2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €
„Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist.“ Wolfgang Borchert Der Verursacher des deutschen Desasters, Adolf Hitler, entzieht sich bereits im April 1945 der Verantwortung für „sein Volk“, das sich mehrheitlich in einer postapokalyptischen Trümmerwelt wiederfindet oder in behelfsmäßigen Flüchtlingslagern kampiert. Von all dem bekommt der Kriegsgefangene Kalle Bergmann lange nichts mit. Als männliche Kriegsbeute beginnt für ihn eine unfreiwillige Abenteuerreise über zwei Kontinente, von unerträglichem Heimweh, Depressionen und Suizid-Gedanken begleitet. Der verzweifelte Junge weiß nicht, was ihn zu Hause erwartet. Bleiben ihm nur verblassende Erinnerungen an seine Heimat, seine Familie, seine ehemaligen Freunde und Kameraden und an seine Paula? Währenddessen tobt in dem zerteilten ehemaligen Deutschen Reich ein ideologisches Geplänkel der Siegermächte. Der Anfang des Kalten Krieges verhindert, dass der gebrochene Junge nach Berlin zu seiner Paula zurückkehrt. Beide TRÄUMEN von FREIHEIT und einer gemeinsamen ZUKUNFT. Im zweiten Teil von JUGENDDIEBE beschreibt der Autor die Zeit seines Vaters als „POW“ und den Neustart nach der Entlassung aus Kriegsgefangenschaft. Briefe, Fotos und ein Tagebuch spiegeln seine und die Verzweiflung aller Menschen in den autarken vier Zonen der Siegermächte wider. Der Roman wurde durch fiktive Geschichten ergänzt, die dem Leser die Lebenswirklichkeit des am Boden liegenden Deutschlands lange vor dem Wirtschaftswunder vermittelt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
CLAUS D. ZIMMERMANN
JUGENDDIEBE
VON FREIHEIT TRÄUMEN
ROMAN
Inhalt
WIDMUNG
Sommer 1945
AUS DER TRAUM VOM ENDSIEG
1946
Umerziehung überall
1947
Demokratie auf Rezept
1948
Die Stunde Null naht
1949
Ein Volk wird zerteilt
Was ich noch zu sagen hätte …
ÜBER DEN AUTOR
In Erinnerung an all die Menschen, die nicht aufgegeben haben und nach langen Jahren nationalsozialistischer Terrorherrschaft und Krieg in der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre mit ihren Händen ein, nein zwei, demokratische deutsche Staaten aufgebaut haben.
Lieber ein Ende mit Schrecken?
»Wenn du gewinnst, musst du nichts erklären.
Wenn du verlierst, solltest du nicht mehr da sein,
um es zu erklären!«
Adolf Hitler machte seine eigenen Worte wahr und entzog sich seiner Verantwortung für »sein Volk« durch eigene Hände.
Im Mai des Jahres 1945 war kaum noch ein Verantwortlicher der NSDAP da, um das zu erklären, was weder Sieger noch Besiegte mit klarem Verstand und einigermaßen Vernunft im Kopf begründen konnten.
Eine große Mehrheit der Deutschen fand sich in einer postapokalyptischen Trümmerwelt oder in behelfsmäßigen Flüchtlingslagern wieder.
Die alte Gesellschaftsordnung hatte ausgedient, die Siegermächte teilten die Beute unter sich auf, verschoben nach Belieben Grenzen und zwei konträre Systeme stülpten dem orientierungslosen deutschen Volk ihre Ideologien über.
Amerikaner und Briten nannten es »Reeducation«, die Franzosen sprachen von »Mission civilisatrice«, was sich zumindest toll anhörte, während »antifaschistisch-demokratische Umgestaltung« der Sowjets durch positive Wortwahl bewusst die Konsequenzen derjenigen verbarg, die sich nicht systemgerecht verhielten. In dieser zerstörten Welt kämpfen die wenigen Verbliebenen, also Frauen, Kinder und alte Männer ums nackte Überleben. Söhne, Brüder, Ehemänner und Familienväter, als dringend gebrauchte Unterstützer waren rar in dieser Zeit des Aufbruchs in eine neue deutsche Realität.
Sie gaben entweder ihr Leben an der Ost- oder Westfront im ehrenvollen Kampf für das deutsche Vaterland, waren auf See gebliebene Kameraden oder wurden als »vermisst« eingestuft, weil über ihren Verbleib keine Gewissheit bestand.
Für die Angehörigen dieser Vermissten wurde Warten, Hoffen und Bangen neben Hunger und Tod die ständigen Begleiter auf ihrem Weg in ein besseres Deutschland.
Jede eingetroffene Feldpost wurde mit Herzklopfen als Lebenszeichen eines geliebten Menschen begrüßt, unter Tränen geöffnet und schnellstmöglich beantwortet.
Trotzdem vergingen Wochen oder Monate zwischen dem Absenden eines Briefes und seiner Beantwortung.
Wochen und Monate Leben in Ungewissheit.
Reise ins Ungewisse
Kalle wusste nicht, ob er in Rotterdam oder Amsterdam gelandet war, als er aus dem Lastwagen aussteigen musste. Sie waren auf jeden Fall in einem größeren Hafen, in dem reger Betrieb herrschte. Riesige Kräne verluden Ladungen in große und kleine Frachter, Barkassen transportierten Arbeiter zu ihren Arbeitsplätzen, einige private weiß lackierte Jachten waren an einem separaten Kay festgemacht und weiter hinten lagen wie graue Seeungeheuer diverse Schlachtschiffe fremder Nationalitäten.
Kalle atmete die nach Teer und Kohlebrand riechende Seeluft tief ein und fragte sich, wohin seine Reise gehen würde. Das wollte er mehrmals von seinem Bewacher wissen, der dazu kopfschüttelnd schwieg oder einen knappen Kommentar auf Englisch abgab.
»Sorry, but I don't know. No question, no answer, please«.
Dass es per Schiff weitergehen sollte, war ihm selbstverständlich klar. Aber wohin?
Vielleicht auf direktem Weg nach Hamburg oder nach Rostock? Das wäre schön, da wäre er fast zu Hause.
Träume, die sich leider weit von der Wirklichkeit entfernten.
Es wurde also keine Fahrt ins Blaue, wie man so sagte, eher eine Reise ins Ungewisse. Mit unbekanntem Ziel verreist.
Über eine sehr steile Gangway ging es an Bord eines zum Gefangenentransporter umgebauten Frachtschiffs. Einige der geschwächten POWs stolperten mehr nach oben, als dass sie gingen. Die Lady of Pennsylvania sah nicht sehr vertrauenswürdig aus und verlangte nach einem längeren Werftaufenthalt.
Hoffentlich hält die alte Dame unsere Reise noch durch, dachte Kalle bei dem Anblick des vom Rost gezeichneten Frachters.
Der Frachtraum der Lady wirkte nicht viel einladender. Die grauen Dreifach-Etagenbetten kamen allen sehr bekannt vor, stammten wahrscheinlich aus ehemaligen Wehrmachtsbeständen. Mittels ein paar Tampen waren die zwei Meter hohen Stahlrohrtürme vor dem Umkippen gesichert, was den angsteinflößenden Eindruck nicht verbesserte.
»Willkommen an Bord der Old-Lady, zu einer Kreuzfahrt mit unbekanntem Ziel«, spottete Kalle laut und reservierte sich schnell eines der unteren Betten. Besser ist es, dachte er, sich eine deutlich gefahrlosere Fallhöhe zu sichern.
Er setzte sich auf seine gerade erbeutetet Matratze, ließ seinen Blick im Raum umherschweifen, machte sich lang und leitete den spontanen Matratzen-Horchdienst ein.
Mehr als die Hälfte der ungefähr zweihundert Gefangenen war in seinem Alter oder sogar noch deutlich jünger. Viel älter als dreißig wirkte keiner seiner Leidensgenossen.
Kalles alter Humor fand langsam den Weg nach draußen und er sagte zu sich selbst:
»Das ist hier ja fast wie eine Klassenreise. Nur die Mädels fehlen.«
Bei dem Wort »Mädels« dachte er augenblicklich an Paula. Er wünschte, sie wäre jetzt bei ihm. Diesen Gedanken strich er beim Anblick seiner mitreisenden männlichen Konkurrenten sofort. Besser, ich wäre bei ihr. Wo auch immer sie jetzt steckte, Hauptsache ich könnte bei ihr sein.
Zusammensein. Zusammen fühlen. Zusammen lieben.
Kurz darauf waren auch die beiden Stockbetten über ihm belegt. Die Mitte stellte sich als Lutz Schweiger vor, die obere Etage als Emil Quack. Noch während das Schiff ablegte, einigte sie sich auf das kameradschaftliche »Du«.
Das war einfach einfacher so.
Also, Lutze, Quacki und Kalle hieß das neue Kleeblatt, die neu zusammengeschweißte, gefahrenerprobte Schicksalsgemeinschaft zur See. Sie ahnten, dass ihr unfreiwilliger Ausflug länger dauern würde, aber dass sie die nächsten vier Wochen unter Deck verbringen würden, konnten sie sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorstellen. Wollten sie sich nicht vorstellen! Sie würden jedenfalls genügend Zeit haben, sich gegenseitig über ihr noch junges Leben auszutauschen.
Wenn die Wetterlage es zuließ, durften sie einmal in der Woche in kleinen Gruppen, bewacht von zwei bewaffneten Posten, für fünfzehn Minuten saubere Seeluft schnappen und eine viertel Stunde lang spüren, dass sie noch am Leben sind.
Beim ersten Spaziergang an Deck passierte es, dass einer der gerade fünfzehnjährigen Knaben durchdrehte, plötzlich unerwartet losrannte und sich mit einem Hechtsprung über die Reling vom Leben verabschiedete.
Ein Rettungsversuch, das »Mann-über-Bord-Manöver«, wurde generell beim Eigenverschulden nicht eingeleitet. Der wollte es ja nicht anders, hieß es.
Weit und breit war kein Land in Sicht, die See hatte höchstens acht Grad Temperatur. Der Junge wird nicht lange mit den vier Meter hohen Wellen gekämpft haben. Sein Name wurde einfach von der Liste gestrichen.
Alle, die seine Flucht in den Tod mitansehen mussten, waren noch Tage später schockiert.
Oder sollten sie ihn beneiden?
Selbst Kalle stellt sich immer öfter die Frage, ob es sich lohnt, die drohende Kriegsgefangenschaft zu überstehen oder es besser wäre, die Sache schnell zu beenden. Die Todessehnsucht in ihm wuchs mit jeder überwundenen Seemeile. Alle POWs wurden kurz vor ihrer Abreise einem Gesundheitscheck unterzogen. Diejenigen mit körperlichen Leiden oder schwereren Kriegs-Verletzungen durften die Reise nicht antreten. Auf die verdeckten psychischen Leiden achtete allerdings niemand.
Fast in jeder Nacht machten sich diese unsichtbaren tiefen Wunden bemerkbar. Ihre Erlebnisse des Krieges wurden gerade von den noch jugendlichen Gefangenen, die ihre kindlich-seelischen Eierschalen noch nicht abgestreift hatten, in belastenden Albträumen verarbeitet. Die meisten davon erlangten durch laute Schreie im Schlaf die zwangsläufige Aufmerksamkeit ihrer Leidensgenossen. Manche schrien um Hilfe, andere nach ihrer Mutter.
Bei vielen von ihnen drückten sich in der Nacht die nicht ausreichend verarbeiteten Ängste durch starkes Schwitzen und lautem Gestammel aus. Tagsüber quälten sie schwere Depressionen, über die niemand gerne sprach, da es diese Krankheit nicht geben durfte. Selbstmordgedanken als einfache Lösung ihres unlösbaren Problems blieben da nicht aus.
»Lever dood as Slaav«, wiederholte Jan, der Sohn eines Nordsee-Fischers von der Insel Amrum bei jeder Gelegenheit.
»Lieber Tod als Sklave. Bevor ich amerikanischer Sklave werde, hau ich ab oder bring mich um.«
In der dritten Woche ihres Ausflugs ins Nirgendwo meldeten sich bei Lutze die unterbewussten, tief sitzenden Traumata. Kalle wurde wach von lautem Geheule, Jammern, unverständlichen Gebrabbel. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass die Geräusche aus dem Bett über ihm kamen. Er setzte sich in dem quietschenden Bett auf und sah nach seinem fantasierenden Schicksalsgefährten. Er sprach ihn mit sanfter Stimme und leise an.
»Lutze, wach auf, alles ist gut, du bist in Sicherheit!«
Keine Reaktion. Vorsichtiges Rütteln an seiner Schulter erzeugte nur noch lauteres Heulen als Gegenreaktion. Kalle verstand aus Lutzes Worten etwas von Panzern, die kommen würden und alles plattmachen. Pure Angst strömte aus dem Mund des jugendlichen Gefangenen. Sie erzeugte in seinem ausgelaugten Körper ein intensives Zittern und Aufbäumen. Kalle sprach Lutze nun etwas lauter an, sagte mehrmals deutlich seinen Namen.
»Hallo Lutze. Lutze aufwachen. Lutze, komm zu dir. Hey, alles ist gut. Du brauchst keine Angst mehr haben, bist in Sicherheit.«
Nach Minuten kam die Reaktion des von Angstträumen geplagten Jungen.
»Kalle, hör bitte auf, mich zu schütteln. Ich bin ja wach.«
Die echten, gnadenlosen Gefechte waren vorbei, aber die Soldaten kämpften noch immer. Sie kämpften mit den Erinnerungen des grausamen, abscheulichen Krieges.
Diese Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung waren längst bekannt, auch wenn dieser Begriff erst Jahre später geformt wurde. Sie waren noch lange kein Grund, die Betroffenen dienstuntauglich zu stellen. Die schuldlos Erkrankten wurden verharmlosend als »Kriegszitterer« bezeichnet und der Einsatz von starken, meist illegalen Schmerzmittel stillschweigend geduldet. Schon der Erste Weltkrieg gebar Tausende von solch Abhängigen, von drogensüchtigen Morphinisten. Es wurde akzeptiert. Das Leiden des einzelnen Individuums wurde kommentarlos dem Großen und Ganzen untergeordnet.
An das Ende dieses Großen und Ganzen glaubten einige fanatische Hitlerbewunderer auch wenige Tage vor Ende des ehemals ruhmreichen Krieges nicht. Auch ein paar von Kalles Mitgefangenen waren unverbesserliche Über-Nazis, die immer noch an die Wunderwaffenlüge und den Endsieg glaubten.
Am 20. April feierten diese Unverbesserlichen den Geburtstag des Führers, der als Held im Kampf bis zum letzten Blutstropfen gestorben war, sangen das Deutschlandlied, riefen „Hoch lebe der Führer“ und stimmten schließlich in das Horst-Wessel-Lied ein.
»Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. S. A. marschiert, mit ruhig, festem Schritt. Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier'n im Geist in unsern Reihen mit.«
Kalle war über so viel Ignoranz der unbestreitbaren Realität absolut schockiert, ihm wurde vom Zuhören übel, er schüttelte ungläubig den Kopf. Ein paar GIs, die das Schauspiel mitbekommen haben, riefen laut:
»Shut up, you crazy Germans. Bloody Krauts!«
Nach seinen Albträumen dauerte es ein paar Tage, bis Lutze die Kraft hatte und sich überwinden konnte, seine Geschichte zu erzählen. Als Fünfzehnjähriger hatte er sich wie viele andere HJ-ler freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Vielleicht war es aus reiner Abenteuerlust? Dann kam die Front, die gnadenlose Wirklichkeit. Die ersten Toten und Halbtoten, nach ihrer Mutter schreiende Verletzte überall. An seinen Nerven nagende Angst wurde durch den Befehlsterror der Militärmaschine überdeckt, der tausende sinnlose Opfer forderte. Der lachende Wahnsinn tobte durch die Reihen seiner Kameraden, eigene Todesängste wurde überspielt, ja, solange es notwendig war sogar verleugnet.
Helden haben keine Angst.
Helden sind stärker als die Angst.
Helden besiegen die Angst.
Helden leben ewig.
Echte Helden der Wehrmacht greifen sich das MG42,
schießen wild um sich und töten erbarmungslos Feinde.
Echte Helden melden sich für jedes noch so aussichtslose
Himmelfahrtskommando.
Helden zittern nicht.
Helden schnappen sich die Panzerfaust und stellen sich
den russischen Stahlungeheuern entgegen, warten auf
ihre Chance, dem Drachen das Schwert ins Herz zu
rammen.
Manche Helden überleben den krachenden Einschlag der Granate, andere werden ein letztes Mal hochgerissen, sind bereits tot, bevor ihr lebloser Körper auf den Boden aufschlägt.
Wer kämpft, hat eine Chance zu siegen, wer nicht kämpft, hat schon verloren.
Lutze kämpfte, überlebte die Explosion, versank für kurze Zeit in eine abgrundtiefe Dunkelheit. Seine zerrissenen Trommelfelle sorgten für eine absolute Stille, eine brüllende Lautlosigkeit. Unter einem spürbaren Hörverlust litt er noch immer. Jetzt war es vorbei es mit dem Heldentum. Übrig blieben nur seine schlechten Träume in der Nacht, das schweißgebadete Aufwachen danach.
»Hauptsache du hast überlebt«, versuchte Kalle ihn wieder aufzurichten.
Die SMA bestimmt, was stimmt
In der sowjetisch besetzten Zone (SBZ), der Ostzone, wie die meisten sagten, zeigte es sich ziemlich schnell, wohin es nach dem Willen der Russen gehen sollte. Die Sowjetische Militäradministration (SMA) gab ohne Möglichkeit der Widerrede die Marschrichtung vor. Sie vollzogen die Methoden der Oktoberrevolution des Jahres 1917 in ihrem Machtbereich vom ersten Tag ihrer Besatzung an. Alles sollte nach dem Muster der siegreichen Sowjetunion umgekrempelt werden.
Das Opfer, das die Bevölkerung in der SBZ erbringen musste, bestand aus hohen Reparationsleistungen an die Sowjetunion. Eine Demontage von 80 % aller Industriebetriebe, die in die Sowjetunion überführt wurden, erschwerten den Neustart in der Ostzone erheblich.
Das alte Deutschland existierte in den Augen der SMA nicht mehr. Ein neuer deutscher Staat nach sowjetischem Muster sollte entstehen. Das Feld dafür wurde bestellt, mit einem riesigen stählernen Pflug der historisch gewachsene, verseuchte Boden komplett umgepflügt, unerwünschte Wurzeln vernichtet und ausschließlich eigener Ideologie-Samen ausgesät.
Die zivilen deutschstämmigen Bewohner des Großen Kurfürsten merkten sehr früh, wohin der Wind weht. Der Namenszug des Hotels wurde gewaltsam, krachend entfernt und unter Jubelgeschrei der anwesenden Besatzer gegen den neuen Namen »Hotel Moskwa« ausgetauscht.
Das war, wie zu erwarten, erst der Anfang. Das Besitzbürgertum passte in der Vorstellung der roten Machthaber nicht zum Sozialismus. Erst wurden mittels Bodenreform private Großbauern enteignet, dann ging es der zutiefst verhassten Bourgeoisie an den Kragen.
»Es ist eine Frage der Zeit, bis wir unser Hotel komplett los sind«, spekulierte Paul eines Abends traurig, als die beiden Familien im Frühsommer zusammensaßen und die langsam untergehende Sonne auf dem Heiligen See beobachteten.
»Unser Land wird zu einer Musterkolonie nach sowjetischen Vorbild. Da gibt es keinen privaten Besitz. Den Bauern geht es jetzt schon im wahrsten Sinne an ihr Eingemachtes, den Fabrikbesitzern, selbst den kleinsten, wird nach und nach ebenfalls die Luft abgedreht. Ich denke, Hotels und Gastbetriebe sind als Nächstes dran. Mit der Namensänderung fängt es an und mit der systemtreuen Geschäftsführung hört es auf!«
Inge wollte gerade etwas dazu sagen, als Paul jetzt leiser weiter sprach:
»Major Dmitri Savchenko signalisierte mir, dass er als Mitglied der SMA, der Sowjetischen Militäradministration, seine Hand einige Zeit schützend über uns, seine ‚Gastgeber‘, wie er uns bezeichnet, halten könnte. Er versicherte mir sogar, dass sich unsere beiden Familien keine Sorgen machen müssten. Die Frage ist lediglich, was dieses Bekenntnis zur deutsch-russischen Freundschaft noch wert ist, wie lange es Bestand hat?«
Jetzt ergriff Inge schnell das Wort, um ihrem bereits tief Luft holenden Vater vor einer Fortsetzung seiner Rede zuvorzukommen.
»Dimitri wird sein Versprechen garantiert einhalten. Da bin ich mir absolut sicher. Uns wird nichts passieren. Der Große Kurfürst heißt einfach nur anders. Mehr passiert nicht. Ich vertraue ihm«, zu ihrem Vater gewandt, sagte sie leise, »Dimitri hat sogar eine Idee, wie er uns helfen kann. Er will noch in dieser Woche mit dir reden.«
Maria, der es nicht egal war, dass Inge eine deutliche Spur zu viel Sympathie für den sowjetischen Major zeigte, jedenfalls mehr, als es sich für die Ehefrau eines deutschen Offiziers gehörte, teilte die Befürchtungen ihres Mannes.
»Savchenko meint es bestimmt gut mit uns, da haben wir Glück gehabt. Aber gegen die Anordnungen aus Moskau kann er nichts tun. Stalins Wunsch ist sein unweigerlicher Befehl. Das ist gottähnliches Gesetz. Unumstößlich. Auch ich sehe ziemlich schwarz, was unsere Zukunft betrifft.«
Jonathan Rosenthal zeigte sich wieder einmal als eine Spur besonnener. Er griff in seine Schatztruhe voller jüdischer Weisheiten und kommentierte das Gesagte mit einem salomonischen Lächeln.
»Kein Fuchs, der sich lässt fangen und stirbt in seinem Loch.
Er hat ein Zweites noch, ins Freie zu gelangen«, er sah Paul triumphierend an. »Wir benötigen auch ein zweites Loch, einen Plan für den Fall aller Fälle.«
Paul überlegte kurz, dann konterte er ebenso alltagsphilosophisch, aber um eine Spur ausdrucksstärker.
»Ja, mach nur einen Plan, sei ein großes Licht und mach dann noch ’nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.«
Das passte gerade hervorragend, war aber von Bertolt Brecht aus der Dreigroschenoper geklaut. Merkte ja hoffentlich niemand. Jetzt holte Jonathan nochmals weit zum poetischen Gegenschlag aus. Nimm dieses, du feinsinniger Schurke, dachte er in sich hinein grinsend.
»Der hilflose Vogel, der sich in die Brusttasche des Jägers flüchtet, wird geschont. Wir könnten uns noch eine Weile in Sicherheit wiegen, aber dann …?«
Paul konterte direkt.
»Einen habe ich noch, dann ist aber Schluss mit lustig. Mit dem Besuch eines Freundes ist es wie mit dem Regen. Man bittet darum, dass er kommt, wenn er ausbleibt und verwünscht ihn, wenn er zu lange bleibt. Ich denke, die Russen werden voraussichtlich sehr lange bleiben, sehr, sehr lange.«, so entspannt hatten seine drei Mädels ihr manchmal zu ernstes Familienoberhaupt schon lange nicht gesehen.
Der poetische Schlagabtausch schien ihm Spaß gemacht zu haben. Es stand unentschieden, das Duell endete pari und Paul setzte den Schlussakkord.
»Jetzt aber im Ernst. Wir sollten uns gemeinsam etwas überlegen, falls sich die Dinge in der Ostzone gravierend ändern. Jeder für sich macht sich seine Gedanken, bereitet einen Vorschlag vor und dann setzen wir uns wieder zusammen und beratschlagen uns.«
Damit war die Diskussion fürs Erste beendet und man ließ den Abend mit einer der letzten Flaschen brauchbaren Roten ausklingen. Prost, Gemeinde!
Zwei Tage später kam der Major mit nachdenklichem Blick auf Paul zu und bat um ein Gespräch. Es ging um ein russisches Offiziers-Casino, das kurzfristig in Dahlem, einer elitären Villengegend von Berlin, errichtet werden sollte. Ein Haus mit angegliedertem Hotelbetrieb stand bereits dafür zur Verfügung. Die Sowjetische Militäradministration suchte dafür dringend einen erfahrenen Betreiber, der sich auf die Wünsche der sowjetischen Offiziere einstellen könnte. Dmitri Savchenko hatte, ohne ihn zu fragen, seinen Gastgeber Paul Hirschmann dafür vorgeschlagen.
Paul war mehr als überrascht, blickte sein Gegenüber erstaunt an, brauchte etwas, um das Gesagte zu begreifen. War das nun eine glückliche Fügung oder ein riskantes Geschäft? Vorsicht, Paul, sagte seine innere Stimme warnend.
»Ich freue mich über ihr Angebot, würde mir aber gerne das Haus, was ich übernehmen könnte, vor meiner Entscheidung einmal gründlich ansehen. Bis wann soll der Betreiber feststehen? Bekomme ich diese Zeit, mich dort umzusehen und erst dann zu entscheiden?«
Der Major lächelte über so viel deutsche Bedenkenträgerschaft.
»Spätestens morgen Nachmittag sehe ich den sowjetische Stadtkommandant von Berlin, Nikolai Bersarin, dann erwartet er eine Entscheidung von mir. Sie sollten noch heute nach Dahlem fahren, das Haus begutachten und mich schnellstens informieren. Sie müssten bereits in der kommenden Woche den Betrieb aufnehmen.«
Paul überlegte jetzt nicht mehr, sah nun die Möglichkeit, durch die Zusammenarbeit mit den Sowjets für sich und seine Familie Vorteile herauszuholen.
Maria und Paula nahm er auf seinen ersten Ausflug nach Berlin seit Monaten mit, Inge blieb im Hotel bei den Kindern und ihrem Dmitri. In Gedanken fuhr er wie alle Jahre davor zur Glienicker Brücke, der Stahlkoloss lag aber in mehrere Teile zersprengt in der Havel. Jetzt wusste er, warum Major Savchenko ihn mit einem Dokument ausgestattet hatte und dabei erwähnte, dass er ersatzweise eine durch russische Pioniere errichtete Pontonbrücke benutzen dürfte. Diese befand sich an der Babelsberger Enge, unterhalb des Schlosses. Ein sowjetischer Posten stoppte den in die Jahre gekommenen Opel Olympia mit vorgehaltener Kalaschnikow. Paul wunderte sich wie schon so oft über die Wirkung eines Stückchen Papiers. Der Soldat blickte nur kurz drauf, halfterte seine Maschinenpistole, salutierte militärisch und winkte den Wagen durch. Ein Zettel mit enormer Zauberwirkung.
Der Rest der Fahrt war sehr entspannt. Bewaldete Gebiete wechselten sich ab mit unzerstörten herrschaftlichen Villen-Gegenden, vornehm angelegten Gärten und Parks. Alles sah so aus, als ob hier kein Krieg stattgefunden hätte. Ein ruhiges Bild des Friedens bot sich ihnen. Paul fand ihr Ziel, das Harnack-Haus, nicht auf Anhieb, sondern durchfuhr die Umgebung seines möglicherweise zukünftigen Betriebes. Seine beiden Mädels kannten dieses Verhalten von ihm, er beugte auf diese Weise für die Rückfahrt vor, um sich dafür besser zu orientieren. So kamen sie zu ihrem Erstaunen an einem reetgedeckten Fachwerkhaus vorbei, das wie ein kleines norddeutsches Gutshaus aussah. Das merkwürdige Berliner Reetdachhaus entpuppte sich als Empfangsgebäude einer U-Bahn-Station, einer Linie, die hier bereits seit Anfang des Jahrhunderts fuhr. Der letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II. (der mit dem Bart), wollte, dass sich das Gebäude an die damalige ländliche Gegend anpasst.
Nach einer halben Stunde des ziellosen Kreisens fuhren sie endlich auf die Einfahrt des imposanten Gebäudes, das bis vor wenigen Tagen die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft beherbergte, wie es noch im Eingangsbereich zu lesen war.
Ein russischer Unteroffizier erwartete sie bereits, kam zügig auf sie zu gelaufen und hieß sie im Namen des Generalobersts Nikolai Bersarin willkommen. Neben ihm stand eine groß gewachsene deutsche Frau, die übersetzen sollte.
Die Führung durch das verschachtelte Haus dauerte fast eine Stunde. Der Russe erwähnte dabei die wenig bescheidenden Anforderungen der Sowjet-Offiziere und erklärte, welche Art von Veranstaltungen im zukünftigen Offiziers-Casino und im Gästehaus geplant waren.
Paul verstand, dass die Besitzer des Gebäudes hohe Ansprüche hatten und es eine Herausforderung für ihn und seine Familie werden würde den Betrieb zu übernehmen. Zusätzliches Personal wurde ihm zugesagt und die Versorgung mit den gewünschten Lebensmitteln und Getränken garantiert.
Im Grunde war die Sache entschieden und Paul konnte nur noch Ja sagen oder Ja sagen. Er sagte ja!
Da, wie es auf Russisch heißt.
»Na Mädels, da hat der olle Hirschmann wieder einmal alles richtig gemacht, oder?«
Roter Adler auf rotem Grund
Der Weg vom Bahnhof zur SA-Straße war für Mutter und Tochter ein einziger Spießrutenlauf. Überall standen oder saßen sowjetische Soldaten, die ihnen im freundlichen Ton etwas für sie Unverständliches in russischer Sprache zuriefen oder ihnen sogar hinterherpfiffen. Dabei lachten sie in einer Art, die die beiden Frauen als unangenehm und schmutzig empfanden.
In der ganzen Stadt wehten neuerdings die roten Fahnen der Roten Armee. Die Brandenburger spotteten darüber, sagten, dass man jetzt neue Landesflaggen hätte. Der rote Adler auf rotem Grund war nicht für jeden erkennbar. Der Brandenburger Humor war trotz der desolaten Situation nicht tot zu bekommen.
Aufhören zu Lachen müssen wir noch früh genug, war ihr Lebensmotto.
Als sich die Wohnungstür hinter ihnen schloss, atmeten Lenchen und Lotte beruhigt durch, fühlten sich etwas sicherer, im Schutze der eigenen Behausung geborgen. Ihr Wohnhaus war noch das Alte geblieben. Keine verirrte Bombe hatte ihr zerstörerisches Werk an der SA-Siedlung verrichtet. Sie wollten erst einmal gründlich lüften, dann den Badeofen anheizen und den ganzen Schmutz der letzten Wochen im heißen Wasser ertränken.
Am Abend saßen Mutter und Tochter vor dem Radio und versuchten ihre neue Lage zu begreifen. Die Kämpfe waren vorbei. Sie mussten keine Angst mehr vor den feindlichen Bombern haben. Den Führer und seine Schergen gab es nicht mehr, hatten sich größtenteils im wahrsten Sinn des Wortes in Rauch aufgelöst. Ihre Wohnung befand sich in der sowjetisch besetzten Zone, SBZ, von vielen Ostzone genannt, lernten sie. Wie sollte es weitergehen? Ohne Willi und Kalle war die Familie nicht komplett, war ein Wagen, dem zwei Räder fehlten.
Erst am nächsten Morgen versuchten sie sich bei ihren Nachbarn, soweit diese noch vorhanden waren, ein Bild zu verschaffen, wie man sich in Neu-Russland verhalten sollte. Ihre Neuorientierung dauerte mehrere Wochen oder waren es sogar Monate?
Lotte fand ihr Fahrrad unbeschadet im Keller und fuhr ihre gewohnte Strecke zu ihrer ehemaligen Arbeitsstätte bei Opel. Sie sah die Ruinen so vor sich, wie sie sie in Erinnerung hatte. Auf dem Gelände herrschte allerdings reges Treiben. Russische Arbeiter waren dabei, die Produktionsstraßen zu demontieren.
Erst Jahre später erfuhr Lotte, dass die als Reparationsleistungen in die Sowjetunion überführten Produktionseinrichtungen dazu genutzt wurden, den Opel Kadett russisch nachzubauen. Stalin drängte auf die Produktion genau dieses Autos, da er ein großer Fan des Opelmodells war. Er hatte den Kadett 1940 auf einer Ausstellung im Kreml gesehen und wollte ihn schon damals nachbauen lassen. Das Projekt musste jedoch wegen des Zweiten Weltkrieges verschoben werden und wurde jetzt nachgeholt. Bereits 1947 begann die Moskauer Kompaktwagen Fabrik den Moskwitsch-400 in Serie zu produzieren. Der russische Kadett wurde zum Leben erweckt.
Auf dem ehemaligen Werksgelände wurden die Arbeiten für eine Zigarettenpause unterbrochen. Einige der russischen Arbeiter nutzten das und schienen sich für die junge Frau zu interessieren, gingen auf sie zu. Als Lotte das bemerkte, stieg sie lieber schnell auf ihr Rad und strampelte zügig nach Hause.
Dort wartete bereits ihre Mutter auf sie, machte sich wie immer Gedanken. Das Mittagessen war bereits fertig. Aus den im Keller deponierten, eingeweckten Vorräten hatte sie einen Eintopf gezaubert. Warm und reichlich, wie immer. Grüne Bohnen mochte Lotte noch nie, aber der Hunger ließ ihr keine andere Wahl.
Es waren keine wählerischen Zeiten. Hauptsache, einigermaßen satt sein war angesagt.
»Guten Appetit, lass es dir schmecken, Lottekind.«
Willkommen in Fort Indiantown
In einem Raum ohne Fenster, ohne natürlichen Licht, ohne Orientierung an Tag und Nacht, vergeht die Zeit noch langsamer als anderswo. Die jungen Kriegsgefangenen sahen nach vier Wochen noch blasser und grauer aus als beim Beginn ihrer ungewollten Reise. Die nächtlichen Angstattacken unter Deck nahmen zu. Ständige Angst vor der Angst verstärkte diese Angststörungen sogar um ein Vielfaches.
Kalle konnte es kaum glauben, dass ihr Transporter endlich am Tag neunundzwanzig nach Beginn ihrer Dunkelhaft an einem unbekannten Ort anlegte. Die neunundzwanzig Kerben in seinem kleinen Hocker bestätigten ihm die Dauer der unfreiwilligen Reise.
Das Anlegemanöver zog sich hin und der spannende Moment ihres Auftauchens aus der stinkenden Hölle des Schiffsbauches verzögerte sich. Nach zwei langen Stunden durfte die erste Gruppe von etwa fünfzig Männern die Treppe langsam nach oben steigen. Kalle, Lutze und Quacki waren dabei.
Damit, dass Sonnenstrahlen solche Schmerzen auslösen konnten, hatte keiner der Drei gerechnet. Sie schlossen ihre Augen und warteten, bis sich diese an die stechende Helligkeit gewöhnt hatten.
Was sie sahen, war wahnsinnig beeindruckend. Ein Hafen vor einer imposanten Kulisse. Keiner von ihnen hatte jemals solch hohe Häuser gesehen. In Berlin nicht und anderswo erst recht nicht.
»Kein Wunder, dass die Amerikaner den Krieg gewonnen haben. Wer solch hohe Häuser baut, ist technisch auf dem höchsten Niveau angekommen«, Quacki ließ auch hier den Professor raushängen, obwohl auch er sein Studium der Geschichte und Geografie nicht mal zur Hälfte abgeschlossen hatte.
Jetzt wurde ihnen die erste Etappe ihres Reiseziels klar. Sie waren in einer der größten Städte Amerikas angekommen, in Philadelphia. Es ging wieder die steile Gangway runter zu den bereitstehenden Militärbussen.
»Toll, wir machen eine Stadtrundfahrt«, witzelte Kalle und Lutze haute in dieselbe Kerbe.
»Hoffentlich bekommen wir hier, außer den Wolkenkratzern, überhaupt etwas zu sehen.«
Es gab viel zu sehen. Davon konnten sich die staunenden Deutschen bei ihrer Fahrt durch die Millionenstadt überzeugen. Vorbei am imposanten Rathaus, der Philadelphia City Hall, mit seinem über 160 Meter hohem Turm fuhren sie auf einen großen ovalen Platz zu, dessen Mitte ein auffallendes detailreiches Denkmal einer Reiterstatue zierte. Jetzt wurde der Professor hellwach und erzählte, unaufgefordert wie immer, dass es sich um das George-Washington-Monument handelt, das von einem Deutschen Ende des neunzehnten Jahrhunderts konzipiert wurde. Der alte Angeber kannte sogar den Namen des Bildhauers.
Rudolf Siemering hieß der Künstler und stammte aus Königsberg, hatte aber lange in Berlin gewirkt. Kalle und Lutze beschlossen, diese Klugscheißer-Information zu ignorieren.
Viel Zeit, sich das beeindruckende und reich verzierte Standbild anzusehen, hatten sie sowieso nicht, da tauchte bereits ein an griechische Tempelbauten erinnerndes Kolossal-Gebäude auf. Schlaumeier Quacki kommentierte wie selbstverständlich und ungefragt, wie immer, auch diese Sehenswürdigkeit.
»Das ist das weltberühmte Philadelphia Museum of Art. Beachtenswert ist die große Freitreppe.«
Auch darauf reagierten Kalle und Lutze mit Ignoranz. Soll der Quatschkopf Quacki doch Reiseführer werden, dachte Kalle, er erzählt jetzt schon viele Dinge, die niemanden interessieren.
Keiner von ihnen konnte damals ahnen, dass diese 72 Stufen der Freitreppe lediglich dreißig Jahre später zur Filmkulisse einer Schlüsselszene wurden und als touristischen Attraktionen heutzutage »Rocky Steps« genannt werden.
Zwei Stunden später erreichten sie ihr eigentliches Ziel, Indiantown, frei ins Deutsche übersetzt Stadt der Indianer, oder indianische Stadt. An einem Wärterhaus mit Schlagbaum lasen sie
Wellcome in Fort Indiantown Gap (FTIG), Warrior Training Grounds.
Der Schlaumeier konnte sich nicht beherrschen und übersetzte:
»Das ist ein Ausbildungslager der US-Army. Wie die uns wohl ausbilden wollen?«
Diese Frage sollte sich zu einem späteren Zeitpunkt klären. Erst einmal fuhren sie durch das 120 Hektar große Militärgelände. Es war keine Ansammlung einiger verstreuter Kasernen, wie man sie von deutschen Militärstützpunkten kennt, sondern eine richtige Militär-Stadt. Es gab sage und schreibe mehr als 1.400 Gebäude, darunter drei Feuerwachen, zwei Gästehäuser, einen Busbahnhof, neun Kapellen, zwei Serviceclubs, vier riesige Theater, eine große Sportarena und ein 400-Betten-Krankenhaus. Diese Dimension war für die jungen POWs unbegreiflich.
Fast 800 noch neue Kasernengebäude diente der Unterbringung der Rekruten. Ein Teil von ihnen war als »Prisoner of War Camp« abgetrennt und separat eingezäunt.
Unser Wohnsitz und die Postadresse für die nächsten Wochen oder Monate, überlegte sich Kalle, dann kann mir meine Paula endlich wieder schreiben.
Dann wiederholten sich die administrativen Abläufe:
• Stube zugewiesen bekommen
• Kleidung in Empfang genommen
• gemeinsames Abendessen in Offiziers-Casino eingenommen
Für diesen ersten Tag war Zapfenstreich.
Die drei unfreiwilligen Weltmeerüberquerer teilten sich mit fünf weiteren Kameraden eine Bude. Kalle, Lutze und Quacki durften also zusammenbleiben. Immerhin. Gute Freunde, denen man vertrauen konnte, waren damals noch wertvoller als heute.
Am nächsten Vormittag durften sie ins Theater. Es gab nicht, wie es auf einigen Plakaten zu lesen stand,
»A Midsummer Night’s Dream«, sondern klare Worte von Major Herbert T. Clark, der sich ihnen vorstellte und betonte, dass er vor dem Krieg als Psychologe gearbeitet hat.
»Aha, ein Psycho-Fritze«, bemerkte Lutze leise.
Auch Kalle gab seinen Senf dazu und grinste dabei völlig entspannt.
»Wahrscheinlich ein Menschenversteher. Das ist doch gut, oder?«
Quacki wollte auch gerade loslegen, doch Lutze hielt ihm seine Hand vor dem Mund.
»Bitte jetzt keine Quacki-Salberei!«
Dank seiner deutschen Mutter und deren zweisprachiger Erziehung war der Vortrag des Major in einer für die POWs verständlichen Form.
»Gefangene der US-Army, sie haben aufgrund der Genfer Konventionen als Abkommen über die Behandlung der Kriegs-gefangenen, sowohl Rechte als auch Pflichten, die ich ihnen jetzt erläutern werde. Wir wünschen uns, dass möglichst viele von Ihnen diese Internierung als Chance zur demokratischen Neuorientierung begreifen. Sie sollen als POW erste demokratischen Lektionen lernen. Diejenigen von ihnen, die bereit sind, zu kooperieren, werden auf die Zeit nach dem Krieg vorbereitet werden, um Deutschland als gute Demokraten wieder aufzubauen. Dafür wurden sie hier ausgebildet«, der Major blätterte sein Redeskript um und fuhr mit erhobener Stimme fort.
»Wir haben für bereitwillige deutsche Gefangene ein Programm der ‚Reeducation‘, zu Deutsch Umerziehung, entwickelt, das aus ehemaligen Untertanen selbstbewusste Demokraten machen soll.«
Clark ließ seine Worte auf die interessiert zuhörenden jungen Männer einen Moment wirken.
»Ihre Neuorientierung funktioniert allerdings nicht ganz ohne Gegenleistung, dazu komme ich gleich. Ihre Reeducation beinhaltet einen Sprachkurs, einen Kurs in amerikanischer Geschichte und nicht zuletzt Lektionen in amerikanischer politischer Bildung und dem Aufbau der amerikanischen Demokratie.«
Die Augen des Obersts leuchteten bei dieser Aufzählung, als ob er besonders stolz darauf war.
»Nun zur notwendigen Gegenleistung. Wie sie wahrscheinlich wissen, sind oder waren 18 Millionen US-Bürger beim Militär in Europa und Asien, konnten ihre Arbeit hier nicht leisten. Viele von ihnen werden leider ihre Heimat nie mehr wieder sehen, kommen nicht mehr lebend nach Hause. Sie werden daher sicher verstehen, dass wir die Arbeitskraft der deutschen Soldaten benötigen, um unsere Ökonomie aufrechtzuerhalten. Die Kosten für Aufbau und Instandsetzung der Internierungslager wird dadurch erwirtschaftet, dass sie dafür arbeiten, hauptsächlich in der kommerziellen Landwirtschaft oder in der Holzwirtschaft. Sie erhalten als Anerkennung dafür 80 Cent am Tag, die sie bei entsprechender Anstrengung bis auf 1,20 Dollar steigern können. Dafür können sie sich insbesondere Zigaretten oder andere für sie wichtige Dinge kaufen. Ich hoffe, dass sie unser Konzept akzeptieren, als fair betrachten und dass wir sie als komplett neue Menschen in ihre Heimat entlassen können.«
Damit wurden die PoW’s in die Mittagspause entlassen.
Kalle und seine beiden Kameraden genossen die reichliche Verpflegung und waren nach den Entbehrungen an der Front und den provisorischen Lagern dankbar über die fast schon komfortable Unterbringung und die modernen sanitären Anlagen in Indiantown. Am nächsten Morgen erfuhren sie, wo genau ihr Arbeitseinsatz stattfinden wird. Alle Drei sollten nach Abschluss ihrer Umerziehung in einem Holzfällerlager zwei oder drei Auto-stunden vom Camp entfernt arbeiten. Der Ort trug den für ihre Ohren außergewöhnlichen Namen »Sideling Hill«. Quacki konnte mal wieder nicht anders und ließ seinen alpenländischen Wurzeln unter dem Protest seiner Kollegen freien Lauf.
»Mir san die lustigen Holzhackerbuam, hollereieiho, hollereieiho. Wir fällen das Holz und jodeln dazu, hollereiei ritirieiho. Und kommt ein lustiges Maderl daher, hollereieiho, hollereieiho. Dann kriagt sie a Busserl, was will sie noch mehr, hollereiei ritirieiho.«
Die Begeisterung von Kalle und Lutze hielt sich in sehr engen Grenzen. In äußerst engen Grenzen.
»Wennste jetzt noch einen Schuhplattler zum Besten jibst, wäre Todschlag reine Notwehr. Selbst ein Staatsanwalt würde auf Freispruch plädieren. Überlegs dir jut!«
Lutze wollte schon ausholen, konnte sich aber gerade noch beherrschen und stoppte seine Faust Millimeter vor Quackis Nasenbein. »Noch son Ding, Augenring!«
Glück im Unglück
Im Laufe des Jahres empfanden es alle Bewohner des ehemaligen Hotels Großer Kurfürst, egal ob Deutscher oder Russe, als alltägliche Normalität sich das Haus zu teilen. Maria und Rachel kochten jeden Tag für die Rotarmisten, partizipierten in einer Zeit der Lebensmittelknappheit davon, für ihre Familien etwas abzuzweigen. Etwas Brot oder ein Stück Braten fiel immer vom Tisch auf den Küchenboden.
Inges besonderes Verhältnis zum Major Savchenko war mittlerweile kaum noch zu verbergen. Sie kümmerte sich tagsüber um ihren kleinen Peter und die kleine Lisa, nachts passte Paula auf die beiden Kleinen auf und Inge verwöhnte ihren Dmitri. Direkte Manndeckung sozusagen.
Ihren angetrauten Ehemann Otto hatte sie dabei nicht vergessen, auch wenn ihr schlechtes Gewissen versuchte, die Tatsache, dass sie verheiratet war, zu überspielen.
Alle paar Wochen las sie sich den Brief der Kommandantur der Division Brandenburg durch, den sie vor zwei Jahren erhalten hatte.
»Der SS-Obersturmbannführer Otto Freiherr von Berg wird in Ausübung seiner verantwortungsvollen Aufgabe als vermisst gemeldet. Es ist davon auszugehen, dass er in britische Gefangenschaft geraten ist.«
Ihr fiel dabei das letzte persönliche Lebenszeichen von ihm ein. »Bin in einem besonderen Einsatz, unabkömmlich für unbestimmte Zeit.«
Die Frage, wann eine unbestimmte Zeit im Krieg zu Ende ist, konnte ihr niemand beantworten. Wie lange musste man als mögliche Kriegswitwe damit warten, wieder zu leben? Die unerwartete Gelegenheit gab Inge die Antwort auf diese Frage. Diese Antwort hieß Dmitri und war Major der Roten Armee. Inge erinnerte sich an einen Spruch aus ihrem Poesie-Album:
»Erinnere dich an gestern, denk an morgen, aber lebe heute.«
Ja, lebe heute. Wann sonst? Inge grübelte etwas schwermütig weiter und kam zum Schluss, dass es eine Illusion ist zu meinen, vor seinem Schicksal fliehen zu können. Die Weisheit einer immer noch jungen Frau. War es also Schicksal oder eher unausweichliches Verhängnis? Egal. Die Folgen ihrer Liebesbeziehung waren ebenfalls nur noch schwer zu verbergen.
Am Ostersonntag des Folgejahres brachte sie ihr zweites Kind zur Welt. Einen gesunden Jungen, der nach seinem Großvater Paul getauft wurde. Der Erzeuger des Kindes hätte seinen Sohn wahrscheinlich lieber Pavel genannt, doch Savchenko war bereits von den Tiefen der Sowjetunion verschluckt worden und konnte sein Kind nicht mal mehr kennenlernen.
Paul und Maria nahmen die Nachricht, dass sie ein weiteres Mal Großeltern werden, gelassen hin. Ihre Tochter war gerade fünfundzwanzig und stand mitten im Leben. Sollte man es ihr verdenken, dass sie die normalsten Annehmlichkeiten ihrer Jugend genießen wollte?
In Paula wuchs durch die erneute Schwangerschaft ihrer Schwester der Wunsch nach einer eigenen Familie, nach gemeinsamen Kindern mit Kalle. Sie hoffte, bald von ihm zu hören und zu erfahren, wann er entlassen würde. Wo bist du, Kalle, wann kommst du? Ging ihr ständig im Kopf herum.
Sie träumte gerade mal wieder von Hochzeit, Kinder bekommen und dem Leben zu zweit mit ihrem Kalle, da ging ihre Zimmertür leise auf und Sascha, ein gutaussehender junger Soldat betrat, ohne anzuklopfen, siegessicher strahlend ihr Zimmer. In der Hand eine gelbe Blume, die bereits ihren Kopf hängen ließ. Paula kannte ihn und hatte wohl bemerkt, dass er kaum den Blick von ihr lassen konnte. Aber ihrer großen Schwester nacheifern wollte sie auf keinen Fall. Sie war schließlich Kalle versprochen.
Das störte Sascha in seinem Liebeswahn kein bisschen. Er setzte sich zu Paula ans Bett, schaute sie mit seinen verliebt verblödeten Augen an und sagte etwas Unverständliches auf Russisch, das sich für Paulas Ohren durchaus zärtlich anhörte. Eine mittelschwere Wodkafahne wehte ihr entgegen, ließ sie die Luft anhalten. Sascha hatte sich offensichtlich reichlich Mut angetrunken. Paula schüttelte energisch ihren Kopf und versuchte ihm klarzumachen, dass seine Bemühungen erfolglos bleiben.
»Njet«, »Ich möchte das nicht!«, »Stopp!«
Sascha gab nicht so leicht auf, war nicht zu bremsen. Im Gegenteil. Jetzt kam er erst richtig in Fahrt! Als er eine Grenze überschreiten wollte, zu aufdringlich wurde, fing Paula an, laut um Hilfe zu rufen. Auch das störte Sascha in seinem Liebesrausch nicht, er machte sich weiter an Paulas Bluse zu schaffen. Paula bekam Panik, versuchte sich zu wehren, schrie so laut sie konnte. Sie rief so lange um Hilfe, bis die Tür ihres Zimmers aufgestoßen wurde und Major Savchenko laut brüllend in den Raum stürmte. Er riss Sascha mit einem einzigen kräftigen Ruck von Paula weg, schlug ihn mit der Faust heftig ins Gesicht, schüttelte den verdutzten Jungen und stieß ihn mit aller Kraft gegen die Wand.
Nach ein paar wütenden Sätzen, nach Blicken, die es in sich hatten und nach Furcht einflößenden Gebärden, führte der Major seinen Untergebenen, der erst allmählich seine Situation begriff, mit vorgehaltener Pistole ab.
Wohin Sascha gebracht wurde, erfuhr Paula nicht. Sie sah ihn nie wieder und ahnte schlimmes. Mehr oder weniger tat Sascha ihr schon leid.
»Der Junge hatte sicher bisher nicht viel von seinem Leben gehabt und wenn er Pech hat, wird er nicht mehr viel dazubekommen.«
Alliierte Weichenstellung
Leid tat es auch den drei Vertretern der Siegermächte, die als Berlin Conference of the Three Heads of Government of the U.S.S.R., U.S.A., and U.K. die Dreimächtekonferenz werden wollte.
Berlin war als Ergebnis ihrer gemeinsamen Bemühungen, dem Hitler-Staat ein Ende zu setzen, einfach zu zerbombt und zu zerschossen, sodass es keine passende Tagungsstätte mehr gab. Berlin konnte die Berlin Conference nicht aufnehmen. Der Name blieb trotzdem und ging so in die Geschichte ein.
Ausgerechnet ein Gebäude im Stil eines englischen Landsitzes, das Schloss Cecilienhof bei Potsdam, wurde als geeigneter Tagungsort ausgewählt.
Die sogenannte Potsdamer Konferenz fand so keine 1.000 Meter Luftlinienentfernung von dem ehemaligen Hotel der Hirschmanns, dem Großen Kurfürsten, am gegenüberliegenden Ufer des Heiligen Sees statt. Die Hirschmanns und die Rosenthals bekamen davon nicht viel mit, ahnten nicht, dass in ihrer Nähe Geschichte geschrieben wurde, die die Welt verändernde.
Alles vollzog sich im Stillen und war nach außen nicht bemerkbar. So konnten die wenigsten Potsdamer registrieren, dass rechtzeitig vor Beginn der zweiwöchigen Konferenz, die die Neuordnung Deutschlands und Festlegung der Grenzen Osteuropas zum Ziel hatte, die drei Köpfe der Siegermächte ihre Unterkunft, also hochherrschaftliche Villen in Babelsberg, bezogen.
Die USA wurden vertreten durch Präsident Harry S. Truman, die Sowjetunion durch den Generalissimus Josef Stalin persönlich und Großbritannien zunächst durch Premierminister Winston Churchill, später durch Churchills Nachfolger Clement Attlee.
Hauptthemen waren die vier »D«:
Denazifizierung + Demilitarisierung,
Demokratisierung + Dezentralisierung.
Das gesamte gesellschaftliche Leben in Deutschland sollte umgestaltet werden.
Deutschland wurde dazu in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Die Grenzen im Osten wurden zugunsten der Sowjetunion neu geschnitten, die polnische Grenze an die Oder verlegt und die ehemaligen Bewohner der deutschen Ostgebiete von heute auf morgen vertrieben. Die drei Westzonen wurden gegen die sowjetischen Reparationsansprüche abgesichert, was zulasten der Ostzone ging, die daraufhin geradezu ausgeplündert wurde.
Zum Ende der Potsdamer Konferenz wurde auch der Zweite Weltkrieg in Asien entschieden. Präsident Truman drückte von seiner Villa aus den symbolischen roten Knopf zum Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. In der Folge starben fast 250.000 Menschen, überwiegend Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder.
Von all dem erfuhren die Hirschmanns und die Rosenthals erst Tage später von dem Radiosender »Radio Berlin«, dem späteren Berliner Rundfunk. Die beiden Ehepaare und deren erwachsenen Kinder halfen mit, das Offiziers-Casino im Harnack-Haus zusammen mit dafür abgeordneten russischen Soldaten zu betreiben. Welche Konsequenzen das für ihr zukünftiges Leben haben würde, ahnten sie nicht.
Paul hatte wie immer einen passenden Spruch parat.
»Alles ist relativ, wusste schon Einstein, als er noch in seiner Hütte in Caputh lebte. Er hat auch erkannt, dass es die reinste Form des Wahnsinns ist, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert. Wir packen es gemeinsam an!«
Letter from Indiantown
Endlich war es da, das langersehnte Lebenszeichen von Kalle. Paula musste sich beherrschen, um den kleinen Umschlag nicht sofort aufzureißen, sondern erst ihren Brieföffner zu suchen, der sich unter einem Stapel von Liebesromanen beleidigt, aufgrund von monatelanger Vernachlässigung, zurückgezogen hatte.
Ihr zitterten vor Aufregung und Vorfreude die Hände. Sie musste sich konzentrieren, um den Umschlag unbeschädigt zu öffnen und endlich den Inhalt genießen zu können.
Mit einem lauten Seufzer begann sie laut zu lesen. Nach einigen wenigen Sätzen voller Liebes und Sehnsuchtsbeteuerungen folgte auch diesmal ein Gedicht.
Zwischen den Zeilen erkannte Paula die tiefe Traurigkeit in den Worten ihres geliebten großen Blonden.
»Nur einmal möchte ich dir sagen,
wie unendlich lieb du mir bist.
Wie dich, solange mein Herz wird schlagen,
auch meine Seele nie vergisst.
Kein Wörtchen solltest du erwidern,
nur freundlich mir in die Augen sehn.
Mit gesenkten Augenlidern,
nur still und schweigend vor mir stehn.
Ich aber lege meine Hände,
dir betend auf dein schönes Haupt.
Damit dir Gott den Frieden sende,
den meiner Seele du geraubt.«
So, so, ich bin also dein Seelen-Räuber, dachte sich Paula nach nochmaligen Durchlesen des kleinen Gedichtes.
Von wegen Hände auf mein Haupt legen. Kalle will bloß durch meine Haare wuscheln. Nachtigall ick hör dir trapsen. Bei diesen Gedanken stutzte sie, grinste kurz, sagte innerlich zu sich selbst, die Aussage ihres flüchtigen Gedankens konkretisierend, sich bei sich selbst entschuldigend und dabei rot anlaufend.
»Die auf meinem Kopf meine ich selbstverständlich.«
Sie musste über ihren gedanklichen Ansatz von Zweideutigkeit lächeln. Welche Haare denn sonst? Nein, nein, so weit kommt es nicht. Noch nicht! Früher oder später vielleicht.
Wenn sie ehrlich war, freute sie sich darauf, Kalle noch intensiver als bisher kennenzulernen und fragte sich, ob sie seinem Drängen damals an der Havel hätte lieber nachgeben sollen. Nun muss ich eben warten. Und er gefälligst auch.
Aber, er könnte sich ruhig etwas beeilen mit dem Nachhause-kommen.
In ihrem nächsten Brief wollte sie ihm das deutlich machen.
»Komm du mir nach Hause, du Lorbass.«
Brandenburger Allerlei
Die Russen kamen schnell voran mit der Jagd auf ehemalige Nazis. Die für deren Ermittlung notwendigen Unterlagen gab es genug. Einer der Ersten, der dies zu spüren bekam, war Theodor Tischler. Der einst mächtige Ortsgruppenführer von Brandenburg hatte zwar alle ihn kompromittierenden Dokumente vernichtet, seine Uniformen verbrannt und alles Wertvolle in einem geheimen Versteck untergebracht, aber sicher vor Repressalien war er nicht. Aus seiner Perspektive heraus gab es keine Spur, die in seine Richtung führen konnte. Nicht gerechnet hat er mit seinen reichlich aufgebauten Feinden, die ihn jetzt mit ausgesprochener Schadenfreude denunzierten. TT landete, ehe er sich versah, im ehemaligen Zuchthaus Görden, was jetzt sowjetisch verwaltet wurde und reiste von da aus per Zug direkt in die äußerste Ecke der Sowjetunion.
Auf Nimmerwiedersehen. Das Schicksal des von vielen Menschen gefürchtete Nationalsozialisten sprach sich im nu herum. Brandenburg war in dieser Beziehung immer schon ein Dorf. Gute Nachrichten verbreiteten sich wie der Wind, schlechte noch viel schneller. Lenchen hörte es von ihrer Nachbarin und ahnte sofort schlimmes.
»Es würde mich nicht wundern, wenn die Russen versuchen, auch unseren Vater abzuholen«, sagte sie zu Lotte.
»Wenn sie kommen und nach ihm fragen, ist er natürlich in den Westen abgehauen. Wir müssen beide dasselbe sagen, sonst glauben sie uns nicht.«
»Stimmt doch sogar. Am besten, du schimpft dabei noch etwas. Das wird dadurch noch glaubwürdiger«, schlug Lotte vor. Die beiden Frauen waren also vorbereitet, als wirklich eine Woche später zwei russische Greifer an ihrer Tür klingelten.
»Wo ist Nazi-Mann? Nazi Wilhelm? Der Bergmann-Nazi?« brüllten sie und fingen sofort an, jeden Winkel der Wohnung zu durchsuchen. Jede Schranktür wurde geöffnet, der Inhalt zerwühlt, alles auf den Boden geschmissen.
»Wo ist Nazi-Mann?«, wiederholten die gefährlich aussehenden Sowjets asiatischer Herkunft ihre Frage. Dann war der Keller dran. Die beiden russischen Soldaten staunten nicht schlecht über die Mengen an Vorräten, die sich auf durchgebogenen Regalböden stapelten.
»Der Willi ist abgehauen in den Westen. Aber er war sowieso nur ein kleiner Aufseher im Strafvollzug, kein Nazi, kein Soldat, kein Verbrecher. Er hat sogar den Gefangenen der KPD geholfen, sie unterstützt, wo er nur konnte. Jetzt hat er uns allein gelassen. Ich weiß nicht, wo er ist. Dieser alte Säufer. Dieser verflixte.«
Ihre Schimpfkanonade schien die beiden Uniformierten zu beeindrucken und zu überzeugen. Kannten sie so etwas von ihrem Zuhause? Sie hatten jedenfalls Respekt vor der wütenden Hausfrau und Mutter. Lenchen ließ keinen Zweifel daran, dass sie die unabgestimmte Abreise ihres Mannes nicht begrüßt hatte. Sie schimpfte nochmals laut und noch glaubwürdiger. Lotte unterstütze sie, gab noch einen drauf.
»Mein Vater hat unser ganzes Geld mitgenommen und wir stehen jetzt so da. Ohne die Vorräte hätten wir nichts zu essen.« Jetzt reichte es den beiden Russen, sie wollten nur noch ihre Ruhe und beendeten die Untersuchung.
»Frau melden, wenn Mann wieder da«, war die Verabschiedung der sonst nicht unfreundlichen russischen Soldaten, die sich grinsend verabschiedeten. Wahrscheinlich hatten sie Verständnis für den getürmten Ehemann dieser Furie. »Do swidanija«, antwortet Lotte, die inzwischen einige wenige Worte Russisch gelernt hatte.
Willi wird aktiv
Der erste Monat in Neuengamme war fast vorüber, als der Quartermaster Sergeant Samuel Weizmann Willi zu sich beorderte. Solche überraschenden Gespräche machten Willi generell erst einmal nervös. Mit einem unguten Gefühl im Bauch meldete er sich bei Weizmann.
»Hallo Herr Bergmann, haben sie sich einigermaßen eingelebt in unserem Internierungslager? Wie geht’s ihrer Familie«, waren seine einleitenden Worte.
Noch ehe Willi antworten konnte, kam der Sergeant zur Sache.
»Sie werden sicherlich bemerkt haben, dass unsere Baracken an vielen Stellen reparaturbedürftig sind. Ich erinnere mich an unser Aufnahmegespräch. Sie gaben an, in einer Tischlerei gearbeitet zu haben. Könnten Sie sich vorstellen, mitzuhelfen, die Baracken wohnlicher zu gestalten?«
Willi überlegte sich, dass solche Art der Kooperation nicht zum Nachteil für ihn sein würde und sagte sofort zu.
»Wir geben ihnen als Entschädigung 2 Reichsmark pro Tag, also 60 Mark im Monat.«
»Das hört sich fair an. Wann kann ich anfangen? Wo finde ich Werkzeuge?« Jetzt erlaubte sich Willi auch zwei Fragen gleichzeitig zu stellen.
»Hervorragend. Morgen früh um acht Uhr geht’s los. Ich lasse sie abholen. Dann werden sie ausgestattet, können mit einer ersten Bestandsaufnahme der Schäden beginnen und anschließend mir eine Liste des benötigten Materials vorlegen. Wir stimmen die weitere Vorgehensweise zusammen ab. Ich freue mich, dass sie uns unterstützen. Wir sehen uns, wenn sie die Liste fertig haben.«
Willi war zufrieden. Endlich nicht mehr nur herumsitzen. Etwas Arbeit tat ihm gut. Und Geld für Tabak sowieso.
Geld für Lenchen und Lotte würde auch in die Kasse kommen. Die Miete könnte erst einmal weiterhin bezahlt werden. So ein Glück!
»Handwerk hat goldenen Boden, auch als POW.«
Reeducation
In den ersten vier Wochen ihrer Umerziehung, die sich eher wie ein Intensivkurs anfühlten, wurden sie fit gemacht in englischer, genauer gesagt amerikanischer Sprache. Kalle war nicht besonders sprachbegabt, war bekanntlich eher der Pragmatiker, besser im schriftlichen Teil der Übungen. Fast alle im Kurs taten sich schwer mit diesem unmöglichen
»T-aitch«, das man nicht aussprechen, sondern nur aus-spucken konnte. Einzige Ausnahme unter den POWs und leuchtendes Beispiel für die Sprachbegabung war ein ehemaliges Mitglied des Generalstabs der Luftwaffe, ein Generalmajor, der bereits perfektes Englisch sprach. Fließend Russisch beherrschte er auch, was hier allerdings weniger angebracht war. Wo hatte er das nur gelernt? Ein echtes Sprachtalent! Da Titel für ihn keine Rolle mehr spielten und er ein ganz gewöhnlicher POW sein wollte, ließ er sich von seinen Leidensgenossen gerne duzen. So wurde aus Hans-Detlef Herhudt von Rohden ein einfacher Hans. Seinen Spitznamen hatte er zusätzlich bald weg. Seine Kameraden setzen die neu erlernten englischen Begriffe ein und konstruierten aus Herhudt von Rohden nach einiger Zeit HeRo. HeRo war von da an ihr Hero, ihr Held, ihr sprachliches Bollwerk gegen alle amerikanischen Th-Spucker.
Kalle überlegte tagelang, woher er Hans kannte. Wie oft bei ihm kam der richtige Gedanke irgendwann mitten in der Nacht. Ihm fiel eine Vorlesung in seinem Vorsemester in der Ingenieurschule für Luftfahrttechnik wieder ein. Es gab kurz nach dem wie immer reichlichen Mittagessen einen Vortrag über Kriegswissenschaft. Es war ausgesprochen trockener Stoff, das wusste er noch. Trotz seines üblicher-weise ausgeprägten Nachmittagsessens-Komas hatte er sich den Namen des Vortragenden gemerkt.
Über die wenig interessanten Inhalte hatte sich zum Glück bereits lange das Tuch des Vergessens gelegt. Aber den Namen wusste er, weil der Redner zeitweise Geschwader- Kommodore eines großen Kampfgeschwaders der Luftwaffe war. Das imponierte Kalle und so hat sich Hans, also Hans-Detlef Herhudt von Rohden, in sein Gedächtnis eingebrannt. Die nächste Gelegenheit nutzte Kalle, um mit diesem aus seiner Sicht großem Vorbild ins Gespräch zu kommen. Hans war sichtbar erfreut, einen ehemaligen Studenten der IfL zu treffen. Die Frage nach seinen Ambitionen zur Fortsetzung des Studiums konnte Kalle nicht beantworten. So weit dachte er zu diesem Zeitpunkt nicht. Sie tauschten sich daraufhin aus über ihren jeweiligen Werdegang und entdeckten allerlei Parallelen. Es war für beide ein willkommenes und sehr angenehmes Gespräch. Kalle konnte nicht ahnen, welchen Wert dieser kurze Austausch einmal für ihn haben würde.
Die Englisch-Prüfungen hatten es in sich. Bis auf Hans kämpften alle mehr oder weniger damit, hatten große Schwierigkeiten. Kalle schaffte mit aller Anstrengung ein 75 %-Ergebnis. Oberes Mittelfeld. Immerhin! Lutze musste sich mit 60 % zufriedengeben, Quacki litt unter seinem ausgeprägten bayrischen Akzent und erreichte gerade mal so die erforderliche 50 %-Marke.
»We speak english very well, aber bitte nicht so schnell!« bewertete ihr Sprachlehrer, Sergeant Miller, das Ergebnis der Gruppe unter freundlichem Applaus seiner deutschen Schüler. Es folgten zwei Wochen amerikanische Geschichte.
»Endlich hören wir etwas über die Indianer. Ich bin, solange ich denken kann, Winnetou und Old Shatterhand Fan. Ob die hier auch etwas von Karl May kennen?« Lutze wurde enttäuscht.
Die indigenen Völker Nordamerikas wurde höchstens am Rande erwähnt, wenn überhaupt.
Über ihren Umgang mit der indianischen Bevölkerung reden die Amerikaner nicht gerne. Ansonsten war die Geschichte der größten und stolzesten Nation der Welt ausgesprochen spannend. Für Kalle jedenfalls.
Er schaffte im Abschlusstest sogar die vollen 100 %, Lutze und Quacki lagen so um die 80 %. Mit dem Aufbau der amerikanischen Demokratie und damit verbundener politischer Bildung beschäftigten sich die Reeducation Boys geschlagenen vier Wochen. Langweilig!
»So soll unser schönes, stolzes Deutschland auch werden? Hört sich ziemlich kompliziert an. Früher hatten wir einen Kaiser, bis vor Kurzem einen Führer. Hat doch alles wunderbar funktioniert«, Lutzes Ansicht über die Demokratisierung des ehemaligen Deutschen Reichs war deutlich überarbeitungswürdig.
»Toller Ansatz. Nach dem Krieg des Kaisers war das Kaiserreich im Arsch, nach dem Krieg des Führers sogar das Tausendjährige Reich in Dutt. Deutschland gibt es nicht mehr. Lutze, überleg dir das mal!« gab der Schlauberger zum Besten.
»Ach Quacki, kennst du nicht diesen weisen Satz: Frag einen Feind um Rat und mach es dann genau umgekehrt.«
Lutzes Ergebnis im Demokratie-Abschlusstest war entsprechend knapp ausgefallen, während Kalle diesmal mit einem 94 % Ergebnis glänzte.
»Würde das genügen, um amerikanischer Staatsbürger zu werden?« Das war eigentlich kein Ziel des jungen Deutschen. Aber wer weiß? Sie hatten alle ihren Reeducation-Process überberstanden und durften nun zur Belohnung in den nächsten Monaten in Sideling Hill die Axt schwingen und den Wald in den Green Ridge State Forrest plattmachen.
»Gibt es da eigentlich Wölfe oder Bären?«
Diese Frage diskutierten die drei bis in die Nacht.
Am nächsten Morgen hieß es »auf nach Sideling Hill«. »Falls es dort wirklich Bären und Wölfe gibt, sollten sie sich schon mal vor uns verstecken, bevor wir ankommen.«
Eigentum wird überbewertet
Der Große Kurfürst lebte schon lange nicht mehr, war seit einigen Monaten zum Hotel Moskwa mutiert.