Julia Exklusiv Band 368 - Lynne Graham - E-Book

Julia Exklusiv Band 368 E-Book

Lynne Graham

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Beschreibung

EINE ROSE FÜR DEN MILLIARDÄR von LYNNE GRAHAM "Wie kann man so nachlässig sein?" Aufgebracht übergibt die junge Putzfrau Rose den Geldschein, den sie unter Alex' Schreibtisch gefunden hat. Sie ahnt nicht, dass sie in diesem Moment die Prüfung bestanden hat. Die des Verstandes – und des Herzens des Undercover-Milliardärs … GEHÖRT DEIN HERZ EINER ANDEREN? von MAGGIE COX Bei ihren ersten Tönen weiß Jake, dass Caitlin die ideale Sängerin für seine Band ist. Und wenn er sich ihre Kurven ansieht, wäre sie auch ideal für ihn! Doch sie weist ihn ab – gehört ihr Herz einem anderen? Jake muss es herausfinden. Auch wenn er Caitlin dann verlieren könnte … VERRÄTERISCHE VERSUCHUNG von TARA PAMMI Schwanger! Fassungslos starrt Kimberly auf den Teststreifen. Warum hat sie sich vor zwei Monaten zu einer letzten Nacht mit dem Tycoon Diego Pereira hinreißen lassen? Was soll sie nur tun? Sie ahnt nicht: In wenigen Minuten wird sie Diego gegenüberstehen. Ihrem Noch-Ehemann und Vater ihres Kindes …

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Seitenzahl: 573

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Lynne Graham, Maggie Cox, Tara Pammi

JULIA EXKLUSIV BAND 368

IMPRESSUM

JULIA EXKLUSIV erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Neuauflage 2023 in der Reihe JULIA EXKLUSIV, Band 368

© 2012 by Lynne Graham Originaltitel: “A Ring to Secure His Heir“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Elfie Sommer Deutsche Erstausgabe 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe Julia Extra, Band 371

© 2014 by Maggie Cox Originaltitel: “A Rule Worth Breaking“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Alexa Christ Deutsche Erstausgabe 2016 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe Julia, Band 2217

© 2013 by Tara Pammi Originaltitel: “A Touch of Temptation“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Anike Pahl Deutsche Erstausgabe 2015 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe Julia, Band 2171

Abbildungen: Nejron Photo / Shutterstock, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751519588

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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Eine Rose für den Milliardär

1. KAPITEL

„Du musst mir helfen“, hatte Sokrates Seferis gesagt, und sein Patensohn Alexius Stavroulakis hatte alles stehen und liegen lassen und war Tausende von Meilen geflogen, um ihm zu Hilfe zu eilen. Sokrates hatte sich geheimnisvoll gegeben und nur erklärt, dass sein Anliegen streng vertraulich sei und er darüber nicht am Telefon sprechen könne.

Alexius, ein Mann von einem Meter fünfundachtzig und mit dem athletischen Körper eines Sportlers gesegnet, war trotz seiner einunddreißig Jahre bereits Milliardär. Sein kluges und doch aggressives Geschäftsgebaren machte ihn zu einem gleichermaßen gefürchteten wie geachteten Unternehmer, und man konnte wahrlich nicht behaupten, dass er jemals nach der Pfeife eines anderen tanzte. Doch für den fast fünfundsiebizgjährigen Sokrates Seferis galten andere Regeln: Viele Jahre lang war der Patenonkel der einzige Mensch gewesen, der den kleinen Alexius in dem englischen Internat besucht hatte, in das die Eltern den Jungen abgeschoben hatten.

Seinem Patenonkel, der sich aus einfachen Verhältnissen zum millionenschweren Besitzer einer internationalen Hotelkette hochgearbeitet hatte, war ebenfalls kein erfülltes Familienleben vergönnt gewesen. Seine geliebte Ehefrau war bei der Geburt des dritten Kindes gestorben, und die Tochter und der Sohn hatten sich zu verschwendungssüchtigen Erwachsenen entwickelt, die mehr als einmal Schande über ihren gutherzigen Vater gebracht hatten. Für Alexius war Sokrates daher auch das Paradebeispiel, warum ein vernünftiger Mann niemals Kinder haben sollte.

Kinder waren anstrengend, fordernd und undankbar. Und Alexius verstand nicht, warum einige seiner Freunde so erpicht darauf waren, sich von diesen kleinen Quälgeistern das Leben schwer machen zu lassen, das sich ledig und kinderlos doch wunderbar genießen ließ. Nein, diesen Fehler würde Alexius gewiss niemals begehen.

Sokrates begrüßte Alexius, auf einen Liegestuhl gebettet, auf der Terrasse seines luxuriösen Anwesens in einem Vorort von Athen. Noch bevor der jüngere Mann Platz genommen hatte, brachte ein Hausdiener Getränke.

„Nun?“, begann Alexius. Sein attraktives braungebranntes Gesicht wirkte ernst, die silbergrauen Augen, die Frauenherzen höher schlagen ließen, blickten wie immer gelassen. „Worum geht’s?“

„Geduld war noch nie deine Stärke, nicht wahr?“, sagte der ältere Mann. Die dunklen Augen in seinem sonnengegerbten Gesicht funkelten vergnügt. „Nimm dir einen Drink und schau dir erst einmal diesen Ordner an.“

Ungeduldig hob Alexius den Ordner vom Tisch auf und öffnete ihn. Auf der ersten Seite befand sich das Foto eines unscheinbaren Mädchens, das soeben dem Teenageralter entwachsen zu sein schien. „Wer ist das?“

„Lies selbst“, forderte Sokrates ihn auf.

Alexius stieß den Atem leicht gereizt aus und blätterte durch die wenigen Seiten des Ordners.

„Sie wird Rosie genannt“, sinnierte Sokrates. „Meine verstorbene Frau kam auch aus England, und ihr Taufname lautete ebenfalls Rose.“

Die Informationen, die Alexius dem Ordner entnehmen konnte, sagten ihm nichts. Rosie Gray war eine junge Engländerin, die in einer Pflegefamilie aufgewachsen war und jetzt als Reinigungskraft arbeitete. Er hatte keine Ahnung, welches Interesse sein Patenonkel an dieser Frau haben konnte.

„Sie ist meine Enkeltochter“, erklärte Sokrates, als hätte er seine Gedanken erraten.

Alexius sah ihn ungläubig an. „Seit wann hast du eine Enkelin? Ist diese Frau etwa eine Hochstaplerin?“

„Du bist wirklich der Richtige für diese Aufgabe“, sagte Sokrates zufrieden. „Nein, sie ist keine Hochstaplerin. Soweit ich informiert bin, weiß sie noch nicht einmal von meiner Existenz. Ich bin nur neugierig. Deshalb habe ich dich hergebeten.“

Alexius betrachtete noch einmal das Foto der Frau: eine graue Maus mit farblosen Haaren und großen leeren Augen. „Wie kommst du auf die Idee, dass sie deine Enkeltochter ist?“

„Das ist keine Idee, sondern Gewissheit. Ich weiß schon seit fünfzehn Jahren von ihr, damals wurde sogar ein DNA-Test gemacht“, gab Sokrates widerwillig zu. „Sie ist Troys Tochter, gezeugt, als er für mich in London gearbeitet hat – sofern man denn von ‚Arbeit‘ sprechen konnte“, fügte er mit grimmigem Lächeln hinzu. „Natürlich hat er die Mutter nicht geheiratet, sondern sich kurz vor der Geburt des Kindes von ihr getrennt. Nach seinem Tod nahm die Frau Kontakt zu mir auf und bat mich um finanzielle Unterstützung. Ich habe ihr eine ansehnliche Summe geschickt, aber augenscheinlich hat das Mädchen nie einen Penny davon gesehen, denn die Mutter ließ sie ihm Stich und sie landete bei Pflegefamilien.“

„Traurig“, meinte Alexius.

„Mehr als traurig. Das Mädchen hat wirklich keinen guten Start ins Leben bekommen, und das bereitet mir ein schlechtes Gewissen.“ Der ältere Mann seufzte tief. „Sie gehört zur Familie, ich könnte sie sogar als Erbin einsetzen.“

Diese Enthüllung machte Alexius hellhörig. „Als Erbin? Eine Frau, die du nie im Leben gesehen hast? Was ist mit deinen Kindern?“

„Meine Tochter wirft das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinaus. Selbst ihre drei reichen Exmänner konnten sich das nicht leisten“, antwortete Sokrates sarkastisch. „Mein Sohn ist drogenabhängig und hat, wie du ja weißt, schon mehrere Aufenthalte in der Entzugsklinik hinter sich.“

„Und deine Enkelsöhne?“

„Die sind so verschwenderisch wie ihre Eltern. Tatsächlich besteht der Verdacht, dass sie in einem meiner Hotels gehörig abkassiert haben. Natürlich werde ich keinen von ihnen enterben“, erklärte Sokrates mit Nachdruck. „Sollte sich meine Enkelin allerdings als geeignet erweisen, werde ich ihr einen Batzen Geld vermachen.“

„Was meinst du mit ‚geeignet‘?“, fragte Alexius stirnrunzelnd.

„Wenn sie ein gutes Mädchen ist, das das Herz am rechten Fleck trägt, ist sie in meinem Haus willkommen. Auf dein Urteil konnte ich mich schon immer verlassen, deshalb möchte ich, dass du für mich herausfindest, ob sie charakterlich einwandfrei ist.“

„Ich? Warum fliegst du nicht selbst hin und triffst dich mit ihr?“, fragte Alexius verdutzt.

„Ich habe mich dagegen entschieden. Für ein paar Tage eine freundliche Maske aufsetzen kann jeder. Rosie dürfte bald herausfinden, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, wenn sie sich mir gegenüber von ihrer besten Seite zeigt.“ Lebenslange Enttäuschung zeichnete sich im sorgenvollen Gesicht des alten Mannes ab. „Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass ich mich auf mein Urteil verlassen möchte. Ich wünsche mir einfach zu sehr, dass sie anders ist als der Rest der Familie. Für Geld haben meine eigenen Kinder mich schon allzu oft belogen und betrogen. Ich möchte meine Hoffnungen nicht zu sehr an das Mädchen hängen, denn sonst laufe ich Gefahr, wieder zum Narren gehalten zu werden. Und ich brauche keinen weiteren Schmarotzer, der sich an meine Rockschöße hängt.“

„Ich verstehe immer noch nicht, was du eigentlich von mir erwartest“, gestand Alexius.

„Ich möchte, dass du Rosie unter die Lupe nimmst, bevor ich mich mit ihr in Verbindung setze.“

„Sie unter die Lupe nehmen?“, wiederholte Alexius ungläubig.

„Ja, ich möchte, dass du sie kennenlernst und ihr auf den Zahn fühlst.“ Sokrates sah ihn hoffnungsvoll an. „Es bedeutet mir viel, Alex.“

„Das ist nicht dein Ernst, oder? Du verlangst, dass ich mich mit einer … Reinigungskraft treffe?“ Die Verblüffung stand dem jüngeren Mann ins Gesicht geschrieben.

Sokrates blickte ernst. „Ich habe dich nie für einen Snob gehalten.“

Bei diesem Vorwurf erstarrte Alexius. In seinen Adern floss das Blut von Generationen schwerreicher blaublütiger Griechen. Wie hätte er bei diesem Stammbaum etwas anderes als ein Snob werden können? „Aber wie soll ich ein Treffen einfädeln, ohne dass sie Verdacht schöpft, ich könnte etwas mit ihr im Schilde führen?“

„Beauftrage die Reinigungsfirma, für die sie arbeitet, oder … dir fällt schon etwas ein“, beteuerte Sokrates zuversichtlich. „Ich weiß, ich bitte dich um einen großen Gefallen und du bist eigentlich viel zu beschäftigt. Aber es gibt sonst niemanden, dem ich die Angelegenheit anvertrauen möchte. Ich kann ja schlecht meinen Sohn – ihren Onkel – oder einen ihrer nichtsnutzigen Cousins hinschicken, oder?“

„Nein, das wäre unfair. Sie würden in jedem neuen Familienmitglied nur Konkurrenz sehen.“

„Eben.“ Sokrates wirkte erleichtert, dass sein Patensohn endlich begriff. „Wenn du dich dieser Sache annimmst, stehe ich tief in deiner Schuld. Sollte sich Rosie Gray als geldgierige Person entpuppen, erspar mir bitte die unschönen Details. Ich will nur wissen, ob sie eine Chance verdient.“

„Ich lass es mir durch den Kopf gehen“, sagte Alexius widerwillig.

„Lass dir bitte nicht zu viel Zeit mit deiner Entscheidung. Ich werde schließlich nicht jünger“, warnte Sokrates.

„Gibt es etwas, das ich wissen müsste?“, fragte Alexius, plötzlich besorgt, dass ihm der alte Mann womöglich gesundheitliche Probleme verschwieg. Obwohl ihn das Vertrauen, das Sokrates in ihn setzte, rührte, wollte er den heiklen Auftrag nur ungern annehmen. „Du hast schließlich noch andere Freunde …“

„Aber keinen, der in puncto Frauen so erfahren ist wie du“, entgegnete Sokrates ernst. „Du wirst ihren wahren Charakter durchschauen. Ich bin überzeugt, dass du dir von ihr kein X für ein U vormachen lässt.“

Alexius griff nun doch zu seinem Drink. „Gut, ich denke darüber nach. Aber geht es dir wirklich gut?“

Der alte Mann nickte stur. „Ja, kein Grund zur Besorgnis.“

Obwohl Alexius sich insgeheim doch sorgte, ließ ihn der verschlossene Blick seines Patenonkels von weiteren Fragen absehen. Die ungewohnt freimütige Rede des alten Mannes war beunruhigend genug gewesen. Sokrates hatte seinen Stolz überwunden und Alexius gerade seine Seele offenbart, als er die Enttäuschung über seine beiden Kinder eingestanden hatte. Alexius verstand nur zu gut, warum sein Patenonkel sich nicht noch einen Nassauer aufbürden wollte.

„Nehmen wir mal an, dieses Mädchen entpuppt sich als die Enkelin, die du dir wünschst“, spann Alexius den Gedanken weiter. „Wie wird sie reagieren, wenn sie herausfindet, dass ihr verwandt seid und ich dein Patensohn bin? In diesem Moment muss ihr klarwerden, dass du ihr eine Falle gestellt hast …“

„Wenn sie erst einmal den Rest der Familie kennengelernt hat, wird sie meine Beweggründe verstehen“, erklärte Sokrates, ohne zu zögern. „Ich weiß, dass der Plan nicht perfekt ist. Aber es ist der einzige Weg, um herauszufinden, ob ich sie wirklich bei mir aufnehmen kann.“

Nach dem gemeinsamen Mittagessen flog Alexius nach London zurück. Er war ungewöhnlich aufgewühlt. Sein Leben, das waren millionenschwere Transaktionen und die Herausforderung, seinen Konkurrenten immer einen Schritt voraus zu sein. Herauszufinden, ob die lang verschollene Enkeltochter seines Patenonkels als Erbin taugte, lag ihm hingegen nicht. Es war eine große Verantwortung – und keine leichte Aufgabe für jemanden wie Alexius, der sich damit schwertat, offen auf andere Menschen zuzugehen.

Tatsächlich herrschte in seinem Privatleben ebenso eiserne Disziplin wie in seinem Berufsleben. Feste Bindungen wollte er nicht eingehen, und er vertraute nur wenigen Menschen. Er war das letzte verbleibende Mitglied seiner Familie, aber durchaus überzeugt, dass ihn dieser Umstand nur härter gemacht hatte. Komplizierten Beziehungen zu Frauen ging er aus dem Weg, und seine Affären waren von so oberflächlicher Natur, dass er sich manchmal selbst ekelte. Seine schönen Gespielinnen verlangten oftmals einen Preis für ihren Körper, bei dem selbst eine Prostituierte errötet wäre.

Obwohl er sich bewusst war, dass er die Frauen für ihre Dienste entlohnte, indem er sie mit kostspieligen Diamanten und teuren Designerkleidern überhäufte, war er kein Heuchler. Diese Frauen besaßen das angeborene Talent, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen, aber Alexius fand ihre Gier nach Reichtum nicht schlimmer als sein eigenes körperliches Bedürfnis nach sexueller Befriedigung.

„Was ist so besonders an diesem Job, dass wir dafür den weiten Weg in Kauf nehmen müssen?“, fragte Zoe ungeduldig.

Rosie unterdrückte einen Seufzer. Die beiden jungen Frauen hatten soeben dem Sicherheitspersonal des Bürogebäudes die Ausweise gezeigt und schoben nun den Reinigungswagen zum Aufzug. „STA Industries ist ein großer internationaler Konzern. Auch wenn Vanessa nur einen kleinen Vertrag ausgehandelt hat, ist dies immerhin der Hauptsitz der Firma. Und Vanessa ist überzeugt, dass weitere Aufträge folgen werden, wenn wir hier gute Arbeit leisten. Uns hat sie ausgewählt, weil wir ihre besten Mitarbeiterinnen sind, wie sie sagt.“

Die attraktive dunkelhaarige Frau neben Rosie verzog unbeeindruckt das Gesicht. „Wir sind vielleicht ihre besten Mitarbeiterinnen, aber leider bezahlt sie uns nicht danach.“

Zwar war Rosie ebenfalls alles andere als begeistert von der ungewohnt langen Anfahrt, aber bei der momentanen Wirtschaftslage war sie froh, überhaupt einen Job zu haben. Außerdem hatte Vanessa ihr eine erschwingliche Unterkunft gestellt. Tatsächlich war Rosie erst vor einer Woche von ihrer Mitbewohnerin auf die Straße gesetzt worden. Nur das Angebot von Vanessa hatte sie und ihren kleinen Hund Baskerville vor der Obdachlosigkeit gerettet. Und sie empfand noch immer tiefe Dankbarkeit für das preiswerte möblierte Zimmer, das sie wie andere Angestellte von Vanessa in einem eigens von der Arbeitgeberin angemieteten Haus bezogen hatte.

Das Reinigungsunternehmen von Vanessa Jansen bestand aus wenigen Mitarbeiterinnen, und sie konnte sich nur auf dem Markt behaupten, indem sie die Konkurrenz drastisch unterbot. Das Unternehmen warf entsprechend wenig ab, und Rosies Lohntüte war dünn. Allerdings mussten alle Unternehmen sparen, und Vanessa hatte in jüngster Zeit einige Stammkunden verloren.

„Du kommst nie zu spät oder meldest dich krank. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann“, hatte ihre Chefin sie gelobt. „Wenn wir durch STA Industries neue Aufträge gewinnen, bekommst du eine Gehaltserhöhung. Versprochen.“

Obwohl Rosie daran gewöhnt war, dass Vanessa ihre vollmundigen Versprechen mit schöner Regelmäßigkeit brach, hatte sie ihre Chefin höflich angelächelt. Sie arbeitete abends als Reinigungskraft, um tagsüber ihren Schulabschluss nachholen zu können. Tatsächlich hätte sie der Chefin durchaus Tipps für die Geschäftsführung geben können. Vanessa konnte zwar gut mit Zahlen jonglieren und neue Auftraggeber gewinnen, aber über ein Talent zur Personalführung verfügte sie nicht. Da Rosie allerdings wusste, dass ihre Ratschläge auf taube Ohren stoßen würden, schwieg sie lieber.

Rosie hatte schon vor langer Zeit begriffen, dass man Menschen nicht ändern konnte. Schließlich hatte sie viele Jahre lang versucht, ihre Mutter zu ändern, hatte sie ermutigt, unterstützt, angefleht. Am Ende hatte alles nichts genützt, denn ihre Mutter wollte sich überhaupt nicht ändern. Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind, nicht, wie man sie gern hätte, dachte Rosie, als ihr die bittere Lektion wieder in den Sinn kam. Die zahllosen Stunden fielen ihr wieder ein, in denen sie ihre Mutter davon zu überzeugen versucht hatte, die eigene Tochter großziehen zu wollen. Bei dem Gedanken an die vergebliche Liebesmühe zuckte sie innerlich zusammen: Jennifer Gray war Männern und Alkohol erheblich mehr zugetan gewesen als der eigenen Tochter, die sie nur empfangen hatte, um sich finanziell abzusichern.

„Ich hatte geglaubt, dein Vater würde mich heiraten und ich hätte für mein Lebtag ausgesorgt“, hatte ihr Jennifer einmal gestanden. „Er kam aus einer reichen Familie, entpuppte sich aber als Taugenichts.“

Im Gegensatz zu ihrer verstorbenen Mutter hielt Rosie Männer für reinste Zeitverschwendung. Die Männer, mit denen sie einmal ausgegangen war, hatten fast alle den langweiligen Hobbys Sex, Sport und Bier gefrönt. Da sie selbst an keinem dieser Zeitvertreibe sonderlich Gefallen fand und ihre knapp bemessene Freizeit lieber mit sinnvollen Dingen verbrachte, hatte sie sich schon seit Monaten gar nicht mehr mit einem Mann verabredet. Tatsächlich war sie auch nicht gerade der Typ, der sich nicht vor Verehrern retten konnte, wie Rosie reumütig zugeben musste. Sie maß knapp einen Meter zweiundfünfzig und verfügte nicht über die Kurven, die die Blicke des anderen Geschlechts auf sich ziehen. Jahrelang hatte sie gehofft, dass sie lediglich eine „Spätentwicklerin“ sei und sich weibliche Attribute noch einstellen würden. Nun war sie dreiundzwanzig Jahre alt, aber immer noch knabenhaft schlank und flach wie ein Brett.

Als sich eine widerspenstige Haarsträhne löste und über ihre Wange fiel, griff Rosie nach hinten, um den Pferdeschwanz festzuziehen. Doch das Haarband riss und sie kramte in den Taschen ihres Overalls vergeblich nach einem Ersatzband. Das lange lockige Haar fiel ihr wie ein störender Vorhang ins Gesicht, und Rosie fragte sich zum hundertsten Mal, warum sie es der Bequemlichkeit halber nicht endlich kurz schnitt. Natürlich kannte sie den Grund: Ihre Pflegemutter Beryl hatte ihr oft gesagt, dass sie wunderschönes Haar habe, und es in ihrer Kindheit begeistert gebürstet.

Für einen Moment stieg Traurigkeit in Rosie hoch, obwohl seit dem Tod von Beryl schon drei Jahre vergangen waren. Dennoch vermisste sie die warmherzige Frau immer noch. Beryl war für Rosie die Mutter gewesen, die Jennifer nie hatte sein wollen.

Alexius saß in einem Büro, das eigentlich einem seiner Assistenten gehörte, und versuchte zu arbeiten. Da er sich an dem fremden Schreibtisch nicht zurechtfand, musste er die Arbeit immer wieder unterbrechen. Alles wegen Sokrates, dachte er grimmig. Schließlich hatte er sich nur seinem Patenonkel zuliebe auf das kindische Versteckspiel eingelassen.

Als er das Geräusch eines Staubsaugers am anderen Ende der Büroetage hörte, knirschte er mit den blendend weißen Zähnen. Zumindest waren die Reinigungskräfte endlich eingetroffen, und das Spiel konnte beginnen. Und was für ein Spiel! Zum ersten Mal in seinem Leben war Alexius bis zum Äußersten angespannt, da er es normalerweise nicht nötig hatte, auf Tricks zurückzugreifen. Doch wie sollte er eine einfache Putzfrau kennenlernen, wenn er ihr als Eigentümer von STA Industries entgegentrat?

Nein, es war schlauer, sich als Angestellter seiner eigenen Firma auszugeben, und zu hoffen, dass Rosie Gray ihn nicht sofort als Alexius Stavroulakis erkennen würde. Es war unwahrscheinlich, dass sie die Wirtschaftsmagazine las, in denen regelmäßig über ihn berichtet wurde. Allerdings bestand die Möglichkeit, dass sie mit Begeisterung in den Klatschmagazinen blätterte, in denen er gelegentlich abgelichtet wurde. Je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er, dass sein Plan niemals aufgehen würde.

Rosie und Zoe teilten sich die Büros auf, indem jede eine Seite des Flurs übernahm. Auf Rosies Seite schien noch jemand zu arbeiten, denn aus der geöffneten Bürotür fiel Licht. Sie hasste es, um einen Angestellten herumzuputzen, durfte es aber nicht riskieren, einen Raum einfach auszulassen, weil jederzeit jemand die Qualität ihrer Arbeit überprüfen konnte.

Die meisten Angestellten hatten das Büro lange vor zwanzig Uhr verlassen, und Rosie musste sicherstellen, dass die vertragsmäßigen Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit von STA Industries ausgeführt wurden. Sie spähte in das besetzte Büro und sah einen großen Mann mit schwarzem Haar an einem Laptop arbeiten. Nur die Schreibtischlampe brannte und tauchte seine markanten Gesichtszüge in ein Spiel aus Licht und Schatten. Plötzlich blickte er auf und sah sie unvermittelt an, aus umwerfenden eisgrauen Augen, die an flüssiges Quecksilber erinnerten.

Alexius erkannte sein Opfer sofort, obwohl die Rosie Gray vor ihm nichts mit der Frau auf dem Schwarz-Weiß-Foto gemein hatte. Aller Farbe beraubt, hatte sie unscheinbar gewirkt. Aber in natura sah sie außergewöhnlich aus, beinahe so, als würde sie von innen heraus strahlen. Dazu war sie winzig. Die Angehörigen der Familie Seferis waren zwar alle eher klein, aber Rosie wirkte so zierlich wie eine Elfe aus einem Märchen. Doch obwohl Alexius bei ihrer geringen Körpergröße fast lächeln musste, hielten ihr Gesicht und ihr Haar ihn sofort gefangen. Noch nie hatte er eine solche Haarfarbe gesehen – diese prächtigen Locken in einem unglaublich hellen Blond, das fast so hell schimmerte wie frisch gefallener Schnee.

Sicher gefärbt, dachte er grimmig, konnte aber den Blick nicht von ihrem wunderhübschen herzförmigen Gesicht wenden: große meeresgrüne Augen, niedliche Stupsnase und ein zur Sünde einladender Schmollmund, der bei jedem Mann erotische Fantasien auslösen musste.

Auslösen konnte, verbesserte er sich. Denn er gehörte nicht zu der Sorte Mann, die sich in Fantasien ergehen mussten, da sich jede Frau ihm sofort bereitwillig hingab. Dennoch: Diese üppigen rosigen Lippen waren total sexy. Allerdings war das kein Gedanke, der in Bezug auf die Enkelin seines Patenonkels erlaubt war. Es liegt bestimmt an dieser seltsamen Situation, dachte Alexius. Das Ganze brachte ihn völlig aus dem Gleichgewicht.

Nach dem unerwarteten Zusammenprall mit den stechenden hellgrauen Augen, die durch die langen schwarzen Wimpern noch größer wirkten, hämmerte Rosies Herz wie wild gegen ihre Rippen. Der Mann sah unverschämt gut aus, mit den scharf geschnittenen hohen Wangenknochen, der majestätisch geraden Nase, dem eckigen Kinn und den sinnlich geschwungenen Lippen.

Dann erkannte Rosie den ungeduldigen Zug, der sich auf seiner Oberlippe abzeichnete, drehte auf der Türschwelle um und verschwand wieder im Flur. In ihrem Kopf schrillte eine Alarmglocke: Diesen Mann sollte sie besser nicht bei der Arbeit unterbrechen. Sie beschloss, erst den Konferenzsaal zu putzen und sich später zu vergewissern, dass er fort war, bevor sie sich sein Büro vornahm.

Als Rosie verschwand, hätte Alexius beinahe verzweifelt aufgestöhnt. Da Frauen normalerweise alles Erdenkliche taten, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, war er es nicht gewohnt, ihnen hinterherlaufen zu müssen. Aber hatte er etwa erwartet, dass eine Putzfrau ihn in ein munteres Gespräch verwickeln würde? Natürlich hatte sie den Rückzug angetreten. Hastig eilte Alexius zur Tür hinaus und schloss mit wenigen langen Schritten zu Rosie auf.

„Ich bin gleich weg“, sagte er. In der Stille der leeren Büroetage klang seine tiefe Stimme ungewöhnlich laut.

Überrascht wirbelte Rosie herum, das blonde Haar flog ihr ums Gesicht, die grünen Augen blickten verwundert. „Kein Problem. Ich nehme mir zuerst den Konferenzsaal vor …“

„Sie sind neu hier, oder?“, bemerkte Alexius und fragte sich insgeheim, was sie bloß an sich hatte, das seine Neugier weckte.

„Ja, das ist unsere erste Schicht“, murmelte Rosie so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. „Und wir wollen anständige Arbeit abliefern.“

„Das wird Ihnen bestimmt gelingen.“ Alexius beobachtete, wie sie sich mit dem Staubsauger abmühte, der fast so groß war wie sie selbst. Mit einem Mal verspürte er das verrückte Bedürfnis, ihr das Gerät aus den kleinen Händen zu reißen, damit sie ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte.

Was zum Teufel war nur mit ihm los?

Als er sie erneut betrachtete, stellte er schockiert fest, dass er erregt war. Dabei war er doch kein Schuljunge mehr, der auf jede attraktive Frau in seiner Nähe reagierte. Er hatte keine Ahnung, warum sie diese Wirkung auf ihn hatte. Sie war klein und niedlich, überhaupt nicht sein Typ. Normalerweise stand er auf große dunkelhaarige Frauen mit üppigen Kurven! Er war ein Gewohnheitstier und ließ sich ungern auf das Neue, Unbekannte ein.

Schuld an dieser Haltung war seine Herkunft – im Lauf der Jahre hatte er sich eine schützende Hülle zugelegt, geprägt von Reserviertheit und Zynismus. Bereits in sehr jungen Jahren hatte er begriffen, dass sein unermesslicher Reichtum ihn in den Augen anderer Menschen zu einer potenziellen Geldquelle machte; letzten Endes wollten ihn alle nur benutzen und ausnehmen …

Kurz vor Ende der Schicht kehrte Rosie zurück und fand das Büro leer vor. Zwar brannte die Schreibtischlampe noch und auch der Laptop stand geöffnet auf dem Tisch, aber ihr war klar, dass sie nicht rechtzeitig fertig werden würde, wenn sie die Chance nicht ergriff. Sie war gerade dabei, mit einem Staubwedel über den Tisch zu wischen, als er überraschend wieder auftauchte. Eingeschüchtert von seiner imposanten Größe, die den Türrahmen fast ausfüllte, erstarrte sie. Er war so groß, so ungeheuer attraktiv. Dazu diese atemberaubenden hellgrauen Augen, die wie poliertes Silber in dem markanten Gesicht funkelten.

„Ich räume das kurz aus dem Weg“, sagte Alexius, eilte zum Tisch und hob den Laptop hoch. In diesem Moment stand er so nah bei ihr, dass sein Duft sie umfing: sehr männlich, mit dem betörenden Hauch eines exotischen Aftershaves.

„Keine Umstände. Ich kann um Sie herumputzen, geben Sie mir bitte noch f…fünf Minuten“, erwiderte Rosie verunsichert. Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen, da sie sich wegen ihrer kleinen Schwärmerei schämte.

Um sich abzulenken ging Rosie im Geiste die Liste der noch zu erledigenden Aufgaben durch, als sie auf dem Tisch das Foto einer hübschen blonden Frau mit zwei kleinen Kindern bemerkte. „Süße Kinder“, sagte sie in die unangenehme Stille hinein.

„Nicht meine. Ich teile mir das Büro“, entgegnete er rasch, wobei ein leichter ausländischer Akzent hörbar wurde.

Überrascht sah Rosie ihn an. Dieser Mann wirkte nun wirklich nicht so, als würde er sich irgendetwas mit jemandem teilen. Wie komme ich nur darauf? fragte sie sich im selben Moment. Vielleicht lag es daran, dass er über eine Präsenz verfügte wie ein gewaltiger Felsbrock, der sich ihr in den Weg gelegt hatte. Allein seine gebieterische Ausstrahlung und Arroganz hatten Rosie vermuten lassen, dass er kein kleiner Angestellter war, der sich den Schreibtisch mit einem Kollegen teilte.

„Übrigens heiße ich Alex“, murmelte er. „Alex Kolovos.“

„Ich heiße Rosie Gray“, antwortete Rosie irritiert. Warum sprach er überhaupt mit ihr? Üblicherweise redeten Männer mit einer Putzfrau nur, wenn diese vom Alter her ihre Mutter sein konnte oder sie eindeutige Absichten verfolgten. Zoe, die von den Kolleginnen „Sexbombe“ getauft worden war, hatte schon mehrere Annäherungsversuche über sich ergehen lassen müssen. Allerdings besaß Zoe auch ein hübsches Gesicht und atemberaubende Kurven. Bei Rosie hingegen hatte es während der Arbeitszeit noch kein Mann versucht. Lag das heute etwa daran, dass sie ihr Haar offen trug? Irritiert von dem törichten Gedanken schaltete Rosie den Staubsauger ein. Sofort erfüllte ohrenbetäubender Lärm das Büro.

„Danke für Ihre Geduld“, murmelte sie, nachdem sie den Staubsauger ausgeschaltet hatte. Dann eilte sie aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen.

Mit Erstaunen bemerkte Alexius, dass es eine demütigende Erfahrung war, mit einer Frau zu reden, ohne sich auf die Attraktivität seiner vielen Millionen verlassen zu können. Es war ihm nicht entgangen, dass sie es gar nicht abwarten konnte, von ihm wegzukommen. War sie schüchtern? Oder einfach nur misstrauisch? Keine dieser Eigenschaften hatte Alexius je bei einer Frau kennengelernt, und er wollte dieses Versäumnis bestimmt nicht nachholen.

Er sah auf die Uhr: Ein Geschäftsessen wartete auf ihn. Erleichtert klappte er den Laptop zu und stand auf. Sie ist ungewöhnlich sexy, dachte er grimmig. Heiß genug, um mich hart werden zu lassen.

Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet.

Als Rosie an diesem Abend heimkam, wurde sie in der kleinen Gemeinschaftsküche des Hauses von dem Bellen ihres Hundes Baskerville begrüßt. Bas war ein vierjähriger Chihuahua, der Rosies Pflegemutter Beryl gehört hatte. Rosies neue Mitbewohnerinnen hatten den Hund bei ihrem Einzug begeistert aufgenommen und sorgten nun gemeinsam für ihn. Für Rosie war das eine große Erleichterung, da ihr neben der Schule, wo sie ihren Abschluss nachholte, und der Arbeit als Putzhilfe kaum Zeit blieb, sich gebührend um das Tier zu kümmern.

In der Küche bereitete Rosie sich einen Teller mit Brot und einem Rest Fischsalat zu und setzte sich ins Fernsehzimmer, um mit ihren Mitbewohnerinnen zu plaudern.

Nachts wachte Rosie jedoch mit Magenkrämpfen auf und musste sich heftig übergeben. Am nächsten Morgen ging es ihr besser, allerdings fühlte sie sich ausgelaugt und schlapp.

Entsprechend müde begann sie ihre Abendschicht. Im Büro von Alex Kolovos brannte Licht, aber er war nicht da. In der Annahme, dass er gleich zurückkommen würde, und mit einem albernen Anflug von Enttäuschung über seine Abwesenheit machte Rosie sich auf den Weg zum Konferenzsaal. Sobald sie das Zimmer betreten hatte, hörte sie seine unvergessliche Stimme. Sie hielt inne und spähte über den langen Konferenztisch hinweg. Als sie seinen muskulösen Körper neben dem Fenster erkannte, flatterten plötzlich Schmetterlinge in ihrem Bauch, gerade so, als sei sie ein Schulmädchen. Ihr Blick wanderte hinauf zu seinem attraktiven Gesicht. Das Glücksgefühl traf sie wie ein Stromschlag, ihr Puls raste, und jede Zelle ihres Körpers sprang auf ihn an. Kurz fragte sie sich, warum sein Anblick eine solche Wirkung auf sie hatte.

Sie konnte die Augen nicht von ihm abwenden, und eine unbekannte Hitze stieg in ihr auf, die ihr den Atem raubte. Er telefonierte in einer fremden Sprache, wenn sie sich nicht irrte, war es Griechisch. Diskret wollte Rosie sich zurückziehen.

Mit einer gebieterischen Geste bedeutete Alexius ihr, im Zimmer zu bleiben.

Während er weitertelefonierte, musterte er sie: Ihr wundervolles Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, auf Make-up hatte sie offenbar wieder verzichtet. Bei ihrem Anblick rührte sich etwas in seinen Lenden. Ein Blick auf ihr lebenssprühendes Gesicht, und er wollte ihren sinnlichen Mund schmecken, wollte ihren zierlichen Körper berühren und seine Geheimnisse erkunden. Er wollte tief in sie eindringen und die Lust in ihren Augen sehen, wenn er sie zum Höhepunkt brachte. Seit seiner Teenagerzeit hatte er keine Frau so sehr begehrt.

In der vergangenen Nacht hatte er von ihr geträumt und war verschwitzt und hart aufgewacht. Eine Frau, die so etwas mit ihm anstellte, verdiente seine volle Aufmerksamkeit. Jetzt kam es nicht mehr darauf an, wer sie war, sondern nur noch darauf, welche Lust sie ihm entlocken konnte.

„Ich bin hier fertig“, sagte er nach dem Telefonat, steckte das Handy in die Tasche und ging auf sie zu.

„S…sind Sie sicher?“ Rosie bemerkte, dass sie stotterte. Ihr Mund war mit einem Mal ganz trocken, und ein Schauer rann über ihren Rücken.

„Natürlich bin ich mir sicher“, erwiderte Alexius leicht unterkühlt und ging an ihr vorbei. Ihre Augen leuchteten wie Sterne, und ein betörender blumiger Duft ging von ihr aus. In diesem Moment erkannte er triumphierend, dass die Anziehung auf Gegenseitigkeit beruhte. Sokrates hatte ihn vor eine Aufgabe gestellt, und er würde sie in Rekordzeit lösen. Er würde Rosie Gray auf jede erdenkliche Art kennenlernen und schon bald nicht mehr jeden Abend in diesem Büro verbringen müssen.

Mit zittrigen Händen reinigte Rosie den Konferenzsaal. Allmählich bekam sie ihren Atem wieder unter Kontrolle. Alex Kolovos brachte sie völlig durcheinander. Ich bin doch kein Schulmädchen, das auf einen Mann so überreagiert, sagte sie sich verzweifelt. Vielleicht war aber auch der Zeitpunkt gekommen: Sie war immerhin schon dreiundzwanzig Jahre alt – und immer noch Jungfrau.

Als Teenager war sie von der Schule abgegangen, um für ihre sterbenskranke Pflegemutter zu sorgen. Anders als bei anderen Mädchen ihres Alters hatte sich für sie nie die Gelegenheit ergeben, erste sexuelle Erfahrungen zu sammeln. Nach dem Tod der Pflegemutter war sie zu vernünftig und vorsichtig gewesen. Bis heute hatte allerdings auch kein Mann ihr Herz höher schlagen lassen.

Unzählige Male hatte ihre leibliche Mutter ihr von der wilden Anziehungskraft der Männer vorgeschwärmt, aber erst jetzt konnte Rosie nachvollziehen, was sie gemeint hatte.

„Ich habe einen Mann kennengelernt …“, hatte Jennifer Gray ihr in der Kindheit oft genug anvertraut. „Dieses Mal ist es der Richtige“, schwärmte sie dann.

Danach war Jennifer mehrere Tage lang verschwunden gewesen und hatte ihre Tochter allein in der Wohnung zurückgelassen, ohne Geld, Essen oder saubere Kleidung. Allerdings war es noch unerträglicher, wenn sie die Männer mit nach Hause brachte und Rosie verbot, das Kinderzimmer zu verlassen. Dann lag ihre Mutter den ganzen Tag im Bett oder auf dem Sofa, trank, und lachte laut über die Witze ihres Angebeteten. Dabei vergaß sie, dass Rosie gewaschen, mit Nahrung versorgt und zur Schule gebracht werden musste. Am Ende war die Fürsorge auf Rosie aufmerksam geworden und hatte sie zu Pflegeeltern geschickt.

Die Erinnerung an jene Zeit ernüchterte Rosie schlagartig.

Nachdem sie mit den übrigen Büros fertig war, kehrte sie in das Zimmer von Alex zurück. Er saß hinter dem Schreibtisch. Verlegen trat sie ein. „Stört es Sie, wenn ich jetzt putze?“

„Nein, gar nicht“, sagte er fröhlich und lächelte ihr hinter dem Laptop aufmunternd zu. Das Lächeln war so sinnlich, dass eine Welle der Hitze in Rosie aufstieg, als hätte er ein Feuer in ihr entfacht. Sie spürte, dass ihre Brustwarzen sich aufrichteten und ihre Knie zitterten.

„Möchten Sie einen Drink?“, fragte er lässig, während er zu einem Servierwagen schlenderte und ein Glas nahm.

Verwundert über das Angebot sagte Rosie: „Nein, danke.“ Insgeheim machte sie sich Vorwürfe, weil sie eigentlich lieber Ja gesagt hätte. Zu viel hing von ihrem Job ab, als dass sie es sich erlauben konnte, während der Arbeitszeit zu flirten. Was war nur mit ihr los? Ein Mann wie Alex wollte höchstens eine heiße Nacht mit ihr verbringen. Mehr nicht. Sie gehörte ganz anderen gesellschaftlichen Kreisen an und war längst nicht so gebildet wie er. Während sie dabei war, ihren Schulabschluss nachzuholen, hatte er bestimmt ein abgeschlossenes Studium in der Tasche.

Irritiert, dass sie den Drink ausgeschlagen hatte, fragte Alexius sich, ob er sie gleich zum Abendessen hätte einladen sollen. Ihm fiel auf, dass sie sich in seiner Gegenwart unwohl fühlte. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, verschwand sie zur Tür, sobald sie mit dem Putzen fertig war. Wusste sie, wie sehr gerade ihre Zurückhaltung ihn reizte? Die Aussicht, noch einen weiteren Abend in diesem Büro verbringen zu müssen, gefiel Alexius auf jeden Fall ganz und gar nicht.

Halte dich besser von ihm fern, warnte eine Stimme in Rosies Kopf. Alles andere würde nur Ärger heraufbeschwören. Alex Kolovos brachte ihr inneres Gleichgewicht durcheinander, und sie benahm sich in seiner Gegenwart albern. Je eher sie dieses seltsame Feuer erstickte, desto besser.

Aus dieser Überzeugung heraus bat Rosie am nächsten Abend ihre Kollegin Zoe, die Seiten des Flurs miteinander zu tauschen. Zoe runzelte die Stirn. „Wieso?“

„Dieser Typ, der jeden Abend so lange arbeitet, er … flirtet mit mir“, gab Rosie zögernd zu. „Das verursacht mir Unbehagen.“

„Mit mir darf der jederzeit flirten“, gestand Zoe. „Der sieht doch umwerfend aus. Manchmal stehst du dir selbst im Weg, Rosie. Gefällt er dir etwa nicht?“

„Schon, aber das würde doch zu nichts führen.“

„Die schönsten Erlebnisse führen oft zu nichts. Trotzdem würde ich niemals darauf verzichten wollen“, erwiderte die weit erfahrenere Zoe.

Während der gesamten Schicht widerstand Rosie der Versuchung, einen Blick in Alex’ Büro zu riskieren. Als sie danach ihre Siebensachen packten, schaute Zoe sie finster an. „Ich hatte ja gehofft, der Typ würde mich angraben, aber er hat mich nicht einmal angesehen. Als wäre ich unsichtbar! Offensichtlich steht er nur auf dich.“

In dieser Nacht lag Rosie im Bett und versuchte, sich nicht darüber zu freuen, dass Alex den Köder nicht angenommen hatte. Zoe war ausnehmend hübsch und hätte gewiss nicht Nein zu einem Drink gesagt. Wahrscheinlich hätte Zoe zu einer Menge Dinge nicht Nein gesagt.

War es das, was sich der attraktive Grieche von ihr erhoffte? Eine Runde Sex nach Büroschluss, ohne weitere Verpflichtungen? Was sonst könnte er von ihr wollen?

„Heute Abend übernimmst du wieder die alten Büros“, sagte Zoe am nächsten Abend vor Schichtbeginn. „Wenn der schöne Fremde dich belästigt, weis ihn einfach zurecht. Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen!“

Die Ermahnung der Kollegin trieb Rosie die Schamesröte ins Gesicht, und sie arbeitete schneller als sonst. Es war Freitag und sie würde nicht vor Montagabend wieder in seinem Büro sein. Rosie ging an der offenen Tür von Alex vorbei und erkannte aus dem Augenwinkel, dass er kurz den Kopf hob. Sofort wandte sie das Gesicht ab, entschlossen, nicht hinzusehen. Dabei hätte sie gerade das liebend gern getan!

Alexius spürte Rosie in der Personalküche auf. Es war bereits zwanzig Uhr. Er hatte die Nase voll davon, jeden Abend in diesem Büro zu verbringen und sich von Rosie einen Korb zu holen. Er fragte sich schon, ob sie über einen sechsten Sinn verfügte, der sie vor ihm warnte. Und sie hatte durchaus recht, ihm nicht zu vertrauen. Heute hatte er ein Bündel Geldscheine unter den Schreibtisch gelegt, um ihre Ehrlichkeit herauszufordern.

„Was macht die Arbeit?“, fragte er gelassen, als er sie mit einem Teebecher bewaffnet auf einem Stuhl sitzen sah.

Sein plötzliches Auftauchen irritierte Rosie so sehr, dass sie beinahe den Teebecher fallen gelassen hätte. Groß und bedrohlich wie eine Sturmwolke ragte er vor ihr auf, und Rosie wurde bewusst, wie klein sie war. Ihre Hand zitterte leicht, etwas Tee schwappte über den Becherrand und tropfte auf ihre Arbeitsuniform.

„Vorsicht“, sagte Alex, nahm Rosie den Becher aus der Hand und stellte ihn auf dem kleinen Tisch neben ihr ab. Dann nahm er die Küchenrolle von der Ablage und hielt sie ihr hin.

„Sie haben mich erschreckt!“ Rosie riss ein Blatt ab und tupfte das Oberteil trocken.

„Tut mir leid“, murmelte er, während seine silbergrauen Augen sie unverwandt ansahen.

Rosie errötete. Sie bemühte sich, nicht in sein attraktives Gesicht zu blicken, aber sie sah sein Bild sogar vor sich, wenn er gar nicht in der Nähe war. „Arbeiten Sie jeden Abend so lange?“, fragte sie, um das lärmende Schweigen zu füllen.

„An den meisten Abenden“, erklärte er wahrheitsgemäß.

„Dürfen Sie wenigstens die Überstunden abbummeln?“, fragte Rosie befangen. Ihre Blicke trafen sich. Was für wundervolle lange Wimpern, dachte Rosie und spürte eine verräterische Hitze in ihrem Unterleib.

„Ich bin Workaholic“, gestand Alexius und betrachtete ihre rosigen Lippen. Nur mit Mühe konnte er sich zurückhalten, ihre Lippen mit den seinen zu berühren, um herauszufinden, ob Rosie so gut schmeckte wie sie aussah.

„Ach, so …“ Rosie griff wieder nach dem Teebecher und trank einen Schluck. Gedankenverloren blickten ihre hellgrünen Augen auf sein bronzefarbenes Gesicht und verfolgten die markante Linie seiner Wangenknochen. Mit einem Mal wurde ihr klar, was sie tat, und sie sprang vom Stuhl auf, als hätte sie sich verbrannt. „Ich mache mich am besten wieder an die Arbeit“, sagte sie knapp und strich an Alexius vorbei. Sekunden später hörte er das Geräusch einer Bohnermaschine.

Alexius stieß einen leisen Fluch aus. Sie war einfach zu sehr auf der Hut, als dass sie auf seine Annäherungsversuche eingehen würde. Irgendjemand musste ihr in ihrem Leben wehgetan haben. Aber was ging ihn das an? Falls sie das Bündel Geldscheine, das er unter dem Schreibtisch als Falle ausgelegt hatte, an sich nahm, würde er sie sowieso niemals wiedersehen.

Zum Glück kehrte Alex nicht in sein Büro zurück, und so konnte Rosie dort ihre Runde fortsetzen. Sie arbeitete schneller als gewöhnlich, da sie endlich nach Hause wollte, um das Wochenende einzuläuten. Bis auf ihren samstäglichen Schulbesuch hatte sie für die nächsten zwei Tage frei.

Etwas blieb im Staubsauger stecken. Rosie stellte ihn ab und ging seufzend auf die Knie, um nachzuschauen. Sie traute ihren Augen kaum, als sie eine Fünfzigpfundnote entdeckte, die in der Düse steckte. Schnell entfernte sie die Düse und zog zu ihrem Erstaunen ein ganzes Bündel Geldscheine aus dem verstopften Rohr. Eine Unsumme Geld! Auf gar keinen Fall durfte sie es einfach so auf den Schreibtisch zurücklegen. Es machte sie wütend, dass jemand so sorglos mit seinem Geld umging. Schließlich konnten die Reinigungskräfte für das Verschwinden verantwortlich gemacht werden. In der Hoffnung, dass Alex das Gebäude noch nicht verlassen hatte, lief sie zum Konferenzsaal. Zu ihrer Erleichterung sah sie ihn am Tisch sitzen.

„Gehört das Ihnen?“, fragte Rosie und warf das Bündel ramponierter Geldscheine auf die blank polierte Tischplatte. „Es muss auf dem Fußboden gelegen haben und ist irgendwie in den Staubsauger geraten. Die Scheine sind womöglich eingerissen!“, fügte sie streng hinzu.

Ihre Verärgerung brachte Alexius beinahe zum Lachen. Sie kochte vor Wut, und ihre grünen Augen funkelten wie Edelsteine. „Es gehört mir. Vielen Dank“, sagte er beruhigend.

„Passen Sie besser darauf auf!“, riet sie ihm schroff. „Wenn das Geld weg gewesen wäre, hätte man die Reinigungskräfte des Diebstahls bezichtigt!“

„Ihre Rechtschaffenheit macht Ihnen alle Ehre“, erwiderte Alexius. Nun konnte er Sokrates ruhigen Gewissens sagen, dass seine Enkeltochter ein durch und durch ehrlicher Mensch war.

„Wie herablassend von Ihnen!“, fuhr Rosie ihn aufgebracht an. „Auch wenn ich arm bin, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht ehrlich bin! Sie stecken voller Vorurteile! Diebe und Betrüger gibt es in allen Gesellschaftsschichten.“

Entgeistert, dass eine Putzfrau sich das Recht herausnahm, ihn anzuschreien, bedachte Alexius sie mit einem eiskalten Blick. „Nun kenne ich Ihre Meinung. Und ich schätze Ihre Ehrlichkeit, auch wenn mir die Art und Weise, wie Sie mit mir reden, nicht gefällt. Gehen Sie jetzt“, befahl er. „Ich muss dringend telefonieren.“

Seine plötzliche Verwandlung entsetzte Rosie. Sie konnte nicht fassen, dass sie die Selbstbeherrschung verloren hatte und unangemessen laut geworden war. Kurz dachte sie daran, sich zu entschuldigen, entschied sich dann aber dagegen. Sein frostiger, distanzierter Blick und die ungeheure Autorität, die er ausgestrahlt hatte, verrieten ihr, dass sie eine Grenze überschritten und ihn verärgert hatte. Zum Glück war ihre Schicht beendet, und sie konnte das Gebäude verlassen.

„Macht es dir wirklich nichts aus, wenn ich mit dem Lieferwagen nach Hause fahre?“, fragte Zoe, als die beiden Frauen den Reinigungswagen durch das Foyer schoben.

„Nein. Ich habe doch schon gesagt, dass ich den Bus nehme“, antwortete Rosie gedankenverloren.

„Danke, Rosie“, sagte die dunkelhaarige Kollegin, während sie die Gerätschaften im Laderaum des Lieferwagens verstauten. „Mum war seit einer Ewigkeit nicht mehr bei ihrer Schwester. Und so kann ich sie morgen früh hinfahren und am Sonntagnachmittag wieder abholen.“

„Denke aber daran, den Wagen am Montagmorgen rechtzeitig zurückzubringen“, warnte Rosie die Kollegin.

„Du bist so still“, sagte Zoe plötzlich. „Ist heute Abend zwischen dir und dem Typen irgendwas vorgefallen?“

„Nein“, log Rosie.

Und es ist ja auch nichts vorgefallen, redete sie sich ein. Sie hatte einen Mann kennengelernt, der sie unwiderstehlich anzog, aber zwischen ihnen war nichts gewesen. Und das war auch gut so. Dennoch sah sie ihn immer noch vor sich, wie er in dem Konferenzsaal gestanden und sie voller Verachtung angesehen hatte. Das hatte sie verletzt. Allerdings musste sie zugeben, dass sie ihn zuvor angeschrien hatte. Sie konnte es ihm nicht verübeln, dass er sich darüber ärgerte. Sie hatte sein Geld gefunden und er hatte sich für ihre Ehrlichkeit bedankt. Was hätte er sonst tun sollen? Schnell schob sie den dunklen Schatten, der auf ihre Seele gefallen war, wieder beiseite.

2. KAPITEL

Rosie war auf dem Weg zur Bushaltestelle, als sich eine große breite Gestalt aus dem Schatten des Bürokomplexes löste und vor ihr aufbaute. „Rosie? Ich warte seit einer halben Ewigkeit auf dich.“

Nun war auch noch der letzte Rest ihrer guten Laune dahin. Es war Jason, der Freund ihrer ehemaligen Mitbewohnerin Mel. Der blonde, blauäugige Mann hatte die kantige Figur eines Bodybuilders, und seine breite Statur verlieh ihm etwas unmissverständlich Bedrohliches. Es ärgerte Rosie maßlos, dass er die Frechheit besaß, ihr aufzulauern, da sie ihm längst klargemacht hatte, dass sie nicht an ihm interessiert war. Herausfordernd hob sie das Kinn und funkelte ihn böse an. „Weshalb hast du auf mich gewartet?“, fragte sie vorwurfsvoll.

„Ich wollte dich sehen, mal mit dir reden. Mehr nicht“, erwiderte Jason, das gewaltige Kinn wie ein Ochse vorgereckt.

„Aber ich will nicht mit dir reden“, sagte sie entschieden und wollte an ihm vorbeiziehen.

Jason schloss eine Hand wie einen Fleischerhaken um Rosies Oberarm und hielt sie zurück. „Ich verdiene eine Chance …“

„Wie kommst du bloß darauf, dass du irgendetwas verdienst?“, gab Rosie zornig zurück. Seine sture Hartnäckigkeit machte sie noch wütender. Das Letzte, was sie in ihrer derzeitigen Verfassung gebrauchen konnte, war eine Auseinandersetzung mit dem Mann, der ihr schon genug Scherereien gebracht hatte. „Deine Aufdringlichkeit hat mich nicht nur die Freundschaft mit Mel, sondern auch meine Wohnung gekostet.“

„Mel und ich haben uns getrennt. Ich bin wieder zu haben“, erklärte Jason. „Deshalb bin ich hier.“

„Danke, kein Interesse. Lass mich los, Jason!“, rief Rosie empört und versuchte, sich aus seinem eisernen Griff zu befreien.

„Beruhig dich, Rosie. Ich will doch nur kurz mit dir reden.“

„Lass mich los!“, schrie Rosie aufgebracht. „Sofort!“

„Lassen Sie sie los“, mischte sich mit einem Mal eine Stimme ein. Die Worte waren ruhig, aber bestimmt vorgebracht.

Jason wirbelte herum, wobei er den Griff um Rosies Arm schmerzhaft verstärkte. „Was zum Teufel geht Sie das an?“, fragte er kampfeslustig.

Ängstlich starrte Rosie zu Alex Kolovos hin. Er war unbemerkt aus dem Bürogebäude getreten und hatte alles mit angesehen. Jasons Augen funkelten böse, seine Haltung wirkte bedrohlich.

„Lassen Sie Rosie sofort los!“, befahl Alexius. Im Licht der Straßenlampe wirkte sein Gesicht wie aus Stein gemeißelt.

„Mischen Sie sich bitte nicht ein“, bat Rosie und versuchte noch einmal, sich aus Jasons Umklammerung zu lösen.

Obwohl es eigentlich nicht seine Art war, den edlen Ritter für junge Damen in Not zu geben, hatte Alexius keine Sekunde lang gezögert. Als er aus dem Gebäude getreten war, hatte er die Situation mit einem Blick erfasst und gewusst, dass er einschreiten musste. Rosie steckte sichtlich in Schwierigkeiten.

„Ja, genau … mischen Sie sich nicht ein, oder Sie werden es bereuen!“, schrie Jason hasserfüllt. „Das ist eine Privatangelegenheit.“

„Wenn Sie eine Frau bedrohen, geht mich das schon etwas an“, sagte Alexius mit unverhohlener Verachtung und trat auf die beiden zu.

Laut fluchend schwang Jason eine Faust in Alexius’ Richtung. Rosie stöhnte erschrocken auf, doch Alexius duckte sich blitzschnell weg und platzierte einen Schlag in den Solar Plexus seines Angreifers. Nach Atem ringend torkelte Jason rückwärts und schubste Rosie brutal von sich, um beim nächsten Angriff beide Hände frei zu haben. Rosie verlor das Gleichgewicht und fiel auf das Straßenpflaster. Beim Aufprall schrie sie vor Schmerz laut auf. Dann hörte sie Jasons Wutschrei und kurz darauf das Geräusch weglaufender Füße.

Im nächsten Moment beugte sich Alex über sie und half ihr auf. „Bleiben Sie erst einmal sitzen“, befahl er, als er den Blutfleck bemerkte, der sich auf einem ihrer Hosenbeine ausbreitete. „Vielleicht ist etwas gebrochen.“

„Ich glaube nicht … es tut nur weh.“ Erst jetzt wurde sich Rosie des Schmerzes an Armen und Beinen bewusst. Sie verzog das Gesicht, stellte aber fest, dass sie sich lediglich die Haut an Ellbogen und Knien abgeschürft hatte.

Alexius hatte mittlerweile sein Handy herausgezogen und führte ein kurzes Telefonat auf Griechisch. „Ich bringe Sie zu einem Arzt“, sagte er nach dem Auflegen.

Rosie rappelte sich auf. „Das ist nicht nötig …“

Bei der abrupten Bewegung wurde ihr jedoch schwindelig, und sie sank auf den Boden zurück und ließ sich von Alexius stützen.

„Wo ist Jason?“, fragte sie beunruhigt.

„Da er bei mir auf größeren Widerstand gestoßen ist, hat sich Ihr Angreifer aus dem Staub gemacht. Sie müssen bei der Polizei unbedingt Anzeige gegen ihn erstatten.“

„Ich will wegen Jason nicht die Polizei einschalten“, sagte Rosie. Wenn sie zur Polizei ging, würde alles nur noch komplizierter werden, und Jason könnte ihr womöglich auflauern, sobald er von der Anzeige erfuhr. Bei der Vorstellung wurde Rosie ganz mulmig.

Ein Auto hielt neben ihnen. Der Fahrer stieg aus und öffnete die Seitentür. Alexius ging in die Knie und hob Rosie hoch. Es überraschte ihn, wie wenig sie in seinen Armen wog. Sie schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen. Vorsichtig legte er ihren zierlichen Körper auf die Rückbank des Autos und glitt neben ihr auf den Sitz. Die Tür schloss sich, und der Wagen fuhr los.

Rosie, die immer noch ganz benommen war, sah zu Alex auf und bemerkte seinen besorgten Blick. Die hellgrauen Augen funkelten wie Sterne in seinem bronzefarbenen Gesicht, vergessen war der frostige Moment vorhin im Konferenzsaal. Wenn er sie so ansah, fand sie ihn unwiderstehlich, und dieses Gefühl verunsicherte sie. Sie hatte Angst, sich wie ein verknalltes Schulmädchen zu benehmen. Schnell wandte sie den Blick ab und musterte die Innenausstattung des Wagens. „Wem gehört das Auto? Und wer ist der Fahrer?“, fragte sie beunruhigt.

„Das Auto gehört mir. Einer meiner Sicherheitsleute fährt, damit ich ein Auge auf Sie haben kann.“

„Wenn Sie so sicher sind, dass ich unbedingt zu einem Arzt muss, warum haben Sie dann keinen Krankenwagen gerufen?“, warf sie ein.

„Weil es so schneller geht“, gab er zurück. „Sie müssen zu einem Arzt, schließlich wurden Sie angegriffen.“

Da sich Rosie zu schwach zum Streiten fühlte, erwiderte sie nichts. Alex versuchte sie zu bevormunden, und diese Sorte Mann hatte sie noch nie leiden können. Typen wie Jason.

Ihre ehemalige Mitbewohnerin Mel war von Jason und seiner angeblich männlichen Ausstrahlung geblendet gewesen, bis sie die Schattenseiten seiner unvorhersehbaren Launen und Wutausbrüche kennengelernt hatte. Ganz zu schweigen von seiner Angewohnheit, sich an ihre Freundinnen heranzumachen, sobald es ihn überkam.

Natürlich kann man Alex Kolovos nicht mit Jason vergleichen, dachte Rosie schuldbewusst. Alex war praktisch ein Fremder und hatte dennoch Leib und Leben riskiert, um sie vor Jason zu beschützen.

„Hat Jason Ihnen wehgetan?“, flüsterte sie. Nach ihrem Sturz hatte sie nicht mitbekommen, wie die Auseinandersetzung verlaufen war.

Alexius rieb sich über das Kinn. „Er konnte einen Haken platzieren, bevor ich ihn zu Fall gebracht habe. Während meiner Schulzeit habe ich regelmäßig geboxt. Mehr als einen leichten Bluterguss werde ich nicht davontragen.“

„Es tut mir furchtbar leid“, murmelte Rosie. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mir auflauern würde.“

„Ist er Ihr Exfreund?“

„Um Himmels willen, nein! Mit so einem Menschen würde ich mich niemals einlassen. Er war mit einer Freundin von mir zusammen.“

Aufmerksam betrachtete Alexius sie. Ihr prachtvolles blondes Haar ergoss sich wie ein Wasserfall über die Sitzbank, und die großen grünen Augen hatten sich vor Sorge dunkel gefärbt. Der Schock schien ihr immer noch in den Gliedern zu sitzen. Sie war so klein und zerbrechlich, dass er versucht war, sie tröstend in die Arme zu nehmen.

Allein der Gedanke erschütterte ihn. Wann hatte er jemals einer Frau Trost spenden wollen? Sex war eine Sache, für die er jederzeit bereit war. Aber Trost und tiefere Gefühle standen auf einem ganz anderen Blatt. Er hatte richtig gehandelt, als er sie vor dem Angreifer beschützt hatte. Jetzt würde er noch dafür sorgen, dass sich ein Arzt um sie kümmerte. Für mehr Interesse oder gar Mitgefühl bestand keine Notwendigkeit. Er hatte längst beschlossen, sich bei Sokrates für sie einzusetzen. Obwohl ihr Verhalten ihn vorhin geärgert hatte, war Rosie ein durch und durch ehrlicher Mensch. Wenn er ihr das nächste Mal begegnete, würde sie wahrscheinlich schon bei ihrem Großvater in Griechenland sein.

Als er sie vorhin fortgeschickt hatte, hatte ihm die Gewissheit, dass das Versteckspiel vorbei war, seltsamerweise schlechte Laune bereitet. Dabei hätte er sich doch freuen sollen, dass der verhasste Auftrag endlich erledigt war …

Das Auto hielt in einem vornehmen Stadtteil vor einem hell erleuchteten Haus. Bevor Rosie widersprechen konnte, sprang Alexius aus dem Wagen und hob sie hoch. „Ich kann gehen“, protestierte sie. „Wo sind wir? Ich dachte, Sie würden mich in die Notaufnahme bringen.“

„Um dann stundenlang auf einen Arzt zu warten? Dr. Dimitri Vakros ist ein alter Freund von mir“, erklärte Alex.

Eine Sprechstundenhilfe führte Rosie in einen Umkleideraum, half ihr aus der verschmutzten Putzuniform und zog ihr einen Patientenkittel an. Danach wurde Rosie in einen Behandlungsraum gebracht, wo ein untersetzter Grieche sie auf der Untersuchungsliege Platz nehmen ließ. Der Arzt besah sich die Blutergüsse, die Jasons fester Griff auf ihrem Arm hinterlassen hatte, während die Sprechstundenhilfe die Schürfwunden an den Knien versorgte. Nach kurzer Zeit war die Behandlung beendet, und Rosie fühlte sich erleichtert, als sie an die vielen Stunden dachte, die sie vermutlich in der Notaufnahme verbracht hätte. Natürlich hätten Patienten mit schwereren Verletzungen dort Vorrang gehabt.

Allerdings wäre ich allein niemals in die Notaufnahme gegangen, dachte sie, während sie wieder in die Arbeitskleidung schlüpfte.

Wenn Rosie fiel, stand sie normalerweise einfach wieder auf und setzte ihren Weg fort. Die Sozialarbeiter, die in ihrer Kindheit für sie zuständig gewesen waren, hatten sie nicht gerade ermutigt, viel Aufhebens um ihre Person zu machen. Deshalb wunderte sie sich insgeheim, dass Alex Kolovos ein so großes Theater veranstaltet hatte, als wäre sie schwer verletzt.

„Alles in Ordnung“, erklärte sie Alex, der aufsprang, als Rosie das schicke Wartezimmer betrat. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass sein dunkler Nadelstreifenanzug wie angegossen saß. Der Schnitt betonte seine breiten Schultern, schmalen Hüften und langen Beine. Hitze stieg in Rosies Wangen, da ihr bewusst wurde, welcher Graben sich zwischen ihren beiden Gesellschaftsschichten auftat.

Der Arzt trat aus dem Behandlungszimmer und wechselte mit Alex ein paar Sätze auf Griechisch. Rosie verstand einzelne Wörter, da sie vor ein paar Jahren Griechischunterricht genommen hatte. Während der Unterhaltung warf der Arzt gelegentlich einen abschätzenden Blick in ihre Richtung. Er schien sich zu wundern, wieso Alex sich mit einer Person abgab, die ganz offensichtlich nicht seinem gesellschaftlichen Stand angehörte. Rosie errötete.

„Dr. Vakros behandelt vermutlich nur Privatpatienten“, bemerkte Rosie auf dem Weg nach draußen.

„Ja.“

„Er wird Ihnen die Behandlung doch nicht in Rechnung stellen, oder?“, fragte sie besorgt.

„Nein, er sieht das als Freundschaftsdienst.“

„Da bin ich aber froh“, sagte sie ein wenig befangen. „Ich mache mich jetzt besser auf den Weg. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Ich bringe Sie nach Hause“, verkündete Alex und ließ sich von dem Fahrer die Autoschlüssel geben.

„Das ist wirklich nicht nötig. Ich habe Sie schon lange genug aufgehalten.“

Alex warf ihr aus hellgrauen Augen einen strengen Blick zu. „Ich möchte Sie aber nach Hause bringen.“

Die Art, wie er es sagte, duldete keine Widerrede. Rosies Wangen färbten sich dunkelrot. Warum nahm er ihretwegen solche Mühen auf sich? War er nur ein barmherziger Samariter oder wollte er mehr von ihr? Aber was konnte er an ihr schon finden? Sie war winzig und flach wie ein Brett. Kein Mann hatte sich je nach ihr umgedreht. Beschämt von den eigenen Gedanken stieg sie auf den Beifahrersitz und schnallte den Sicherheitsgurt um. Er startete den Motor, hatte allerdings Schwierigkeiten mit der Gangschaltung und schimpfte auf Griechisch.

„Das Auto ist neu. Ich bin noch nicht oft damit gefahren“, entschuldigte er sich. Innerlich fluchte er, dass er so selten selbst fuhr. Seit seiner Kindheit hatte ihm ein Chauffeur zur Verfügung gestanden.

Rosie war bemüht, bei dieser Ausrede nicht zu lächeln. Insgeheim fragte sie sich, was das zu bedeuten hatte. Alex musste sich zwar das Büro mit einem Kollegen teilen, verfügte aber über einen eigenen Firmenwagen mit Chauffeur. Hatte er bei STA Industries etwa doch eine gehobene Position inne? Sie ließ den Blick aus dem Fenster schweifen und bemerkte, dass sie in die falsche Richtung fuhren.

Sie hatte vergessen, ihm die Adresse zu geben, und holte das Versäumnis sofort nach.

Bald wurde ihr klar, dass er sich im Londoner Straßenverkehr überhaupt nicht zurechtfand. Also lotste Rosie ihn durch die Stadt und zuckte jedes Mal zusammen, wenn er an einer Ampel den Motor abwürgte.

„Wollen Sie mit mir essen gehen?“, fragte er wie beiläufig, als sie fast bei Rosies Wohnung angelangt waren.

Überrascht über die Einladung warf Rosie ihm einen unsicheren Seitenblick zu. Im selben Moment knurrte ihr leerer Magen, und sie versuchte das Geräusch durch einen gespielten Hustenanfall zu übertönen. „Danke, ich habe schon gegessen“, antwortete sie schnell.

„So wie sich das anhört, sind Sie genauso hungrig wie ich“, bemerkte Alex amüsiert.

Der Hustenanfall hatte ihn also nicht getäuscht. Wieder errötete Rosie. Nie hatte sie sich in der Nähe eines Mannes so unsicher gefühlt. Der Zufall hatte sie zusammengeführt, und er hatte sie spontan eingeladen. Warum sollte sie nicht darauf eingehen? Ein Essen verpflichtete sie schließlich zu nichts.

„In der Nähe meiner Wohnung gibt es ein kleines Lokal“, erklärte sie. „Nichts Besonderes, aber das Essen ist gut.“

„Okay.“ Alex fuhr den Wagen in eine Parkbucht. Er hatte bei Rosie wieder Boden wettgemacht und würde sein eigentliches Ziel hartnäckig verfolgen. Da die Aufgabe seines Patenonkels erfüllt war, konnte er Sokrates nicht länger als Vorwand benutzen, Zeit mit ihr verbringen zu wollen. Jetzt würde Alexius tun, wonach ihm der Sinn stand. Als er das schäbige Restaurant in der heruntergekommenen Straße erblickte, zuckte er innerlich zusammen. In so einem Laden hatte er noch nie zuvor gegessen. Der gewaltige Graben, der sich zwischen ihren jeweiligen Lebensstilen auftat, irritierte ihn. In die Rolle eines anderen Menschen zu schlüpfen, brachte ungeahnte Herausforderungen mit sich.

Erleichtert, dass sie zu Hause nicht mehr kochen musste, betrat Rosie das Selbstbedienungsrestaurant. Wegen der langen Öffnungszeiten war es vor allem bei Schichtarbeitern beliebt. Rosie nahm ein Tablett vom Stapel und sah sich nach Alex um. Er stand hinter ihr und schaute sich mit großen Augen im Lokal um.

„Man bedient sich selbst?“, fragte er verwundert.

Wortlos drückte Rosie ihm ein Tablett in die Hand und reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Von einem nahegelegenen Tisch her starrten drei Frauen begeistert zu Alex hin. Er dagegen schien das unverhohlene Interesse nicht zu bemerken, denn er schaute angestrengt auf die Speisekarte an der Wand. Er ist fast schon zu attraktiv, dachte Rosie versonnen.

Sie kannte dieses Gefühl von den Fotos her, die sie von ihrem Vater Troy Seferis besaß. Ihr Vater war äußerst attraktiv gewesen, und das hatte seinen Charakter verdorben. Zeit ihres Lebens war Rosie deshalb bei schönen Männern argwöhnisch gewesen. Jetzt überlegte sie zum ersten Mal, ob sie sich dabei nicht von einem Vorurteil hatte leiten lassen. Alex war ihr bei Jason selbstlos zur Hilfe geeilt, und er kam ihr absolut nicht eitel oder oberflächlich vor. Mit seinem schwarzen Haar, dem markanten bronzefarbenen Gesicht und dem durchtrainierten Körper war er ein Bild von einem Mann. Und er war mit ihr hier. In einem Anflug von Selbstbewusstsein warf Rosie die Schultern zurück und lächelte zufrieden.

An der Kasse wollte Rosie für ihr eigenes Essen zahlen, was ihren Begleiter sichtlich verstimmte.

„Wenn ich dabei bin, bezahlt keine Frau selbst“, erklärte er arrogant und drückte der Kassiererin das Geld in die Hand.

Rosie kniff die Lippen zusammen. Sie fühlte sich überrumpelt. Als sie Besteck und Serviette nahm, stand Alex unschlüssig neben ihr. Rosie verdrehte innerlich die Augen und legte Besteck auf sein Tablett. Für einen erwachsenen Mann wirkt er manchmal ganz schön weltfremd, dachte sie, als sie vorausmarschierte, um einen freien Tisch zu suchen.

„Warum wollten Sie nicht, dass ich Ihr Essen bezahle?“, fragte er, sobald sie sich gesetzt hatten.

„Wenn ich mit einem Mann essen gehe, bezahle ich immer selbst“, erklärte sie steif. „So gibt es keine Missverständnisse.“

Er musterte sie unter langen schwarzen Wimpern. Oh ja, dieses Mädchen würde Sokrates gefallen. Sehr sogar. Allerdings fand Alexius ihre Einstellung eher befremdlich. „Erzählen Sie mir alles über diesen Jason“, verlangte er.

„Bis vor zehn Tagen habe ich mir mit meiner Freundin Melanie eine Wohnung geteilt. Jason war Mels Freund. Eines Abends hielt er mich in der Küche fest und versuchte, mich zu küssen. In diesem Moment kam Mel herein“, berichtete Rosie und verdrehte bei der unschönen Erinnerung die Augen gen Himmel. „Mel gab mir die Schuld und meinte, ich hätte ihn dazu ermuntert. Dann sagte sie mir, ich solle ausziehen. Ich dachte, sie würde sich wieder beruhigen, wenn sie erst einmal eine Nacht darüber geschlafen hatte. Aber am nächsten Morgen kam sie in mein Zimmer, behauptete, ich hätte ihr den Freund ausspannen wollen, und fing an, meine Sachen zu packen. Sie hat mich vor die Tür gesetzt …“

„Und Jason?“

„Sie hat ihm verziehen. Zumindest dachte ich das. Doch vorhin meinte er, sie hätten sich getrennt“, erklärte sie. „Ich möchte auf jeden Fall nichts mit ihm zu tun haben.“

„Er scheint Probleme mit seiner Selbstbeherrschung zu haben“, bemerkte Alexius trocken.

„Kommen Sie aus Griechenland?“, fragte sie plötzlich. „Als Sie vorhin mit dem Arzt sprachen, meinte ich, ein paar Wörter verstanden zu haben.“

Er zuckte zusammen. „Sie sprechen Griechisch?“

„Nur ein paar Sätze für Touristen“, erklärte sie und senkte den Kopf. Eine Haarsträhne löste sich und fiel ihr über die Wange. „Ich habe mal einen Kurs belegt, aber die Sprache war doch schwieriger als erwartet.“

„Warum Griechisch?“ Zu seiner Überraschung stellte Alexius fest, dass er es sogar genoss, in dem schäbigen kleinen Restaurant zu sitzen, solange Rosie ihm gegenübersaß und er ihr hübsches Gesicht mit den wundervollen Augen betrachten konnte.

Auch Rosie betrachtete ihn. Bartstoppeln zeichneten sich an seinem Kinn ab und umrahmten seinen sinnlich geschwungenen Mund. Das sah ungeheuer sexy aus. Ihr Magen machte einen kleinen Salto. „Mein Vater war Grieche“, gestand sie, ein wenig verstört darüber, dass er sie wie ein Magnet anzog. So etwas hatte sie noch nie erlebt. „Ich kannte ihn nicht. Er hat sich vor meiner Geburt von meiner Mutter getrennt und ist kurz darauf gestorben.“

„Und Ihre Mutter?“

„Sie starb, als ich sechzehn war. Sie war Diabetikerin, lebte aber nicht danach und starb an einem Herzinfarkt. Andere Verwandte habe ich nicht. Und Sie?“