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DIE HOCHZEIT DES PRINZEN von JORDAN, PENNY Alexandra muss die Frau des Thronfolgers werden, um das kleine Fürstentum im Mittelmeer zu retten. Nur wie soll sie eine Vernunftehe führen, wenn sie Prinz Maximilian so begehrt? Sich nach der Nähe dieses Mannes sehnt, der nur Pflichterfüllung zu kennen scheint, aber keine Liebe … NUR BEI DIR FÜHL ICH MICH GEBORGEN von MORGAN, SARAH Der faszinierende Milliardär Silvio Brianza entführt die schöne Nachtclubsängerin Jessie auf seine Luxusjacht. Nur hier ist sie sicher vor ihren Verfolgern! Oder? Die brodelnde Leidenschaft zwischen Silvio und ihr bringt Jessies Herz in höchste Gefahr … VERZAUBERT VOM FEST DER LIEBE von BRAUN, JACKIE Weihnachten? Kein Fest für den attraktiven Witwer Dawson Burke! Doch er hat nicht mit der hübschen Eve gerechnet. Sie sollte nur die Geschenke für seine Familie besorgen. Aber dann bringt sie mit ihrer ebenso bezaubernden wie beharrlichen Art das Eis um sein Herz zum Schmelzen … UND IMMER WIEDER DU! von CLAIR, DAPHNE Das Gefühl seiner Lippen auf ihrer Haut, als er sie auf der Hochzeit ihres besten Freundes unvermittelt küsst … Irgendetwas Wildes, Verzehrendes ist da zwischen Samantha und Jase Moore. Etwas, das sie besser vergessen sollte! Doch schneller als gedacht trifft sie Jase wieder …
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erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
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Originaltitel: „Taken By The Pirate Tycoon“
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in der Reihe: MODERN ROMANCE
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Übersetzung: Anike Pahl
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Originaltitel: „The Tycoon‘s Christmas Proposal“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: ROMANCE
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Übersetzung: Dr. Susanne Hartmann
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Erste Neuauflage by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe: JULIA EXTRA, Band 322 (12) 2010
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Sarah Morgan
Nur bei dir fühl ich mich geborgen
1. KAPITEL
Sie befand sich in Lebensgefahr. Zwei Jahre in diesem zwielichtigen Viertel hatten Jessies Sinne geschärft. Ständig war sie auf der Hut. Nur deshalb waren ihr die Männer aufgefallen, die mehr tranken, als ihnen guttat. Joe gefiel das natürlich, denn wenn sie betrunken waren, merkten sie nicht, dass er ihnen zu viel berechnete.
Von der Bühne aus konnte sie genau sehen, wie viele Banknoten den Besitzer wechselten und wie viele Flaschen Whisky konsumiert wurden. Die Augen der Männer wurden immer glasiger, während sie ungerührt weitersang – mit dieser weichen, samtigen Stimme. Das ungute Gefühl im Magen ignorierte sie. Die Songs handelten von Liebe und Enttäuschung. Die meisten Gäste in Joes Bar waren einsame Männer, die mehr von Enttäuschung als von Liebe wussten. Genau wie sie selbst.
Natürlich war das hier nicht gerade ein Traumberuf, aber Jessie hatte schon mit fünf Jahren aufgehört zu träumen.
„He, Puppe!“ Ein dicht vor der Bühne sitzender Mann wedelte mit einem Geldschein. „Ich hätte gern eine Privatvorstellung. Komm runter und sing das Lied auf meinem Schoß!“
Jessica wich zurück, ohne aus dem Takt zu kommen, warf den Kopf zurück und brachte die letzte Strophe mit geschlossenen Augen hinter sich. Wenigstens konnte sie sich so einbilden, woanders zu sein. Statt vor diesen ungehobelten, vom Leben enttäuschten Männern, stand sie auf der Bühne eines ausverkauften Stadions. Die Zuschauer hatten eine Monatsmiete bezahlt, nur um ihre Stimme zu hören. In ihrer Fantasie litt sie auch nicht unter nagendem Hunger und trug keinen billigen Fummel, den sie schon wer weiß wie oft ausgebessert hatte. Und sie war nicht allein.
Da draußen wartete jemand auf sie.
Jemand, der sie nach ihrem Auftritt abholte und sie in ein warmes, gemütliches und sicheres Zuhause begleitete.
Das Lied war verklungen. Jessie schlug die Augen auf und sah, dass tatsächlich jemand auf sie wartete.
Eine Gruppe von Männern, die allerdings eher einem schrecklichen Albtraum entsprungen zu sein schienen und ganz gewiss keine Traummänner waren.
Ihr war sofort klar, dass die Typen es auf sie abgesehen hatten. Die Angst, die sie schon so lange begleitete, hatte ihr fast alle Kraft genommen.
Beim letzten Mal war sie mit Blutergüssen davongekommen. Erst nach einer Woche hatte sie wieder auftreten können. Doch dieses Mal würden die Männer es nicht bei einer Warnung belassen.
Ihr Mund wurde trocken, das Herz raste. Doch dann fiel Jessie ein, dass sie einen Plan hatte.
Und ein Messer im Strumpfhalter.
Er saß ganz hinten und genoss es, in der Dunkelheit unerkannt zu bleiben und nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Am Abend zuvor war er mit einem Starlet am Arm über einen roten Teppich gewandelt. Durch seine Geschäfte hatte er es zum Milliardär gebracht, bevor er dreißig geworden war. Das privilegierte Leben der Superreichen gefiel ihm, doch er hatte dabei nie seine Wurzeln vergessen. In dieser zwielichtigen Gegend war er aufgewachsen – umgeben von Trunkenbolden, Gewalt und tödlicher Gefahr. Bis er es eines Tages nicht mehr ausgehalten und beschlossen hatte, diese Welt hinter sich zu lassen.
Jeder andere hätte so eine Vergangenheit wahrscheinlich unter den Tisch fallen lassen, doch dazu war Silvio zu geradlinig. Warum sollte er sich neu erfinden? Er fand es sehr amüsant, wie anziehend Frauen die Narben fanden, die an seine dunkle Vergangenheit erinnerten.
Offenbar standen Frauen auf „schwere Jungs“. Wenn die wüssten, wie es in meiner Seele aussieht, würden sie schreiend das Weite suchen, dachte er. Den Frauen, mit denen er sich abgab, gefiel wohl seine Gefahr ausstrahlende Aura, doch vor der Realität wären sie zurückgeschreckt. Silvio wusste, dass auch das Mädchen auf der Bühne gefährlich lebte.
Er konnte kaum fassen, wie tief sie gesunken war, und empfand ein ihm sonst fremdes Schuldgefühl.
Es war seine Schuld, dass sie dieses Leben führte.
Seine Anspannung wuchs, als sie die Hüften im Takt bewegte und ein Mann in seiner Nähe bei diesem sexy Anblick das Glas fallen ließ, das er in der Hand gehalten hatte. Das Geräusch zersplitternder Gläser war in dieser Umgebung alltäglich und erregte daher kaum Aufsehen. Vielleicht lag das auch daran, dass die Männer schon zu benebelt waren.
Silvio blieb reglos sitzen. Den Whisky auf seinem Tisch rührte er nicht an. Das Glas war nur Staffage. Er wusste genau, was auf ihn zukam, und konnte es sich nicht leisten, sich die Sinne zu betäuben.
Er stand zu seinen Fehlern, und diesen einen wollte er jetzt endlich ausbügeln.
Niemals hätte er sie verlassen dürfen.
Gleichgültig, wie schwierig ihre Beziehung auch gewesen sein mochte und wie sehr sie ihn hasste – er hätte bei ihr bleiben müssen.
Das Mädchen bewegte sich graziös auf der Bühne, verführte die Zuschauer, erhöhte ihre Pulsfrequenz und weckte Hoffnungen in ihnen. Ihre dunklen Samtaugen und der lockende Mund verhießen das Paradies auf Erden.
Silvio kannte sie seit ihrer Kindheit, hatte gesehen, wie Jessie zu einer wunderschönen Frau herangereift war.
Die Natur hatte es gut mit ihr gemeint und ihr eine unglaubliche Stimme geschenkt. Jessie sang mit so viel Gefühl und Leidenschaft, dass Silvio ein Schauer über den Rücken lief. Jessies Hüftschwung erregte ihn, doch das missfiel ihm, denn er hatte sich nie gestattet, erotische Gefühle für sie zu hegen.
Unwillig verzog er das Gesicht. Das war streng verboten. Weder er noch Jessie hatte dem erotischen Knistern zwischen ihnen je nachgegeben, und sie würden es auch niemals tun.
Jetzt sang sie eine Ballade, eine langsame, glutvolle Klage gegen einen Mann, der ihr das Herz gebrochen hatte. Silvio zog die Augenbrauen zusammen. Er wusste genau, dass dieses Lied nicht auf ihren eigenen Erfahrungen beruhte, denn Jessie hatte noch nie einen Mann auch nur in die Nähe ihres Herzens gelassen.
Schon als Kind hatte sie ihre Gefühle einfach ausgeschaltet. Nur ihr Bruder war zu ihr durchgedrungen.
Jetzt konnte er doch einen Schluck vertragen. In einem Zug leerte er das Glas, wobei er die junge Frau auf der Bühne keine Sekunde lang aus den Augen ließ.
Die ebenholzschwarzen Locken fielen ihr über die nackten Schultern, die verführerischen Kurven ihrer fantastischen Figur kamen in dem goldfarbenen Minikleid, das kaum die Oberschenkel bedeckte, besonders gut zur Geltung. Fast nichts blieb der Fantasie überlassen.
Wahrscheinlich war das Absicht.
Ein Mann, der nach Gold suchte und auf Jessie stieß, würde glücklich sterben.
Der Whisky brannte in seiner Kehle. Oder war es Wut? Das war während seiner Abwesenheit also aus Jessie geworden? Nur mit Mühe konnte er den Impuls unterdrücken, aufzuspringen und sie von der Bühne zu zerren, damit sie den lüsternen Blicken der Männer nicht mehr ausgesetzt war.
So eine Szene hätte allerdings die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt, und das galt es zu verhindern. Aber es ist das letzte Mal, dass sie auf dieser Bühne steht, schwor er sich.
Der Wirt kam an den Tisch, doch Silvio lehnte einen weiteren Drink ab. Sein eisiger Blick fiel nun auf die Männer am Nebentisch.
Er kannte sie alle, und er wusste, dass Jessie in großer Gefahr schwebte.
Es war ein Fehler gewesen anzunehmen, dass sie ohne ihn besser aufgehoben wäre. Warum hatte er ihre Forderung, endgültig aus ihrem Leben zu verschwinden, nicht einfach ignoriert? Doch das war unmöglich gewesen, denn ihre Vorwürfe entsprachen alle der Wahrheit.
Silvio presste die Lippen zusammen, als ihm bewusst wurde, dass er keinen schlechteren Abend hätte erwischen können, wieder in ihrem Leben aufzutauchen. Es war der dritte Todestag ihres Bruders.
Und er trug die Schuld an seinem Tod.
Da sie wusste, dass sie keine Zeit zu verlieren hatte, verzichtete Jessie darauf, sich umzuziehen. Sie zog sich in der Besenkammer, die Joe lächerlicherweise als Künstlergarderobe bezeichnete, nur schnell eine Jacke über und schlüpfte in Joggingschuhe, die ihr zu klein waren. Doch sie ignorierte den Schmerz – sie war daran gewöhnt.
In weniger als einer Minute hatte sie das Etablissement verlassen und verdrängte die in ihr aufsteigende Angst. Wenn sie ihr jetzt nachgäbe, wäre alles verloren.
Und sie musste es für Johnny tun.
Handelte es sich um einen Zufall, oder wussten die Männer, was für einen Tag sie sich ausgesucht hatten?
Bei dem Gedanken an ihren Bruder kamen ihr fast die Tränen. Johnny war immer für sie da gewesen, aber sie war nicht in der Lage gewesen, ihn zu retten, als er in Schwierigkeiten steckte.
Jessie befand sich in dem finsteren Durchgang hinter dem Club und fragte sich, ob nun ihr letztes Stündlein geschlagen hätte. Würde sie hier auf diesem schmutzigen Pflaster enden, wo es niemanden interessierte, ob sie tot oder lebendig war?
„Wenn das nicht unsere Puppe ist.“ Die lallende Männerstimme durchdrang die Dunkelheit, aus der mehrere maskierte Männer auftauchten. „Hast du das Geld, oder gibst du uns eine Privatvorstellung?“
Jessie überspielte ihre Todesangst und lächelte. „Das Geld habe ich nicht, dafür aber etwas viel Besseres“, erwiderte sie mit lockender Stimme. „Aber dazu musst du schon näher kommen.“ Sie schenkte dem Anführer ein provozierendes Lächeln. „Einer nach dem anderen.“
Der Mann lachte abfällig. „Ich wusste ja, dass du Vernunft annehmen würdest. Warum verdeckst du das goldene Kleid?“ Er schlenderte auf sie zu. Äußerlich ruhig rührte sie sich nicht vom Fleck. Dabei kam sie fast um vor Angst.
„Weil es regnet.“ Sie knöpfte die Strickjacke auf und beobachtete zufrieden, wie dem Mann fast die Augen aus dem Kopf fielen. Sein Verstand war ausgeschaltet. Männer waren so leicht zu durchschauen. „Mir ist kalt.“
„Das wird sich gleich ändern, Puppe. Zu sechst werden wir dir mal so richtig einheizen.“ Unmittelbar vor ihr blieb er stehen und machte sich vor seinen Kumpanen wichtig. „Wo sind die sexy Stöckelschuhe?“ Brutal zerrte er ihr die Strickjacke von den Schultern, wobei das dünne Gewebe zerriss. „Ich hoffe, du hast die sexy Pumps dabei, Puppe. Sonst muss ich dich bestrafen.“
„Hier sind sie doch“, flötete Jessie zuckersüß. Wütend, weil er ihre einzige Strickjacke ruiniert hatte, stieß sie mit dem spitzen Absatz direkt in die Lendengegend ihres Gegners.
Der Mann heulte auf vor Schmerz und ging zu Boden.
Einen Moment lang war Jessica über diesen Anblick selbst schockiert, dann ließ sie den Schuh fallen, drehte sich um und rannte los.
Das Wasser spritzte nur so aus den Pfützen auf, als sie keuchend weiterhetzte.
Hinter ihr stießen die Männer laute Flüche aus und begannen, ihr nachzusetzen.
Wie eine Meute wilder Jagdhunde hetzten sie hinter ihr her und kamen immer näher.
Sollte sie sich von hinten überfallen lassen oder sich lieber umdrehen, damit sie den Feind im Blick hatte?
Sie wollte sehen, was passierte.
Und dann stieß sie mit einem muskulösen Mann zusammen, der ihre weitere Flucht unmöglich machte.
O nein! Einem der Männer musste es gelungen sein, ihr den Weg abzuschneiden. Sie saß in der Falle!
Das war das Ende.
Einen Moment lang erstarrte sie wie ein verängstigter Vogel in den Fängen eines Habichts, dann riss sie das Geräusch näher kommender Schritte aus ihrer Trance.
Instinktiv kämpfte sie ums Überleben. Blitzschnell zog sie ein Knie an, um den Mann dort zu treffen, wo es am schmerzhaftesten war, doch der wich geschickt aus und zog Jessie so eng an sich, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte.
Verzweifelt suchte sie nach einer Schwäche dieses kräftigen Mannes – vergeblich. So eng an einen gut gebauten Mann gepresst zu sein, entfesselte jedoch ungeahnte Gefühle in ihr. Zur Panik gesellte sich etwas Intimes und sehr Beängstigendes. An ihrem geheimsten Ort pulsierte es, und Jessie wehrte sich schockiert gegen diese plötzliche Erregung. Wahrscheinlich hat das etwas mit Adrenalin zu tun, dachte sie und versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien. Fassungslos machte sie sich bewusst, dass sie in der Sekunde des Todes heftiges Verlangen empfand.
Wie ließ sich das erklären? Während sie darüber rätselte, bemerkte sie, dass es dem Mann genauso ging. Auch er war erregt.
Aha, also besaß auch er eine Schwachstelle – natürlich, wie alle Männer.
Die musste sie sich zunutze machen. Jessie ließ eine Hand an seinem gestählten Körper hinuntergleiten und berührte das Zentrum seiner Erregung.
Der Mann reagierte schockiert und lockerte für einen Sekundenbruchteil seinen Griff. Darauf hatte Jessie gewartet. Sie versetzte ihm einen heftigen Faustschlag und rannte los.
Keine drei Schritte weiter befand sie sich erneut in seinem stählernen Griff.
„Maledizione! Mach das nie wieder!“ Die wütende Männerstimme drang durch Jessies Panik. Jetzt erschrak sie erst recht, denn sie wusste nur zu gut, wem diese Stimme gehörte.
Fassungslos starrte sie in das Gesicht, dem sie gerade einen Fausthieb verpasst hatte. „Silvio?“
„Halt den Mund! Kein Wort mehr!“ Der Griff um ihre Handgelenke wurde noch fester, als die Männer sie schließlich erreicht hatten.
Silvio Brianza! Der Schock saß tief.
Vor ihrem geistigen Auge tauchten die Bilder ihrer letzten Begegnung auf. Bilder, die sie aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte.
„Danke, Kumpel, dass du sie eingefangen hast.“ Das war nicht der Mann, dem sie den Hieb mit dem spitzen Absatz verpasst hatte. Wahrscheinlich wälzte der sich noch stöhnend auf der nassen Straße. Aber das war ihr völlig egal.
Die Männer kümmerten sie nicht mehr.
Plötzlich konzentrierte sie sich ausschließlich auf den Mann, der sie fest an sich gepresst hielt.
Auf ihren zaghaften Versuch, sich von ihm zu lösen, reagierte er wütend. Musste ausgerechnet Silvio ihr Retter sein?
„Lass mich los! Ich will deine Hilfe nicht.“
„Natürlich nicht. Du kommst ja bestens allein zurecht.“ Sein scharfer Tonfall trieb ihr die Schamröte in die Wangen. Es war so erniedrigend, dass er sie in diesem Aufzug sah!
„Ich komme schon klar“, behauptete sie wider besseres Wissen. Aber Silvio Brianza würde es sowieso niemals zulassen, eine Frau für sich kämpfen zu lassen. Dazu war er zu sehr Mann.
Und was für ein Mann. Erneut errötete sie, weil sie daran erinnert wurde, wie er sich angefühlt hatte. Zum Glück bemerkte in der Dunkelheit niemand ihre Verlegenheit. Jessie lachte hysterisch auf.
Im Angesicht des Todes dachte sie an Sex. Es war unglaublich. Nur dieser eine Mann hatte je so eine Wirkung auf sie ausgeübt. Schon immer hatte er ihre Gedanken in verbotene Bahnen gelenkt.
„Die bringen dich um, Silvio.“
„War das nicht dein Wunsch?“
Er spielte auf ihre letzte Begegnung an. Jessie lief ein eisiger Schauer über den Rücken.
Wie viele einsame Nächte hatte sie damit verbracht, sich sein Schicksal auszumalen? Tausend Möglichkeiten, Silvio Brianza ins Jenseits zu befördern.
Aber wollte sie wirklich, dass er starb? Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, weil schon allein Silvios Gegenwart wildes Verlangen in ihr entfesselte. Ihr fiel nur auf, dass ihre Todesangst plötzlich verflogen war. Silvio gab Jessie Sicherheit. Genau das war ein Witz. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie in größerer Gefahr geschwebt.
„Jetzt verschwinde! Sie gehört uns.“ Die raue Stimme klang bedrohlich. „Überlass sie uns, und setz dich wieder in deinen Nobelschlitten! Mit dir haben wir ja keinen Streit.“
Nobelschlitten?
Jessie wandte den Kopf und entdeckte einen Ferrari am Ende des Durchgangs. Er kam ihr vor wie das Tor zu einer anderen Welt und erinnerte sie daran, dass Silvio es geschafft hatte.
All dies hatte er hinter sich gelassen. Das hier war nicht mehr seine Welt. Aber was tat er dann hier?
Warum kehrte er ausgerechnet heute Nacht zurück in seine Vergangenheit?
Der Mann, den sie vorübergehend außer Gefecht gesetzt hatte, stand nun auch wieder an der Seite seiner Kumpanen und musterte Jessie böse.
In seinen glasigen Augen las sie eine Todesdrohung. Seltsam distanziert bereitete sie sich auf das Ende vor. Mit Silvio an ihrer Seite würde es unweigerlich zu einem Kampf kommen, den sie aber nicht gewinnen konnten.
Würde es am Ende schnell gehen? Womit würden die Männer sie töten? Mit einem Messer? Mit einer Schusswaffe?
Plötzlich wurde ihr klar, dass sie Silvios Tod nicht wollte. Er sollte nicht ihretwegen sterben.
Sie atmete tief durch und wollte ihm diesen Wunsch mitteilen, doch bevor sie dazu kam, neigte Silvio den Kopf und gab ihr einen flüchtigen, aber heißen Kuss.
Jessie war viel zu schockiert, um zu protestieren, vielleicht hielt sie aber auch still, weil sie sich insgeheim gerade gewünscht hatte, in Silvios Armen zu liegen. Sehnsüchtig gab sie dem Druck seiner Lippen nach und erwiderte den Kuss mit verzweifelter Leidenschaft. Ihr Verlangen stand seinem in nichts nach.
Schon als Teenager hatte sie sich vorgestellt, wie es wäre, von Silvio geküsst zu werden. Selbst nach der schrecklichen Nacht, die ihre Welt verdunkelt und ihre Einstellung zu ihm drastisch verändert hatte, träumte sie noch immer von ihm.
Doch die Wirklichkeit übertraf alle ihre Fantasien.
Silvios Kuss verbannte alle Gedanken aus ihrem Kopf – bis auf einen …
Sollte sie wirklich sterben müssen, dann bitte jetzt, in diesem Moment.
Das Feixen der Männer hinter ihr drang zu ihr hindurch. „Die kriegen gar nicht genug“, beschwerte sich einer der Männer.
Jessie war noch ganz benommen von dem Kuss und merkte erst, dass Silvio sie losgelassen hatte, als er aus dem Schatten trat. Diese simple Bewegung wirkte so bedrohlich, dass Jessie fasziniert und ängstlich zugleich erschauerte. Schweigend und ohne irgendeine Gefühlsregung sah er die Männer an. Silvio Brianza, der einsame Krieger, dachte sie.
Sie wollte ihm zurufen, nicht sein Leben für sie aufs Spiel zu setzen, brachte aber kein Wort über die Lippen, weil sie noch immer unter dem Eindruck des leidenschaftlichen Kusses stand.
Und dann wurde ihr bewusst, dass die Szene sich ganz anders als befürchtet abspielte. Statt Silvio anzugreifen, wichen die Männer zurück und starrten ihn an.
Aus einer Regenrinne hinter ihr tropfte Wasser auf Jessies Nacken. Sie zitterte und versuchte zu verstehen, was sich vor ihren Augen abspielte.
Wieso wichen sechs Männer vor einem einzigen Gegner zurück? Verwirrt schaute sie Silvio an und bemerkte, das er im flackernden Licht einer einzigen Glühbirne stand, die offensichtlich den heruntergekommenen Durchgang beleuchten sollte.
Plötzlich wurde ihr klar, was die Männer gesehen hatten: Die markante Narbe, die über einer Wange verlief und den einzigen Makel auf dem ansonsten perfekten, wie von Michelangelo höchstpersönlich gemeißelt erscheinenden Männergesicht darstellte.
Angestrengt versuchte Jessie zu hören, was Silvio sagte. Doch das Geräusch des herabprasselnden Regens machte das fast unmöglich.
Einmal meinte sie jemanden „der Sizilianer“ sagen zu hören, aber vielleicht hatte sie sich auch geirrt. Die Männer waren offensichtlich nicht daran interessiert, sie ins Gespräch zu ziehen.
Gerade als sie überlegte, ob sie sich nicht unbemerkt aus dem Staub machen könnte, wandten sie sich jedoch alle ihr zu.
Für einen Sekundenbruchteil befürchtete sie, Silvio würde sich auf die Seite ihrer Gegner schlagen. Immerhin hatte er ja viele Jahre mit solchen Typen verbracht und war Anführer der meistgefürchteten Bande gewesen.
Jetzt streifte er sie mit einem drohenden Blick aus den dunklen Augen und war ihr einen Moment lang ganz fremd. Nun wusste sie, was die anderen gesehen hatten. Und es machte ihr Angst.
Jessie atmete tief durch. Instinktiv spürte sie, dass dieser Mann ihr niemals körperlich wehtun würde. Und seelisch? Was eine unglückliche Kindheit nicht vermocht hatte, war ihm gelungen: Er hatte ihr Herz in lauter kleine Stücke gebrochen.
Atemlos betrachtete Jessie die Narbe, dann fing sie Silvios Blick auf. Die Spannung stieg ins Unermessliche. Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, kam Silvio auf sie zu.
Er war beängstigend gelassen, und Jessie wollte ihn warnen, der Meute nicht den Rücken zuzuwenden. Andererseits wollte sie nicht riskieren, dass die Männer aus ihrer Starre erwachten.
Jetzt stand Silvio vor ihr und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Die zärtliche Geste passte ganz und gar nicht zu der angespannten Situation, in der sie sich alle befanden. Er wollte damit wohl ausdrücken, dass sie zu ihm gehörte. Jessie konnte das nicht verstehen, denn sie standen ja in keiner Beziehung mehr zueinander.
Ihre Beziehung war vor genau drei Jahren zerbrochen, als sie sich in einem völlig verwahrlosten Zimmer über den leblosen Körper ihres Bruders gebeugt hatten.
Silvio zog die Hand zurück. „Auf geht’s. Steig ins Auto!“, befahl er. Widerspruchslos gehorchte sie, nicht weil sie sich tatsächlich ins Auto setzen wollte, sondern weil seine autoritäre Erscheinung sie genauso in den Bann schlug wie die angetrunkenen Männer. Jessie schob sich auf den Beifahrersitz des wunderbar warmen Ferrari und fühlte sich in eine andere Welt versetzt. Silvio setzte sich ans Steuer und ließ den Motor aufheulen. Oder kam das Geräusch aus seiner Kehle? Offenbar hatte Jessie sich geirrt. Silvio war alles andere als gelassen.
Er schien vor Wut ganz außer sich zu sein. So aufgebracht kannte sie ihn gar nicht. Früher hatte er seine Gefühle immer unter Kontrolle gehabt. Sogar in jener Nacht vor drei Jahren.
„Silvio …“
„Ich will kein Wort hören“, stieß er undeutlich hervor. Er umklammerte das Lenkrad mit so festem Griff, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sein Blick war starr auf die Straße gerichtet, während er den Ferrari durch die Straßen des Londoner Slums lenkte, als gelte es, ein Formel-1-Rennen zu gewinnen.
Jessie war versucht, ihn darauf hinzuweisen, dass es wenig Sinn hatte, sie aus den Fängen gewaltbereiter Bandenmitglieder zu befreien, um anschließend sie und sich mit seiner Raserei umzubringen. Doch sie schwieg.
Warum musste ausgerechnet er sie retten?
Jessie war völlig verwirrt. Da sie nun dem sicheren Tod entkommen war, flachte ihr Adrenalinspiegel wieder ab. Ein anderes Hormon hatte die Oberhand gewonnen. Sie war noch immer wie berauscht von seinem leidenschaftlichen Kuss, den sie voller Verlangen erwidert hatte. Wie peinlich! Hoffentlich war Silvio so abgelenkt gewesen, dass ihm ihre Begeisterung entgangen war. Beschämt versuchte Jessie, sich so klein wie möglich zu machen. Es war ihr unbegreiflich, wie sie so auf jemanden reagieren konnte, den sie seit drei Jahren hasste.
Über all dieser Erregung hatte sie die sechs Männer völlig vergessen, die hinter ihr her gewesen waren. Seltsam!
Verstohlen blickte sie Silvio von der Seite an. Er war ganz allein aufgetaucht. Bei ihm fühlte sie sich sicher. Wieso?
Sie unterdrückte einen hysterischen Lachanfall. Die Antwort lag doch auf der Hand, oder?
Die äußerlichen Zeichen, dass er ziemlich reich geworden war, hatten ihn selbst nicht verändert. Die teure Uhr am Handgelenk, der italienische Sportwagen waren nur schmückende Beigaben, die Silvio jedoch nicht geprägt hatten. Unter dem weltgewandten Äußeren, das ihn dazu befähigte, auch in nobelster Gesellschaft eine gute Figur zu machen, verbarg sich der wahre Silvio: knallhart, tough und ausgesprochen männlich.
Deshalb fühlte sie sich bei ihm in Sicherheit. Jeder Frau würde es so gehen, allerdings war sie selbst wahrscheinlich die einzige, die wusste, wer Silvio wirklich war.
Schuldbewusst wandte sie den Blick ab. „Sie haben dich ‚der Sizilianer‘ genannt.“ Erneut musterte sie sein Profil. Sie konnte einfach nicht anders. „Du hast dieses Leben schon so lange hinter dir gelassen, aber dein Ruf jagt ihnen noch immer Angst ein. Die Typen kannten dich.“ Fasziniert schaute sie ihn an und fragte sich, warum sie sich nicht vor ihm fürchtete.
Vielleicht weil sie die Narbe nicht sehen konnte? Die befand sich ja auf der anderen Gesichtshälfte, während die ihr zugewandte perfekt war.
Perfekt, aber eiskalt.
Bis zu dieser Nacht hatte sie ihn für völlig gefühlskalt gehalten. Doch es war offensichtlich, dass in ihm Gefühle tobten.
Wieso war er so wütend? „Warum bist du heute Abend hergekommen?“
„Weil mir ein Gerücht über eine üble Bande zu Ohren gekommen ist, die es auf ein Mädchen mit einer goldenen Stimme abgesehen hat.“ Er schaltete brutal zurück, lenkte den Wagen um eine enge Kurve und beschleunigte dann so schnell, dass Jessie tiefer in den Sitz gedrückt wurde.
„Ich wollte keinen Ärger.“
Silvios Blick war starr geradeaus gerichtet. „Wie viel Geld hat er ihnen geschuldet?“
Jessie lächelte bitter. Sie hätte sich denken können, dass er Bescheid wusste. Er war immer gut informiert. Sein Netzwerk erstreckte sich über alle Gesellschaftsschichten und würde Polizisten und Emporkömmlinge vor Neid erblassen lassen.
„Achtzigtausend“, antwortete sie ausdruckslos. „Vierzigtausend habe ich schon abbezahlt. Ich bin mit einer Rate im Verzug. Deshalb waren sie heute Nacht hinter mir her.“ Das mörderische Aufblitzen seiner dunklen Augen entging ihr nicht.
„Du hast an sie gezahlt?“, stieß er wütend hervor, und Jessie ahnte, dass dieser Mann viel gefährlicher war als die Typen, vor denen er sie gerettet hatte.
„Ich hatte keine andere Wahl.“
Erneut schaltete er rücksichtslos zurück. „Du hättest zur Polizei gehen können.“
Die Gebäude schienen nur so an ihnen vorbeizufliegen. Hatte Silvio eigentlich bemerkt, dass er gerade eine rote Ampel überfahren hatte? „Das hätte die Sache nur noch schlimmer gemacht.“
„Für wen? Menschen, die sich nichts zuschulden kommen lassen, haben von der Polizei nichts zu befürchten, Jessie. Oder hattest du Angst, sie würden dich verhaften?“ Sein verächtlicher Tonfall verblüffte sie, bis sie sah, dass er ihre nackten Oberschenkel mit einem flüchtigen, unglaublich zornigen Blick streifte. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
Silvio hielt sie für eine …
Und das machte ihn so wütend?
Jessie war so schockiert, dass ihr im ersten Moment die Worte fehlten. „Wofür hältst du mich eigentlich?“, fragte sie schließlich pikiert.
„Für eine Kollegin der anderen Mädchen, die in dem Klub anschaffen.“
Er hielt sie für eine Hure!
Sie lehnte den Kopf zurück und lachte. Denn sonst wäre sie in Tränen ausgebrochen. Und gerade dieser Mann durfte sie nicht weinen sehen.
„Was ist daran so komisch?“ Sein Tonfall war wütend, und Silvio beschleunigte den Ferrari aufs Neue.
„Ich nutze meine Begabung. Was spricht dagegen?“ Das war natürlich das Dümmste, was sie hätte sagen können. Sie bereute diese missverständlichen Worte sofort, doch andererseits war es vielleicht ganz gut so. Wenigstens würde Silvio sie nun bestimmt nicht mehr anrühren.
Er bremste und brachte den Wagen abrupt zum Stehen, bevor er Jessie so zornig anfunkelte, dass sie sich instinktiv noch kleiner machte.
„Wieso bist du nicht zu mir gekommen? Du hättest mit mir Kontakt aufnehmen sollen, gleichgültig, was zwischen uns geschehen ist.“
„Und wenn du der letzte Mensch auf Erden wärst – dich würde ich niemals um Hilfe bitten“, wisperte sie – völlig überwältigt von ihren Gefühlen. Scham und verzweifelte Sehnsucht wechselten sich miteinander ab.
„Stolz kann tödlich sein, Jessie.“
„Es geht nicht um Stolz. Ich hätte gar nicht gewusst, wie du zu erreichen bist. Ich kenne dich ja gar nicht mehr.“
Sie kannte ja nicht einmal mehr sich selbst! „Ständig bist du von cleveren Leuten und Sicherheitskräften umgeben. Keine Ahnung, wozu ausgerechnet du Leibwächter brauchst. Du kannst dich doch selbst verteidigen, oder? Aber vielleicht willst du dir ja deinen teuren Anzug nicht ruinieren.“ Sie warf ihm einen schnellen Blick zu, dachte aber sofort wieder an den Kuss und wandte sich hastig wieder ab.
„Lenk jetzt nicht ab!“, sagte er harsch. „Wolltest du wirklich lieber sterben, als dich an mich zu wenden?“
Jessie blickte starr aus dem Fenster und bemerkte überrascht, dass sie vor ihrem Wohnblock parkten. „Du weißt genau, warum ich dich nicht angerufen habe.“
„Si. Du hasst mich.“ Noch immer umklammerte er das Lenkrad mit festem Griff. „Du gibst mir die Schuld an allem.“
„Nicht an allem. Nur an einem. Weißt du eigentlich, welcher Tag heute ist?“, fragte sie mit bebender Stimme.
Wütend funkelte er sie an. „Wie könnte ich das je vergessen? Vielleicht hilft es dir zu wissen, dass ich mir selbst auch die Schuld gebe.“ Der Regen trommelte auf den Wagen, man konnte nicht mehr hinaussehen.
„Nein, das hilft mir auch nicht“, erwiderte Jessie. Die Erinnerung an jene furchtbare Nacht stand nun einmal drohend zwischen ihnen. Jessie löste den Sicherheitsgurt und öffnete die Tür. Sie wollte nur noch fort. Fliehen vor ihren Erinnerungen und diesem Gespräch.
„Danke fürs Bringen.“ Sie sagte nicht „fürs Heimbringen“, denn sie empfand diesen Ort nicht als Zuhause, sondern lediglich als vorübergehende Schlafstätte. Bis sie weiterzog. Und das tat sie in regelmäßigen Abständen.
Der Regen wurde noch heftiger. Der mit Abfall übersäte Bürgersteig war rutschig. Die Graffitis an den Wänden glänzten im orangefarbenen Schein der Straßenlaterne.
Jessie kam sich ziemlich lächerlich vor, wie sie da im völlig durchnässten Glitzerkleid so im Regen stand. Angesichts des eleganten Ferraris und seines milliardenschweren Fahrers fühlte sie sich völlig fehl am Platz.
Jessie, die Hure.
Wirkte sie wirklich so?
So viel zu ihrem Traum, in ausverkauften Opernhäusern oder Stadien zu singen. Davon war sie weiter entfernt denn je. So weit wie von dem Mann, der ebenfalls ausgestiegen war und ihr jetzt seinen Mantel um die Schultern legte, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass jeder Zentimeter nackter Haut bedeckt wurde. Offenbar konnte er den Anblick nicht länger ertragen. „Ist dir eigentlich klar, wie gefährdet du in dieser Gegend bist?“
„Ich musste umziehen, weil sie meine vorherige Adresse herausgefunden haben. Sie wissen nicht, dass ich jetzt hier wohne.“ Geistesabwesend schob sie die viel zu langen Ärmel hoch. Und erschrak.
Er wusste, wo sie wohnte.
Jessie wurde blass und begegnete seinem harten Blick. „Woher weißt du meine Adresse?“
„Ich weiß sie eben. Und diese miesen Typen haben sie vermutlich inzwischen auch herausgefunden. Ich schätze, wir haben noch zehn Minuten, um deine Sachen zu packen und zu verschwinden. Auf geht’s!“
2. KAPITEL
Sie wohnte im Erdgeschoss.
Reglos beobachtete Silvio, wie sie die Wohnungstür aufschloss und entriegelte. Man sah ihm nicht an, wie sehr es in ihm brodelte. Dabei war er auf seine Selbstkontrolle immer so stolz gewesen. Doch Jessies Worte „Ich nutze meine Begabung“ hatten ihn zu stark aufgewühlt.
Abrupt wandte er sich jetzt ab. Vor seinem Auge sah er Jessie als Kind, das sich an den Bruder klammerte und nicht verstehen konnte, wieso sich ihr Leben plötzlich so drastisch verändert hatte. Das Bild der verletzlichen Unschuld ließ sich nicht mit der Realität vereinbaren. Silvio sah wieder die Jessie im figurbetonten Goldfummel vor sich, die nur ihre Begabung nutzte.
Die Aura der Unschuld war verflogen.
Das hatte er sofort gespürt, als er Jessie geküsst und sie den Kuss mit wilder, ungezügelter Leidenschaft erwidert hatte.
Allein der Gedanke erregte ihn, und Silvio stieß einen italienischen Fluch aus, weil er diesen Teil seines Körpers nicht beherrschen konnte. Er atmete tief durch. Fürs Vergnügen war jetzt keine Zeit, wenn er Jessie das Leben retten wollte.
Sie zitterte vor Kälte, trotz des Mantels, und stieß die Tür auf. „Endlich zu Hause. Vielen Dank fürs Bringen. Du kannst jetzt gehen.“
„Ich denke nicht daran.“ Beunruhigt warf er einen Blick zurück auf seinen schwarzen Ferrari, der nun wirklich nicht in diese Gegend passte. Die Typen würden sofort wissen, wo sie Jessie suchen mussten.
Jessie missdeutete den Blick. „Wenn du dir Sorgen um dein Spielzeug machst, setz dich rein und spiel damit, Silvio“, sagte sie von oben herab und keuchte, als er sie zurückzerrte und sich an ihr vorbeidrängte. „Was soll das? Erwartest du, dass ich dich auf eine Tasse Kaffee einlade? Vergiss es! Mehr als den Kuss gibt es nicht gratis.“
Ihre gespielte Tapferkeit konnte Silvio nicht täuschen. Er wusste genau, dass sie Todesängste ausstand.
„Der Kuss hat dir das Leben gerettet.“ Allerdings auf Kosten seiner eigenen Selbstbeherrschung. Nach einem – wie er vermutete – letzten Blick auf seinen Sportwagen betrat Silvio die Wohnung und wusste genau, was er vorfinden würde.
Einen Großteil seiner Kindheit hatte er in solchen Behausungen verbracht, die wie Fort Knox gesichert waren. Sogar den Briefkastenschlitz hatte er mit einem Brett vernagelt, denn in diesen Kreisen schob man wohl kaum einen Brief durch den Türschlitz.
Es war ein grässliches Gefühl, sich wieder in so einer Gegend zu befinden. Innerhalb von fünf Sekunden hatte er sich vergewissert, dass niemand ihnen in der schäbigen Wohnung auflauerte. Hastig zog er die Rollos herunter und verriegelte die Tür. „Du solltest nicht im Erdgeschoss wohnen.“ Verflixt! Siedendheiß fiel ihm ein, warum Jessie unbedingt ganz unten wohnen wollte.
Besorgt wartete er auf ihre Reaktion. Doch die fiel anders aus, als er erwartet hatte.
Jessie musterte ihn herausfordernd. „Was ist? Glaubst du, ich würde jetzt zusammenbrechen? Irrtum, Silvio, ich bin knallhart. Mich wirft so leicht nichts um.“
Silvio schüttelte nur ungläubig den Kopf. Er wusste nicht, ob er lachen oder sie schütteln sollte. „Du hast gar keine Zeit zusammenzubrechen. Pack deine Sachen! In spätestens fünf Minuten müssen wir hier raus sein.“ Unter dem Mantel schimmerte der Goldfummel und viel Haut. Schnell wandte Silvio den Blick ab und riss sich zusammen. Noch nie zuvor war es um seine Selbstbeherrschung so schlecht bestellt gewesen. Noch ein Blick auf das sexy Kleid, und er müsste an die Männer denken, die sie in diesem hautengen Stück Stoff gesehen hatten.
Wie viele mochten sie betatscht haben?
Und wieso hatte er drei Jahre gewartet, bevor er angefangen hatte, nach ihr zu suchen? Wie konnte er sich so lange einbilden, ohne ihn ginge es ihr besser?
Jessica schien nichts von seinen Seelenqualen zu bemerken und streckte sich, um etwas aus einem Schrank zu nehmen. Dabei rutschte ihr der Mantel von den Schultern, und Silvio erhaschte einen Blick auf einen Strumpfgürtel. Und auf noch etwas.
Leise vor sich hin fluchend kam er näher und schob eine Hand unter ihr Kleid, wobei er Jessies aufgebrachte Reaktion geflissentlich überhörte. Als er zurückwich, hielt er ein Messer in der Hand. „Was ist das?“, fragte er – völlig außer sich.
„Ein Messer.“ Herausfordernd musterte sie ihn. „Hast du noch nie ein Messer gesehen?“
„Du solltest so etwas nicht bei dir haben.“ Er strich über die scharfe Klinge. „Wäre ich nicht rechtzeitig aufgetaucht …“
„Dann hätte ich im Notfall Gebrauch davon gemacht.“
Bei der Vorstellung, was ihr dabei hätte passieren können, gefror ihm das Blut in den Adern.
Beinahe hätte er sie für immer verloren!
Plötzlich ertönten aufgebrachte Stimmen vor der Wohnungstür. Silvio steckte das Messer ein und hob den Mantel auf. „Zieh dir etwas über, und beeil dich!“
Betont gelassen nahm Jessie einen Becher vom Regal. „Kaffee kann ich dir leider nicht anbieten. Sie haben mir letzte Woche Gas und Strom abgedreht. Aber Wasser kannst du haben.“
„Wir verlieren kostbare Zeit, Jessie. Fang endlich an zu packen.“
„Dann eben nicht.“ Sie stellte den Becher auf den Tisch. Dabei fiel Silvios Blick auf ihre gerötete Hand.
„Alles in Ordnung mit der Hand?“, fragte er besorgt.
„Klar. Und mit deinem Gesicht?“
„Alles gut.“ So ein Gefühlschaos, wie es jetzt in ihm tobte, war ihm völlig fremd. Hastig wandte er sich ab und öffnete den Kühlschrank. Er war leer! „Wovon ernährst du dich?“, fragte er ungläubig.
„Ich esse auswärts. Am liebsten in Sternerestaurants“, antwortete sie sarkastisch.
Da es momentan nicht um ihre mangelnde Ernährung ging, sondern darum, sie lebend von hier fortzuschaffen, ließ Silvio die Bemerkung auf sich beruhen. „Wo ist das Tiefkühlfach?“
„Ich habe keins. Tut mir leid, aber du wirst deinen Gin Tonic ohne Eis trinken müssen.“
Normalerweise hätte er sie für ihren Mut bewundert, aber dazu war jetzt keine Zeit. War Jessie eigentlich bewusst, in welcher Gefahr sie schwebte? Ja, die dunklen Schatten unter den Augen sprachen für sich.
„Noch eine Minute verschwendet“, sagte er leise. „Eis gibt es dann erst bei mir.“ Bis dahin würde ihre Hand weiter anschwellen.
„Ich komme nicht mit, Silvio.“ Sie füllte Wasser in den Becher und trank durstig. Ihre Hand zitterte. „Verschwinde aus meinem Leben!“
„Nein, einmal reicht. Das musst du doch einsehen.“
„Wieso? Mir geht es doch gut.“
„Ich bin wieder ein Teil deines Lebens, Jessie, ob es dir passt oder nicht.“
„Du kannst dir mich nicht leisten, Silvio, auch wenn du noch so reich bist. Aber ich spiele einfach in einer anderen Liga.“
Diese Behauptung stachelte seine Wut weiter an. Am liebsten hätte er Jessie an die Wand gedrückt und zu wissen verlangt, wieso sie zugelassen hatte, in so einen Schlamassel zu geraten. Was war so schiefgelaufen? Aber natürlich konnte er diese Fragen selbst beantworten.
Er trug die Schuld. Seinetwegen war ihr alles gleichgültig geworden. Er war nicht in der Lage gewesen, sie zu beschützen, weil sie ihn in die Wüste geschickt hatte.
Aber Schuldgefühle halfen jetzt auch nicht weiter. Man musste nach vorn schauen, nicht zurück. War das nicht sein Lebensmotto?
„Fang endlich an zu packen!“ Er ging zum Fenster und bemerkte, dass sich einige Leute um seinen Wagen versammelt hatten und dass am anderen Ende der Straße ein dunkler Lieferwagen parkte. „Verdammt! Wir haben keine Zeit mehr, Cinderella. Hol deinen Pass.“
„Ich habe doch gesagt, dass ich nicht mitkomme.“
„Du tust sofort, was ich sage“, brüllte er und sah, wie sie zusammenzuckte. „Oder willst du, dass sie uns beide hier über den Haufen schießen?“
„Ich …“
„Ich warte, Jess, aber nicht mehr lange.“
„Ich habe keinen Pass. Im Gegensatz zu dir, der um die Welt jettet, brauche ich nämlich keinen.“ Wütend funkelte sie ihn an.
„Okay, dann besorge ich dir einen.“
„Ich habe doch gesagt, dass ich nicht mitkomme.“
„Entweder kommst du freiwillig mit, oder ich trage dich hier eigenhändig raus. Überleg es dir!“
In diesem Moment wurde eine Wagentür zugeschlagen, und Jessie zuckte ängstlich zusammen.
„Das war’s!“ Er umfasste Jessies Handgelenk und zerrte sie mit sich.
„Moment.“ Sie befreite sich aus seinem Griff, stieg auf den wackligen Tisch und zog einen Schuhkarton vom Schrank.
In der Zwischenzeit warf Silvio erneut einen Blick aus dem Fenster und beobachtete, wie sechs Männer aus dem Lieferwagen ausstiegen. Dieselben Männer wie vorhin.
Schnell zückte er sein Handy und machte einen Anruf. Innerhalb von fünf Sekunden war das Gespräch beendet.
Er zog Jessie vom Tisch und wollte ihr den Schuhkarton abnehmen. Doch den verteidigte sie wie eine Löwin ihre Jungen. „Okay, nimm den Karton mit, aber beeil dich! Kommen wir durchs Badezimmerfenster hier raus? Gibt es einen Hinterausgang?“ Natürlich gab es den, Jessie würde niemals irgendwo wohnen, wo es nicht mehrere Ausgänge gab.
„Hier entlang.“ Sie eilte hinaus, und Silvio folgte ihr, wobei er sich den Kopf am Türrahmen stieß. Das Badezimmer war winzig. Jessie öffnete das Fenster, sprang hinaus und landete geräuschlos auf dem Rasen.
Sie hat wirklich fantastische Beine, dachte Silvio widerstrebend, folgte ihr und wollte mit ihr zur Vorderseite des Hauses laufen.
Jessie hielt ihn zurück. „Nicht da lang. Dort warten sie auf uns.“
„Sie sind schon im Haus.“ Silvio hatte gehört, wie die Holztür splitternd zu Bruch ging. Ohne zu zögern hob er Jessie hoch und hastete mit ihr zum Wagen. In diesem Moment ertönten schon die Polizeisirenen. Jessie hielt noch immer den Karton umklammert. Ihr Haar kitzelte Silvio an der Wange, er atmete ihren Duft ein, und tausend verbotene Erinnerungen stiegen wieder in ihm hoch.
„Was ist in dem verflixten Karton, Jessie?“
„Sachen. Lass mich runter, Silvio, und verschwinde“, stieß sie mit versagender Stimme hervor. „Du darfst nicht in diese Sache hineingezogen werden. Die Schlagzeilen könnten dir schaden. Lass mich einfach in Ruhe.“
Das war die Jessie, die er kannte – nett, fürsorglich und verängstigt. Damals war sie noch ein Kind gewesen und er ein Teenager, der stets die falsche Wahl getroffen hatte. „Ich werde dich nie wieder allein lassen, Jessie. Gewöhn dich schon mal an den Gedanken. Außerdem ist es zu spät, sich Sorgen um meinen Ruf zu machen – bei meiner Vergangenheit.“ Er betätigte die Zentralverriegelung und schob Jessie mit ihrem kostbaren Schuhkarton auf den Beifahrersitz. Dabei riss der Goldfummel weiter auf, sodass Silvio einen Blick auf ihre Taille und sexy Dessous erhaschte.
Der Blick in einen Gewehrlauf wäre ihm in diesem Moment lieber gewesen. Fluchend lief Silvio um den Wagen herum, setzte sich ans Steuer und gab Gas – den Blick sorgfältig in die Zukunft gerichtet.
Ihre Wange ruhte auf etwas Weichem. Es war himmlisch warm.
„Jess?“ Eine raue Männerstimme drang zu ihr hindurch. „Kannst du mich hören, Jessie?“
Sie nahm an, dass eine Reaktion von ihr erwartet wurde, doch es war so schön warm und gemütlich, und die Stimme klang verärgert. Da zog sie es vor, sich weiter in den schützenden Schlaf zu hüllen. Dort konnte ihr nichts passieren.
„Verflixt, ich hätte ihr das durchnässte Kleid ausziehen sollen. Sie schläft schon viel zu lange.“
„Das könnte am Schock liegen, Chef. Und unter der Decke müsste ihr warm genug sein.“ Diese Stimme klang respektvoll. „Soll ich den Arzt rufen?“
„Nein, noch nicht.“ Wieder die harsche, verärgerte Stimme. Allerdings schwang jetzt so etwas wie Sorge mit im Tonfall.
Habe ich wirklich so lange geschlafen? überlegte Jessie. Das konnte eigentlich nicht sein, zumal sie immer nur döste. Bedrückende Gedanken und Todesangst hielten sie wach.
Jessie befand sich in dem Stadium zwischen Wachen und Schlafen und wurde sich plötzlich bewusst, dass sie doch geschlafen hatte. Sie musste sich also in Sicherheit gefühlt haben.
Sie schlug die Augen auf und blickte direkt in seine. Mit diesem einen Blick verriet sie ihre Gefühle, und sie sah Silvios Gesichtsausdruck an, dass er diese erwiderte. Es herrschte völlige Stille im Zimmer. Jessie vernahm nur das aufgeregte Pochen ihres Herzens und hörte, wie ihm der Atem stockte.
Und dann fiel ihr wieder ein, warum sie diese Gefühle unterdrücken musste.
Auch Silvio hatte sich sofort wieder unter Kontrolle. Nur seine plötzlich zusammengepressten Lippen verrieten, dass er Jessies Gedanken gelesen hatte.
„Das Badezimmer befindet sich nebenan.“ Er zeigte auf einen Torbogen. „Im Ankleidezimmer findest du alles, was du brauchst. Bedien dich einfach. Wir unterhalten uns, wenn du dich frisch gemacht hast.“
„Ankleidezimmer?“ Jessie richtete sich auf und bemerkte eine opulente auberginefarbene Samtdecke, die sie so schön gewärmt hatte. Darunter war sie noch immer mit dem zerrissenen Goldfummel bekleidet. Der Schuhkarton stand neben ihr. Erleichtert griff sie danach und zog ihn zu sich heran.
Silvio beobachtete sie dabei und wandte sich erst ab, als ein Mann an der Tür auftauchte. „Ja?“
„Chefinspektor Warren ist am Telefon und möchte Sie sprechen.“
„Ich rufe gleich zurück.“ Silvio wandte sich wieder Jessie zu, die ihn verblüfft musterte.
„Du hast die Polizei alarmiert?“
„Natürlich. Schließlich ist sie dafür zuständig, Kriminelle festzunehmen. So, ich muss jetzt telefonieren.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ruf mich, wenn du etwas brauchst.“
„Nein, warte! Wir können hier nicht bleiben. Die Typen haben uns bestimmt hierher verfolgt. Sie sind gefährlich, Silvio.“ Mit panischem Blick sah sie ihn an.
Doch er lächelte nur süffisant. „Ich bin auch gefährlich“, erwiderte er leise. „Hast du das vergessen?“
Ganz im Gegenteil! Sie erschauerte.
„Die Polizei wird diese Bande nicht lange aufhalten können. Die Kerle wollen Geld von mir, und sie wollen …“ Sie brachte es nicht über sich, es auszusprechen. Das war auch nicht nötig, denn Silvio wusste genau, was sie meinte.
Wortlos wandte er sich ab und ging zum Fenster. Offensichtlich kämpfte er mit sich. „Wenn du es nicht einmal aussprechen kannst, solltest du besser den Beruf wechseln.“
Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, den Irrtum aufzuklären. Doch es war Jessie ganz recht, dass Silvio sie mit Verachtung strafte. So blieb wenigstens die Distanz zwischen ihnen gewahrt.
„Wo sind wir hier eigentlich?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln. „In einem Hotel? Ganz schön clever, in dieser Nobelherberge werden die mich ganz bestimmt nicht vermuten.“
„Wir befinden uns in meiner Wohnung“, antwortete er mit abgewandtem Gesicht. „Und du liegst in meinem Bett.“
Oh! Jessie schluckte und zuckte dann nonchalant die Schultern. „Deine Geschäfte müssen ja gut laufen, wenn du dir so eine Wohnung leisten kannst.“
„Ich kann mich nicht beklagen.“
Interessiert ließ sie den Blick durch das sehr männlich und minimalistisch eingerichtete Zimmer gleiten und lächelte amüsiert. „Ich hätte nie gedacht, dass du ohne dein Spielzeug leben kannst. Wo ist denn dein Plasmabildschirm?“
„Versteckt. Wieso?“ Endlich drehte er sich um. Seine Miene war völlig ausdruckslos. „Willst du fernsehen?“
„Nein.“ Wie gebannt betrachtete sie einen an der Stirnseite des geräumigen Zimmers befindlichen modernen Kamin. Obwohl kein Feuer in ihm brannte, stockte ihr der Atem. Verzweifelt mahnte sie sich zur Gelassenheit und atmete einige Male tief durch. Sie spürte, dass Silvio sie beobachtete. „Sehr elegant“, kommentierte sie schließlich. Er quittierte ihre Bemerkung mit einem kurzen Nicken. Offensichtlich war er zufrieden mit ihrer Reaktion.
Es war so schwierig, ihre Gefühle vor ihm zu verbergen. Jessica nahm sich vor, in Zukunft umsichtiger zu sein. Er kannte sie einfach zu gut.
„Dann ist das also deine Wohnung?“
„Eine meiner Wohnungen.“
Sie rang sich ein Lächeln ab, als ihr bewusst wurde, dass Silvio inzwischen in einer völlig anderen Welt lebte, die mit ihrer eigenen nicht mehr zu vergleichen war.
„Entspann dich, Jess.“
„Ich bin völlig entspannt“, behauptete sie, obwohl sie beide wussten, das sie log.
Silvio warf ihr einen langen Blick zu. „Du brauchst auch keine Angst zu haben.“
„Habe ich auch nicht.“
Sie befand sich nur am Rande einer Panikattacke!
Nicht wegen der Bande, die ihr nach dem Leben trachtete, auch nicht wegen dieses Luxusapartments, sondern wegen Silvio und ihren Gefühlen für ihn, die kompliziert, verwirrend und verboten waren.
Wie grausam vom Schicksal, ausgerechnet ihn als Retter vorbeizuschicken!
Keine Minute länger durfte sie in seinem Bett bleiben. Energisch schob sie die Samtdecke zurück, stand auf und kam auf ihn zu. Er ließ sie keine Sekunde lang aus den Augen.
Das hätte ihr gleichgültig sein sollen.
Männer verfolgten sie nun einmal mit Blicken. Das war sie gewohnt.
Die Blicke prallten an ihr ab. Manchmal gab es sogar großzügige Trinkgelder, wenn sie sich anstarren ließ. Doch irgendwie war nun alles anders.
Weil dieser Mann anders war.
„Wo genau befinden wir uns?“ Es interessierte sie eigentlich gar nicht, sie wollte sich nur ablenken und schaute aus dem Fenster.
Sie konnte nicht sofort reagieren, weil Jessie so einen Ausblick nicht erwartet hatte. Vor ihr erstreckte sich das nächtliche, glitzernde London, das sich von seiner glamourösesten Seite zeigte.
Das war Silvios Welt.
Weit unter ihr floss die Themse, und Jessica wich erschrocken zurück.
Beruhigend umfasste Silvio ihre Schultern, als hätte er diese Reaktion erwartet. „Es ist alles in Ordnung, Jessie.“
Jetzt hatte die Panik sie fest im Griff. Jessie rang verzweifelt nach Luft. „Gar nichts ist in Ordnung, Silvio. Du hast mich ins oberste Stockwerk gebracht“, stieß sie schrill hervor und begann zu hyperventilieren. „Wie konntest du mir das antun? Ich muss sofort hier raus!“ Vergeblich versuchte sie, sich von ihm zu lösen.
„Hör zu, Jess!“ Er zwang sie, ihm in die Augen zu schauen. In ihrer Panik hätte sie sich leicht vom Balkon stürzen können. „Du sitzt nicht in der Falle. Hier bist du ganz sicher aufgehoben.“
In ihren Ohren dröhnte es, ihr wurde schwindlig.
Wie durch Watte hörte sie Silvio fluchen. Dann hob er sie hoch, durchquerte mit ihr das Zimmer und zog eine Tür auf. Dahinter verbarg sich eine Metallrutsche, die stark an einen Kinderspielplatz erinnerte.
„Wenn du auf die Rutsche steigst, bist du in weniger als vier Sekunden im Erdgeschoss. Ich habe die Rutsche selbst entworfen.“ Er ließ Jessie hinunter, zog sie zurück zur Glasfront und drückte auf einen Knopf. Geräuschlos glitt das Fenster zur Seite.
Kalter Wind und strömender Regen ließen sie erschauern. Trotzdem zog Silvio sie auf den Balkon und zeigte auf die Feuertreppe.“ Energisch versuchte er, zu Jessie vorzudringen – an ihren Verstand zu appellieren. „Dieses Schlafzimmer allein hat drei Ausgänge. Hast du mich verstanden, Jess? Drei Ausgänge. Weitere neun verteilen sich auf den Rest der Wohnung. Es ist völlig unmöglich, hier in der Falle zu sitzen.“
Das goldene Kleid wurde erneut durchweicht. Jessie zitterte wie Espenlaub, nickte jedoch tapfer.
Damit gab Silvio sich offensichtlich zufrieden, denn er schob sie zurück ins Trockene und betätigte erneut den Knopf, worauf sich die Glastür lautlos schloss. Sofort fühlte Jessie sich etwas sicherer und senkte verlegen den Blick.
„Entschuldige.“
„Du musst dich nicht entschuldigen, Jess. Ich weiß, dass du aus einem brennenden Haus gerettet wurdest, als du fünf Jahre alt warst. Ich weiß, warum du im Erdgeschoss schläfst und keine Hochhäuser magst. Aber du bist hier wirklich ganz sicher. Bitte vertrau mir!“
Er war der letzte Mann auf der Welt, dem sie vertrauen würde, aber hatte sie eine Wahl? Sie wurde von ganz anderen Sorgen gequält.
Hier stand sie unter seinem Schutz. Sowie sie den aufgab, wäre sie tot.
Silvio zog sie mit sich ins Badezimmer, drückte einen Knopf, und heißes, duftendes Wasser lief in eine große Wanne.
Sprachlos sah Jessie zu.
Silvio atmete tief durch. „Du bist durchgefroren, völlig durchweicht und hast einen langen Tag hinter dir. Zieh den verflixten Fummel aus, Jess, und entspann dich im warmen Wasser. Anschließend isst du etwas. Du siehst aus, als könntest du eine warme Mahlzeit vertragen.“ Behutsam ließ er sie los. „Anschließend reden wir.“
Sie zitterte vor Kälte. „Wozu willst du reden? Du machst doch sowieso, was du willst.“
Er lächelte süffisant. „Du hast recht. Und jetzt steig in die Wanne, Jess.“
Ich muss ja wirklich verheerend aussehen, dachte sie und schob sich das nasse Haar aus dem Gesicht. Eigentlich müsste sie sich jetzt bei Silvio bedanken. Doch die Worte kamen ihr nicht über die Lippen.
„Dort sind warme Handtücher. Ruf mich einfach, wenn du etwas brauchst.“ Er gab sich ganz wie ein Mann von Welt, der mit sich und seinem Leben im Reinen war. „Ach ja, schließ lieber nicht ab.“
Er machte die Tür hinter sich zu, und Jessie verriegelte sie umgehend. Erschöpft lehnte sie sich dann dagegen. Es war ihr peinlich, dass sie in seiner Gegenwart die Selbstbeherrschung verloren hatte. Und dann lachte sie leise. Niemand sonst hätte ihre Panikattacke verstanden. Silvio war nach dem Brand für sie da gewesen. Er wohnte damals in dem Waisenhaus, wo sie und ihr älterer Bruder nach der Tragödie untergekommen waren.
Sie hatten alles und jeden verloren und wurden in eine raue, grausame Welt gestoßen.
Sehnsüchtig betrachtete Jessie die Badewanne. Wie lange war es her, dass sie sich im warmen Wasser entspannt hatte? Sie konnte sich nicht erinnern.
Obwohl sie geschlafen hatte, fühlte sie sich erschöpft. Wie gern hätte sie sich ausgeruht. Doch das ging nicht. Sie konnte nicht hier bleiben. Nicht bei ihm, denn er war ihr Feind.
Verzweifelt rieb sie sich über die Lippen, als könnte sie so den brennenden Kuss auslöschen. Okay, Silvio hatte sie geküsst, aber der Kuss war von ihr erwidert worden.
Verwirrt und wütend auf sich selbst zog sie sich aus und ließ sich in die Wanne gleiten. Nur eine Minute, nahm sie sich vor. Es war herrlich, im warmen wohlriechenden Badewasser zu liegen.
Allerdings war es ihr unmöglich, sich zu entspannen. Dazu war sie einfach zu aufgeregt. Schnell wusch sie sich die Haare und stieg innerhalb von zwei Minuten wieder aus der Wanne, hüllte sich in ein warmes Badetuch und betrachtete das zerrissene Goldkleid. Nun ließ es sich wirklich nicht mehr flicken. Also musste sie sich etwas von Silvio borgen. Auch wenn ihr das widerstrebte. Sie verließ das Badezimmer, nachdem sie in einen flauschigen Bademantel geschlüpft war, und fand sich im Schlafzimmer wieder. Beim Anblick des breiten Bettes tauchten Bilder vor ihrem geistigen Auge auf, die sie schnell wieder verscheuchte.
Ob er hier seine Freundinnen verführte?
Küsste er die auch so?
Hastig wandte Jessie den Blick ab, griff dann jedoch nach dem Schuhkarton und machte sich auf den Weg zu dem – riesigen – Ankleidezimmer. Staunend stand sie vor den bis an die Decke reichenden Regalen und wusste nicht, was sie zuerst anschauen sollte. Schuhe, Pullover, T-Shirts in allen Regenbogenfarben, prachtvolle Roben – alles, was das Herz begehrte.
Behutsam berührte sie eins der Kleider. Der Stoff fühlte sich wie flüssige Seide an. Alles war nur vom Feinsten und Teuersten – passend zu dieser Luxuswohnung. Sie bückte sich und schob ihren Schuhkarton in die hinterste Ecke. Dort würde ihn keiner finden.
„Alles in Ordnung?“, fragte Silvion hinter ihr. Erschrocken zuckte sie zusammen, als hätte er sie beim Stehlen ertappt, und zog den Bademantel am Kragen zusammen, damit ja kein Millimeter Haut hervorschimmerte.
„Klar, danke.“
„Das ging aber schnell.“
„Ja, ich habe nicht lange gebraucht.“
„Und wieso bist du nicht angezogen?“
Jessie lachte freudlos. „Weil ich nichts Passendes gefunden habe.“
Silvio lächelte amüsiert. „Das ist die typische Bemerkung einer Frau. Ein ganzer Schrank voller Klamotten, aber trotzdem hat sie nichts anzuziehen.“
„Die Sachen sind nichts für mich.“
„Passen sie dir nicht?“
„Keine Ahnung. Ich habe nichts anprobiert.“
„Wieso nicht?“
„Ich kann so etwas nicht tragen, Silvio.“ Hätte sie doch nur noch ihre hochhackigen Pumps gehabt. Vielleicht wäre sie sich in seiner Nähe dann nicht ganz so klein und verloren vorgekommen. „Wo soll ich denn solche Klamotten tragen? Ich kann ja wohl kaum in einer Abendrobe durch die Straßen gehen, oder?“
„Wer sagt denn, dass du auf die Straße gehen sollst?“ Entspannt lehnte er sich an den Türrahmen.
Muss er wirklich so unwiderstehlich aussehen? überlegte Jessie. Er hatte geduscht und sich umgezogen. Das schwarze Haar war noch feucht, er trug eine schwarze Jeans, die seine athletische Figur betonte. Unter der Manschette des maßgeschneiderten Hemdes blitzte eine teure Armbanduhr hervor. Was mochte die wohl gekostet haben?
Vermutlich mehr, als sie in ihrem Leben jemals verdienen würde.
Silvio passte in diese Welt. Aber er hatte auch in die Welt gepasst, der er ursprünglich entstammte.
Unwillkürlich wich Jessie zurück. Die Kluft zwischen ihnen war einfach zu groß. Früher hatte sie ihn vergöttert, doch das war lange her. Diesen Silvio hier kannte sie nicht. Jessie räusperte sich. „Vielleicht findest du eine alte Jeans für mich. Dann mache ich mich auf den Weg und verschwinde aus deinem Leben.“
Wortlos öffnete Silvio einen Schrank und reichte Jessie einige Kleidungsstücke. „Probier es mal hiermit. Später besorgen wir dir dann neue Sachen.“
Sie betrachtete die Jeans und nickte zustimmend. „Perfekt. Mehr brauche ich nicht. Ich habe noch Klamotten in meiner Wohnung.“ Allein die Vorstellung, dorthin zurückzugehen, löste eine neue Welle der Angst in ihr aus.
Silvio bemerkte ihre Reaktion sofort und widersprach. „Schreib auf, was du brauchst, ich schicke jemanden los.“
„Nicht nötig. Ich muss sowieso zurück in die Wohnung“, behauptete sie, weil es ihr unangenehm war, einen Fremden ihre abgetragenen Sachen packen zu lassen.
„Du kehrst auf keinen Fall zurück, Jess. Einstweilen wirst du bei mir wohnen.“
Erleichterung und Empörung hielten sich die Waage. „Willst du mich vielleicht hier in deiner luxuriösen Junggesellenbude einsperren, damit die Typen nicht an mich herankommen?“ Sie lachte schrill. „Was würden deine vornehmen Freunde wohl sagen, wenn sie mich hier entdecken?“
„Die werden dich mögen. Und wenn nicht, ist das allein ihr Problem. Ende der Diskussion, Jess. Du bleibst bei mir. Zumindest, bis ich davon überzeugt bin, dass du da draußen wieder sicher bist.“
Insgeheim war sie froh über sein bestimmtes Auftreten. Es fühlte sich gut an, beschützt zu werden. „Meinst du, sie sind immer noch hinter mir her?“, fragte sie verängstigt.
„Allerdings. Bis sie sich davon überzeugt haben, dass ich ihnen die Wahrheit gesagt habe. Aber keine Angst, Jess, diese Wohnung ist eine Festung. Hier kriegen sie dich nicht.“
Sie horchte auf. „Was hast du ihnen denn gesagt?“
Als er nicht gleich antwortete, fragte sie besorgt nach: „Silvio?“
Er schaute ihr ernst und tief in die Augen. „Ich habe ihnen etwas gesagt, was sie garantiert von dir fernhält“, erklärte er rau. „Ich habe ihnen gesagt, dass du zu mir gehörst.“
3. KAPITEL
„Was möchtest du essen? Eier? Schinkenspeck? Pfannkuchen? Ich sage dem Koch Bescheid.“
„Wieso hast du behauptet, ich gehöre zu dir?“ Aufgewühlt durchquerte Jessie das riesige Wohnzimmer. „Ich fasse es nicht.“
Doch genau davon hatte sie als Teenager geträumt. Andere Mädchen schwärmten für Boygroups und Fußballstars, aber sie hatte immer nur Augen für Silvio Brianza gehabt. Sie litt, wenn sie ihn mit anderen Frauen sah, und fühlte sich noch elender, weil er genau wusste, was sie für ihn empfand.
Sie liebte ihn von ganzem Herzen, doch für ihn war sie nur die kleine Schwester seines besten Freundes.
Er war zehn Jahre älter als sie und unerreichbar. Durch die Todesumstände ihres Bruders war die Kluft noch breiter geworden.
Durch ihre bloße Anwesenheit hier beging sie Verrat an ihrem Bruder.
„Essen, Jess“, sagte er geduldig. Irritiert blickte sie auf. „Wie kannst du jetzt ans Essen denken?“, fragte sie unwirsch. „Wir müssen reden.“
„Das tun wir, wenn du etwas gegessen hast.“ Gelassen wandte Silvio sich einer Frau zu, die an der Tür wartete, und gab ihr Anweisungen auf Italienisch, bevor er sich wieder zu Jessie umdrehte. „Sie sagt dem Koch Bescheid. Du bist zu dünn. Wann hast du denn zuletzt etwas gegessen?“
„Ich bin nicht dünn. Silvio, wir müssen …“
„Wir müssen gar nichts. Vertrau mir einfach.“ Er setzte sich an einen großen Tisch mit Glasplatte und winkte Jessie heran. „Setz dich zu mir.“
Unentschlossen blieb sie, wo sie war.
„Nun setz dich doch endlich.“ Sein neutraler Tonfall machte den Anschein, als würde Silvio sich langweilen. „Hasst du mich wirklich so sehr, dass du mit mir nicht an einem Tisch sitzen kannst?“
Wortlos schaute sie ihn nur an und staunte, wie widersprüchlich ihre Gefühle für diesen Mann waren. „Ich kann nicht mit dir an einem Tisch sitzen“, antwortete sie schließlich leise und spielte mit dem Saum des Kaschmirpullovers, den Silvio für sie herausgesucht hatte. „Deine Einladung zum Frühstück kann ich auch nicht annehmen, und in deinem Bett kann ich schon gar nicht schlafen. Ich weiß, dass du mir heute Nacht das Leben gerettet hast, aber das ändert nichts an meinen Gefühlen zu dir.“
„Du willst also lieber verhungern und dein Leben aufs Spiel setzen?“
„Ich passe schon auf mich auf.“
Er schüttelte nur sorgenvoll den Kopf. „Du brauchst Hilfe, Jess.“
„Ich will keine Hilfe.“
„Meine Hilfe willst du nicht.“
„Genau“, stieß sie hervor. Vor Erschöpfung wurden ihr die Knie weich. „Ich will gar nichts von dir“, fügte sie leise hinzu.
Silvio streckte eine Hand aus und spielte mit einer Gabel. „Sie werden dich finden, sobald du das Haus verlässt. Willst du es wirklich darauf ankommen lassen?“
Mit bebenden Händen rieb Jesse sich die Arme. „Ich kann selbst auf mich aufpassen.“
„Wie vorhin? Kommt nicht infrage, Jess. Du brauchst also gar nicht da herumzustehen und dir den Kopf darüber zu zerbrechen, ob du deinen Bruder verrätst, wenn du dich zu mir an den Tisch setzt. Ich treffe hier die Entscheidungen. Wenn du willst, kannst du dir ja einreden, dass ich dich gegen deinen Willen hier festhalte.“ Er verzog den sinnlichen Mund zu einem freudlosen Lächeln. „Darauf kommt es nun auch nicht mehr an. Was dich betrifft, habe ich ja schon genug falsch gemacht.“
Widerstrebend wandte sie den Blick ab und sah aus dem Fenster. Dort draußen in der schwarzen, regnerischen Nacht erwartete sie nichts Gutes.
Wenn sie Silvio verließe, würde sie unweigerlich sterben. Nur er konnte sie vor den kriminellen Typen da draußen beschützen. Da musste sie sich gar nichts vormachen.
In diesem Moment wurde das Essen serviert, und ihr Magen meldete sich mit einem beschämenden Knurren.
„Wieso überlegst du nicht beim Essen weiter, ob du meine Hilfe nicht doch annehmen kannst, Jess? Komm, setz dich!“