch eines Dammschnitts ertönte. Es wird mein Unterbewusstsein nie mehr verlassen.

Eine Minute pressen, zwei Minuten schlafen. Pressen.

»Na, wen ham wa denn hier?!«, rief die Hebamme und hielt ein kleines Würmchen hoch, das mit dem ersten Luftzug ein Jauchzen ausstieß, als wäre es genauso erleichtert wie wir. Es war meine Tochter. Sie war nun kein Embryo mehr, kein Fötus und kein um sich tretendes Geschöpf in einer Fruchtblase, sondern leibhaftig und real wie alle anderen Anwesenden auch. Yantis Haut war lila und ihr Kopf eiförmig. Sie sah aus wie von einem anderen Planeten.

Nico hatte die Geburt derweil noch nicht überstanden. Die Nabelschnur war gerissen, und die Plazenta wollte sich nicht lösen lassen. Ihre Schmerzen mussten unerträglich sein. »Wir müssen Sie operieren«, beschied der Arzt. »Das dauert aber nicht lang, nur eine kurze Vollnarkose. Wir lassen Ihre Tochter beim Vater, und in fünfzehn Minuten haben Sie sie wieder.«

Mit dem Unterarm wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Yanti wurde Nico behutsam aus dem Arm genommen, in ein Handtuch gewickelt und mir überreicht. Sekunden später waren Nico und das Ärzteteam verschwunden und ich mit meiner Tochter zum ersten Mal allein.

Für einen langen Moment herrschte Stille. Ich schaute sie an, wie sie ruhig schlafend in meinen Arm gekuschelt lag, begutachtete die kleinen Finger und deren stecknadelkopfgroße Nägel. Strich mit der Kuppe meines Zeigefingers behutsam über die noch feuchte Ohrmuschel und streichelte ihre zarte Wange. Voller Bewunderung, doch auch prüfend. Irgendetwas an ihr ließ mich grübeln und weitersuchen. Konnte ich, als alter Vollblutpessimist, das Glück der Vaterschaft einfach nicht wahrhaben?

Als hätte sie meinen Blick gespürt, öffnete meine Tochter plötzlich ihre Augen, schaute mich an, als wäre sie die ganze Zeit über wach gewesen. Merkwürdig unverwandt, beinahe, als wollte sie mir ihr Geheimnis preisgeben. Mit Augen unter schrägen Lidern hielt sie meinem Blick stand, mehr noch, was im Grunde gar nicht sein konnte: Yanti fokussierte mich. In ihrem Blick lag eine Antwort und zugleich auch eine Frage, die entscheidend war:

»Und, was sagst du jetzt?«, las ich in ihren Augen. »Was machen wir daraus?«

Die Hebamme betrat den Raum. »So, ich würde Yanti jetzt zur Erstuntersuchung mitnehmen. Möchten Sie mitkommen?« Obwohl ich wusste, dass die U1 anstand, überraschte sie mich mit ihrer Frage. Ich war gedanklich ganz woanders, Jahre voraus.

»Ähm, nein, ich warte auf meine Freundin, die müsste bald aus dem OP kommen«, entschied ich. Sie nahm Yanti gekonnt mit einem Arm entgegen und verschwand. Ich schaute an mir herunter und sah, dass Yanti den ersten Stuhlgang ihres Lebens auf meinem weißen T-Shirt hinterlassen hatte. Das pechschwarze Mekonium würde wohl nie gänzlich aus dem Stoff verschwinden und mich für immer an dieses lautlose erste Gespräch mit meiner Tochter erinnern. Nun hatte ich es schwarz auf weiß, dass ich Vater geworden war.

Die Minuten vergingen, ohne dass es mir bewusst war. Ich saß neben dem blutbesudelten Geburtsstuhl. Aus dem Wasserhahn der Badewanne ragte tollkühn ein Tropfen hervor, im Begriff, sich in das kalte, trübe Badewasser zu stürzen. Ich kam mir vor wie in einem Echtzeitfilm, dessen Drehbuchautor kurz innehielt, um den nächsten Schritt abzuwägen. Er kaute auf der Rückseite seines Stifts, rieb sich die Falten aus der Stirn, machte einen Absatz und setzte wieder an.

»Herr Körner, es gab Komplikationen. Bitte kommen Sie mit.« Schon wieder war mir entgangen, dass die Hebamme den Kreißsaal betreten hatte. Mit ihrer Einleitung riss sie mich abrupt aus meinem Tagtraum. »Ihre Tochter hat während der Untersuchung Atemaussetzer jehabt. Ick bin selbst janz erschrocken jewesen. Wir ham sie sofort in die Neonatologie jebracht.« Sie sprach schnell, aber mit ruhiger Stimme. »Kommen Sie«, bat sie mich hinaus auf den Flur. »Sie gehen hier entlang, immer jerade aus. Durch die erste Flügeltür und dann weiter jerade aus bis zur nächsten Flügeltür. Dort klingeln Se dann und fragen nach Ihrer Tochter.«

»Ja, danke!«, rief ich über die Schulter, während ich den Gang hinuntereilte, durch die erste Flügeltür, vorbei an den Wartenden, an hochschwangeren Frauen und erwartungsvollen Familienmitgliedern, zur zweiten Tür. Sie öffnete sich, kurz nachdem ich die Klingel betätigt hatte.

»Sie sind der Papa von Yanti?«, empfing mich eine Schwester.

»Ja, wo ist sie?«, fragte ich knapp.

»Ich bringe Sie zu ihr«, erwiderte sie routiniert, als würde sie diesen Satz mehrmals täglich sagen. Wir gingen zusammen weiter und bogen am Ende des Ganges rechts in eines der Zimmer ab. In jeder Ecke stand ein Inkubator aus transparentem Plexiglas. Drei davon waren leer, im vierten lag Yanti und schlief. Ein Schlauch hing ihr aus der Nase, einer aus dem Mund. Wohl, um sie daran zu hindern, sich die Schläuche selbst zu ziehen, waren sie mit Pflastern auf ihrer Wange fixiert worden. Eines in der Form eines Schmetterlings, das andere in Herzform. Bunte Kabel wuchsen wie Sprösslinge aus ihrer Brust, und an ihrem kleinen Fuß war ein rot leuchtender Sensor mit einer Mullbinde fixiert. Das allzu bekannte Geräusch des EKG-Geräts spielte eine monotone Melodie. An ihren Inkubator war eine halb ausgefüllte Geburtskarte geheftet.

Ich heiße Körner, Yanti

Ich wurde am 16. 09. 16 um 17:18 Uhr geboren

Mein Geburtsgewicht 2720 g

Meine Geburtslänge cm

Mein Kopfumfang cm

Zimmer Nr.

Ich stellte mir vor, wie die Hebamme während der U1, nachdem sie Yanti von der Waage genommen und den Wert übertragen hatte, das Maßband zurechtzog und erschrocken feststellte, dass das Neugeborene nur mehr atemlos und bläulich vor ihr lag. Ich war erleichtert, dass sie nun hier war, wenn auch hinter Plexiglas, unter einer halb ausgefüllten Geburtskarte. Sie lebte. Auch wenn ihre Atmung sehr flach war, sorgten technische Hilfsmittel dafür, dass Yanti am Leben blieb.

Die Schwester stand auf der anderen Seite des Inkubators und ließ mir Zeit, mich auf die Situation einzustellen. Dann brach sie das Schweigen.

»Die süße Maus hat einen kritischen Sauerstoffwert. Aber seien Sie unbesorgt, das haben wir im Griff. Wir können noch nicht genau sagen, woran es liegt, deshalb werden wir sie ein paar Tage hierbehalten, um das herauszufinden. Wir müssen wissen, ob ihr Herz, ihre Lunge oder andere Organe Fehler aufweisen. Dazu wird Ihnen der Stationsarzt mehr sagen. Der Verdacht besteht, dass Ihre Tochter das Downsyndrom hat. Gewissheit haben wir aber erst nach einem Zelltest. Wir werden Sie über alles informieren.« Sie hielt kurz inne. Während ich Yanti anstarrte, spürte ich den mitleidigen Blick der Schwester auf mir, sah, wie sie sanft mit den Fingerspitzen zum Abschied auf die Plexiglaskante tippte, ehe sie sich leise zurückzog.

Da war es also. Downsyndrom. Zum ersten Mal ausgesprochen, schwebte es groß und schwer wie eine dunkle Wolke über mir, bereit, ein gewaltiges Gewitter herabzuschicken. Gedanken wie Blitze, gefolgt von nachhallenden Donnerschlägen.

Ich habe eine behinderte Tochter. Trisomie 21 – die am häufigsten vorkommende Chromosomenanomalie bei Neugeborenen. Q90 – deren Code zur internationalen statistischen Klassifikation. Ein weiterer Pflegefall auf den Listen der Versicherungen, hilfebedürftig für den Rest ihres und wahrscheinlich auch meines Lebens. Unabhängigkeit, Reisen, Freiheit, damit ist es vorbei. Warum meine Tochter? Warum ich? Womit haben wir als Eltern und Familie das verdient? Nico. Was ist mit Nico?

Ich stürzte aus dem Raum und klopfte hektisch an die Glasscheibe des Schwesternzimmers. »Können Sie mir sagen, wie es meiner Freundin, der Mutter von Yanti geht?«, rief ich, etwas zu laut für eine Intensivstation, durch die Scheibe. Eine der Schwestern drehte sich kauend zu mir um, legte ihr Brötchen zur Seite und gab mir mit erhobenem Zeigefinger zu verstehen, dass sie sich darum kümmern werde. Daraufhin nahm sie den Hörer von einem Wandtelefon und drückte zwei Tasten, führte ein kurzes Gespräch, legte auf und kam zu mir herüber. »Sie ist schon aus dem OP raus und wacht gerade auf. In Zimmer eins der Geburtsstation, erste Tür links. Sie können zu ihr gehen. Wir bringen gleich auch Yanti kurz vorbei.« Mit einem Lächeln nickte sie mir zu. Ich bedankte mich hektisch und war schon wieder fort.

Nico schmatzte genüsslich, als ich ihr einen sanften Kuss auf die Wange drückte.

»Wie geht es dir?«, fragte ich flüsternd.

»Hmmmmm, gut.«

Erst als ich sie fragte, ob sie wüsste, wo sie sich befand, und ob sie sich an die Geburt erinnern könne, wurde mir bewusst, dass Nico die vergangene halbe Stunde mit all ihren Ereignissen im Tiefschlaf verbracht hatte. Zuletzt hatte man ihr mitgeteilt, dass sie eine gesunde Tochter nach einer langen, schmerzhaften Geburt zur Welt gebracht hatte.

»Wo ist sie?«, fragte sie murmelnd.

Es gab wohl kaum einen schlechteren Zeitpunkt für die Übermittlung einer solchen Nachricht. Allerdings hatte ich mir keinen Plan zurechtlegen können, nachdem sich die Ereignisse derart überschlagen hatten. Was hätte ich ihr anderes als die Wahrheit sagen sollen? Ruhig berichtete ich ihr, was die Krankenschwester gesagt hatte. Erst als ich sicher war, dass sie begriffen hatte, fragte ich: »Wie geht es dir damit?«

»Ich werde sie genauso lieb haben. Mit oder ohne Downsyndrom.« Sie klang noch immer abwesend, aber ich spürte, dass sie wusste, was sie sagte.

»Und dir?«

Während ich noch nachdachte, spürte ich, wie sehr ich Nico brauchte. Alleine wäre ich aufgeschmissen. Ich brauchte die Nico von vor der Geburt, die positive, lebenslustige und dickköpfige, die immer noch die Leichtfüßigkeit einer Grundschülerin an den Tag legte.

»Solange ich weiß, dass es für dich kein Problem ist, ist es das für mich auch nicht.« Das klang nicht gerade aufbauend und nicht nach Aufbruchsstimmung. Es war einfach Erleichterung, die darin mitschwang.

Zwei Schwestern und einer der Ärzte der Neonatologie brachten Yanti zu uns. Sie war wieder in eine Decke gehüllt und sah aus, als hätte man sie eben aus einem Versuchslabor gerettet. Man hatte sie von der Sauerstoffflasche abgestöpselt und mit einem mobilen Monitor verkabelt. Nico richtete sich ein wenig auf und nahm Yanti entgegen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie ihre Tochter zum ersten Mal in aller Ruhe begrüßte.

»Hallo, meine Kleine. Was machst du denn für Sachen? Komm, wir kuscheln ein wenig, das hat noch niemandem geschadet.« Gemeinsam lagen sie eng beieinander in die weißen Tücher des Krankenbettes gewickelt. Es hätte ein Bild puren Glücks sein können, wäre da nicht dieses Störgeräusch gewesen, das sich hartnäckig in meinem Hinterkopf festgesetzt hatte. Die Stimme der Krankenschwester hallte nach, als wäre das Echo ihrer Worte in meinem Schädelinneren gefangen. »Downsyndrom … Downsyndrom … Downsyndrom …« Wie ein nervöses Tier schlich ich um das Bett herum und betrachtete Yanti aus allen Winkeln. Wenn ich rechts hinter dem Kopfteil des Bettes stand, sah sie aus wie ein ganz normales Neugeborenes, ohne auffällige Merkmale. Wenn ich mich an die seitliche Kante des Bettes stellte, sah ich es sofort. Die mandelförmigen Augen, das spitze Kinn und die leicht verdickte, heraushängende Zunge. So wanderte ich spekulierend durch den kühlen Raum, bis die Tür sich erneut öffnete.

»Wir müssten Yanti jetzt zurückbringen. Sie muss wieder an die Sauerstoffversorgung angeschlossen und gleich auch gefüttert werden. Währenddessen wird man Sie auf Ihr Zimmer bringen.«

»Was? Kann ich sie besuchen?«, fragte Nico ängstlich.

»Ja natürlich, Sie können immer zu ihr, rund um die Uhr. Aber Sie müssen sich auch ein wenig ausruhen, damit Sie sich schnell von der Operation erholen. Yanti braucht vor allem eine gesunde Mama«, erklärte ihr die Schwester. Widerwillig gab Nico unsere Tochter ab. Dann waren wir wieder allein in dem kargen Raum. Nach und nach fiel die Anspannung von mir ab. Ich legte mich neben Nico auf den Fußboden, und in Stille, Hand in Hand, schworen wir uns gemeinsam auf die nächste Etappe ein. Die Sekunden vergingen wie Minuten, die Minuten wie Stunden. Es klopfte an der Tür, ein weiteres neues Gesicht erschien.

»Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer«, verkündete die Schwester mit einem osteuropäischen Akzent. Wortlos stand ich auf und lief neben dem rollenden Bett her durch die Gänge.

»Ich möchte sie noch mal sehen«, sagte Nico plötzlich.

»Was?«, fragte die Schwester.

»Mir wurde gesagt, dass ich immer zu ihr kann. Ich muss sie noch mal sehen, sonst kann ich nicht schlafen.«

»Ich weiß nicht, ob dein Bett dort hineinpasst. Warte, ich frage nach.«

Die Krankenschwester hatte schnell begriffen, dass sie keine andere Option hatte. Nicos Bett wurde durch den schmalen Gang bis in Yantis Zimmer manövriert und neben den Inkubator gestellt, sodass es ihr möglich war, die Hand hineinzulegen. Ich konnte mich vor Erschöpfung kaum mehr auf den Beinen halten und legte mich neben Nico. Es war das erste Mal, dass wir drei ohne innere oder äußere Störgeräusche vereint waren. Kein Plexiglas konnte uns trennen, keine elektronischen Lebenserhaltungsgeräte oder deprimierenden Zukunftsvisionen von diesem Moment des friedlichen Beisammenseins abbringen. Wir schlossen die Augen und träumten uns an einen anderen Ort.

»Wir bringen Ihre Frau jetzt auf ihr Zimmer«, flüsterte mir jemand ins Ohr. Es war der einzige männliche Krankenpfleger der Station. Nico schlief und ließ sich auch durch nichts mehr wecken. Als ich mich in unserem Stationszimmer neben sie legte, war ich nach dem kurzen Schläfchen wieder hellwach. Dunkelheit hüllte mich ein, als ich Zwiegespräche führte und mich auf die Suche nach einem Pfad zur inneren Ruhe begab.

»Hunde sind im Grunde doch auch nur behinderte Wölfe. Und trotzdem viel beliebter«, behauptete mein Alter Ego.

»Aber Yanti ist doch kein Tier. Obwohl – im Grunde sind wir alle Tiere, nicht?«

»Immer diese Abgrenzungen! Mensch, Hund, Wolf, Grottenolm – alles eine Ursuppe.«

»Wird Yanti sprechen können? Wird sie für immer ein Pflegefall sein? Wird sie verstehen, was es heißt, glücklich zu sein?«

»Pflegebedürftig zu sein ist doch nicht gleichbedeutend mit unglücklich. Das Schlimmste, was du deinen Widersachern antun kannst, ist glücklich sein. Da kommen die nicht drüber weg. Und überhaupt, schon mal an die positiven Seiten gedacht? Deine Tochter wird vermutlich nie mit einer Nadel im Arm auf der Straße sitzen oder sich prostituieren.«

»Aber können wir weiter tun, was wir so lieben? Können wir reisen?«

Mein innerer Gesprächspartner verstummte. Offenbar fiel ihm keine Antwort ein.

»Vielleicht übersteht sie es ja auch nicht. Wer weiß, ob sie morgen noch lebt.«

»Daran darfst du nicht mal denken.«

»Und wäre das so schlimm? Würde sie nicht einem Leben voller Intoleranz und Krankenhausaufenthalten entgehen?«

»Arschloch! Hauptsache, du behältst deine beschissene Freiheit oder was? Halt einfach deine Fresse!«

Ich bin nicht stolz auf meine Gedanken in dieser ersten Nacht in Yantis Leben. Sie waren eben da. Und auf eine schwer zu fassende Art halfen sie mir, die Situation anzunehmen.

Ich hatte Angst. Ich war verwirrt. Ich wusste nicht, was uns erwartete. Auf Reisen hatten Nico und ich beschlossen, dass wir ein Kind bekommen wollten. Auf Reisen war sie schwanger geworden, und unser Kind war in ihrem Bauch herangewachsen, während wir auf fremdem Boden lebten. War es tatsächlich denkbar, dass mit Yantis Geburt der Stillstand kam? Ein sesshaftes und vorhersehbares Leben?

EIN LEBEN FÜR DIE FREIHEIT

Simbabwe, Herbst 2012

Now that I have put my gun down

For almost obvious reasons

The enemy still is here invisible

My barrel has no definite target

now

Let my hands work –

My mouth sing –

My pencil write –

About the same things my bullet

aimed at.

Aus »On the road again« von Freedom T.V. Nyamubaya

Nicos und meine Geschichte begann in den Wäldern um Bremthal, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Frankfurt am Main. Die riesige alte Eiche, in der wir Kinder das Klettern lernten, hat gesehen, wie wir uns zum ersten Mal geküsst haben. Vielleicht weiß sie auch, warum der zweite Kuss ganze zwanzig Jahre auf sich warten ließ. Vermutlich mussten wir beide, jeder für sich selbst, erst herausfinden, wer wir waren. Nico ging aufs Gymnasium, studierte Internationales Recht und wurde zur Expertin für Menschenrechte zum Schutz von Frauen und Kindern in Kriegs- und Krisengebieten; unterdessen hatte ich die Schule abgebrochen und mich irgendwie in ein Fachstudium hineingemogelt.

Sie machte einen Schüleraustausch in Ecuador und bestand ihren Master in Irland, arbeitete an Projekten in Bosnien, Haiti und Liberia, während ich als Backpacker durch Südostasien streifte und herauszufinden versuchte, was mich antrieb.

Mit Ende zwanzig reiste ich mehrere Jahre als Journeyman um die Welt, um dem Alltag, der mich in Deutschland zu ersticken drohte, zu entfliehen und mich auf die Suche zu begeben nach der Formel für ein glückliches Leben. Auf allen besiedelten Kontinenten der Erde arbeitete ich als Architekt, Designer und Fotograf gegen einen Schlafplatz und etwas zu essen. Zwei Jahre lang ging der Plan auf, doch am Ende meiner Reise saß ich auf Kuba fest und hatte laut Kontostand nur eine Möglichkeit, um von dort wegzukommen: eine Flugreise in die Dominikanische Republik. Nico arbeitete dort für die Vereinten Nationen und nahm mich bei sich auf. Es sollte das Ende meiner Reise markieren sowie den Anfang von etwas Neuem und zugleich Altem. Fortan würden wir wieder gemeinsam zu geheimnisvollen Orten reisen …

Nach unserem Abschied von der Dominikanischen Republik reiste ich noch für ein paar Wochen allein durch Kolumbien. Nico zog es nach Simbabwe, wo sie ein Jahr lang für die Vereinten Nationen arbeiten würde, um ein Friedens- und Sicherheitsprogramm zu entwickeln. Ich ließ mich kurz darauf in Berlin nieder, und wir führten eine Fernbeziehung mit ausgedehnten gegenseitigen Besuchen.

Das wahre Afrika. Evolutionshistoriker haben den Osten Afrikas als Wiege der Menschheit ausgemacht, im Westen schlägt für Anthroposophen das kulturelle Herz des Kontinents. In der subsaharischen Gegend tummeln sich Touristen und Großwildjäger – sie suchen die Big Five: Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe und Leopard. Und dann sind da die Bodenschätze, deren Erlöse auf mysteriöse Weise nie bei der Bevölkerung ankommen. Afrika ist der Kontinent westlicher Projektionen und Interessen und dabei so vielfältig und gegensätzlich, so rätselhaft und schwer zu fassen.

Die Bilder, die ich im Kopf hatte, als ich meine Reise antrat, waren so angestaubt und austauschbar, dass ich mich beinahe schämte. Weiße Männer und Frauen im Safarilook, Gewehre mit langen Läufen, lässig geschultert. Sklaven, die in der sengenden Sonne für andere schuften. Stammesriten, Tätowierungen und Kriegsbemalung. Friedliche und kriegerische indigene Völker. Warlords und Despoten. Armut, Hunger. Trommeln. Trockenheit, Gefahr. Sonnenuntergänge über der Sahara, Hitzeflimmern, Weite, Schönheit.

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