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Judith Döker ist Schauspielerin. Doch als all ihre beruflichen und privaten Pläne mit einem Mal zu platzen scheinen, entschließt sie sich zu einem mutigen Schritt. Sie lässt ihr altes Leben in Deutschland zurück, um in ein vollkommen neues Abenteuer in Indien einzutauchen. In ihrem Buch erzählt sie von dieser Reise, die sie bis nach Mumbai führt – mitten ins Herz Bollywoods – einer Welt voller bunter Gewänder, großer Gefühle und wilder Tänze. Doch schnell erkennt sie, dass dieses fremde und faszinierende Land so viel mehr für sie bereithält, als sie je erwartet hätte. Und so wird das Abenteuer Bollywood zu einer Reise, die ihre Vorstellungen, ihre Wünsche und Bedenken, ihre Art zu lieben, ja ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt – einer Reise, die sie letztlich zu sich selbst finden lässt.
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Seitenzahl: 372
JUDITH DÖKER
Judith goes to
Bollywood
Wie ich in Indien den großen Erfolg suchte und die Liebe fand
1. Auflage
Originalausgabe Februar 2015,
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
LW · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-10159-6www.btb-verlag.de
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1. KAPITELAlles auf Anfang
Der Blick aus dem Fenster offenbarte einen strahlend blauen Himmel mit bauschigen weißen Wölkchen wie Zuckerwatte. Glücklich lehnte ich mich in meinen Sitz zurück und genoss das sichere Gefühl, dass mich nun nichts mehr aufhalten konnte. Bald war ich in Mumbai – dem Mekka Bollywoods. Hier wollte ich ein neues Leben beginnen, und das hatte einen ganz bestimmten Grund.
Alles begann in dem Sommer, in dem ich David kennenlernte. Die Dreharbeiten für die dritte Staffel Weibsbilder waren gerade beendet, und sechs Wochen Los Angeles lagen vor mir. Ich hatte ein Stipendium für einen Schauspielworkshop erhalten.
Am Abend vor meiner Abreise in die USA traf ich mich mit ein paar Freunden in einer Bar. Ein nettes Beisammensein sollte es werden, ohne große Erwartungen. Wir bestellten Cocktails, plauderten, und ich wollte auch gar nicht lange bleiben, bis die Tür aufging und ein Mann hereinkam. Plötzlich ging alles ganz schnell. Wie durch Magnetkraft wurden wir voneinander angezogen, lachten, schwelgten in Geschichten und entdeckten Gemeinsamkeiten – das war die gute Nachricht. Die schlechte: David war verheiratet.
Nach meiner Rückkehr aus Los Angeles kam er mich sofort für ein Wochenende in Berlin besuchen, und nun war es endgültig um uns geschehen. Die Liebe überrollte uns wie eine Lawine – schnell, intensiv und völlig unkontrolliert. Wir malten uns ein gemeinsames Leben aus, mit allem, was dazugehörte – einzig an der Umsetzung haperte es. Immer, wenn David reinen Tisch machen wollte, kam ihm etwas dazwischen – ein Weihnachtsfest, Ostern, die Sommerferien, auch mal ein Grillfest. Parallel zu meiner privaten Misere, fing auch mein berufliches Leben gefährlich an zu bröckeln. Die Comedy-Serie,die mir meinen Lebensunterhalt sicherte, wurdetrotz guter Quoten überraschend eingestellt. Zuerst deutete ich die Nachricht sogar noch positiv und dachte, dann müsse ja jetzt etwas Neues beginnen. Dem war aber nicht so. Auch andere Projekte, für die ich fest vorgesehen war, zerplatzten einfach wie Seifenblasen. Mein Leben rann mir durch die Finger, und mein wundes Herz schrie immer lauter: Los, unternimm etwas!
Es war wie ein letztes Aufbäumen, als ich David endlich vor die Wahl stellte. Und als ob ich es nicht schon geahnt hätte: Er traute sich den Sprung in unser gemeinsames Leben einfach noch nicht zu. Im Film bezeichnet man diese Stelle als den zweiten Plot-Point, auf den dann relativ zügig das Happy End folgt. Aber nicht so bei David und mir. Unsere Geschichte endete an dieser Stelle, und es brauchte Monate, bis ich mich wieder halbwegs berappelt hatte. Aber dann, als das Tal der Tränen durchschritten war, wurde mir eines klar: Ich wollte Neuland betreten – und zwar in jeder Hinsicht. Die Aussicht darauf, einfach nur sang- und klanglos wieder in mein altes Leben zurückzukehren, fand ich wenig reizvoll. Das hätte sich wie eine Kapitulation angefühlt. Ich wollte den Bogen weiter spannen, auch beruflich. Einfach nur auf das nächste Rollenangebot zu warten, war mir zu passiv. Aber wie sollte dieser Neuanfang aussehen? Ich war 37 Jahre alt, konnte ein abgebrochenes Jurastudium und gute zehn Jahre Erfahrung als Schauspielerin vorweisen. Ich hatte weder Mann noch Kind noch einen festen Job. Gut daran war, dass ich nun völlig frei und ungebunden war. Theoretisch gab es also unzählige Möglichkeiten, mein Leben völlig neu zu gestalten, nur fiel mir praktisch leider keine einzige ein. In der Hoffnung auf Inspiration ging ich viel spazieren oder fuhr mit dem Rad durch die Stadt. Dabei doggte ich mich immer wieder an das Gefühl von Freiheit und auch von Abenteuer an, aber eine wirklich zündende Idee kam mir trotzdem nicht.
Als die Tage schon wieder dunkler wurden und das Wetter ungemütlich, saß ich mit einer heißen Tasse Tee über meinen Steuerunterlagen, als das Telefon klingelte. Es war mein Versicherungsvertreter. Oh nein, dachte ich, das Letzte was ich jetzt brauche ist eine neue Versicherung. Doch darum schien es gar nicht zu gehen. Herr Meyer erzählte mir von einer Klientin, die irgendetwas mit Bollywood zu tun hatte.
»Die brauchen dort wohl auch schon mal deutsche Schauspieler, hat sie mir erzählt. Und da habe ich sofort an Sie gedacht.«
Da war er, der Impuls, auf den ich so lange gewartet hatte. Ich gehe nach Bollywood – die Sache war schon beschlossen, bevor ich überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte. Bollywood, das verband ich mit überbordenden Gefühlen, dramatischen Gesten, bunten Gewändern, glitzerndem Schmuck, irrwitzigen Tänzen und natürlich der großen Sehnsucht nach einem Stück heiler Welt, wonach auch ich mich tief in meinem Innersten sehnte. Aber ich witterte auch das Abenteuer. Vor allem faszinierte mich die Vorstellung, in eine völlig fremde Kultur einzutauchen und mir dort einen Alltag aufzubauen, der so ganz anders war als alles, was ich bisher erlebt hatte.
Eine Google-Suche ergab, dass auf dem Subkontinent mehr Filme gedreht wurden als in jedem anderen Land dieser Welt. Das war natürlich großartig! Weniger großartig war dagegen, dass Westler in der Tat gerne in Bollywood gesehen wurden, allerdings nur als Komparsen, um den Hintergrund zu füllen. Rollen für Ausländer gab es so gut wie gar keine. Ich musste auch feststellen, dass die Filme gar nicht auf Englisch gedreht wurden, so wie ich ursprünglich vermutet hatte, sondern auf Hindi. Das waren natürlich nicht gerade die besten Berufsaussichten, trotzdem wollte ich mich davon nicht einschüchtern lassen. Irgendetwas würde dieses Land schon für mich bereithalten, da war ich mir ganz sicher. Ich wollte schon meine Koffer packen, aber dann kam plötzlich eines zum anderen.
Nachdem sich die Welt so lange vor mir verschlossen hatte, öffnete sie mir nun bereitwillig all ihre Tore. Ein befreundeter Filmproduzent brachte mich auf die Idee, doch eine Doku über meinen Neuanfang in Bollywood zu drehen. Die Regie sollte ich selbst führen. Und einen Film über mein Vorhaben zu drehen, war natürlich viel dichter dran an dem, was ich mir ursprünglich gewünscht hatte. Ganz praktisch hatte das aber auch den Vorteil, mein Geld nicht sofort in Indien verdienen zu müssen. Also klemmte ich mich hinter den Schreibtisch und schrieb ein Konzept, in der Hoffnung, einen Auftrag von einem Fernsehsender zu erhalten, denn das war die Voraussetzung. Und da ich in meinem Leben noch nie indischen Boden betreten hatte, ließ ich einfach meine Fantasie schweifen. Auf dem Papier kreierte ich mir mein neues Leben so prall und bunt wie nur möglich. Ich blickte hinter die Kulissen Bollywoods, tauchte ab in geheimnisvolle, mystische Welten und stellte mir sogar ganz kühn eine neue Liebe in Aussicht – und auf einmal lief alles wie am Schnürchen. Das ZDF war interessiert. Sie überlegten sogar, eine ganze Serie daraus zu machen. Allerdings wollte der Sender bei solch einem großen Vorhaben noch genauer wissen, was ihn erwartete. Deshalb schlug mein Produzent vor, Adrian, den Kameramann, und mich für kleines Geld zu einem dreiwöchigen Test-Dreh nach Mumbai zu schicken.
»Hühnchen oder vegetarisch?«, fragte die Stewardess mit charmant indischem Akzent.
»Vegetarisch bitte.«
»Für mich auch«, sagte Adrian, und wir rafften schnell die Blätter zusammen, auf denen wir Notizen für die ersten Drehtage gemacht hatten. Vorsichtig zog ich die Alufolie von der Menüschale, und ein herrliches, indisches Curry kam zum Vorschein – Kichererbsen, Kartoffeln und verschiedene Gemüse in einer spicy Sauce. Es schmeckte – für Flugzeugkost – ungewöhnlich gut und gab einen wunderbar sinnlichen Vorgeschmack auf unser Reiseziel. Ich konnte noch gar nicht richtig glauben, dass wir in wenigen Stunden endlich diese langersehnte Welt erreichen würden, die ich in meiner Fantasie schon in- und auswendig kannte.
Mumbai, das ehemalige Bombay, gehört zu den bevölkerungsreichsten Städten weltweit. Die Einwohnerzahl wird auf rund 18 Millionen geschätzt, genau weiß das aber niemand. Mittlerweile befanden wir uns im Landeanflug, und ich sah gebannt aus dem Fenster. Es war vier Uhr morgens und noch stockdunkel. Mumbai, das Los Angeles Indiens, war nicht etwa hell erleuchtet, wie man es aus anderen Metropolen kannte, ganz im Gegenteil: Es sah aus der Luft fast unheimlich aus, und je näher wir uns Richtung Boden bewegten, desto mehr Slums konnte ich erkennen. Plötzlich war ich heilfroh, mich doch nicht ganz alleine auf den Weg gemacht zu haben.
Als sich die Türen des Flugzeugs öffneten, schlug mir die feuchte, wabernde Hitze wie eine warme Wand entgegen. Ich war in den Tropen gelandet, das war deutlich zu spüren. Auch der Geruch war speziell. Ich mochte ihn. Es roch blumig und ein bisschen würzig. Glücksgefühle stiegen in mir auf, und ich konnte es kaum erwarten, endlich in das bunte Treiben der Millionenmetropole einzutauchen.
Das Erste, was Indien allerdings von mir einforderte, war Geduld. Überall wimmelte es von Menschen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis wir den Zoll passiert hatten, am Gepäckband fiel immer wieder der Strom aus, und für einen letzten Sicherheitscheck mussten wir uns noch einmal in eine lange Schlange einreihen, aber dann hatten wir es geschafft! Wir passierten den Ausgang und landeten auf einem Platz, dessen Überdachung mich an ein arabisches Zeltdach erinnerte. Adrian holte sofort die Kamera heraus. Ich lief auf eine der beleuchteten Buden zu, die rings um den Platz herumstanden und bestellte meinen ersten indischen Chai. Freudestrahlend nickte mir der Mann hinter dem Tresen zu und zeigte auf einen der weißen Plastikstühle, auf den ich mich setzen sollte.
Die Sonne ging langsam auf, und Menschen aus aller Herrenländer strömten aus dem Flughafengebäude, viele in traditioneller Kleidung. Auch das Gepäck der Reisenden sah ganz anders aus als an einem europäischen Flughafen. Statt schicken Koffersets beförderten die Menschen hier riesige Kartons und große Plastiktaschen auf ihren Rollwagen.
Irgendwo in der Fremde anzukommen gehörte für mich seit jeher zu den beglückendsten Momenten überhaupt. Die Welt wieder wie durch Kinderaugen wahrzunehmen. Jedes kleinste Detail, eine Alltäglichkeit einer fremden Kultur, konnte so zu einer großen Entdeckung werden, der ein mystischer Zauber innewohnte. Alle Sinne zu schärfen und sich der Magie des Moments hinzugeben – was konnte es Schöneres geben.
Der Taxifahrer, ein hagerer alter Mann in traditioneller weißer Baumwoll-Kurta, band unsere beiden Koffer mit einem Seil auf dem Dach des schwarzgelben Ambassadors fest, der wie ein Relikt aus früheren Zeiten wirkte, genauso wie die abgewetzten Sitzpolster im Leopardenmuster.
Gleichmütig rumpelte der Wagen über die vielen Schlaglöcher der staubigen Straße und versetzte uns ein paar ordentliche Schläge ins Kreuz. Aus dem Autoradio schepperte süßliche indische Musik, zu dem das Ganesha-Figürchen auf dem Amaturenbrett ordentlich hin und her wippte. Ganesha, das war der Elefantengott, der Reichtum symbolisierte und Hindernisse aus dem Weg räumte, weshalb er bei keiner geschäftlichen Unternehmung fehlen durfte.
Die Morgensonne tauchte die Landschaft in ein orangefarbenes Licht und strahlte eine Sanftheit aus, als wolle sie alles Elend der Straßen weichzeichnen. Überall lagen schlafende Menschen herum: am Straßenrand, unter den Brücken oder unter Planen, die notdürftig an den Mauern befestigt waren. Ganze Familien lagen hier nebeneinander aufgereiht. Manche von ihnen hatten Hausrat wie Töpfe oder metallenes Geschirr bei sich, andere besaßen gar nichts. Einige Frauen und Kinder waren mit leichten Tüchern bedeckt, die ihnen ein klein wenig Schutz boten. Ein paar Kleinkinder waren auch schon auf den Beinen und spielten gefährlich dicht an den vorbeifahrenden Autos, aber sie schienen zu wissen, wie weit sie sich hinaustrauen durften. Viele von ihnen waren nackt oder trugen nur eine Schnur um die Hüften – ein Symbol, das sie vor dem »bösen Blick« schützen sollte, wie ich später erfuhr. Obwohl ich mich natürlich auf den Anblick solcher Bilder vorbereitet hatte, arbeitete es in mir.
Der Verkehr wurde immer dichter. Welten prallten aufeinander. Zwischen dicken schneeweißen Luxuskarossen und einem Gewusel aus verbeulten Kleinwagen, jeder Menge Taxis und dreirädrigen Tuk-Tuks, zogen Menschen schwere Sackkarren durch den irren Verkehr oder lenkten Ochsenkarren. Auch das Bild der Stadt änderte sich alle paar Meter. Die Gegend um den Flughafen herum glich eher einer Betonwüste, in der ein neuer Terminal und ein gigantisches Parkhaus gebaut wurden, aber nur ein paar Meter weiter erstreckte sich ein riesiger Slum entlang des Straßenrandes. Verschläge aus Holzbrettern und Plastikplanen, improvisiert zusammengebaute Häuschen mit Wellblechdach, die teilweise so ineinander verschachtelt waren, dass es einem Wunder gleichkam, wenn sie dem nächsten größeren Unwetter standhalten würden. Dann wieder luxuriöse Wohn- und Bürotower aus Glas und Stahl, die stolz, teilweise sogar aggressiv in den Himmel ragten. Arm und Reich, Tradition und Moderne prallten hier mit solch einer Wucht aufeinander, wie ich es zuvor noch nie gesehen hatte.
Unser Hotel lag ganz im Süden der Stadt, in Colaba. Für die ersten fünf Nächte hatte ich uns ein Ein-Sterne-Hotel für 25 Euro die Nacht gebucht – die Empfehlung einer Freundin. Aber abgesehen davon, dass wir mit unserem winzigen Budget ohnehin keine großen Sprünge machen konnten, waren wir in solch einer Unterkunft natürlich viel dichter dran am wahren Leben, als in einer Luxusherberge. Und das war es, was ich unbedingt wollte – so nah wie möglich dran zu sein am »echten« Indien.
Wir bogen in eine Gegend ein, die wie aus der Zeit gefallen schien.
»Liegt unser Hotel in einer dieser Straßen?«, fragte ich den Fahrer begeistert, aber er schien mich nicht zu verstehen. Als Antwort erhielt ich ein freundliches Kopfwackeln, das sowohl als Ja als auch als Nein interpretiert werden konnte.
Üppige tropische Bäume säumten die schmalen Straßen, und in den Gärten blühten Blumen und Sträucher in den herrlichsten Farben. Die Gebäude, die noch aus der Kolonialzeit stammten, waren mit aufwendigen Ornamenten verziert, und die Patina bildete jenen Kontrast, der ihrer Schönheit Charakter und Tiefe verlieh. In einer dieser Straßen, in der Oliver Road, kamen wir zum Stehen. Hier war es also, das »Bentley Hotel«.
Adrian fing die ersten Momente des Ankommens mit der Kamera ein: ein Grüppchen von Männern, die sich im Schatten eines Baumes unterhielten; in Saris gekleidete Frauen, die gemächlich die Straße entlangliefen und teilweise enorme Gegenstände auf ihren Köpfen balancierten.
Der Pulsschlag dieser Gegend war ein eigener. Er war gemäßigt, was wohl auch an der enormen Hitze lag. Niemand schien es hier eilig zu haben, nur die Krähen in den Bäumen ließen sich von der allgemeinen Behäbigkeit nicht anstecken – sie veranstalteten solch einen Lärm, dass wir kaum unser eigenes Wort verstanden.
Der Rezeptionist fischte unsere Reservierung aus einem hölzernen Karteikästchen und ließ sich unsere Pässe geben. In aller Seelenruhe übertrug er unsere Daten in ein großes Buch, das er irgendwann wendete, um uns darin unterschreiben zu lassen. Ich spürte, wie sich auch mein Pulsschlag allmählich drosselte und sich dem der Umgebung anpasste. Der Ort strahlte etwas Märchenhaftes aus und erzählte unzählige Geschichten, mit denen er mich sofort verzauberte.
Unser Gepäck schleppten wir in den dritten Stock hinauf, einen Aufzug gab es nicht. Eine alte Frau in einem leuchtend roten Sari putze mit einem T-Shirt in gebückter Haltung den Flur. Mit jeder Bewegung raschelten ihre Fußkettchen und die vielen Armreifen, die sie an beiden Handgelenken trug. Als sie uns erblickte, richtete sie sich auf und schenkte uns ein neugieriges, fast kindliches Lächeln. Sie hatte keinen einzigen Zahn mehr im Mund, und ihr Gesicht war von tiefen Furchen gezeichnet, aber ihre Augen waren wach und ihr Körper geschmeidig wie der eines jungen Mädchens. Mit einem riesigen Schlüssel stocherte ich in dem Vorhängeschloss meiner Zimmertür herum, bis sie irgendwann aufsprang. Ein großzügiger Raum mit großen Fenstern und einfachen, alten Holzmöbeln. Beim Anblick des Bettlakens und der Handtücher zuckte ich allerdings zusammen. Sie waren grau, voller Flecken und schon ganz dünn und ausgefranst vom vielen Waschen.
»Was dachtest du denn, was du in einem Ein-Sterne-Hotel in Indien geboten bekommst?«, fragte mich Adrian amüsiert.
»Na ja«, zögerte ich, »eigentlich genau das.«
Es klopfte an der Zimmertür, und ein Junge im Teenageralter brachte uns ein Tablett mit Tee, weichen Brötchen, Butter und orangefarbener Marmelade, die aussah, als sei sie phosphorisiert.
Adrian sah etwas skeptisch aus. »Ist die Butter ranzig?«
Ich nickte und legte auch mein Brötchen beiseite. »Wollen die uns schon am Tag unserer Anreise vergiften?«
»Na großartig«, sagte Adrian, »dann bist du ja hier genau richtig. Du wolltest doch Abenteuer!«
Nach einer kurzen Dusche quetschten wir uns durch das Gewühl des Colaba Causeways. Der Lärmpegel war enorm. Autohupen, Stimmengewirr, Musik, ein ständiges Klappern und Scheppern, dazu die enorme Hitze. Hier wimmelte es nur so von Geschäften und Restaurants, und auf dem Gehweg boten uns die Händler ihre Waren an. Kleidung, Schmuck, Bücher, Sonnenbrillen, indische Gottheiten – alles, was das touristische Herz begehrte. Die Behäbigkeit, die nur zwei Straßenzüge weiter das Tempo bestimmt hatte, war hier nicht mehr zu spüren. Auf dem Causeway pulsierte das Leben und auch der Kommerz. Doch die exotischen Gerüche, die mir überall in die Nase stiegen, waren wie Balsam für meine Seele. Der süßlich erdige Geruch des Rosenpulvers, das die Straßenverkäufer mit einer Paste aus Betelnüssen, Kardamom, Anis und Kokos in die Betelblätter rollten, Räucherstäbchen, Essensdüfte und leider auch die vielen Abgase, die dieser Moloch täglich produzierte.
»Madam, please take a look.« Der Verkäufer stellte sich mir mitten in den Weg und hielt mir seine Kurtas unter die Nase. Mit den Preisvorstellungen richtete er sich an Adrian. »Sir, nur 700 Rupien.«
Wir machten an einem Restaurant halt, in dem die Einheimischen speisten. »Pure Veg«, also »rein vegetarisch«, stand in großen Buchstaben am Eingang. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich schwitzte. Wir hatten einen der heißesten Monate erwischt, und die Luftfeuchtigkeit war enorm. Da halfen auch die vielen Deckenventilatoren nichts.
Die Angestellten liefen barfuß herum und trugen, je nachdem, ob sie servierten oder das Geschirr abräumten, blaue oder braune Baumwollkleidung, die an Pyjamas erinnerte. Der Lappen, mit dem der Kellner unseren Tisch abwischte, hatte auch schon bessere Tage gesehen, und ich fragte mich, wie viele lebende Kreaturen darin wohl mittlerweile ihr Zuhause gefunden hatten. Adrian entging mein leicht skeptischer Blick natürlich nicht.
»Mach dir nicht so viele Sorgen. Wenn du krank wirst, dann ist das eben Teil der Geschichte.«
Auch wenn mir die Vorstellung überhaupt nicht behagte, auch nur einen einzigen Tag meiner kostbaren Reise wegen einer Krankheit einbüßen zu müssen, so verstand ich aber dennoch seinen Wink. Es ging darum, mich voll und ganz auf das Land einzulassen.
»Was nimmst du?«, fragte ich.
»Einen Thali.«
»Was ist das?« Ich konnte kein einziges Gericht auf der Speisekarte identifizieren.
»Das sind kleine Portionen verschiedener Gerichte.« Adrian war schon zweimal für Dreharbeiten in Indien gewesen, allerdings weiter im Norden des Landes, in Varanasi und an der pakistanischen Grenze.
Mein Blick wanderte zum Nebentisch, wo gerade etwas serviert wurde, das mein Interesse weckte. Sofort streckte mir die Frau bereitwillig ihren Teller entgegen.
»Please try«, sagte sie.
Ihre spontane Aktion rührte mich und machte mich fast ein bisschen verlegen.
»You like it?«, erkundigte sie sich erwartungsgespannt.
»Ja, sehr«, sagte ich und fand heraus, dass es sich um eine Masala Dosa handelte, eine Art knuspriger, hauchdünner Pfannkuchen, der auf einer gusseisernen Platte gebraten und zu einem Dreieck eingeschlagen wurde, mit einer Füllung aus gut gewürzten Kartoffeln mit Curryblättern. Adrian bekam auf einem runden Metalltablett fünf kleine Schälchen gefüllt mit Dal, verschiedenen Currys, Joghurt und einer Süßspeise serviert. Dazu gab es Chapati, ein dünnes Fladenbrot, das die indischen Gäste an den Nebentischen kunstvoll, nur mit Hilfe der rechten Hand, in Stücke rissen und zu kleinen Schäufelchen formten, mit denen sie den Dal und die Currys aßen. Die linke unsaubere Hand, die man für die Toilette benutzte, blieb beim Essen unbenutzt.
Die Rechnung brachte uns der Kellner in einem braunen Kunststoffmäppchen. Sie belief sich auf sagenhafte zwei Euro. Dazu stellte er uns noch ein Schälchen mit zuckerüberzogenem Kümmel auf den Tisch, wovon ich mir sofort eine Handvoll in den Mund steckte. Doch statt in dem Kunststoffmäppchen, landete das Wechselgeld inmitten des bunten Kümmels, der auch dem nächsten Gast wieder angeboten wurde. Tapfer zerbiss ich die letzten Stückchen und schluckte sie runter.
2. KAPITELIncredible India
Adrian und ich beeilten uns mit dem Frühstück, das wir bei Theobroma auf dem Causeway einnahmen. Jetzt ging es im Laufschritt zurück zum Hotel, wo wir um zehn Uhr mit Abhishek und Rahul, zwei jungen Typen aus der Filmindustrie, verabredet waren, die wir für die Dreharbeiten engagiert hatten. Sie sollten uns bei organisatorischen Dingen helfen und hatten auch versprochen, uns mit Leuten aus der Filmbranche bekannt zu machen. Pünktlich, auf die Minute genau, erreichten wir das Bentleys, und ich flitzte schnell auf mein Zimmer, um ein paar Kleinigkeiten zu erledigen, damit wir auch sofort aufbrechen konnten, sobald die beiden eintrafen.
Unser Plan für den ersten Drehtag war, uns einen Bollywood-Film anzusehen. Darauf freute ich mich schon seit Monaten. Die Stimmung in den indischen Kinos musste der Wahnsinn sein. Über tausend Zuschauer passten in die großen Säle, und während der Songs riss es das Publikum wohl regelmäßig von den Sitzen. Die Leute sangen, tanzten, pfiffen, klatschten und schmissen manchmal sogar Geldmünzen Richtung Leinwand, wenn der Held das erste Mal in Erscheinung trat. In Südindien und Kalkutta hatte man sogar ganze Tempel für Filmstars errichtet, die dort wie Götter verehrt wurden.
Die Zeit verging – eine Stunde, zwei Stunden, aber kein Lebenszeichen von den beiden Männern, die sich mit ihrer Firma ausdrücklich auf ausländische Filmemacher spezialisiert hatten. Auch telefonisch konnte ich keinen der beiden erreichen.
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