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JUGENDDIEBE ist eine ungewöhnlich facettenreiche Erzählung über zwei junge Menschen und ihre Familien, die den Leser durch ein Kapitel deutscher Geschichte führt, das wie kein anderes davor und glücklicherweise auch nicht danach das Leben der Deutschen geprägt hat. JUGENDDIEBE nimmt Sie mit auf eine biografische Entdeckungsreise durch zehn Jahre deutscher Lebenswirklichkeit, für die es immer weniger noch lebende Zeitzeugen gibt. Sie erfahren etwas über den Alltag in Kriegszeiten, etwas über die unterschiedlichen Überlebensstrategien der Protagonisten und viel über die geschichtlichen Hintergründe des Nationalsozialismus, detailgetreu recherchiert, mit bekannten Zitaten, Textpassagen und Liedern dieser Zeit gewürzt. Der Hauptcharakter ist Kalle, Jahrgang 1927, eigentlich Karl-Heinz Bergmann, Sohn einer typischen Neuköllner Arbeiterfamilie, der die Chance bekommt, eine Ausbildung zum Flugzeugmechaniker zu machen und seinem Traum vom Fliegen dadurch einen entscheidenden Schritt näherkommt. Er wird zwangsweise Mitglied der Flieger-HJ, kann dadurch Segelfliegen lernen und kommt so seinem Ziel Flieger, also Pilot zu werden näher. Der Vierzehnjährige lernt in Brandenburg nicht nur, wie Flugzeuge funktionieren, sondern entdeckt natürlicherweise sein Interesse am anderen Geschlecht, konkret an Paula, dem Mädchen mit den längsten Zöpfen der Stadt. Die Dinge entwickelten sich langsam, sehr langsam, anders als heute, aber peu à peu wie in der damaligen Zeit üblich. Die beiden Jugendlichen ahnen nicht, dass sie im Jahr 1944 auf lange Zeit ihr letztes gemeinsames Frühjahr erleben, für Jahre getrennt werden. Alle ihre Zukunftspläne werden durch den Größenwahn Adolf Hitlers durchkreuzt. Seinen achtzehnten Geburtstag im Februar 45 feiert Kalle irgendwo im Nirgendwo im Kanonenhagel an der Westfront.
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CLAUS D. ZIMMERMANN
JUGENDDIEBE
VOM FRIEDEN TRÄUMEN
ROMAN
Für einen Menschen, den ich erst durch die Arbeit an
diesem Buch kennengelernt und verstanden habe
und einen Menschen, den ich niemals kennenlernen durfte.
Inhalt
WIDMUNG
1940
KALLE TRÄUMT VOM FLIEGEN
1941
ERST KOMMT DAS FRESSEN, DANN DIE MORAL
1942
WUNDERGLÄUBIGKEIT
1943
DIE GEISTER, DIE ICH RIEF
1944
ALLES WIRD GUT, SAGT DER FÜHRER
1945
TAUSEND JAHRE UND EIN TAG
Was ich noch zu sagen hätte …
JUGENDDIEBE Teil 2: VON FREIHEIT TRÄUMEN
LESEPROBE SOMMER 1945
DER AUTOR
Brandenburg / Havel 1940
Kalle machte mit seinem Rad eine Vollbremsung und flog dabei fast über die Lenkstange. Was war das für ein Geräusch direkt über ihm?
»Wahnsinn, da fliegt ja ein ganzer Schwarm Messerschmitt ME 109 Jagdflugzeuge«, murmelte er vor sich hin. »Was die wohl vorhaben? Üben sie nur den Formationsflug oder sind sie etwa im Einsatz?«
Dann überlegte er. Kamen vielleicht feindlichen Bomberverbände, wie es der britische Premierminister Winston Churchill angedroht hatte? Trauten sich die Briten etwa am helllichten Tag nach Berlin? Kaum zu glauben. Unerhört wäre das!
Wie fast alle Jungs in dieser Zeit träumte der dreizehnjährige Kalle davon, Flieger, also Pilot, zu werden. Seine Vorbilder waren längst nicht mehr »Winnetou und Old Shatterhand«, sondern die Helden des Luftkampfs aus den beiden Weltkriegen. Er schaute den Flugzeugen so lange nach, bis sie in Richtung der langsam untergehenden Sonne verschwanden. Wie sang Hans Albers in seinem bekannten Kinofilm?
»Flieger, grüß mir die Sonne, grüß mir die Sterne und grüß mir den Mond«, brummte Kalle mit Resten seines Stimmbruchs in der Stimme vor sich hin. Na gut, die Sonne zu grüßen würde ja erst einmal reichen, dachte er und schwang sich auf sein Fahrrad. Ab nach Hause. Muttern wartete mit dem Abendessen.
Es war der letzte Tag seiner Sommerferien. Er kam vom Baden in der Spree und ihm knurrte der Magen »schon janz dolle«. Magenknurren war in dieser Zeit für viele Menschen in Deutschland ein ständiger Begleiter. Lebensmittel wurden immer knapper. Das Essen war rationiert und Fleisch gab es selten. Seine Mutter Helene schaffte es trotzdem, fast jeden Tag etwas Schmackhaftes oder besser gesagt, etwas Genießbares auf den Tisch zu bekommen.
Warm und reichlich war es jedenfalls meistens.
Also nüscht wie ab nach Hause, bevor meine gierige große Schwester mir das meiste wegfuttert, dachte sich Kalle, der eigentlich Karl-Heinz hieß, und »gab Gas«. Er trat kraftvoll in die Pedale, sauste vorbei am Görlitzer Bahnhof, wo es wie meistens nach den ollen Dampflokomotiven stank. Wenig später erreichte er den Hermannplatz und gönnte sich eine kurze Verschnaufpause. Das Karstadt Gebäude war wirklich imposant. Damals das größte und modernste Warenhaus Europas. Die Schaufenster strotzten voller Waren und Angebote. Noch ... musste man sagen. Es würde sich schon bald ändern.
Er könnte mal wieder eine neue Hose gebrauchen. Er war in den letzten Wochen mächtig gewachsen und seine alte Hose hatte ordentlich Hochwasser. Sah nicht besonders kleidsam aus. Nachher werde ich mit Muttern darüber sprechen, nahm er sich vor. Im nächsten Schaufenster wurde Bademode für Damen zu Sommerschlussverkaufskonditionen angeboten. Unverständlicherweise blieb Kalle länger, als er wollte, stehen und schaute sich die falschen Damen im Detail an. Als ihm das bewusst wurde, lief er rot an, schaute sich nach allen Seiten um, sah, dass ihn niemand bei dieser verwerflichen Tätigkeit gesehen hatte, stieg schnell auf sein Rad und verließ diesen Ort seiner persönlichen Schmach. So etwas Peinliches war ihm bisher noch nie passiert, überlegte er sich! Er war verwirrt über seine eigene Reaktion...
Jetzt trat er wieder wie wild in die Pedale. Nur schnell weg! Sein altes Fahrrad klapperte und quietschte dabei unüberhörbar. Er raste die Hermann-Straße »volle Pulle« herunter und erreichte schließlich die »Rollberg Brauerei« bei der sein Vater seit über zwanzig Jahren beschäftigt war.
Seit 1933 hatte die Brauerei einen besonderen Status, durfte sich nationalsozialistischer Musterbetrieb nennen und war von Weitem erkennbar mit Hakenkreuzfahnen ständig beflaggt. Ein klarer Hinweis auf Linientreue. Auch an diesem Hochsommertag herrschte vor der Brauerei - trotz des Krieges - die gewohnte laute Betriebsamkeit.
Durch die guten Beziehungen zu den Nazis lief für die Neuköllner Bierbrauer, aller Einschränkungen zum Trotz, das Geschäft wie gewohnt weiter. Vitamin B schadet nur dem, der es nicht hat, sagte sein Vater immer, erinnerte sich der Dreizehnjährige in diesem Augenblick.
Kalle war gründlich durchgeschwitzt, als er kurz darauf in die Rollbergstraße einbog. Wie meistens blickte er unwillkürlich auf die dunkle Brandmauer, an der ihm die vielen Einschusslöcher kaum noch auffielen. Er erinnerte sich an die Geschichte, die sein Vater ihm mehrmals erzählt hatte.
Am 1. Mai 1929, dem Tag, der dem Viertel den Namen „Barrikaden-Viertel“ einbrachte, erreichte die Unzufriedenheit der Arbeiterbewegung ihren Höhepunkt. Sie hatten eine Revolte angezettelt und Barrikaden gegen die anrückenden Polizisten errichtet. Bei den Kämpfen mit der Obrigkeit war scharf geschossen worden. 19 der über 300 Arbeiter fanden dadurch den Tod. Weitere 60 wurden verletzt. Einer dieser verletzen Aufständischen war Kalles Vater, Wilhelm, der sich damals als SPD-Mitglied für die Rechte seiner Klasse eingesetzt hatte und sogar bereit gewesen war, sich mit der Staatsmacht anzulegen. Zum Aufbegehren bereit, aber nicht zum Sterben.
Jetzt, unter dem Nazi-Regime, wurde dieser Kampf nur still und heimlich im Untergrund geführt. Das war für alle Beteiligten eine Frage des Überlebens. Wilhelm hielt sich darum in den letzten Jahren bei ähnlichen Aktionen lieber zurück. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, war dazu sein Lieblingsspruch.
Heute, viele Jahre nach dem Barrikaden-Aufstand, wohnte Willi Bergmann mit seiner Familie immer noch im Rollberg-Viertel, einem berüchtigten Arbeiterkiez in Neukölln. Seit dem Aufstand hatte sich wenig verbessert und eine komfortablere Wohnung konnte er sich von seinem kargen Lohn leider nicht leisten. Familie Bergmann lebte so, wie die meisten Menschen der Unterschicht, in einer typischen Berliner Mietskaserne: drittes Hinterhaus, vierte Etage, natürlich ohne Fahrstuhl, ein einziger Kachelofen im Wohnzimmer, die Schlafräume waren unbeheizt, eine Gemeinschaftstoilette auf halber Treppe, kein Badezimmer, nur eine Wohnküche und zwei kleine Zimmer. Eines davon teilte sich Kalle mit seiner vier Jahre älteren Schwester Charlotte, genannt Lotte. Lottes Territorium war rechts, Kalle residierte links in dem acht Quadratmeter großen, nein, eher kümmerlichen Raum. Jeder der beiden Geschwister hatte zumindest sein eigenes Bett, was damals nicht als selbstverständlich galt. Ansonsten herrschte auch im Kinderzimmer der übliche Krieg unter Geschwistern.
Große Schwestern sind eigenartig, dachte Kalle.
Kleine Brüder nerven, meinte hingegen Lotte.
Kalle betrat endlich, außer Atem und dem Hungertod nahe, das Treppenhaus. Ein eigentümlich vertrauter Geruch nach feuchten Wänden, saurer Milch und Kohlsuppe schlug ihm entgegen. Reflexartig hielt er die Luft an und vermied es, tiefer als notwendig durch die Nase zu atmen. Bei dieser Gelegenheit fiel ihm ein Dialog aus seinem Lieblingsbuch »Die Kinder aus Nr. 67« ein, das in genau solch einem Berliner Hinterhof-Kiez spielt. Wie ging der Text nochmal? Ach ja!
Erwin unterhielt sich mit Paulchen im Hinterhaus. »So ein Haus hat es viel besser als wir Menschen. Es brauch nich zu essen und nich zu trinken, is nie hungrig und hält doch feste, einen Tag wie den anderen, und alles is jut.« Paulchen erwiderte daraufhin: »Ich möchte trotzdem kein Haus sein und immerzu stinken wie das Unsrige.«
Kalle nahm den Geruch des Hauses nun noch deutlicher wahr und musste über seine eigenen Gedanken laut lachen. Das kam ihm ja alles so bekannt vor, dass es manchmal so stank, konnte er allerdings gut nachvollziehen. Man musste nur ausrechnen, wie viele Leute in diesem Haus wohnten und kochten. Sehr viele! Viel zu viele!
Fast oben angekommen, hielt er die Luft komplett an und legte in der Nähe des »Gemeinschafts-Lokus« noch einen schnellen Zwischenspurt ein. Bei den Lehmanns gab’s mal wieder Kohlsuppe mit reichlich Zwiebeln. Die Folgen dieser deftigen Nahrung waren deutlich wahrzunehmen. Da muss ich jetzt durch, dachte Kalle und überlegte sich, dass er die nächsten zwei Stunden diese geschlossene Kabine auf halber Treppe sicherheitshalber meiden sollte. Wenn irgendwie möglich. Besser wäre es auf jeden Fall.
Seine Mutter Helene, die sein Vater gewöhnlich nur »Lenchen« nannte, empfing ihn, wie immer, mit deutlich erhobener Stimme und mahnenden Worten:
»Gut, dass du auch schon kommst! Die Suppe ist lange fertig. Vati ist seit einer halben Stunde zu Hause und hat mächtigen Hunger. Er ist schon sauer, weil wir immer auf dich warten müssen. Rücksichtsloser Bengel! Das ist heute das letzte Mal, das verspreche ich dir.«
Sie meint es nicht so, ging es Kalle durch den Kopf. Jedenfalls meistens. Dabei zog er seine Schuhe aus und nahm wortlos auf einem der wackeligen, verschiedenfarbig lackierten Küchenstühle Platz. Es gab wie jeden zweiten Tag Linsensuppe. Wieder ohne Würstchen, stattdessen mit reichlich Kartoffeln. Na gut, das war auch nicht besser als Lehmanns Kohlsuppe, aber immerhin warm und reichlich. Na, dann mal juten Appetit, Kalle, versuchte sich der Dreizehnjährige selbst Lust auf das Essen einzureden.
Lenchen Bergmann bemerkte den enttäuschten Blick ihres Sohnes. Sie konnte ihn gut verstehen. Kalle aß Bockwurst für sein Leben gern und vermisste seine Lieblingsspeise seit Tagen, nein seit Wochen. Oder schon seit Monaten? Seine Mutter erzählte ihm daraufhin mit spürbarem Bedauern in der Stimme, dass der Sohn von Fleischermeister Krause im letzten Monat zum Militär eingezogen wurde und jetzt an der Ostfront dienen musste. Ohne seinen Sohn konnte Vater Krause allein mit seiner Frau die ganze Arbeit nicht mehr schaffen. Bockwurst würde er erst wieder in der nächsten Woche machen, falls er ausreichend Fleisch organisieren könne.
Mit dem Brot würde es auch immer schwieriger. Goldschmidt, dem Bäcker an der Ecke, hätten sie zum zweiten Mal die Schaufensterscheiben eingeschmissen und seinen Laden demoliert. Er musste aufgeben und sein Geschäft schließen. Da solle jetzt wohl eine Mittermayer-Filiale eröffnet werden. Der olle Mittermayer könne wohl ausgezeichnet mit den Nazis, hieß es.
»Es sind schreckliche Zeiten«, entglitt es ihr zum Schluss, lauter als sie es wollte.
»Fürchterliche Zeiten!«
An der Bäckerei Goldschmidt kam Kalle fast jeden Tag auf seinen Weg zur Schule vorbei. Jetzt sah er vor seinem geistigen Auge das mit Backwaren gefüllte Schaufenster, vor dem er oft stehenblieb, um sich die Leckereien anzusehen. Kieken kostete ja nüscht. Bei dem Gedanken an die leckeren Kuchensorten lief ihm immer das Wasser im Mund zusammen. Er dachte sofort an die leckeren Plunderstücke mit Puddingfüllung, an frische Pfannkuchen mit Pflaumenmus und an duftende Eierschecken. Kalle war kurz vor dem Ertrinken, sodass er im doppelten Sinne schlucken musste. Das alles würde es nun lange Zeit nicht mehr geben, wurde ihm in diesem Moment klar. Diese Erkenntnis machte ihn traurig.
Dass Goldschmidts Juden waren, hatte er zwar gewusst, es hatte aber für alle Menschen im Viertel bisher keine Rolle gespielt und er selbst hatte nie darüber nachgedacht. Und wenn er nachgedacht hätte, wäre es ihm völlig egal gewesen.
Beim Essen berichtete Vater Willi mit ungewohnt ernster Miene, dass gut ein Drittel der Stammbelegschaft der »Rollberg Brauerei« zur Wehrmacht eingezogen wurde. Einige seiner ehemaligen Kollegen waren bereits an der Ost-Front gefallen. Ersatzweise mussten immer mehr Kriegsgefangene aus dem Osten in der Brauerei arbeiten. Natürlich nicht freiwillig, sondern als Zwangsarbeiter und fast umsonst.
»Hoffentlich schicken sie dich nicht mehr an die Front, in deinem Alter«, bemerkte Lenchen, mit deutlicher Angst in der Stimme. Willi war schon über vierzig und froh darüber, nicht mehr wehrtauglich zu sein.
»Glück gehabt«, erzählte Willi gerne. »Im Ersten Weltkrieg war ich zu jung, für den Zweiten bin ich zu alt. Ich brauche für mich keinen Krieg. Krieg bringt nur Unheil für alle Beteiligten.« Er kratzte sich am Kopf und überlegte kurz. »Sollte man verbieten, diesen Scheiß Krieg!«
Solche und ähnliche Bemerkungen wurden, wenn sie in die falschen Gehörgänge gelangten, als Wehrkraftzersetzung bewertet und hart bestraft.
Die Laune beim Abendessen der Familie Bergmann war durch die Erzählungen des Familienoberhauptes bereits bedrückt. Dann kam Lotte nach Hause. Auch sie steuerte etwas bei, dass die Stimmung nicht gerade erhöhte. Sie nahm Platz und begann sofort mit Tränen in den Augen zu berichten:
»Ich muss euch etwas Schlimmes erzählen.«
Nach einer Pause des Luftholens brach es aus ihr heraus.
»Meine Lehrfirma wird Ende des Jahres von den Nazis dichtgemacht. Meinen Chef, Dr. Oppenheim, haben sie heute Nachmittag abgeholt. Er ist ja, wie ihr wisst, Jude. Wo sie ihn hingebracht haben, weiß niemand so genau. Es gibt natürlich Gerüchte. Alle haben jetzt Angst davor, ihre Arbeit zu verlieren. Ich weiß nicht, wo ich ein halbes Jahr vor meinem Abschluss meine Ausbildung abschließen soll. Es ist so schrecklich! Ich könnte nur noch heulen.«
Alfred Oppenheim war bei allen Mitarbeitern der »Rixdorfer Glühkörper Fabrik Alschweig & Co.« sehr beliebt, bekannt als großzügiger Mäzen und von seinem Auftreten her regelrecht volksnah und geradeaus.
»Wieder ein arbeitnehmerfreundlicher Unternehmer weniger«, bemerkte Vater Willi und machte ein noch ernsteres Gesicht.
Betroffenheit und Ratlosigkeit bei den Bergmanns wuchsen wie bei fast allen Menschen in Deutschland von Tag zu Tag. Die Situation verbesserte sich nicht. Im Gegenteil, alles wurde immer schlimmer. Sogar Kalle war der Appetit bei diesen ernsten Themen vergangen. Das kam sonst nie vor.
»Ich mag nicht mehr essen! Ich gehe lieber in mein Zimmer und lese etwas«, sagte er und verschwand in seine linke Zimmerhälfte. Aus seinem ziemlich bescheiden bestückten Bücherregal griff er sich zum zigsten Mal sein Lieblingsbuch »Die Kinder aus Nr. 67 - Erwin und Paul. Das Mädchen aus dem Vorderhaus«. Die Geschichte einer verschworenen Hinterhofbande in Berlin der »Dreißiger Jahre«. Das Buch hatte er im letzten Jahr von Lotte zum zwölften Geburtstag geschenkt bekommen. Er kannte es mittlerweile fast auswendig. Hier gewannen wenigstens immer die Guten, ging es ihm durch den Kopf, dann vertiefte er sich in das stark abgegriffene Buch. Als sich seine Schwester schlafen legte, war Kalle längst in das fantasievolle Abenteuerland seiner Träume eingetaucht und schlief, leise schnarchend, tief und fest.
Jute Nacht Berlin, wir sehen uns morjen in alter Frische, dachte er beim Einschlafen lächelnd.
Kurz nach Mitternacht wurden Kalle und Lotte fast gleichzeitig von einem entfernten Grollen und Donnern geweckt. Beide standen sofort auf und gingen schnell zum Fenster. Die fast erwachsene große Schwester war schneller und machte ihrem kleinen Bruder nur unwillig Platz. Weit entfernt entdeckten sie die Lichter von Flakscheinwerfern, die wie Leuchtfinger wilde Kreise in den Himmel malten. Die Spuren der Leuchtmunition der deutschen Flakstellungen, die tausende Schüsse auf die feindlichen Bomber richteten, ergänzten das Spektakel.
Das gnadenlose Herausknallen der Geschosse zerriss die Stille der Nacht und erzeugte zarte Linien am Himmel. Die Detonationen der abgeworfenen Sprengkörper schienen in dieser grauenvollen Darbietung Akzente zu setzen. Ein faszinierend schönes, aber angsteinflößendes Schauspiel. Angst machte sich auch bei den Geschwistern breit, die sich gegenseitig in den Arm nahmen und so versuchten, ihre Furcht zu verscheuchen. Gott sei Dank war nach einer Stunde alles wieder ruhig und sie konnten erneut ins Bett gehen, um weiterzuschlafen. Sie versuchten es wenigstens.
Das, was Kalle am frühen Morgen des 26. August 1940 erlebte, war die erste großflächige Bombardierung Berlins durch Verbände der Royal Air Force. Ihr Rachefeldzug für die Bombenangriffe auf London und andere englische Großstädte gelang. Zerstörung und Tod waren von nun an Alltag in der deutschen Reichshauptstadt. Alltag für die Familie Bergmann und alle Berliner.
Am nächsten Morgen fiel Kalle kurioserweise etwas ein, was sein Vater über einer Rede Hermann Görings, des obersten Befehlshabers der Luftwaffe, erzählt hatte. Göring war davon überzeugt, alle feindlichen Bomberverbände von der Reichshauptstadt fernhalten und sie rechtzeitig abwehren zu können. Er hatte dies bei seiner Radioansprache hoch und heilig geschworen und zudem siegessicher ergänzt, dass er Meier heißen wolle, wenn auch nur eine einzige Bombe auf Berlin fallen würde. Eine einzige Bombe?
Das waren gestern Tausende!
Hallo Herr Meier, überlegte Kalle sich. Meier? Wenn er erst einmal ein Flieger sein würde, wäre dann Hermann Meier sein oberster Vorgesetzter? Na danke, grinste er in sich hinein. Keine Meierei bitte!
Mit Anlauf ins Leben
Es dauerte lange, bis Kalle an diesem grauen Morgen im Februar 41 wach wurde. Es war ein Samstag und noch stockdunkel. Was war heute los, überlegte er.
Heute war doch ausnahmsweise schulfrei, erinnerte er sich verschlafen und rieb sich erst einmal gründlich die Augen. Viele seiner Lehrer waren an die Front geschickt worden.
»Schade, heute findet kein Unterricht statt«, murmelte er müde in sich hinein und freute sich dabei diebisch. So ein Krieg hat auch Vorteile. Er grinste breit. Das war die nicht ernst gemeinte Sichtweise eines Schuljungen Anfang der Vierziger.
Kalle wollte sich gerade noch einmal genüsslich umdrehen, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass ihn heute noch etwas anderes erwarten würde. Klar, dachte er und freute sich. Er hatte heute Geburtstag! Hurra, endlich vierzehn! Vielleicht bekam er das Flugzeugmodell geschenkt, dass er sich schon so lange wünschte. Wäre Klasse! Ihm fielen die vielen Überraschungen ein, die seine Eltern ihm in den letzten Jahren trotz des Krieges machen konnten. Seine Laune stieg augenblicklich auf Glücks-Niveau, während er zügig aus dem Bett sprang und sich anzog.
Kalle plante mit seinen besten Freunden ein bisschen Geburtstag zu feiern. Mit Kakao und Kuchen selbstverständlich. Viel Kuchen und reichlich Kakao. Wäre großartig, wenn das klappen würde. Ob Mutti vielleicht für ihn einen Schokoladenkuchen gebacken hatte? Lecker! Bei dem Gedanken daran musste er reflexartig trocken schlucken. Oh ja, bitte! Kuchen mit Schokolade oder Rosinen. Seine Vorfreude war kaum noch zu steigern.
Lotte war schon längst auf dem Weg zur Arbeit. Nachdem es mit Alschweig & Co. zu Ende gegangen war, hatte sie richtiges Glück gehabt und konnte ihre Lehre in der Buchhaltungsabteilung des »Kaufhauses des Westens« beenden. Der Luxus im KaDeWe beeindruckte Lotte etwas zu sehr und kam ihren Interessen entgegen, verführte sie allerdings oft zu unüberlegten Käufen. Das verschlang einen guten Teil ihres Lehrlingsgehaltes.
»Lotte-Kind, gib nicht das ganze schöne Geld für Klamotten, Schuhe und unnützen „Schnickschnack“ aus«, mahnte Mutter Lenchen häufig. »Denk auch an deine Aussteuer!«
»Wenn ich mal heirate, dann sowieso nur einen reichen Mann. Da brauch ich keine Aussteuer«, war die übliche Erwiderung ihrer Tochter.
Kalles Vater Willi war bereits seit mehr als einer Woche auffallend häufig zu Hause, rückte aber erst nach einer Woche mit der Sprache heraus. Er hatte seine Arbeit bei der »Rollberg Brauerei« verloren, war nach über zwanzig Jahren entlassen worden. Das Los der Arbeitslosigkeit teilte er nun mit vielen ehemaligen Kollegen. Der Grund dafür war nachvollziehbar.
Aktuell waren acht Millionen deutsche Männer in Kriegseinsätzen. Das bedeutete, acht Millionen Biertrinker befanden sich außerhalb von Deutschland, tranken, wenn überhaupt, ausländisches Bier, Pilsener oder anderes und deshalb wurde weniger Bier verkauft. Die Produktion war verringert worden und damit auch der Personalbedarf reduziert. Eine konsequente kaufmännische Entscheidung, hieß es in einem Rundschreiben, indem der Vorstand die Belegschaft mit Bedauern über die kritische Lage informiert hatte.
Davon, dass viele Kriegsgefangene als billige Zwangsarbeiter eingesetzt und so die teureren langjährigen Arbeitskräfte ersetzt hatten, stand natürlich nichts in dem Brief.
Willi wurde auf diese Weise aus der »Rollberg Brauerei« verdrängt, verlor seine geliebte Arbeitsstelle und, was noch schlimmer war, seine wöchentliche Mitarbeiterration von einem Kasten Bier. Er war jetzt schon einige Zeit auf Arbeitssuche und machte sich ständig Sorgen, wie er seine Familie ernähren, die Miete bezahlen und die Kohlen für den Winter finanzieren sollte. Es waren harte Zeiten für die meisten Familien an der sogenannten deutschen Heimatfront. Gerade in den Großstädten war das Leben und Überleben schwer.
Als Kalle an diesem Morgen immer noch verschlafen aus seinem Zimmer schlich und neugierig in die Küche schaute, machte ihn das, was er sah, spontan traurig. Keine Blumen, kein Kuchen, keine Geschenke. Enttäuschung machte sich in dem nun Vierzehnjährigen breit. Sein Gesicht verlor alle Fröhlichkeit. Kalt war es auch noch, bemerkte er und stellte fest, dass wieder einmal niemand Kohlen aus dem Keller geholt hatte.
»Kalte Küche, keine Geschenke, kein Kuchen. Das dürfte wohl ein saumäßig trauriger Geburtstag werden«, grummelte er vor sich hin.
Am Küchentisch saßen seine Eltern und unterhielten sich mit ernster Miene so leise, dass er nicht verstehen konnte, worum es ging. Als sie ihn bemerkten, unterbrachen sie abrupt ihr Gespräch und standen sofort auf. Jetzt kamen sie ihm verlegen lächelnd entgegen. Zuerst nahm seine Mutter ihn in den Arm, drückte ihn an sich und ließ ihn lange Zeit nicht los, dann, nach einem innigen Moment, gratulierte sie ihm leise flüsternd mit den Worten:
»Allet Jute zum Jeburtstach, mein kleener Bubi.«
Kleener Bubi? Icke bin nen janzen Kopp größer als du, dachte Kalle. Nur seine Mutter durfte ihn ungestraft Bubi nennen. Diesen ungeliebten Spitznamen würde er wohl nie loswerden. Nicht einmal als Großvater, oder? Sein Vater war etwas weniger emotional, streckte ihm die rechte Hand entgegen, drückte kraftvoll zu und sagte nur kurz und zackig:
»Glückwunsch mein Sohn. Man wird nur einmal vierzehn. Genieße den Tag.«
Na, vielen Dank für jarnüscht, verkniff sich Kalle zu sagen. Seine Enttäuschung saß sehr tief. Nein, eigentlich war er nicht einfach nur enttäuscht, er war richtig sauer. Nach diesem kurzen Moment der Freundlichkeit wurden seine Eltern wieder spürbar ernster.
»Klar« meinte seine Mutter betrübt. »Wir hätten dir gerne etwas Schönes geschenkt, deinen Geburtstagstisch wie all die Jahre eingedeckt und dir deinen Lieblingskuchen gebacken, aber Geld für Geschenke haben wir in diesen Zeiten nicht übrig und Lebensmittel sind immer schwieriger zu bekommen. Kein Mehl, keine Schokolade, kein Backpulver, also konnte ich keinen Kuchen backen.
»Scheiß Krieg! Mistiger!«, fügte sie lauter und unbeherrschter, als es ihre Art war, noch hinzu.
»Schon gut«, antwortete Kalle verständnisvoll. »Ich bin ja kein kleines Kind mehr.«
Seine Traurigkeit versuchte er tapfer zu verbergen.
Das Frühstück war an Kalles Ehrentag auch nicht so besonders. Es bestand nur aus drei Tage altem Brot, dünn mit Margarine bestrichen und dem Rest einer selbst gemachten Erdbeermarmelade aus besseren Zeiten. Die hatte Lenchen vor vier Jahren eingekocht und für besondere Gelegenheiten aufbewahrt. Der Geburtstag ihres Sohnes war solch ein Anlass. Dieses dürftige Morgenmahl konnte allerdings einen Vierzehnjährigen nicht wirklich satt machen. Keine Wurst, kein Schinken, kein Rührei, kein Käse.
Alles doof in Deutschland, besonders bei uns zu Hause. Hoffentlich wird das bald wieder besser, dachte Kalle resignierend. Als sie mit dem kargen Essen fertig waren, räumte Lenchen wie immer den Tisch ab und begann mit dem Abwaschen des Geschirrs.
Anders als sonst blieb Kalles Vater Willi grübelnd am Küchentisch sitzen. Etwas bedrückte ihn. Mit ernster Miene sah er Kalle lange an, räusperte sich laut und begann erst nach einer ganzen Weile zu reden:
»Ich habe dir doch schon öfters von meinem alten Schulfreund Theo erzählt, meinem besten Freund von damals aus Blankenfelde. Theodor Tischler. Genannt TT. Theo hat sich sehr früh der neuen Bewegung der Nationalsozialisten angeschlossen. Er wusste schon immer, wo er seinen Vorteil finden konnte. TT lebt jetzt in Brandenburg an der Havel und ist dort ein sehr hohes Tier bei den Nazis geworden. Ortsgruppenleiter oder Ortsgruppenführer oder so etwas. Ich habe ihn vor Kurzem zufällig wieder getroffen und wir haben ein Bierchen zusammen getrunken. Es könnten auch zwei gewesen sein. Die hat alle TT bezahlt, da konnte ich nicht »Nein« sagen. Das wäre unhöflich gewesen, oder? Er wollte wissen, wie es mir geht und was ich so mache. Da habe ich ihm von uns erzählt, viel von dir, deinen tollen Leistungen in der Schule und deinem Traum, einmal Flieger zu werden. Natürlich erwähnte ich auch meine missliche Situation bei der »Rollberg-Brauerei«, meine aktuellen Probleme bei der Arbeitsplatzsuche und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Beim zweiten, nein, wohl doch beim dritten Bier lächelte Theo mich plötzlich an und erzählte mir von seiner spontanen Idee. Ich war sehr gespannt, was er ausgebrütet hatte. Er fing im freundlichen Ton an zu plaudern und meinte fast nebenbei, er könne in Brandenburg verlässliche Männer gebrauchen. Selbstverständlich hob er einschränkend hervor, müssten das aus seiner Sicht Parteigenossen sein.
Das war mir sofort klar: Ohne die Parteizugehörigkeit, zur richtigen Partei versteht sich, geht heute im neuen Deutschland nichts mehr. Er könne sich gut vorstellen, dass ich, Wilhelm Bergmann, den er schon fast sein Leben lang kennt, einer dieser Vertrauten sein könnte. Er machte mir beim vierten Bier schließlich ein Angebot, über das ich schon seit mehreren Tagen nachdenke. Es fällt mir ziemlich schwer, mich dafür oder dagegen zu entscheiden. Ich soll ihn bis zur nächsten Woche informieren, meinte er schon im Gehen, bestellte noch zwei Schnäpse und bezahlte anschließend. Mal sehen, was du dazu sagst«, Willi machte eine kurze Denkpause, trank seinen letzten Schluck Kaffee aus und wurde endlich konkreter.
»Er bietet mir eine feste Stelle als Gefangenenbetreuer in der Strafanstalt Brandenburg-Görden an, zum doppelten Gehalt wie mein jetziges bei der »Rollberg Brauerei«, 58 Reichsmark immerhin. Das ist für einen Ungelernten wie mich eine anständige Bezahlung. Dazu würden wir eine neue, helle Dienstwohnung mit allem Komfort zur Verfügung gestellt bekommen, die nicht mehr kostet als unsere alte Bude hier in Neukölln. Theo erwähnte, dass in den nächsten Jahren sogar eine Beförderung möglich wäre, ziemlich sicher sogar. Das Beste hatte sich der olle Tischler bis zum Schluss aufgehoben. Jetzt musste dich festhalten, Kalle ...«
Willi holte tief Luft und schoss seine frohe Botschaft heraus.
»TT erzählte, dass er hervorragende Beziehungen zu den Arado Flugzeugwerken in Brandenburg hätte. Der Oberste dort ist wohl ein Parteifreund von ihm. Was ich dir jetzt erzähle, wirst du mir bestimmt nicht glauben!« Zur Steigerung der Spannung legte er erneut eine Kunstpause ein.
»Wenn du möchtest, kannst du dich kurzfristig bei der Arado vorstellen, eine Aufnahmeprüfung machen und vielleicht bereits im April eine Lehre zum Flugzeugbauer beginnen«, Willi sah seinen Sohn an und erwartete eine Reaktion, die aber erst einmal ausblieb.
»Was sagst du nun? Wäre das nicht klasse? Was meinst du? Kann ich dieses Angebot von Tischler mit gutem Gewissen dir gegenüber ablehnen?«
Willi schaute seinen Sohn mit einem fragenden Lächeln an. Durfte er TT absagen, seinem Sohn so die Möglichkeit nehmen, seinen Traum vom Fliegen ein Stückchen näherzukommen? Das wollte er natürlich nicht.
Aber ein Nazi-Vasall zu werden, konnte er sich als ehemaliges SPD-Mitglied auch nicht wirklich vorstellen. Das war eine sehr schwierige Situation und er hatte nur noch wenig Bedenkzeit.
Kalle war sekundenlang, nein, gefühlte Minuten lang komplett sprachlos. Was hatte er da eben gehört? Konnte das denn wahr sein? Er musste erst einmal verarbeiten, was sein Vater ihm da gerade erzählt hatte. Seine Gedanken schwirrten nur so durch seinen Kopf. Er konnte Flugzeugbauer werden, vielleicht auch mal mitfliegen, einen Flugschein machen, Flieger werden. Wahnsinn! Dann platzte es endlich aus ihm heraus.
»Juuchuuu«, brüllte er, sodass seine Mutter vor Schreck fast einen Teller fallen ließ. Das war das Allerbeste, was ihm je hätte passieren können, ein riesengroßer Schritt in Richtung seines Traums, Flieger zu werden. Lehrling bei der Arado. Das wäre Superklasse!!!
Ihm fiel beim Stichwort Arado sofort ein, dass er erst vor zwei Wochen bei einer Werbewoche der deutschen Luftfahrt im Berliner Sportpalast gewesen war. Dort hatte er sich zahlreiche interessante Film-Vorführungen und Informationsveranstaltungen angesehen, die vor allem Kinder und Jugendliche für die Fliegerei und damit für die Luftwaffe begeistern sollten. Kalle war schon vorher mit dem Fliegervirus infiziert und nach dieser Werbeveranstaltung der Nazis komplett verseucht gewesen. An dem Informationsstand der »Arado Werke« hatte er all seinen Mut zusammengenommen und einen der dort anwesenden älteren Lehrlinge angesprochen. Der hatte ihn freundlich begrüßt und geduldig alle seine Fragen über die Ausbildung zum Metallflugzeugbauer beantwortet. Kalle hatte sich die wichtigsten Details sogar notiert.
Die Arado bietet jedes Jahr 30 Ausbildungsplätze. Die Lehrzeit dauert 4 Jahre und kann um ein Jahr verkürzt werden. Das Lehrlingsgehalt beträgt im ersten Lehrjahr 10 Pfennig je Stunde und steigert sich jährlich bis auf 16 Pfennig im vierten Lehrjahr. Alle Lehrlinge werden automatisch in die Flieger-HJ aufgenommen und somit gleichzeitig Teil des NS Fliegerkorps. Die Segelfliegerausbildung ist obligatorisch und erfolgt nach Feierabend. So soll sich der zukünftige Pilotennachwuchs auf seinen Einsatz in der Luftwaffe vorbereiten.
Wahnsinn, dachte Kalle und war komplett begeistert. So was von begeistert, mehr ging gar nicht.
Er konnte es schaffen, erst Flugzeugbauer und dann Flieger zu werden, jubelte er innerlich.
Den Weg, um seinem Ziel näherzukommen, seinen größten Traum Wirklichkeit werden zu lassen, kannte er nun.
Heulen mit den Wölfen
In der darauffolgenden Woche war es so weit und Willi Bergmann musste sich entscheiden. Genauer gesagt zwischen zwei Übeln wählen: Weiterhin arbeitslos zu bleiben oder gegen die eigenen Werte, seine innere Überzeugung und seine persönliche Einstellung verstoßen. Schließlich sah er für sich und seine Familie keine bessere Lösung und nahm das Angebot des Ortsgruppenführers Tischler an. Er bekam daraufhin einen Termin für ein Vorstellungsgespräch bei der Verwaltung in Brandenburg-Görden. Ihn erwartete dort der für die Einstellungen zuständige Hauptwachtmeister Fux. Doktor Fux, wie er angesprochen werden wollte. Er war ein als Menschenhasser bekannter Soziopath, dem jegliche soziale Kompetenz abhandengekommen war. Solche Menschen waren prädestiniert für eine Karriere unter den Nationalsozialisten. Die liebste Beschäftigung dieses Unmenschen war es, die Insassen der Strafanstalt zu schikanieren. Dieser Tätigkeit kam er, sooft sich eine Möglichkeit ergab, nach. Das allerdings wurde Willi erst zu einem späteren Zeitpunkt bewusst.
Fux war bekannt, nein, berüchtigt, als „der schreckliche Doktor“. Dieser Name war das Markenzeichen für sein durchtriebenes Programm. Man munkelte, dass Fux aus der »Klapse«, der Geschlossenen Landesanstalt für Psychiatrie in Brandenburg-Görden entwischt wäre und nun hier sein Unwesen treiben würde.
»Mein Name ist Doktor Fux. Doktor Rainer Fux. So, so. Theobald Tischler hat sie empfohlen«, er strich sich genüsslich über seine ausgeprägte, glänzende Glatze, schnalzte zweimal mit der Zunge, bevor er weitersprach. »Wenn Sie von TT kommen, wird das schon passen. Sind Sie Parteigenosse? Sicher doch? Wenn nicht, empfehle ich ihnen, dies schnellstens nachzuholen.« Mit diesen Worten drehte er sich zu einem Schild an der Wand um, zeigte mit seiner linken Hand auf jede einzelne Zeile und las im Stil eines Oberlehrers voller Arroganz laut und deutlich betonend vor:
»Arbeit, Disziplin und Güte,
Lockern selbst ein hart‹ Gemüte,
Löschen das Vergangene aus,
Führen heim ins Vaterhaus.«
Ein kurzes, mädchenhaftes Kichern, wie über einen gelungenen Witz, unterbrach seinen zynischen Vortrag.
»Das sind unsere Leitsätze im Zuchthaus Görden. Das mit der Güte sollten Sie allerdings nicht übertreiben. Ich übersetzte diesen Vers einfacher in »Arbeit macht frei«, wenn Sie verstehen, was ich meine?« Er lachte bei dieser abfällig gemeinten Bemerkung in einer widerlichen Art und Weise, die bei Willi eine Gänsehaut hervorrief. Ein fast diabolisches Lachen, wie es Willi nie zuvor in seinem Leben gehört hatte, deshalb war er sehr froh, den schrecklichen Doktor schnell verlassen zu dürfen.
Am nächsten Tag trat er zähneknirschend in die NSDAP ein, wurde dadurch zum Freiwilligen der SS-Reserve, bekam eine neue graue Uniform und trat Anfang März 41 seine neue Beschäftigung in der Strafanstalt Brandenburg-Görden, dem sogenannten Zuchthaus, an. Ein gutes Gefühl hatte er dabei nicht.
War es richtig, sich den verhassten Nazis anzuschließen? Aber, was soll’s, dachte Willi, es ging schließlich um meine Familie. Augen zu und durch! Manchmal musste man mit den Wölfen heulen.
»Erst kommt das Fressen, dann die Moral«, hatte Willi einmal auf einem Plakat gelesen.
Nu wird’s ernst
Mathematik, Physik und Zeichnen mit Bestnote »sehr gut« bestanden.
Ende März fanden überall im Reichsgebiet die Schulentlassungsfeiern statt und Kalle bekam endlich sein Abschlusszeugnis überreicht. Er konnte stolz darauf sein, die Volksschule ohne ein einziges »befriedigend« mit einem Durchschnitt von eins Komma fünf bestanden zu haben. Seine Eltern freuten sich über diese tolle Leistung. Sein Vater quetschte sogar ein »Hast du gut gemacht« zwischen den Zähnen hervor, was bei Willi schon ein großes Lob war. Die Mittlere Reife hätte er mit Sicherheit ebenfalls mit Leichtigkeit geschafft, aber das war leider aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich. Arbeiterkind blieb Arbeiterkind, dachte er etwas traurig.
Sein alter Rektor, Martin Krause, der als strammer Nazi bekannt war, ließ es sich nicht nehmen, eine seiner von allen Schülern gefürchteten Reden zu halten. Seine einschläfernde Ansprache endete mit einem krachenden Appell an die Schüler, für die jetzt der Ernst des Lebens beginnen würde:
»Wir alle hier möchten, dass ihr deutschen Jungs und Mädels in euch alles vereint, was wir uns Gutes von Deutschland erhoffen. Wir wollen, dass dieses Volk nicht verweichlicht, sondern dass es durch euch, unserer gestählten Jugend, hart wird. Ihr werdet lernen, Entbehrungen auf euch zu nehmen, ohne jemals zusammenzubrechen! Euch gehört die Zukunft und ihr werdet mit höchster Selbstlosigkeit unsere Nation vorantreiben. Sieg Heil.«
Sein rechter Arm schnellte nach oben und er verließ das, auf seinen Wunsch hin, mit einer roten Flagge mit Hakenkreuz auf weißem Grund dekorierte Rednerpult. Seine stolzgeschwellte Brust kündete davon, dass er offensichtlich mit sich und seiner Leistung zufrieden war.
Schon wenige Tage danach begann für Kalle der sogenannte Ernst des Lebens. Zumindest wurde es ernst für ihn. Er fuhr zusammen mit seinem Vater nach Brandenburg zur Arado, um seinen Einstellungstest zu machen, zu dem er kurzfristig eingeladen worden war. Willi hatte seine neue
SS-Uniform an und sah darin ziemlich schneidig aus. Jedenfalls nicht wie ein Hilfsarbeiter. Das lag auch an seinem neuen, selbstbewussten Auftreten. Uniform macht eben mehr her als Manchesterhose. Am Werkseingang verabschiedete er sich von seinem Sohn.
»Du schaffst das, Kalle. Ich bin stolz auf dich!«
Das hörte Kalle von seinem sonst eher wortkargen und emotionslosen Erzeuger zum ersten Mal. Gerührt, glücklich und moralisch gestärkt winkte er seinem Vater noch einmal zu und ging durch das riesige eiserne Tor, meldete sich beim Pförtner, zeigte sein Einladungsschreiben und ließ sich von ihm den Weg zum Prüfungsraum zeigen.
Es war für Kalle sehr beeindruckend, das Firmengelände zu betreten. Er kam sich richtig klein vor, geradezu winzig, trotz seiner guten ein Meter und achtzig Länge. Er staunte über die riesigen Werkshallen, die den Himmel beim Vorbeilaufen verdunkelten und über die bereits fertiggestellten Flugzeuge, die davor aufgereiht waren. Ein himmlischer Anblick für seine Augen. Überall herrschte Betriebsamkeit. Lastkraftwagen lieferten Material in Lagerhallen, kleine Transportfahrzeuge brachten Teile in die Montagehallen und Schlepper zogen fertig montierte Ar 96 oder aber hier gefertigte Rümpfe und Tragflächen anderer Flugzeuge auf den etwa vier Fußballfeldern großen betonierten Platz. Hier und da standen Männergruppen in Arbeitskleidung, die rauchend eine Pause machten und sich leise unterhielten. Kalle bekam jetzt richtig Respekt vor dem, was auf ihn zukam. Für den Vierzehnjährigen war das eine neue, große und spannende Welt, in die er bald eintauchen sollte und zu der er bald gehören würde.
In Kürze werde ich ein Teil dieses bunten Treibens sein, dachte Kalle. Ich schaffe das! Das ist doch wohl klar wie Kloßbrühe. Etwas nervös war er verständlicherweise trotzdem. Das hätte er aber niemals zugegeben.
Kurz darauf meldete er sich, wie vom Pförtner empfohlen, im Eingangsbereich des Verwaltungsgebäudes, das etwas weniger grau aussah als die Werkhallen. Ein älterer Mann im Anzug, der sich als Herr Treskat vorstellte, erwartete ihn scheinbar schon und begrüßte ihn freundlich.
»Ich bin der Leiter der Ausbildungsabteilung. Guten Tag Kalle. Du wurdest mir bereits angekündigt. Schön, dass du gekommen bist. Ich wünsche dir viel Glück. Du schaffst das schon«, sagte er mit einem Lächeln und kniff dabei kurz, aber unauffällig ein Auge zu.
Was hatte dieses Augenzwinkern zu bedeuten, fragte sich Kalle. Herr Treskat, an dessen Revers das sogenannte Bonbon zu erkennen war, das Parteiabzeichen der NSDAP, das ihn als Genossen kennzeichnete, hielt kurz darauf die Begrüßungsrede. Er berichtete etwas zur Geschichte der »Arado Werke« und gab Informationen zum Inhalt und Ablauf der Lehre.
»Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass diese Aufnahmeprüfung dazu dient, die besten Kandidaten für den Beruf des Metallflugzeugbauers, aber auch des Fliegernachwuchses, zu identifizieren. Charakterliche Haltung, körperliche Eignung und geistige Leistungsfähigkeit sind die entscheidenden Kriterien«, schloss Treskat seine kurze Ansprache, die sehr sachlich ausfiel. Dann begann der schriftliche Teil des Einstellungstests.
Wie von Kalle erwartet, bestand die zweistündige Eignungsprüfung aus vielen naturwissenschaftlichen Fragen und recht kniffligen Rechenaufgaben. Diese waren allerdings für ihn ein Klacks, wie er später seinen Eltern erzählte. Ein bisschen Angeberei musste sein. Er gab, für ihn selbstverständlich, als Erster seiner Gruppe die ausgefüllten Zettel ab und war sich sicher, diesen Teil der Prüfung mit Bravour gemeistert zu haben. Ja, wer kann, der kann, grinste Kalle in sich hinein.
Im Anschluss an die schriftliche Prüfung erfolgte in einem kleineren Raum eine Befragung zur persönlichen und staatsbürgerlichen Einstellung. Jetzt ging es wohl um die charakterliche Haltung, überlegte sich Kalle. Er wurde in dem abgedunkelten Raum von drei Personen erwartet. Neben Herrn Treskat saß der Freund seines Vaters, der Ortsgruppenführer Tischler. TT war natürlich dem Anlass entsprechend gekleidet: in frisch aufgebügelter SS-Uniform.
Eine Frau Köpke, die sich als Personalleiterin vorstellte, vervollständigte die kritische Triade. Das Ganze hier hatte etwas von einem Tribunal, schoss es Kalle durch den Kopf. Bevor er diesen Gedanken zu Ende spinnen konnte, startete die Befragung.
Er hatte sich gemeinsam mit seinem Vater auf alle möglichen unangenehmen Fragen vorbereitet und wusste, welche Antworten dieses spezielle Gremium von ihm erwarten würde. Sie würden die Antworten bekommen, die sie erwarten, überlegte er, wurde aber von der Dame des Trios aus seinen Gedanken herausgerissen.
Frau Köpke startete mit der kuriosen Frage, ob für Kalle die schriftlichen Aufgaben zu einfach gewesen wären. Bevor er antworten konnte, antwortete sie sich bereits selbst. Dabei betonte sie, dass er stolz darauf sein könnte, die volle Punktzahl erreicht zu haben. Was sollte Kalle dazu noch sagen? Sein zustimmendes Lächeln sollte eigentlich Antwort genug sein.
»Ich habe mich gründlich auf diesen Test vorbereitet und konnte so alle Aufgaben lösen und die Fragen sicher beantworten«, sagte er nur noch kurz, aber den Tatsachen entsprechend. Frau Köpke gab sich mit dieser Aussage zufrieden, blickte kurz nach links und übergab ihren Sitznachbarn ohne Worte das Fragerecht. Herr Treskat reagierte sofort und schoss die nächste Frage in Kalles Richtung ab.
»Herr Bergmann, würden Sie uns bitte erklären, warum ein Flugzeug, trotz seines tonnenschweren Gewichtes, fliegen kann?«
Herr Bergmann nannte er ihn. Klasse! Das gefiel ihm. Kalle konnte sich sein Grinsen gerade noch verkneifen, um weiterhin einen konzentrierten Gesichtsausdruck zu zeigen. Auf diese Frage hatte er sich bestens vorbereitet und für eine spontan erscheinende Antwort sicherheitshalber auswendig gelernt. War doch klar, dass die so etwas fragen würden, dachte er und legte los:
»Im Prinzip wirken auf ein Flugzeug vier physikalische Kräfte. Da ist erstens die Schwerkraft, die es nach unten zieht. Der Auftrieb wirkt dieser Kraft entgegen und hält das Flugzeug in der Luft. Der durch Motor und Propeller erzeugte Vortrieb bewegt das Flugzeug vorwärts und der Luftwiderstand bremst es ab. Erst wenn der Auftrieb größer ist als die Schwerkraft, hebt das Flugzeug ab. Es ist also alles eine Frage der Geschwindigkeit.«
Kalle fand selbst, dass er sich wie sein alter leicht näselnder Physiklehrer, der olle Kuttner, anhörte. Aber seine Ausführungen gefielen offensichtlich seinem Publikum, stellte er mit Zufriedenheit fest und atmete tief durch. Herr Treskat strahlte und nickte sogar anerkennend.
»Du hast dich erkennbar gut vorbereitet«, sagte er. »Du erklärst bereits sicher, warum Flugzeuge fliegen. Du musst nun nur noch lernen, wie ein Flugzeug technisch funktioniert, und natürlich lernen, selbst damit zu fliegen. Das wirst du alles aus meiner Sicht in den nächsten Jahren hier bei uns lernen. Ich habe keine weiteren Fragen.«
Ups, das war ja entspannt, wunderte sich Kalle. Sein Blick wanderte nun zu Ortsgruppenführer Tischler. Der räusperte sich kurz und bemühte sich um einen seriösen Blick. Es sollte ja keiner merken, wie wohlgesonnen er dem Prüfling gegenüber war.
»Mich würde interessieren, wie du es findest, dass dein Vater in die SS eingetreten ist?«, fragte er und schaute Kalle dabei auffallend unbeteiligt an. Kalle bekam im ersten Moment einen Schreck und musste schlucken. Was sollte denn diese Frage? Er überlegte kurz und antwortete:
»Ich denke, mein Vater hat die erste richtige Chance bekommen, aus seinem Leben etwas zu machen. Diese Chance hat er genutzt. Darauf kann er stolz sein. Ich bin auf jeden Fall stolz auf meinen Vater.«
Tischlers Miene verlor für einen kurzen Moment etwas von ihrer Strenge. Seine Mundwinkel zuckten unauffällig, fast hätte er gelächelt, beherrschte sich aber und antwortete:
»Na dann wollen wir mal dafür sorgen, dass dein Vater auch stolz auf dich sein kann. Ich habe keine weiteren Fragen.«
Dann war ich wohl durch, schloss Kalle daraus. Er hoffte es zumindest. Anschließend wurde er mit den Worten »Wir sehen uns nach einer kurzen Pause wieder« in die Werkskantine verabschiedet.
Nach diesem ganzen Stress gab es dort etwas zu futtern. Reichlich zu futtern gab es. Kartoffelsalat und Würstchen satt. Das war für ihn das letzte überzeugende Argument, eine Lehre bei der Arado zu machen. Bockwurst satt! Kalle schmunzelte zufrieden und biss herzhaft in seine vierte Wurst. Die Fünfte würde er auch noch schaffen, davon war er überzeugt.
Nach dem Essen kamen alle Teilnehmer gegen 14:00 Uhr im großen Saal zusammen. »Die Urteilsverkündung«, bemerkte Kalle leise und lächelte wieder vor sich hin. Alle Namen derjenigen, die den Test erfolgreich gemeistert hatten, wurden vorgelesen. Die »Sieger« mussten einzeln nach vorne kommen und die Gratulation durch Herrn Treskat per Handschlag entgegennehmen.
Als Kalles Name aufgerufen wurde, hätte er fast vor Freude losgeheult. Er hatte es zwar gehofft, war eigentlich sogar fest davon überzeugt gewesen, musste sich aber trotzdem beherrschen, denn echte Männer heulten ja nicht. Was hatte ihm sein Sportlehrer immer eingebläut? Ein deutscher Junge muss flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl sein. Hier gab es keinen Platz für nutzlose Emotionen. Also alle fruchtlosen Gefühle herunterschlucken, aufstehen, lächeln und Freude über das Erreichte zeigen. So machte Kalle es mit sichtbarem Stolz. Geschafft!
Mitte April sollte seine Lehre und damit ein völlig neuer Lebensabschnitt beginnen. Das war der erste Schritt zur Erfüllung seines Traums vom Fliegen. Kalle freute sich riesig darauf. Er würde es schaffen und Flieger werden, versprach er sich selbst. Er konnte seinen Start bei der Arado kaum erwarten, aber erst einmal stand der Umzug seiner Familie an. Dadurch waren die nächsten Wochen für die Bergmanns ziemlich anstrengend, geprägt durch das Packen von Umzugskisten, der Beschaffung neuer Möbel, Gardinen und vielem mehr.
Anfang April verließen sie endlich ihren dunklen Berliner Hinterhof und zogen in ihre neue, helle Wohnung in Brandenburg an der Havel. Raus aus der 4-Millionen-Metropole Berlin, rein in die stetig wachsende Kleinstadt mit immerhin 80.000 Einwohnern.
»Etwas größer als ein Kuhdorf, aber dafür brauchen wir keine Angst mehr vor Luftangriffen, Gasalarm und überfüllten Luftschutzbunkern zu haben«, kommentierte Mutter Lenchen diese gravierende Veränderung ihrer Lebensumstände.
Die Zukunft der Familie sah zu diesem Zeitpunkt mehr als rosig aus.
Kalle war gespannt auf die neue Wohnung. Er freute sich besonders auf sein eigenes Zimmer, das seine nervige große Schwester Lotte nicht betreten dürfte. Das Schild »Zutritt für erwachsene Schwestern verboten« hatte er schon vor Tagen fertiggestellt. Die schöne Aussicht auf sein erstes selbst verdientes Geld beschäftigte ihn noch deutlich mehr. Er würde zwar die Hälfte seines monatlichen Lohnes zu Hause abgeben müssen, aber für ihn blieben immerhin schon im ersten Lehrjahr fast 10 Reichsmark jeden Monat übrig. Damit konnte er sich eine Menge Wünsche erfüllen.
Pure Vorfreude durchströmte ihn bei dem Gedanken. Zehn Reichsmärker waren viel Geld.
In diesem Sinne schnappte er sich schon bald nach dem Umzug sein altes Fahrrad und erkundete erst einmal die Gegend. Viele Felder, Wiesen und Auen, die ihn weniger interessierten, aber auch eine große Badeanstalt mit Restaurant-Betrieb, immerhin zwei Kinos im Stadtzentrum, mehrere Cafés und sogar ein Fleischer, der heiße Würstchen anbot. Diese Adresse merkte er sich sofort.
Das Beste war ein Geschäft mit Sachen für den Modellbau, in den Kalle so bald als möglich investieren wollte. Es gab genügend Möglichkeiten, sein erstes Selbstverdientes auf den Kopf zu hauen. Er hatte demnach kein Problem, seine Penunzen loszuwerden, registrierte er erfreut.
Aber erst einmal sollte seine Ausbildung starten.
Da müssen wa durch
Am ersten Tag seines Berufslebens bekam er einen Laufzettel in die Hand gedrückt und musste kreuz und quer über das Werksgelände der Arado rasen. Arbeitsklamotten abholen, Sicherheitsschuhe anprobieren, eigenes Werkzeug übernehmen und Lehrbücher ausgehändigt bekommen. Jetzt wusste Kalle, woher der Begriff Laufzettel kam. Langlauf-Zettel wäre präziser, überlegte er sich. Richtig sauer wurde er beim Anprobieren seines Arbeitsoveralls. Die ältere Dame an der Ausgabe taxierte ihn einmal von unten nach oben und schüttelte dann bedauernd den Kopf.
»Noch so jung und schon so lang. Für solche Bohnenstangen wie dich haben wir nichts Passendes. Da musste sehen, dass du die verstellbare Taille im Rücken ordentlich zuschnürst. Sonst siehst du darin völlig verloren aus. Wird schon gehen, junger Mann«, sagte die ansonsten mütterlich wirkende Frau und gab Kalle seinen neuen Blaumann, den er sofort anprobierte.
»Wenn wir bessere Zeiten hätten, könnte ich ab jetzt jeden Tag doppelt so viel essen und würde vielleicht in zwei-drei Jahren in den Overall reinpassen. Das ist wohl das Modell ›Zweisitzer‹, oder?«, beklagte sich der junge, modebewusste Lehrling über den alles andere als modischen Schnitt seiner Arbeitskluft. Äußerlich kaum wiederzuerkennen, wurden alle neuen Lehrlinge in Trupps von je zwölf Jungs eingeteilt. Kalle kam in den Trupp 41 Berta, also 41b. Die meisten seiner neuen Kameraden fand er auf den ersten Blick ganz in Ordnung.
Mal sehen, ob er hier neue Freunde finden würde
Die Lehrpläne für das erste Halbjahr wurden verteilt. Kalles erste Schritte in das Berufsleben starteten mit acht Wochen Metallverarbeitung. Das bedeutete für die nächsten zwei Monate intensives Arbeiten mit Eisen und Stahlblechen. Stundenlanges feilen, bohren, sägen, Gewindeschneiden, biegen, schneiden von Blechen, messen und prüfen.
Echt heftige Bastelstunden, registrierte er. Metallverarbeitung wurde nicht sein Lieblingsfach. Kurz vor dem Schluss des ersten Abschnitts seiner Lehre überraschte sie ihr Ausbilder Hermann Müller.
»Wir möchten jetzt sehen, was wir euch beigebracht haben. Metall ist ein Werkstoff, der Konzentration und Feingefühl erfordert.
Fehler verzeiht es nicht und Grobheiten bestraft es sofort. Eure Aufgabe ist ganz einfach, aber in diesem Sinne anspruchsvoll.
Jeder von euch bekommt einen streichholzschachtelgroßen Metall-klumpen. Daraus stellt ihr einen Spiel-Würfel mit einer Kantenlänge von exakt 16 Millimetern her. Hier ist die Produktionsskizze mit den genauen Maßangaben. Ihr habt eine Woche Zeit. Ich wünsche euch viel Erfolg. Legt jetzt los!«
Na, dann mal los, dachte sich Kalle und schnappte sich eine grobe Schruppfeile. Oder sollte er lieber mit der Eisensäge arbeiten? Egal, es würde schon klappen. Er spannte das Eisenteil in den Schraubstock und legte los, wie Eisen-Müller es gefordert hatte. Diese erste große Übung schaffte Kalle schneller als die meisten seiner Kollegen. Bereits nach fünf Tagen war er fertig. Recht ordentlich, lobte ihn Hermann Müller nach fast einer Woche harter Arbeit, drehte den Würfel mehrmals in seinen Händen, hielt ihn gegen das Licht, legte seine unbestechliche Schieblehre an und zitierte grinsend etwas aus Schillers Glocke:
»Von der Stirne heiß, rinnen muss der Schweiß, soll das Werk den Meister loben, doch der Segen kommt von oben. Nachdem dein Schweiß genug rinnen musste, kommt von oben folgender Segen:
Du bekommst morgen einen freien Tag! Viel Spaß. Wir sehen uns am Montag.«
Das sehe ich auch so, Meister, dachte sich der junge Lehrling und genoss es, als Belohnung früher Feierabend zu machen.
Anders als in der Schulzeit, sehnte Kalle nach der Arbeit, nach langen zehn Stunden von Montag bis Samstag, seinen Feierabend herbei. Wenn er nicht zu müde war, verabredete er sich mit seinem neuen Kollegen Wolfgang Kamischke, genannt Wolle, zu gemeinsamen Taten oder auch Untaten.
Wolle und Kalle waren sozusagen von Natur aus auf Augenhöhe, beide fast einen Meter neunzig groß. Überall, wo die beiden gemeinsam auftauchten, spottete man:
»Der Alte Fritz lässt grüßen. Da kommen wieder die »Langen Kerls«.«
Das war wohl ein Brandenburger Spruch, dachte Kalle und ignorierte diese Bemerkung.
Jedenfalls sah er bei den Kollegen, die ihm sympathisch waren, großzügig darüber weg.
Alle anderen mussten manchmal Kalles Antwort ertragen.
»Kennste die Gebrüder Grimm? Die könnten dich gut gebrauchen. Die suchen noch Zwerge wie dich«, war noch eine der harmlosen Erwiderungen.
Kalle und Wolle verband nicht nur ihr hoher Wuchs, sondern auch viele andere Gemeinsamkeiten. Deswegen wurden die beiden schnell gute Freunde. Am stärksten verband sie, dass sie absolut begeisterte Flugzeug-Verrückte waren. Flieger zu werden, war ein unbedingtes Ziel beider Jungs. So war es für sie selbstverständlich, den obligatorischen Segelflugunterricht gemeinsam zu absolvieren.
Die Theorie lernten sie direkt nach Feierabend bei der Arado, die Praxis auf dem Fluggelände an der Mötzower Straße in Brandenburg. Die Prüfungen fanden in der Reichssegelflugschule in Trebbin, unweit von Potsdam, statt.
Die meisten Kurse fanden am Wochenende statt, für einige wenige mussten sie leider ein paar Tage ihres knappen Urlaubs opfern.
Das fiel ihnen nicht besonders schwer, denn sie liebten das Segelfliegen. Sie verstanden die Schulungen als wichtige Meilensteine auf ihrem Weg zum Flugschein. Also dazu, Flieger zu werden.
Ihre zweitliebste Freizeitbeschäftigung war es, schwimmen zu gehen. Immer, wenn es im heißen Sommer 41 Grad passte, fuhren Kalle und Wolle zur Badeanstalt Grillendamm, um sich ausgiebig abzukühlen.
Zugegeben, auch um ausgiebig, aber unauffällig versteht sich, den planschenden, gleichaltrigen Mädels zuzusehen. Das war das Gegenteil einer Abkühlung! Das hätten die beiden pubertierenden Vierzehn-jährigen niemals zugegeben, denn es war ihnen absolut peinlich. Beide mussten ehrlicherweise gestehen, dass die Fliegerei nicht mehr ihr einziges Interessengebiet war.
Das andere Geschlecht fing an, ebenso spannend zu werden.
»Haste schon ne Freundin?«, fragte Wolle seinen Kumpel bei einer dieser Gelegenheiten grinsend, obwohl er die Antwort kannte.
»Nee, was soll ich denn damit«, antwortete Kalle verlegen und wechselte schnell das Thema. »Ich muss jetzt nach Hause. Sonst meckert meine Mutter wieder mit mir, wenn meinetwegen das Essen auf dem Herd verkocht und sie meinem Vater nur noch matschige Kartoffeln vorsetzen kann. Den Ärger möchte ich mir ersparen!«
Die beiden zogen sich schnell an, verließen das Schwimmbad und schlenderten etwas antriebslos zu ihren Fahrrädern. Die sommerliche Hitze auf dem Vorplatz brachte die staubige Luft zum Flimmern und sie wollten am liebsten sofort wieder umdrehen, um ins kühle Wasser zu springen. Vielleicht morgen wieder dachte Kalle. Am Fritze-Bollmann-Brunnen trafen sie auf eine Gruppe Mädels in ihrem Alter, die fröhlich herumalberten.
»Bloß nicht hinsehen«, flüsterte Kalle seinem besten Kumpel zu, konnte aber selbst nicht anders und schaute interessiert zu einem besonders hübschen Mädchen mit wahnsinnig langen, schwarzen Zöpfen. Nur kurz unauffällig hinschauen, aber nicht ansprechen oder schlimmer, angesprochen werden, redete sich Kalle ein. Jedenfalls nicht heute, ein andermal vielleicht.
In Brandenburg an der Havel ging im Jahr 1941 alles weitestgehend seinen ruhigen, ja geradezu beschaulichen Gang. Anders war es in der sechzig Kilometer entfernten Reichshauptstadt. Nachdem Adolf Hitler die Sowjetunion überfallen hatte, nahmen die Luftangriffe auf Berlin dramatisch zu. Immer öfter hatte Kalle von seinem Zimmer aus nachts den rot leuchtenden Himmel über Berlin erkennen können. Im September wurde sogar das gesamte kulturelle Zentrum der größten Stadt Deutschlands dem Erdboden gleich gemacht.
Es gab dabei unzählige zivile Opfer, darunter viele Frauen und Kinder. Niemand konnte mehr die Grausamkeit des Krieges verleugnen.
Krieg war immer schon grausam.
Gleichzeitig feierte das tausendjährige Reich sich selbst und seine Helden. So wurde einer der bekanntesten Jagdflieger, Oberstleutnant Werner Mölders, anlässlich seines 101. Luftsieges öffentlich ausgezeichnet und als Inbegriff soldatischer Tugenden präsentiert.
Kalle hatte schon viel vom Brandenburger Mölders gehört und gelesen. Mölders war sein wichtigster Flieger-Held und sein größtes Vorbild. Er bewunderte ihn sehr, kam allerdings ins Nachdenken.
101 Luftsiege bedeuteten auch, dass er wahrscheinlich mindestens hundertundeinen Menschen getötet hatte. Krieg war wohl doch kein spannendes Abenteuer, machte er sich bewusst. Krieg war immer todbringend. Krieg war schrecklich.
Ebenso schrecklich und unverständlich empfand es Kalle, dass der »Judenstern« eingeführt wurde.
Alle Jüdinnen und Juden ab dem 6. Lebensjahr wurden gezwungen, auf der linken Brust, also auf der Herzseite, einen sechszackigen gelben Stern mit der Inschrift »Jude« zu tragen. Sie durften von nun an ihren Wohnsitz nicht mehr ohne polizeiliche Genehmigung verlassen. Öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, wurde ihnen auch untersagt. Weder der Besuch öffentlicher Veranstaltungen noch der Kinobesuch war ihnen gestattet. Ihr bisheriges Leben war von heute auf morgen vorbei.
Für die nichtjüdische Bevölkerung hieß es, dass vertraute Menschen, die noch vor kurzer Zeit geachtete Mitbürger gewesen waren, nun geächtet wurden.
Angeprangert, ihrer Existenz beraubt, drangsaliert, bedroht, geschlagen und schließlich verschleppt.
Warum? Was sollte das, fragte sich Kalle voller Unverständnis.
Das Leben aller Menschen im »Tausendjährigen Reich« änderte sich fast täglich. Für die Bevölkerung Deutschlands gab es immer neue Einschränkungen. Auf Plakaten wurden sie tatsächlich aufgefordert, Kartoffeln nur noch als Pellkartoffeln zuzubereiten, weil beim Schälen Gewichtsverluste von 15 bis 30 Prozent auftreten würden.
»Armes Deutschland«, war dazu der Kommentar von Kalles Mutter Lenchen beim gemeinschaftlichen Abendessen mit ihrer Familie.
»Der dümmste Bauer hat die dicksten Kartoffeln. Und der dicke Göring die dümmste Emma.«
Dieser Satz bezog sich auf die zweite Ehefrau des Reichsmarschalls, der mit seinem Gewicht von über 240 Pfund und der damit verbundenen Körperfülle gerne im Volksmund als »Größter Arsch des Dritten Reiches« tituliert wurde.
Solche oder ähnliche Aussagen an falscher Stelle zu laut gesagt, hätten damals Zuchthaus oder Schlimmeres zur Folge gehabt.
Als dann kurze Zeit später im Radio sogar verkündet wurde, dass man morgens zwischen 6 und 10 Uhr möglichst keine elektrischen Geräte verwenden sollte, um so die Stromversorgung der Rüstungsindustrie und der Landwirtschaft sicherzustellen, tippte sich Kalles Mutter an die Stirn.
»Jetzt spinnen die Obersten vollkommen«, drückte sie in einem Satz das Unverständnis der meisten deutschen Hausfrauen an der Heimatfront aus.
Das Jahr 1941 endete mit einem letzten Paukenschlag. Der oberste Befehlshaber der Wehrmacht, Adolf Hitler, erklärte am 11. Dezember auch noch den USA den Krieg.
»Mut oder Größenwahn, das ist hier die Frage. Dies sollte allerdings nicht öffentlich diskutiert werden«, hörte Kalle seinen Vater kopfschüttelnd leise zu Lenchen sagen.
Er machte sich über die Politik des Führers und »Größten Feldherrn aller Zeiten« wenig Gedanken und dachte mehr über mögliche Zerstreuung für junge Menschen in Brandenburg nach. Viel wurde 1941 in der Kleinstadt nicht angeboten, stellte er fest. Versöhnlich stimmte Kalle lediglich das aktuelle Kinoprogramm im Dezember. Noch kurz vor Weihnachten startete »Quax der Bruchpilot« im Konzerthaus-Lichtspiele in der Werner-Mölders-Straße in der Neustadt. Die Handlung war eher simpel.
Für einen kleinen Büroangestellten wurde durch ein Preisaus-schreiben der Traum vom Fliegen wahr. Quax war also ein Fliegerfilm. Somit war der Kinobesuch ein Muss für Kalle und Wolle und die Verabredung zum gemeinsamen Kinobesuch keine Frage mehr. So standen die beiden Freunde bereits am ersten Tag der Vorführung rechtzeitig vor Kassenöffnung am Ticketschalter, um zwei besonders gute Plätze weit vorne in der Mitte zu ergattern.
Etwas weiter hinter ihnen in der Schlange stand ein Mädchen, etwa in Kalles Alter. Sie war ihm schon öfters aufgefallen. Beim Baden, beim Einkaufen im Zentrum und bei verschiedenen gemeinsamen Veranstaltungen der »Hitler-Jugend« (HJ) und dem »Bund Deutscher Mädel« (BDM). Er hatte noch nie ein Mädchen mit so langen Zöpfen gesehen. Wahnsinn. Zöpfe bis zum A …, ach nein, bis zum Po, dachte Kalle, natürlich. Er konnte nicht anders, als sich andauernd nach ihr umzudrehen. Sein Verhalten blieb nicht unbemerkt. So ungefähr beim dritten oder vierten Mal wurde sein Blick von der Schönheit mit den langen Zöpfen erwidert. Beim fünften oder sechsten Mal lächelte sie sogar verlegen zurück. Und was nun? Was sollte er jetzt machen? Einfach ansprechen konnte er sie nicht, dafür war er viel zu schüchtern. Kalles Mut reichte für derartige Aktivitäten noch lange nicht aus. Dann eben ein anderes Mal, dachte er sich erneut und war bemüht, konzentriert nach vorne in Richtung des Kassenhauses zu schauen. Dieses andere Mal sollte noch einige Zeit dauern.
Erst einmal stand Weihnachten vor der Tür. Die Bergmanns feierten zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig mit Weihnachtsbaum und Gänsebraten. Kleine, ausgesuchte Geschenke gab es für alle. Für jeden wurde ein kleiner Wunsch erfüllt. Nur ein kleiner, wie Lenchen betonte. Aber immerhin!
Diese Bescheidenheit passte zur Rundfunk-Ansprache, die sich die Familie nach der Bescherung und vor dem Gänsebraten gemeinsam anhörte.
»Das deutsche Volk wird in diesem Jahr das Weihnachtsfest sehr sparsam und zurückhaltend feiern«, diktierte der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, am Heiligen Abend über den Volksempfänger.
»Millionen Deutsche werden sich die bange Frage stellen, was uns das nächste Jahr bringen wird. Solche melancholischen Überlegungen sind für die Widerstandsfähigkeit unseres Vaterlandes gar nicht gut.«
Also habt ihr doofen Deutschen es endlich alle verstanden? Oder etwa nicht?
Schnauze halten, Augen zu, und durch.
Durchhalten, es kommen wieder bessere Zeiten, sollte der Appell wohl heißen. Keiner ahnte, was noch alles auf das deutsche Volk zukommen und wie lange es noch dauern sollte, bis wieder Normalität in das Leben in Deutschland einzöge.
»Da müssen wa alle durch«, fasste Willi die Rede Goebbels mit wenigen Worten zusammen.
Die längsten Zöpfe der Stadt
Männer bewunderten ihre jugendliche Schönheit, Frauen ihre großartige Figur und ihr wunderschönes langes schwarzes Haar, das sie meistens zu Zöpfen geflochten trug. Sie fiel vielen Menschen auf. Sie kannten sie vom Sehen: die unbekannte Schöne aus Brandenburg.
Ja, aber den Namen dieser jungen Frau kannten nur wenige. Meistens nur diejenigen, die ihren Vater, den Hotelier und Restaurant-Besitzer Paul Hirschmann kannten.
Wenn unbekannte, neugierige Menschen es wagten, sie anzusprechen, oder sogar nach ihrem Namen fragten, warf sie ihnen einen spöttischen Blick zu, drehte sich schnell um, sodass ihr Zöpfe durch die Luft flogen und ging, ohne zu antworten, lachend weiter. So war sie, das Mädchen mit den längsten Zöpfen der Stadt.
Wie hieß sie denn nun, diese junge Frau? Ihr Name lag gewisser-maßen auf der Hand. Sie war nach ihrem Vater Paul benannt und hieß ganz einfach Pauline.
Pauline Maria Hirschmann. Ihre Familie und Freundinnen nannten sie kurz Paula. Nur ihr Vater sagte ab und zu Pauline zu ihr, wenn es einen ernsten Grund dazu gab oder Paulinchen, wenn er sie ärgern wollte.
Paula war eine »echte Brandenburgerin« und dort im Frühjahr 1927 geboren. Seitdem lebte sie mit ihren Eltern Paul und Maria und ihrer vier Jahre älteren Schwester Ingeborg in einem Nebengebäude ihres Hotels »Zum Kronprinzen« in der nach dem Führer unbenannten Adolf-Hitler-Straße.
Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr half sie nachmittags immer öfter im angeschlossenen Restaurant aus, spülte Geschirr oder bediente manchmal sogar die Gäste. Dafür spendierte ihr Vater Paula ein etwas erhöhtes Taschengeld. Monatlich hatte Paula so drei bis vier Reichsmark zur eigenen Verfügung und manchmal dazu noch ein wenig Trinkgeld von den Gästen. Das reichte, um sich viele schöne Dinge zu leisten. Meistens gab sie ihr Geld für schicke Kleidung, Schuhe oder Kosmetik aus. Manchmal leistete sie es sich, ihre Freundinnen zu einem Kinobesuch mit Konfekt oder Eis einzuladen.
Ihre Mutter ermahnte sie zwar oft, etwas für ihre Aussteuer zu sparen, aber das überhörte sie mit einem ironischen Gesichtsausdruck oder reagierte gespielt sauer.
»Aussteuer klingt für mich wie Raussteuer. Ihr wollt mich wohl möglichst schnell loswerden? Das kommt gar nicht infrage«, oder so ähnlich, antwortete sie ihrer Mutter.
Ihre freie Zeit verbrachte sie meistens mit ihren beiden besten Freundinnen, Gerda und Hildegard. Die drei waren unzertrennlich und jede Minute zusammen. Sie hatten viel Spaß, alberten herum, lachten viel, lästerten über Jungs und waren schon bald ein stadtbekanntes Trio. Das änderte sich, nachdem Hilde einen gelben Judenstern an ihre Kleidung heften musste. Hilde stand nun oft traurig, sehr traurig, vor einem Schild mit der Aufschrift
»Nur für Arier. Juden sind hier unerwünscht«.
Der Spaß zu dritt war nur noch eingeschränkt möglich. Alle drei waren sehr unglücklich darüber, konnten es nicht verstehen und erst recht nicht ändern. Trotzdem versuchten sie, sich irgendwie zu treffen und etwas zu unternehmen. Mist Nazis, dachten sie voller Abscheu, hüteten sich aber, ihre Gedanken laut auszusprechen.
Hilde musste nun gezwungenermaßen den Stern tragen.
Paula und Gerda steckten gezwungenermaßen in der Uniform des BDM, dem »Bund Deutscher Mädel«.
Alle drei wurden von dem herrschenden System der National-sozialisten dazu gezwungen, sich so darzustellen und ihnen blieb keine andere Möglichkeit, als sich an diese unausweichliche Weisung zu halten. Der Judenstern für die eine und die Mitgliedschaft im BDM für die beiden anderen waren Pflicht. Ohne Ausnahme. Verstöße dagegen wurden sofort geahndet, ja sogar mit Gefängnisstrafen belegt. Trotz dieses Risikos war es für die Mädels wichtig, etwas gemeinsam zu erleben. Solange dies überhaupt noch möglich war.
Kurz vor Weihnachten schlug Paula ihren Freundinnen deshalb vor, in die Nachmittagsvorstellung des örtlichen Kinos zu gehen
»Das Jahr ist fast zu Ende, Mädels, und wir haben seit Wochen nichts zusammen unternommen. Was haltet ihr von einem Kinobesuch? Oder habt ihr eine bessere Idee?« Gerda und Hilde grinsten nur, was Paula als eindeutige Zustimmung ansah. Also verabredeten sie sich für den nächsten Tag.
Es war das letzte Mal, dass die drei Freundinnen gemeinsam einen Film ansehen konnten.
Die Kinos zeigten für den Geschmack der drei zu viele nervige Musikfilme.
»In der Wochenschau Krieg und Verbrechen und im Hauptfilm trällernde Schauspieler. Das ist wirklich nicht auszuhalten«, kommentierte Paula die aktuelle Filmauswahl in den Brandenburger Lichtspielhäusern.
»Wenn es schon keine romantischen Liebesfilme zu sehen gibt, sollte es zumindest etwas zum Lachen sein.«
Ein Garant für viele Lacher und leichte Unterhaltung war Heinz Rühmann. Also beschlossen sie, sich »Quax der Bruchpilot«, den neuesten Rühmann-Film anzusehen. Sie waren rechtzeitig beim Konzerthaus-Lichtspiele, stellten sich in die Schlange vor dem Kassenbereich, da der Kartenverkauf noch geschlossen war und warteten geduldig. Weiter vorne alberten zwei auffallend große Jungs ungeniert und laut herum.