Julia präsentiert Weiße Weihnachten Band 3 - Ann McIntosh - E-Book

Julia präsentiert Weiße Weihnachten Band 3 E-Book

Ann McIntosh

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Beschreibung

Weihnachtzeit auf der Kinderstation! Wieder gesund zu werden ist der innigste Wunsch der kleinen Patienten. Liebevoll werden sie dabei vom Team des Boston Beacon Hospitals umsorgt. Und manchmal beschert das Fest der Liebe auch den Engeln in Weiß ein kleines oder gar großes Wunder … SCHNEEFLOCKENKÜSSE FÜR DEN BOSS von ANN MCINTOSH Es schneit! Ailani, Aushilfspflegekraft aus Hawaii, findet das winterliche Boston einfach bezaubernd. Besonders, wenn ihr Boss Dr. Javier Pascal sie immer wieder zu romantischen Ausflügen einlädt. Ailani träumt von mehr, aber die Angst des Single-Dads vor einer neuen Liebe scheint zu groß … WEIHNACHTSENGEL AUF VIER PFÖTCHEN von JULIETTE HYLAND Bryns süßer Therapiehund Honey ist verrückt nach dem charmanten Kinderarzt Nick Walker. Sehr zu Bryns Missfallen, denn sie hält Männer lieber auf Abstand. Doch als Nick als Santa Claus die Augen der kleinen Patienten strahlen lässt, weckt er in der vorsichtigen Therapeutin ein verloren geglaubtes Gefühl … WENN TAUSEND LICHTER STRAHLEN von TRACI DOUGLAS Eigentlich wollte Assistenzärztin Kalista die Festtage allein verbringen. Doch plötzlich steht Dr. Dylan Geller vor ihr! Dem seine Schwester – ihre Mitbewohnerin – angeboten hat, kurzfristig bei ihnen zu wohnen. Kalis erste große Liebe – und der Mann ganz oben auf ihrer heimlichen Wunschliste … EIN NEUES GLÜCK ZUM FEST DER LIEBE von DEANNE ANDERS Gemeinsam den Weihnachtsbaum schmücken? Erledigt! Lichterketten aufhängen, die die Schatten auf Dr. Ben Murphys Seele vertreiben? Erledigt! Jetzt fehlt nur noch die süße Wahrheit zum Fest der Liebe, die Kinderärztin Izzy ihrem Kollegen seit ihrer Liebesnacht vor drei Monaten verschweigt …

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Cover for EPUB

ANN McINTOSH, JULIETTE HYLAND, TRACI DOUGLASS, DEANNE ANDERS

JULIA PRÄSENTIERT WEISSE WEIHNACHTEN BAND 3

IMPRESSUM

JULIA PRÄSENTIERT WEISSE WEIHNACHTEN erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© Deutsche Erstausgabe 2024 in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT WEISSE WEIHNACHTEN, Band 3

© 2023 by HARLEQUIN ENTERPRISES ULC Originaltitel: „The Nurse’s Holiday Swap“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MEDICAL ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Trixi de Vries

© 2023 by HARLEQUIN ENTERPRISES ULC Originaltitel: „A Puppy on the 34th Ward“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MEDICAL ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Trixi de Vries

© 2023 by HARLEQUIN ENTERPRISES ULC Originaltitel: „Home Alone with the Children’s Doctor“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MEDICAL ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Trixi de Vries

© 2023 by HARLEQUIN ENTERPRISES ULC Originaltitel: „A Surgeon’s Christmas Baby“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MEDICAL ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Trixi de Vries

Abbildungen: ArtMarie / iStock, Getty Images / Chris Ryan, skalapendra, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2024 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751530156

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte des Autors und des Verlags bleiben davon unberührt. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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ANN McINTOSH

Schneeflockenküsse für den Boss

1. KAPITEL

Ein grauer Morgenhimmel und die nackten, vom kalten Dezemberwind gerüttelten Äste der mächtigen Kastanie vor seinem Küchenfenster hoben nicht gerade Dr. Javier Pascals Stimmung, als er über den vor ihm liegenden Tag nachdachte.

Die Sitzung des Krankenhausvorstands am gestrigen Abend war wenig erbaulich gewesen. Die Beschwerde des Chefarztes der Chirurgie über Kinderchirurg Ben Murphy war durchaus berechtigt. Der beste Kinderchirurg am Boston Beacon Hospital verstieß schon mal gegen die Regeln. Seine mürrische Art ging auch allen auf die Nerven, sogar Javi, und das wollte etwas heißen.

Als Chefarzt der Pädiatrie oblag es ihm, Ben aufzufordern, sein Verhalten bis zum Jahresende zu ändern, sonst wäre der Vorstand gezwungen, ihm zu kündigen.

So hatte Javi sich den Beginn des Weihnachtsmonats nicht vorgestellt. Erschwerend kam nämlich noch hinzu, dass eine Krankenpflegerin mit nur einer Woche Frist gekündigt hatte und eine weitere zu einem Sabbatvierteljahr nach Hawaii geflogen war. Wenigstens kam Ersatz für Abbie aus der Partnerklinik von Molokai, Hawaii. Die neue Kollegin war ebenfalls ausgebildete Krankenpflegerin. Aber Javi hätte es lieber gesehen, wenn auf seiner Station alles weiter den gewohnten Gang genommen hätte.

„Papi?“

Statt nachdenklich aus dem Fenster zu starren, hätte er sich lieber aufs Frühstück konzentrieren sollen und auf seine Tochter. Javi riss sich zusammen und fing lächelnd Mabels Blick auf.

„Ja, mija?“

„Machst du mit mir Weihnachtseinkäufe?“

Oje.

Der heutige Tag schien es in sich zu haben.

„Ich dachte, du gehst mit Oma einkaufen.“

Mabel zog die Augenbrauen zusammen. „Ja, morgen. Wir wollen ein Geschenk für Dad kaufen, weil das ja rechtzeitig geschickt werden muss, sonst kommt es zu spät an. Aber ich will auch mit dir einkaufen gehen. Ich kann ja nichts für Oma kaufen, wenn sie dabei ist.“

„Nein, Schatz, da hast du recht.“ Die Logik der Kleinen war unschlagbar. „Dann wäre es ja keine Überraschung.“

Mabels braune Augen blitzten hoffnungsvoll. „Dann machen wir das zusammen? Nächste Woche oder wenn ich Weihnachtsferien habe?“

Eigentlich hatte er vorschlagen wollen, die Einkäufe mit seiner Mutter, also Mabels anderer Großmutter, zu erledigen, doch dann gab er sich einen Ruck. Mabel bat ihn so gut wie nie um einen Gefallen.

„Ja, das machen wir.“ Hoffentlich hörte sie nicht, wie widerstrebend das klang.

Offensichtlich nicht, denn die Sechsjährige strahlte übers ganze Gesicht und hüpfte vor Freude auf dem Stuhl auf und ab, dass ihr dunkler Pferdeschwanz nur so tanzte.

„So, nun iss schnell auf, sonst kommst du noch zu spät zur Schule.“

„Ja, Papi“, sagte sie. „Danke.“

Die stürmische Umarmung und das feuchte Küsschen von ihr, bevor sie auf den Schulhof lief, wärmte Javi das Herz.

Auf der Weiterfahrt zur Klinik geriet er jedoch ins Grübeln über das Gespräch mit seiner Tochter.

Gerade jetzt fehlte Michael ihm, gleichzeitig ärgerte er sich über ihn.

Javis Exmann hatte die Weihnachtszeit geliebt und sich jedes Jahr selbst mit festlicher Dekoration und Weihnachtsbäckerei übertroffen. Nachdem sie Mabel adoptiert hatten, hatte er mit der Kleinen Plätzchen gebacken. Sie waren auch zusammen gerodelt, Schlittschuh gelaufen und Ski gefahren. Den Weihnachtsbaum hatten sie in einem Forst selbst geschlagen und noch am selben Abend festlich behängt.

Deshalb blieb es Javi auch heute – zwei Jahre nach der Trennung – ein Rätsel, wieso Michael ihn ausgerechnet Weihnachten um die Scheidung gebeten hatte. Er wäre unglücklich in der Beziehung und fühlte sich eingeengt. Deshalb habe er sich einer medizinischen Hilfsorganisation angeschlossen und werde gleich nach Neujahr in Afrika seine Arbeit aufnehmen.

Für Javi war die Weihnachtszeit sowieso schon immer schwierig gewesen, und jetzt brach Michael ihm auch noch das Herz.

Rückblickend konnte Javi nachvollziehen, wieso Michael rastlos und unzufrieden gewesen war. Ihr gemeinsamer Freund Hugh, der während seiner Arbeit als Flying Doctor gestorben war, hatte stets von seinen Einsätzen im australischen Outback geschwärmt und sein Leben wie ein einziges Abenteuer dargestellt. Nach Hughs Besuchen war Michael immer sehr launisch gewesen. Offensichtlich langweilte er sich in seinem medizinischen Alltagstrott und neidete dem Freund sein abenteuerliches Leben.

Javi hatte gehofft, Michael würde zur Ruhe kommen, sobald sie Mabel adoptiert hatten. Schließlich war es Michaels Idee gewesen, wohingegen Javi skeptisch gewesen war, weil er befürchtete, ein Kind würde nur Unruhe in seinen Alltag bringen.

Inzwischen war er alleinerziehend und konnte sich ein Leben ohne die kleine Mabel nicht mehr vorstellen.

Ein Blick in ihr hübsches Gesichtchen mit den großen braunen Augen genügte, ihm neue Kraft zum Weitermachen zu geben.

Aus Liebe zu seiner Tochter beschloss er jetzt auch, Weihnachten wieder in sein Leben zu lassen. Nach der Scheidung hatte er die festliche Gestaltung Mabels Großmüttern überlassen, weil er selbst nicht in Stimmung gewesen war, denn Weihnachten erinnerte ihn zu sehr an Michael. Sie hatten sich auf einer Weihnachtsparty kennengelernt. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war so stark gewesen, dass sie sehr schnell unzertrennlich geworden waren. Für Javi waren es die sieben glücklichsten Jahre seines Lebens gewesen. Die Scheidung der absolute Tiefpunkt.

Wurde es – Mabel zuliebe – nicht langsam Zeit, sein Weihnachtstrauma zu überwinden und ihr ein besonders schönes Fest zu bereiten? Die Kleine sollte auch schöne Erinnerungen an die Weihnachtszeit haben, so wie er damals als Kind. Er entstammte einer großen hispanischen Familie, in der das Fest der Feste immer chaotisch und wundervoll gewesen war, mit Ausflügen und Familienfeiern. Inzwischen waren die Familienmitglieder in alle vier Himmelsrichtungen verstreut. Die Erfahrung eines turbulenten Familienfests konnte er Mabel daher nicht bieten. Aber er könnte selbst etwas auf die Beine stellen, statt seinen Eltern die ganze Arbeit für ein fröhliches Fest zu überlassen.

Mamita und Papa hatten ihn immer unterstützt, obwohl sie ihn nie so recht verstanden hatten. Für seine konservativen, etwas altmodischen Eltern musste es schwierig sein, einen pansexuellen Sohn zu haben. Er hatte ihnen erklärt, dass es bedeutete, sich geschlechterunabhängig zu verlieben. Jedenfalls rechnete er es ihnen noch an, keine große Sache daraus zu machen. So konnte er sein Leben offen führen und musste sich nicht verstecken. Dafür war er sehr dankbar.

Diese Dankbarkeit wollte er nun zum Ausdruck bringen und seinen Eltern und Mabel ein schönes Fest bereiten. Das nahm er sich fest vor, als er den Wagen in der Tiefgarage des Klinikums parkte. Dann konzentrierte er sich auf den vor ihm liegenden Arbeitstag. Der würde es heute in sich haben. Zunächst die Unterredung mit Ben Murphy. Dann musste er dringend einen Ersatz für Heather finden. Kein leichtes Unterfangen bei dem momentanen Personalmangel. Die Austauschpflegekraft musste auch noch eingearbeitet werden.

Hoffentlich fand Ailani Kekoa sich schnell zurecht, denn bei dem Ansturm der kleinen Patienten mit Grippe und anderen Atemwegsinfektionen würde ihm wenig Zeit für die neue Kollegin bleiben.

Ailani hatte sich zwar nach einem aufregenderen Leben gesehnt, doch als es jetzt so weit war, wurde sie nervöser, je näher sie dem neuen Arbeitsplatz kam, zu dem ihre neue Freundin Bryn sie freundlicherweise fuhr.

Der spontane Entschluss, drei Monate lang Abbies Job zu übernehmen, kam ihr jetzt wie der Sprung ins kalte Wasser vor.

Neben dem Job hatte Abbie ihr auch ihre Wohnung nebst Mitbewohnerin Bryn und ihr Auto überlassen.

Auch Bryn war examinierte Krankenpflegerin, arbeitete jedoch momentan mit einer Therapiehündin. Die hieß Honey und war ein entzückender Golden Retriever. Sie war auf dem Rücksitz angeschnallt, trug einen farbenfrohen Weihnachtspulli und ein breites Grinsen im Gesicht.

„Frierst du?“, fragte Bryn ihre Beifahrerin besorgt. „Ich kann die Heizung höher stellen.“

„Nein, vielen Dank.“ Ailani rang sich ein Lächeln ab. „Meine Klamotten würden für fünf Personen reichen.“

Bryn grinste verständnisvoll. „Wenn du dich erst einmal an das Bostoner Klima gewöhnt hast, reichen zwei bis drei Schichten, je nachdem, ob du dich drinnen oder draußen aufhältst.“

Ailani bezweifelte, dass sie sich je an den Winter gewöhnen würde. Die eisige Luft schmerzte auf der Haut und beim Einatmen in der Nase. Dabei behauptete Bryn, es wäre noch gar nicht richtig kalt. Die ersten Schneeflocken waren wie weiße Blüten durch die Luft getanzt, auf dem Boden gelandet und wieder geschmolzen. Für jemanden, der sich eine weiße Weihnacht wünschte und nicht zuletzt deshalb das Abenteuer Boston gewagt hatte, war das ziemlich enttäuschend.

Als Ailani vor fünf Tagen angekommen war und sich über den Schneemangel gewundert hatte, erklärte Bryn ihr, dass es meistens erst im Januar oder Februar richtig schneite und es Weihnachten eher grau und frostig wäre.

Dabei hatte Ailani ihrer Großmutter Tutu den Jobtausch damit erklärt, endlich mal weiße Weihnachten zu erleben. Zunächst hatte Tutu sie skeptisch angesehen, doch dann hatte sie verträumt vor sich hingeblickt, als sie sich die Weihnachtsbeleuchtung in einer weißen glitzernden Landschaft vorstellte.

„Schnee kannst du hier in diesen auf die Tränendrüsen drückenden Weihnachtsfilmen sehen, die du dir reinziehst“, meinte Onkel Makoa abfällig. „Und zwar ohne dir eine Lungenentzündung zu holen.“

Doch Ailani hatte bereits alles in die Wege geleitet und den Flug gebucht. Als ihr Onkel das hörte, verließ er knurrend das Zimmer.

Wortlos sah Ailani ihm nach. Es wurde Zeit für Tutu und Onkel Makoa zu begreifen, dass sie ihr eigenes Leben führen wollte, ohne ständig von ihnen bevormundet zu werden, mochte es auch noch so gut gemeint sein.

Sie verließ die Insel, um diesen Kreislauf zu durchbrechen, so wie ihre Mutter es getan hatte. Es war nicht gut ausgegangen für sie. aber wenigstens hatte sie ein eigenständiges Leben geführt.

Mit ihren dreißig Jahren war sie ein Jahr jünger als ihre Mutter damals, als sie gestorben war.

Traurig und entschlossen zugleich sah sie vor sich hin und erschrak. Eine kalte, feuchte Hundenase stupste sie am Ohr. Lachend warf sie einen Blick über ihre Schulter und sah in feuchte braune Hundeaugen. Offensichtlich hatte Honey ihre Traurigkeit gespürt und wollte sie aufmuntern.

„Ach, Honey, mir ist schon kalt genug“, sagte Ailani amüsiert. Die Hündin öffnete das Maul, ließ die Zunge heraushängen und schien zu grinsen.

„Bist du aufgeregt, weil du deinen neuen Job antrittst?“, fragte Bryn verständnisvoll, als sie gerade am Boston Common, dem großen Stadtpark von Boston entlangfuhren.

„Ein wenig.“ Sie streckte die Hand aus, um Honeys Kopf zu streicheln. „Meinst du, Honey hat mich deswegen angestupst?“

„Schon möglich.“ Bryn bog links ab und fuhr in die Tiefgarage des Klinikums. „Vielleicht wollte sie auch nur auf sich aufmerksam machen.“

Bisher hatte Ailani die Hündin nur faul auf dem Sofa liegen sehen. Honey wurde nur lebendig, wenn sie Erdnussbutter witterte. Die liebte sie. Als Therapiehündin hatte sie Honey noch nicht erlebt. Bryn setzte sie auf der Kinderstation ein, damit sie den Kindern dort Trost spendete. Nun konnte Ailani nachvollziehen, wie gut Honey dafür geeignet war, denn nach der kurzen Interaktion mit ihr fühlte sie sich schon viel besser.

Bryn parkte den Wagen. Sie stiegen aus und nahmen den Fahrstuhl zur zweiten Etage.

„So, meine Liebe“, sagte Bryn, als sie auf der Kinderstation ausstiegen und umarmte Ailani aufmunternd. „Ich wünsche dir einen großartigen ersten Tag.“

„Danke, hoaloha.“ Sie strich Honey über den Kopf und machte sich auf die Suche nach der Oberschwester, bei der sie sich melden sollte.

Leigh Wachowski hatte einen überaus festen Händedruck und schlaue blaue Augen.

„Herzlich willkommen“, sagte sie und marschierte Richtung Personalraum. Freundlich ließ sie Ailani den Vortritt. „Die Morgenbesprechung wirst du verpassen, du musst zuerst in die Personalabteilung, um Schlüsselkarte und Hausausweis in Empfang zu nehmen. Morgen kommst du dann durch den Personaleingang herein. Dieser Flur führt zu den Umkleiden. Dort findest du auch einen freien Spind. Komm, dann kannst du deine Winterjacke dalassen. Dir ist sicher schon ganz heiß.“

Ailani behielt lieber für sich, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie sich im Winter kleiden sollte. Nachher hielt die Oberschwester sie noch für gänzlich inkompetent.

Sie behielt nur den Krankenhausanzug an und zog eine Strickjacke darüber, dann machte sie sich auf den Weg zur Personalabteilung.

„Wenn du zurück bist, führe ich dich herum und stelle dir die Kollegen und Kolleginnen vor“, rief die Oberschwester ihr zu.

Doch als Ailani nach einem schier endlosen Papierkrieg schließlich mit Namensschild, Hausausweis und Schlüsselkarte zurückkehrte, war Leigh wie vom Erdboden verschluckt.

„Sie wurde zur Personalabteilung gerufen“, berichtete ein Krankenpfleger, der gerade das Schwesternzimmer verließ, weil sein Pieper losgegangen war. „Es dauert nur einen Moment. Dann versuche ich herauszufinden, was wir mit dir machen.“

Ich bin doch keine unerwünschte Paketsendung, dachte Ailani ungehalten. Sie fühlte sich in ihrer Ehre als kompetente Krankenpflegerin verletzt.

„Schwester Kekoa?“

Ailani erschrak, als sie direkt hinter sich eine sanfte, tiefe Stimme hörte. Sie wirbelte herum und sah sich einer breiten Brust gegenüber. Ihr Blick blieb am Ausschnitt eines blütenweißen Hemdes hängen, der einen sonnengebräunten Hals und dunkle Härchen entblößte.

Sie hob den Kopf, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie in wunderschöne haselnussbraune Augen sah, die von langen, dichten Wimpern umkränzt waren und zu einem sehr attraktiven Männergesicht gehörten.

„J-ja“, stotterte sie. „Das bin ich.“

„Dr. Javier Pascal, Chefarzt der Pädiatrie“, stellte er sich vor und reichte ihr eine große, langfingrige Hand zum Gruß.

Sowie ihre Hände sich berührten, spürte Ailani einen heftigen Stromschlag und hätte ihre Hand fast zurückgezogen, überspielte die Reaktion aber geschickt und sagte: „Freut mich, Sie kennenzulernen, Dr. Pascal.“ Behutsam löste sie die Hand aus seinem Griff. „Ich warte auf Oberschwester Wachowski, sie wird mich herumführen.“

„Sie ist gerade unabkömmlich. Daher werde ich das übernehmen.“

„Ach.“ War das eine Feuerprobe? Energisch riss sie sich zusammen, atmete tief durch und sagte höflich: „Danke, Herr Doktor.“

Leicht verwundert zog er die Augenbrauen zusammen. „Gern. Folgen Sie mir bitte.“

Das tat sie. Gleichzeitig schärfte sie sich ein, nie zu vergessen, dass dieser äußerst faszinierende Javier Pascal ihr Vorgesetzter war.

Es kam Javier irgendwie unwirklich vor, Schwester Ailani Kekoa auf seiner Station herumzuführen und den anderen Mitarbeitern vorzustellen. Professionalität war ihm quasi angeboren. Das kam ihm jetzt zugute. Äußerlich merkte ihm niemand an, wie sehr ihn die Begegnung mit Ailani aus dem Gleichgewicht gebracht hatte – vollkommen unerwartet – und unerwünscht.

Beim Blick in ihre dunkelbraunen weit auseinanderstehenden Augen hatte sein Herz einen Schlag ausgesetzt. Es kostete ihn große Mühe, seinen inneren Aufruhr zu überspielen, als er die neue Kollegin mit ihrem neuen Arbeitsumfeld bekanntmachte und ihr gleichzeitig Fragen stellte, um sich von ihrer Kompetenz zu überzeugen. Dabei musste er sich zwingen, nicht ihr liebliches Profil anzustarren und noch einen Hauch ihres blumigen Duftes einzuatmen.

„Hier ist bestimmt mehr los als in der Klinik in Molokai.“ Als sie zu ihm aufsah, wandte er sich schnell ab, um nicht erneut in diesen faszinierenden Augen zu versinken.

„Sehr viel mehr. Aber das ist gut so, denn ich bin ja hier, um gefordert zu werden.“

„Typisch für diese Jahreszeit sind Atemwegserkrankungen. Daneben gibt es die üblichen Verletzungen und Krankheiten“, erklärte er. Sie standen jetzt vor dem Krankenzimmer des sechsjährigen Mason, der eine Sauerstoffmaske trug. Seine Mutter saß neben ihm und hielt seine Hand.

„Ich könnte mir vorstellen, dass die Inzidenz auf Hawaii wesentlich niedriger ist.“

„Im vergangenen Jahr hatten wir einen Anstieg von Grippe und Atemwegserkrankungen bei Kleinkindern zu verzeichnen“, berichtete Ailani. „Ich bin da also durchaus auf dem Laufenden.“

„Zum Glück mussten wir in diesem Jahr keinen Todesfall beklagen. Jedes Kind, das hier mit den entsprechenden Symptomen eingeliefert wird, muss natürlich gründlich getestet werden, damit wir wissen, mit welchem Erreger wir es zu tun haben.“

Wollte er ihr Wissen auf die Probe stellen? Ailani reagierte sofort. „Es ist ja allgemein bekannt, dass unterschiedliche Krankheiten die gleichen Symptome zeigen können, Behandlung und Vorgehensweise zur Beherrschung der Infektion sich jedoch unterscheiden. Am wichtigsten ist es, sicherzustellen, dass die Patienten entsprechend versorgt werden und ihr Krankenhausaufenthalt so kurz wie möglich ist.“

„Genau so ist es.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür eines anderen Krankenzimmers, und Nick trat auf den Flur. Javi winkte ihn heran, um Ailani vorzustellen.

„Dr. Nick Walker, Schwester Ailani Kekoa.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte Nick, als er ihr die Hand schüttelte.

Javi beäugte ihn misstrauisch. War sein Lächeln noch fröhlicher als sonst? Hastig fuhr Javi fort. „Dr. Walker ist unser neuster Kinderarzt und heute zum ersten Mal auf Station.“

Es ärgerte ihn, dass Ailani sich sofort mit dem Kollegen über diese Gemeinsamkeit unterhielt. Sobald sich eine Gesprächspause ergab, schaltete er sich wieder ein und führte Ailani zu Kalista Mitchell, die er gerade vor dem Schwesternzimmer erblickt hatte. Bin ich etwa eifersüchtig? überlegte er.

„Kalista.“

Die Internistin, die gerade eine Patientenakte überflog, sah auf.

„Bist du zu einem Konsilium hier?“

Sie nickte. „Es geht um ein sechsjähriges Mädchen, das gleich heraufgebracht wird.“

„Das ist Schwester Ailani Kekoa. Sowie wir hier durch sind, schicke ich sie zu der Schwester, die dir zugeteilt wird. Dann kann sie mitlaufen und ist auch gleich bei einem Konsilium dabei.“

„Geht klar.“ Kalista widmete sich wieder der Lektüre der Patientenakte.

Also gingen sie weiter. Und wer kam ihnen entgegen? Der bärbeißige Ben Murphy, den er sich vorhin vorgeknöpft hatte. Geholfen hatte das Gespräch wohl nicht, denn der Mann sah grimmiger denn je drein.

„Ben …“

Widerstrebend blieb der stehen, blickte zwischen Ailani und Javi hin und her.

„Ja?“

„Ich möchte die neue Schwester vorstellen.“

„Hallo. Ich bin in Eile.“ Und schon ging er weiter.

Belustigt sah Ailani ihm nach.

Javi seufzte. „Er ist einer der besten Kinderchirurgen, die ich kenne. Und mit Kranken kann er sehr gut umgehen.“

„Aha.“ Amüsiert lächelnd wandte sie sich Javi zu. „Das sollte ich wohl bedenken, wenn er wieder so rüde ist.“

Ihr strahlendes Lächeln verschlug ihm die Sprache. Dass Ailani sich nicht so schnell erschüttern ließ, machte sie noch anziehender.

„Dr. Pascal.“ Leigh Wachowskis Stimme zu hören war eine Erleichterung, denn nun musste er seinen Blick von Ailanis losreißen. Die Oberschwester eilte heran. „Endlich hat mich die Personalabteilung aus ihren Fängen gelassen. Nun kann ich Ailani weiter herumführen.“

„Danke, Leigh. Bitte sorge dafür, dass sie die Schwester begleitet, die Dr. Mitchell zugeteilt wird. Kalista wartet bereits auf die Patientin aus der Notaufnahme.“

„Wird gemacht.“

„Danke für die Tour, Dr. Pascal“, sagte Ailani und strahlte ihn wieder an. Seltsam, in der Gegenwart dieser Frau fühlte er sich plötzlich viel unbeschwerter als sonst. Seine Stellung als Chefarzt war mit großer Verantwortung verbunden, die auf seinen Schultern lastete und ihm nur selten ein Lächeln abrang.

„Gern geschehen.“ Entschlossen wandte er sich um und machte sich auf den Weg zu seinem Büro. Er musste dringend Abstand zu Ailani gewinnen. Das war gar nicht so einfach, denn er meinte, ihr blumiger Duft begleitete ihn.

Ailani sah ihm nach. Als sie merkte, dass die Oberschwester schon in die andere Richtung unterwegs war, eilte sie ihr nach.

„Tut mir leid, dass ich vorhin verschwunden bin. Aber eine Schwester hatte ganz kurzfristig gekündigt, und die Personalabteilung wollte ausgerechnet heute Morgen mit mir darüber sprechen.“

„Kein Problem. Dr. Pascal hat mich sehr gut informiert.“ Fast hätte sie noch einmal in seine Richtung geblickt. Der Chefarzt der Pädiatrie hatte etwas unerklärlich Magnetisches an sich. Er sah fantastisch aus, und seine Stimme glitt wie warme Seide über ihre Haut. Doch das durfte keine Rolle spielen. Sie war von Hawaii nach Boston gekommen, um sich selbst zu beweisen, dass sie auch hier eine gute Krankenpflegerin sein konnte. Nur an das höhere Tempo hier musste sie sich erst noch gewöhnen.

„Ja, man kann wirklich großartig mit ihm zusammenarbeiten“, sagte Leigh und brachte das Thema wieder auf Dr. Pascal. Eigentlich hatte Ailani ihn gerade aus ihren Gedanken verbannen wollen.

„Selbst als sein Ehemann sich vor ein paar Jahren von ihm scheiden ließ, hat er sich hier bei der Arbeit nichts anmerken lassen. Vielleicht war er noch etwas ernster als sonst, aber seine Arbeit hat er mit der gleichen Hingabe erledigt.“

Enttäuscht verzog Ailani den Mund. Javier Pascal war also schwul. So ein Jammer.

Doch dann lachte sie sich insgeheim aus. Sie war hier, um zu arbeiten, und nicht, um sich in eine Affäre zu stürzen. Obwohl … mit dem sexy Dr. Pascal hätte sie sich schon so etwas vorstellen können. Wahrscheinlich war es ganz gut, dass er schwul war.

„Du gehst erst einmal mit Brian mit. Er ist Dr. Mitchell zugeteilt. Wenn du fertig bist, kommst du wieder zu mir, dann erhältst du eine neue Aufgabe.“

Im Schwesternzimmer durchsuchte eine Pflegehelferin gerade Kartons voller Weihnachtsdekoration.

„Hallo, Patty. Sortier bitte alle Glasgegenstände aus. Die hat letztes Jahr jemand gespendet. Wir haben direkt angefangen, sie herauszusuchen. Es können aber noch welche in den Kartons sein. Am besten legst du sie in einen extra Karton. Ich werde sie spenden.“

„Ihr bereitet euch schon auf die Adventszeit vor, oder?“

Leigh griff nach einer Patientenakte. „Ja, Weihnachten wird bei uns ganz großgeschrieben. Es heitert die Kinder auf. Wir erfüllen Wünsche, veranstalten einen Santa Dash und organisieren einen Kuchenbasar, um Spenden für Camp Heartlight zu sammeln.“

„Was ist Camp Heartlight?“

„Ein Sommercamp für Kinder mit Herzerkrankungen. Wir führen das ganze Jahr über Spendenaktionen zur Unterstützung des Camps durch, aber die meisten Spenden kommen bei den Weihnachtsveranstaltungen zusammen.“

Die Oberschwester sah von der Akte auf. „Ach ja, einen Julklapp fürs Personal gibt es natürlich auch noch.“

„Toll. Das haben wir in meiner Klinik in Molokai auch gemacht. Ich kann gern helfen. Wer ist denn zuständig?“

Ungehalten verzog Leigh das Gesicht. „Heather. Aber die verlässt uns ja jetzt. Also bin ich wohl zuständig. Es sei denn …“, lächelnd sah sie Ailani an, „… du würdest das übernehmen.“

Entschieden schüttelte Ailani den Kopf. „Nein, dazu kenne ich mich hier noch zu wenig aus. Helfen würde ich aber gern.“

„Gut. Dann frag doch mal herum, wer mitmachen will und gib mir die Liste. Danke, Ailani.“

„Das mache ich gern.“ Gleichzeitig konnte sie sich dabei vorstellen und ihre Kollegen besser kennenlernen.

Als sie mit Brian unterwegs zum Untersuchungsraum war, wo Dr. Mitchell sich gleich der kleinen Patientin widmen würde, fragte sie Brian direkt, ob er beim Julklapp mitmachen wollte. Er stimmte sofort zu, sehr zu Ailanis Freude, dass ihre erste Anfrage gleich von Erfolg gekrönt war.

Sie hatten den Raum fast erreicht, als Leigh zu ihnen eilte. „Wir haben eine Planänderung, Ailani. Die Notaufnahme schickt noch einen Patienten hoch. Ich brauche dich dort. Tut mir leid, dass ich dich ins kalte Wasser werfen muss. Meinst du, du kommst klar?“

„Selbstverständlich“, behauptete sie im Brustton der Überzeugung, obwohl ihr Herz aufgeregt klopfte.

„Hier entlang.“

Leigh ging voran. „Normalerweise würde die Notaufnahme den Kleinen untersuchen, aber da unten herrscht so ein Andrang, dass entschieden wurde, ihn direkt auf Station zu bringen.“

Der elfjährige Kyrie Powers wurde gerade ins Zimmer gerollt, als sie eintrafen. Er war schmächtig, der dunkle Teint wirkte grau vor Schmerz.

Seine Mutter wartete draußen, bis er umgebettet war. Im nächsten Moment betrat schon Dr. Pascal das Krankenzimmer und stellte sich Mutter und Sohn vor.

Geschäftig überprüfte Ailani den Tropf mit der Kochsalzlösung, stellte eine Nierenschale bereit, falls Kyrie sich erbrechen musste, und überprüfte seine Temperatur und Sauerstoffsättigung, wobei sie aus dem Augenwinkel Dr. Pascal im Blick behielt, falls er sie brauchte.

Zunächst stellte Javier dem Jungen eine Menge Fragen, die jedoch seine Mutter beantwortete. Er hätte über Unwohlsein und Bauchschmerzen geklagt.

„Wie äußert sich das Unwohlsein?“, fragte Javier den Patienten. Der drehte den Kopf zur Seite und schloss die Augen, als er Ailanis freundlichem Blick begegnete.

„Er hat gesagt, er wäre so müde. Ich dachte, er wollte sich vor der Schule oder dem Footballtraining drücken“, sagte Mrs. Powers.

Kyrie riss die Augen auf und warf seiner Mutter einen bösen Blick zu. Es sah so aus, als wollte er etwas sagen, kniff dann aber die Lippen fest zusammen.

„Das hat er schon mal versucht“, erklärte seine Mutter und fing an zu weinen. Ailani reichte ihr ein Taschentuch. Dabei bemerkte sie, wie Kyries Unterlippe bebte.

Dr. Pascal blickte zwischen Mutter und Sohn hin und her. Dann richtete er das Wort wieder an Kyrie. „Du musst mir sagen, welche Beschwerden du hast. Sonst kann ich dir nicht helfen. Ich muss das von dir hören, nicht von deiner Mutter.“

Kyrie atmete tief ein, schwieg jedoch weiterhin. Erst als der Arzt sich über ihn beugte und ihn zu einem Gespräch unter Männern aufrief, reagierte der Junge und zählte alle Symptome und Beschwerden auf.

Javier nickte. „Danke, dass du mich nicht länger im Dunkeln tappen lässt. Jetzt kann ich dir helfen.“ Er richtete sich auf. „Ich würde Sie gern kurz draußen sprechen, Mrs. Powers.“

Kyrie runzelte die Stirn und sah ihnen nach.

„Es wird nicht lange dauern“, sagte Ailani beruhigend.

„Wieso sagt er mir nicht, was mit mir los ist? Ich bin doch kein Baby mehr“, schimpfte der Junge.

„Nein, bist du nicht“, bestätigte sie. „Ich schätze, Dr. Pascal wird erst wissen, was dir fehlt, wenn wir einige Tests durchgeführt haben.“

„Und was bespricht er dann mit meiner Mom?“

Sie hatte so eine Ahnung, verriet aber nichts. Stattdessen zuckte sie mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich bin ja hier bei dir. Zu dumm, dass ich heute Morgen mein bionisches Hörgerät zu Hause vergessen habe.“

Verzweifelt versuchte Kyrie, sich das Lachen zu verkneifen. Doch als er Ailani ansah und die aus Spaß schielte, konnte er nicht anders.

2. KAPITEL

Um die Mittagszeit brauchte Javi dringend eine Pause vom hektischen Klinikbetrieb. Daher verließ er das Klinikum und suchte sich einen Tisch im nahegelegenen „Full of Beans“-Café“. Mit Kräutertee und einem Panini setzte er sich im hinteren Bereich des Cafés auf eine Sitzbank.

Seine Kinderstation war noch immer unterbesetzt. Wenigstens hatten sie einen tüchtigen Neuzugang hinzugewonnen. Ailani Kekoa hatte ihn bereits beeindruckt. Wie gelassen sie mit ihrem Patienten im Boston Beacon umgegangen war, den Jungen sogar zum Lachen gebracht hatte, war bewundernswert.

Sogar Kali Mitchell, die sonst eher zurückhaltend war, hatte zu ihm gesagt: „Sie ist richtig gut. Es gibt überhaupt nichts an ihr auszusetzen.“ Zu seiner Überraschung hatte sie noch hinzugefügt: „Ich mag sie.“

Ich mag sie auch, dachte Javi nun. Ailani hatte ein sehr einnehmendes Wesen, humorvoll funkelnde Augen und ein fröhliches Lächeln auf den Lippen.

Schon nach so kurzer Zeit nahm die neue Schwester viel Raum in seinen Gedanken ein. Dabei hatte er wirklich andere Dinge im Kopf. Seine Schwester Lena kam mit ihrer Familie zu Weihnachten aus Kalifornien zu Besuch, und seine Mutter war jetzt schon ganz aus dem Häuschen vor Freude, weil Tochter, Schwiegersohn, Enkel und Enkelin im Elternhaus wohnen würden. Von Javi wurde erwartet, dass er dort viel Zeit mit Mabel verbrachte, damit sie mit Cousin und Cousine spielen konnte. Gleichzeitig musste er auch dafür sorgen, dass seine Exschwiegereltern nicht zu kurz kamen. Joan und Ronald Edwards liebten Mabel und Javi, daran hatte zum Glück auch die Scheidung nichts geändert.

Nachdenklich trank er einen Schluck Tee. Sein Panini hatte er noch nicht angerührt. Weihnachten würde sicher chaotisch werden. Und er hasste Chaos.

„Wenn Sie das Sandwich nur anstarren, statt es zu essen, können Sie es auch jemandem abtreten, der wirklich hungrig ist“, hörte er jemanden frech sagen.

Er sah auf und begegnete Ailanis fröhlichem Blick. Sofort wurde ihm leichter ums Herz. Lachend winkte er sie zu seinem Tisch.

„Kommen Sie, leisten Sie mir Gesellschaft, wenn Sie Zeit haben, und achten Sie darauf, dass ich ein braver Junge bin, der sein Panini isst.“ Er wunderte sich über sich selbst. War es eine gute Idee, nun auch hier Zeit mit ihr zu verbringen? Ja, denn sie würde ihn von seinen wirbelnden Gedanken ablenken.

Erstaunt über Javiers humorvolle Reaktion auf ihre Neckerei nahm Ailani ihr Tablett mit Kaffee und Sandwich auf und steuerte auf seinen Tisch zu.

„Wofür halten Sie mich, Dr. Pascal? Für Ihre Mutter?“, erkundigte sie sich mit einem fröhlichen Grinsen.

„Ganz und gar nicht.“ Höflich erhob er sich und setzte sich wieder, als sie Platz genommen hatte. „Oder doch? Sie hat auch langes, welliges Haar, nur grauer.“

Ailani lachte vergnügt. Sie war froh zu sitzen und freute sich über Dr. Pascals humorvolle Bemerkungen. Damit hatte sie nicht gerechnet. In der Klinik wirkte er so ernst.

„Ich bin froh, dass das die einzige Ähnlichkeit ist, Dr. Pascal.“

„Bitte sag Javier oder Javi außerhalb der Klinik, was dir lieber ist. Wie läuft es denn so an deinem ersten Tag?“, fragte er und griff nach seinem Panini.

Er hat schöne Hände, dachte Ailani und wandte hastig den Blick ab. Was dachte sie sich eigentlich dabei, diesen – zugegeben äußerst attraktiven – Mann ständig anzuschauen? Um sich zu sammeln, biss sie in ihr Sandwich. Erst als sie den Bissen hinuntergeschluckt hatte, beantwortete sie die Frage.

„Besser als erwartet. Obwohl hier viel mehr zu tun ist als in der Inselklinik. Aber ich komme klar. Die Station ist sehr gut gegliedert, da finde ich mich leicht zurecht. Und wenn nicht, frage ich mich durch. Alle sind sehr hilfsbereit.“

„Freut mich zu hören.“ Sinnend betrachtete er sein Panini. „Ich war wirklich beeindruckt, dass du Kyrie Powers zum Lachen gebracht hast. Seine Mutter konnte es kaum glauben.“

Sie freute sich sehr über sein Lob.

„Er hatte Angst und wollte tapfer sein. Dr. Mitchell hat einige Tests angeordnet. Kyrie hat beim Blutabnehmen nicht mit der Wimper gezuckt.“

„Verstehst du dich gut mit Kalista Mitchell?“

Sein betont beiläufiger Tonfall ließ sie aufmerken. „Klar. Sie macht einem die Zusammenarbeit leicht. Außerdem scheinen wir den gleichen, leicht schrägen Sinn für Humor zu haben. Als ich sie gefragt habe, ob sie beim Julklapp mitmachen möchte, meinte sie, dieses Jahr hätte sie mit Weihnachten nichts im Sinn. Spontan fiel mir dann ein: Keinachten, statt Weihnachten. Sie hat sich kaputtgelacht. Wir haben dann weiter herumgeblödelt. Bis ich sie Scrooge McMitchell genannt hatte. Da mussten wir aufhören, sonst hätte unser Gelächter womöglich die Patienten gestört.“

Javi lachte amüsiert. „Hat sie daraufhin ihre Meinung über Weihnachten geändert?“

Ailani schüttelte den Kopf. „Nein, das hatte ich auch nicht beabsichtigt. Nicht jeder kann so wild auf Weihnachten sein wie ich. Immerhin will sie für das Sommercamp spenden.“

Javi musterte sie eindringlich. „Die meisten Leute hätten versucht, sie zur Teilnahme zu überreden.“

„Keine Chance. Wie komme ich dazu, jemanden zu etwas zu überreden, was er nicht will? Das wäre ja wohl das Letzte. Kali ist erwachsen, sie kann selbst über ihr Leben entscheiden.“ Tatsächlich hatte ihre Einstellung Ailani an Onkel Makoa erinnert. Auch ihm war der Weihnachtstrubel zu viel. Vielleicht hatte Kali auch keine guten Erinnerungen an Weihnachten.

Ailani liebte Weihnachten, weil sie damit glückliche Erinnerungen an ihre Eltern verband. Sie hatten ihr immer ein wunderschönes Fest voller Freude beschert. Ailani wollte ihren Eltern zu Ehren auch für andere Menschen ein fröhliches Weihnachtsfest veranstalten.

Dabei fiel ihr die Liste ein. „Machst du denn beim Julklapp mit? Leigh hat mich gebeten, alle zu fragen.“

Erstaunt sah er sie an. „Das hat sie dir an deinem ersten Tag aufgedrückt?“

Er weicht meiner Frage aus! Komisch. „Die Schwester, die das eigentlich erledigen sollte, hat gekündigt. Da hat Leigh eben mich gefragt. Es ist keine große Sache, ich muss nur die Namen der Teilnehmer aufschreiben.“

Javi nickte und wechselte das Thema. „Was hat dich eigentlich bewogen, nach Boston zu kommen? Ich kann ja verstehen, dass Abbie den Winter auf Hawaii verbringen möchte, aber nicht dass jemand von Hawaii hierherkommt.“

Ailani hatte gerade von ihrem Sandwich abgebissen und kaute in Ruhe, um sich eine probate Antwort zu überlegen, ohne zu viel preiszugeben.

„Weil auf meiner Liste steht: einmal weiße Weihnachten erleben. Mit Abbie zu tauschen, war die Chance meines Lebens. Allein hätte ich mir das niemals leisten können.“

Er zog die Augenbrauen zusammen. „Hast du eine Löffelliste geschrieben?“

Unbehaglich verzog Ailani das Gesicht. „Ich mag den Ausdruck nicht. Aber ja, ich habe aufgeschrieben, was ich alles noch erleben will.“

Javi sah sie scharf an. „Wieso magst du den Ausdruck nicht?“

„Weil ich ihn eben nicht mag.“

Sie würde sich hüten, ihm zu erzählen, dass sie eine Löffelliste im Nachlass ihrer Mutter gefunden hatte. Bei einem darauf verzeichneten Abenteuer war sie ums Leben gekommen, hatte also den Löffel abgegeben.

„Welche anderen Abenteuer stehen auf deiner Liste?“, fragte er schließlich – leicht gereizt, wie ihr schien.

„Verschiedene. Vielleicht mal auf einem anderen Kontinent wohnen. Hier in Boston will ich jedenfalls einen Schneemann bauen. Davon habe ich schon als Kind geträumt. Und rodeln. Einfach im Schnee herumtoben. Für euch hier ist das natürlich vollkommen normal.“

„Dazu wirst du sicher Gelegenheit haben. Wahrscheinlich allerdings …“

„… nach Weihnachten. Ich weiß.“ Ailani seufzte. „Bryn hat mich schon gewarnt, dass es in Boston nichts mit einer weißen Weihnacht werden wird. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.“

Sie schnitt eine Grimasse, um Javis ernste Miene aufzuheitern. „Ich lasse mir von irgendwelchen Miesepetern nicht meinen Traum zerstören.“

Tatsächlich zuckten seine Mundwinkel, doch sein Blick blieb ernst. Hatte ihn etwas verstört, was sie gesagt hatte?

Dann entspannte er sich jedoch. Sein Lächeln ließ seine haselnussbraunen Augen glitzern und Ailanis Herz schneller schlagen.

„Wenn ich mich richtig erinnere, hat der miesepetrige Grinch im Film nur Geschenke geklaut, keine Träume zerstört.“

„Das habe ich anders in Erinnerung.“ Sie hatten beide ihre Mahlzeit beendet, standen auf und trugen die Tabletts zum Geschirrwagen. „Er hat versucht, Geschenke und Träume zu klauen.“

Den ganzen Rückweg zur Klinik setzten sie ihre Nonsensunterhaltung fort.

Im Lift fiel Ailani plötzlich wieder der Julklapp ein, und sie fragte Javi erneut, ob er mitmachen wollte.

„Okay, du kannst mich auf die Liste setzen“, sagte er und schien selbst über diese Antwort zu staunen.

„Ausgezeichnet.“ Ailani strahlte.

Als sie Leigh später einen Zwischenstand mitteilte, erfuhr sie, dass Dr. Pascal in den vergangenen beiden Jahren an keiner einzigen Weihnachtsveranstaltung teilgenommen hatte.

„Hoffentlich ist er jetzt über die Scheidung von seinem Ehemann hinweg“, meinte die Oberschwester. „Er ist zu jung, um nur zu arbeiten und sich um seine kleine Tochter zu kümmern. Vielleicht ist er bereit für eine neue Beziehung. Er hat es wirklich verdient, wieder glücklich zu sein.“

Ailani nickte nur vage. Javier Pascals Liebesleben ging sie nichts an. Sie fand ihn aber sympathisch und hoffte, sie könnten Freunde werden.

Er hatte vorgeschlagen, sich am nächsten Tag wieder im Café zum Essen zu treffen, vorausgesetzt, sie hatten Zeit.

Das wäre schön, aber sie durfte sich nicht in ihn verlieben. Er war so lecker wie Ananas-Tarte-Tatin. Und sie war allergisch gegen Ananas.

Autofahren machte Ailani viel Spaß. Da Abbie und sie auch die Autos miteinander getauscht hatten, wollte sie am nächsten Morgen mit dem Wagen zur Arbeit fahren. „Ich nehme dich mit, wenn ich mit Honey auf Station zu tun habe“, hatte Bryn bei Ailanis Ankunft angeboten. Das geht leider nicht, wenn ich beim Therapiehundverein arbeite.

„Das ist kein Problem“, hatte Ailani schnell geantwortet. „Mein Orientierungssinn ist zwar nicht der Beste, aber mit den Navis im Auto und auf meinem Handy wird es schon gehen. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie man auf verschneiten Straßen fährt.“

Bryn hatte gelacht. „So geht es hier allen Autofahrern beim ersten Schneefall. Das kann ziemlich anstrengend sein. Aber nach ein paar Tagen haben sich alle daran gewöhnt.“

Zur Sicherheit hatte Bryn es sich nicht nehmen lassen, Ailani zu zeigen, wie sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Klinikum gelangte. Sie war wirklich wunderbar, so herzlich und hilfsbereit, ohne jemals aufdringlich zu sein. Ailani fühlte sich fast schon heimisch in Boston.

Das gemeinsame Mittagessen mit Javier Pascal gestern hatte auch dazu beigetragen. Sie hatte sofort Vertrauen zu ihm gefasst, musste nur aufpassen, dass ihre Gefühle für ihn nicht stärker wurden. Sich in ihn zu verlieben, käme einer Katastrophe gleich.

Vorsichtig fädelte sie sich in den morgendlichen Straßenverkehr ein.

Wieder kreisten ihre Gedanken um den attraktiven Kinderarzt. In seinen haselnussbraunen Augen konnte man sich verlieren. Sie spiegelten Intelligenz wider, blitzten manchmal humorvoll auf, wirkten dann wieder ernst. Ihr wurde heiß, wenn sie in seine Augen sah. Und seine Lippen waren wie geschaffen zum Küssen. Sie hatte auch schon geträumt, dass Javi sie mit seinen schönen, schmalen Männerhänden an ihrem intimsten Ort berührte. Ein erregendes Pulsieren in ihrem Schoß hatte sie geweckt. Sie musste sich definitiv zusammenreißen. Zwischen ihr und Javi könnte es nur Freundschaft geben, so wie mit Bryn und Kali.

„Endlich.“ Erleichtert atmete sie auf, als das Klinikgebäude vor ihr aufragte. Die wenigen Kilometer zwischen Wohnung und Arbeitsplatz verlangten ihr im dichten Berufsverkehr große Konzentration ab. Von dem geruhsamen Lebensstil auf Molokai war Boston Lichtjahre entfernt.

Doch langsam gewöhnte sie sich an die Hektik der Großstadt und in der Klinik. Und das bereits nach zwei Tagen.

Sie parkte in der Tiefgarage des Klinikums und stieg aus. Ein eisiger Wind blies ihr ins Gesicht. Fröstelnd zuckte sie zusammen und grinste dann vor sich hin. Bryn hatte die Temperatur heute Morgen als warm bezeichnet.

Wenn das warm sein sollte, wie würde ihr Körper auf Eis und Schnee reagieren?

„Ich will aber Schnee!“, sagte sie laut und ballte eine Hand zur Faust.

Hinter ihr brach jemand in amüsiertes Gelächter aus. Beschämt wirbelte Ailani herum.

„Ärgerst du dich immer noch über den Schneemangel?“, fragte Javier amüsiert und kam auf sie zu. Bekleidet mit Anzughose, Oberhemd und Tweedjackett sah er zum Anbeißen aus.

„Ja, verdammt. Ich will Schnee.“ Sie ließ sich nicht anmerken, dass ihr Herz bei seinem Anblick aufgeregt hämmerte. „Bei dieser Kälte sollte doch Schnee fallen.“

„Hör mal zu“, sagte er, als sie Seite an Seite zum Lift gingen. „Du darfst die Schneegötter nicht herausfordern. Es wäre unverzeihlich, wenn wir deinetwegen unter einer arktischen Kältewelle leiden müssten.“

Na gut. Es ist ja erst Anfang Dezember. „Etwas Zeit haben wir also noch“, meine Ailani nachgiebig.

Höflich hielt Javier die Tür auf und ließ Ailani den Vortritt ins Klinikgebäude. „Ja, zum Glück dauert es noch eine Weile bis Weihnachten. Ich muss mit meiner Tochter Weihnachtsgeschenke einkaufen und habe keine Ahnung, was ich besorgen soll. Darum hat sich immer mein Ex gekümmert.“

Das klang eher resigniert, als traurig. Fröhlich riet sie ihm beim Betreten des Lifts: „Dann solltest du dir bald Gedanken machen. Wie alt ist deine Tochter?“

Lächelnd sah Javier sie an. „Mabel ist sechs … Du erinnerst mich an sie, denn sie drängelt auch schon die ganze Zeit, dass ich mir was einfallen lassen soll.“

Lachend streckte Ailani die Zunge aus.

Gespielt streng schüttelte er den Kopf, doch seine vergnügt blitzenden Augen verrieten ihn. „Mabel würde jetzt was von mir zu hören kriegen.“

„Wie gut, dass ich nicht deine Tochter bin“, konterte Ailani.

Im nächsten Moment hielt der Lift. Zwei Krankenpflegerinnen und ein Arzt stiegen zu. Damit war das fröhliche Geplänkel beendet.

Ailani stieg auf der Kinderstation aus, Javier fuhr weiter zur Personalabteilung, wo er an einer Besprechung teilnehmen musste.

Bei der Morgenbesprechung wurde Ailani über die Patienten gebrieft, die sie heute betreuen sollte. Auch Kyrie Powers war darunter. Man hatte ihn über Nacht hierbehalten.

Dr. Mitchell hatte ja gestern einen 24-Stundentest auf freies Cortisol im Urin angeordnet. Wir mussten also regelmäßig Proben nehmen. Sowie der Test abgeschlossen ist, soll ein ACTH-Stimulationstest vorgenommen werden. „Der arme Kerl muss ja vollkommen erschöpft sein.“

Die Nachtschwester schnaubte. „Vermutlich, aber das macht ihn noch gereizter.“

Als Ailani schließlich Kyries Krankenzimmer betrat, war er allein und wach. Lächelnd wünschte sie ihm einen guten Morgen. Kyrie warf ihr nur einen bösen Blick zu.

„Muss ich wieder in die Flasche pinkeln?“

Schweigend warf Ailani einen Blick aufs Krankenblatt. „Deine Ausdrucksweise ist heute Morgen ja ziemlich drastisch. Na ja, das geht mir ähnlich, wenn ich nicht genug Schlaf bekommen habe. Ja, eine Urinprobe brauchen wir noch, dann bist du damit durch.“

Sein dramatisches Stöhnen hätte sie fast zum Lachen gebracht. Schnell biss sie sich auf die Lippe, denn sie wollte den Jungen nicht noch mehr aufbringen.

Offenbar hatte Kali die Tests angeordnet, weil sie ein Problem mit Kyries Nebennieren vermutete. Sollte sich dieser Verdacht als richtig erweisen, würde Kyrie sein Leben lang medikamentös behandelt werden müssen. Ailani versuchte herauszufinden, ob er Stress hatte. Dadurch könnte sich sein Problem verschärfen.

„Du spielst also Football?“, fragte sie daher beiläufig.

„Ja.“ Begeisterung klang anders.

„Macht es dir keinen Spaß?“

„Geht so.“

„Bist du ein guter Spieler?“

Er zuckte die Schultern, presste die Lippen zusammen, seine Augen schimmerten feucht.

„Ich war mal gut“, sagte er dann leise. „Dann sind die anderen Jungen alle gewachsen, und ich konnte nicht mehr mithalten.“

Ailani tat, als müsste sie sich darauf konzentrieren, dien Urinprobenbehälter zu beschriften und hielt den Blick abgewandt. „Nicht alle Menschen wachsen gleichzeitig. Dein Wachstumsschub kommt später. Vielleicht liegt es auch an deinen Beschwerden, dass du nicht so stark bist wie die anderen.“

„Ich wollte aufhören.“ Er ließ den Kopf hängen. „Die haben mich ständig gehänselt, mich Zwerg genannt. Aber Dad hat im College Football gespielt und war so stolz auf mich, als ich ins Team geholt wurde. Ich wollte ihn nicht …“ Seine Stimme versagte.

Er versuchte wohl, die Tränen zurückzuhalten. Ailani hörte leises Schniefen. Sie stellte den Behälter weg, zog Papiertaschentücher aus der Box auf dem Nachttisch und sah Kyrie an. Doch er hatte das Gesicht abgewandt. Also trat sie ans Bett und drückte dem Jungen die Taschentücher in die Hand.

„Hör mal, makamaka uuku“, sagte sie mitfühlend. „Es ist okay, Angst zu haben und zu weinen. Manchmal ist es schwer, ehrlich zu den Menschen zu sein, die du liebhast, weil du sie verletzen oder enttäuschen könntest. Die Menschen, die uns liebhaben, verstehen das.“

Traurig sah er sie an. „Aber alle verlangen von mir tapfer und stark zu sein und nicht zu heulen wie ein Baby. Ich will nicht, dass mein Dad denkt, ich könnte nicht so sein, wie er es von mir erwartet.“

„Es ist aber nicht tapfer, deine Gefühle zu unterdrücken oder vorzugeben, du hättest keine Angst. Du bist stark und tapfer, wenn du dich mit deiner Angst auseinandersetzt. Das ist wahre Stärke.“

Sie hielt ihn in den Armen, bis er sich ausgeweint hatte. „So ist es gut“, sagte sie leise. „Lass es raus.“ Dann gab sie ihm noch mehr Taschentücher, damit er sich die Nase putzen konnte und holte einen Waschlappen aus dem Badezimmer, um Kyrie die Tränen vom Gesicht zu wischen.

„Fühlst du dich jetzt besser, makamaka uuku?“

„Ja.“

Er sah auch schon viel besser aus, trotz der verweinten Augen.

„Wie haben Sie mich genannt? Maka … was heißt das?“

„Das ist hawaiianisch und heißt kleiner Freund.“

„Cool. Können Sie mir noch mehr beibringen? Das würde gut ankommen, wenn ich wieder in der Schule bin.“

Sie waren ganz vertieft in den Sprachunterricht, als Kali Mitchell hereinkam, um den ACTH-Stimulationstest durchzuführen. Ailani trug einige Werte in Kyries Krankenblatt ein, dann ging sie hinaus und machte sich auf den Weg zum nächsten Krankenzimmer, blieb jedoch stehen, als sie Javi auf dem Flur stehen sah. Bei seinem Blick wurde ihr heiß.

„Gut gemacht“, sagte Javi mit Blick auf die Tür, durch die sie gerade gekommen war. „Ganz ausgezeichnet.“

Offenbar hatte er gehört, wie sie Kyrie getröstet hatte. Sie hatte ihn gar nicht bemerkt. Der nasse Fleck auf ihrem Kasack fühlte sich plötzlich wie eine Auszeichnung an.

3. KAPITEL

Als Javi abgehetzt nach einem anstrengenden Morgen, den er überwiegend in der Personalabteilung verbracht hatte, weil händeringend eine neue Krankenpflegerin gebraucht wurde, schließlich die Tür zum „Full of Beans“-Café“ aufstieß, hob sich seine Stimmung sofort, denn Ailani winkte ihm strahlend zu. Sie saß an demselben Tisch wie am Tag zuvor.

Ailani wärmte sich die Hände an der Kaffeetasse und wünschte, sie könnte hier den restlichen Tag mit Javi verbringen. Er hatte nicht nur einen beruhigenden Einfluss auf ihre rastlose Seele, sondern sorgte gleichzeitig dafür, dass sie sich viel lebendiger fühlte. Wie war das möglich?

Beim Mittagessen sprach er auch Kyrie Powers an. Aufrichtig erzählte Ailani ihm, was sie vermutete.

„Als Kind ist es nicht einfach, seine Mitmenschen zu schützen. Kyrie ist smart und gleichzeitig hat er Angst. Verzweifelt versucht er, seinen Vater nicht zu enttäuschen und stark für seine Mutter zu sein. Dabei ist er selbst auf der Strecke geblieben.“

„Du meinst, seine Eltern haben ihn zu sehr gefordert?“, fragte Javi besorgt.

„Nein, ganz und gar nicht.“ Beide Eltern hatten einen vernünftigen Eindruck auf sie gemacht. Sie waren sehr besorgt um ihren Sohn. Ailani hatte große Erfahrung mit Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und war daher sicher, auch in diesem Fall richtig zu liegen. „Sie wissen, dass er smart ist und vor seiner Erkrankung ein guter Spieler beim Football war. Ich glaube eher, Kyrie hat sich selbst zu sehr gefordert. Er konnte nicht verstehen, was mit seinem Körper los ist, denn plötzlich konnte er mit den anderen Spielern nicht mehr mithalten, jedenfalls nicht so, wie sein Vater es von ihm erwartete. Kyrie hat einfach jemanden gebraucht, bei dem er sich ausweinen konnte, ohne von ihm enttäuscht zu sein und der ihm versichert, dass er nichts dafür kann, was er gerade durchmacht.“

Javi musterte sie forschend. Ailani hielt seinem eindringlichen Blick stand.

„Du bist eine erfahrene Krankenpflegerin. Aber in diesem Fall habe ich den Eindruck, dass auch persönliche Erfahrungen eine Rolle spielen.“

„Vielleicht.“ Jedenfalls weiß ich, wie es ist, wenn man Erwartungen nicht gerecht wird, weder den eigenen noch denen des Umfelds, wenn man daran fast zerbricht. Sie atmete tief durch. „Ich war acht, als ich meine Eltern verloren habe.“

„Das tut mir sehr leid.“ Javi sah sie an, als könnte er ihren Schmerz spüren.

Ailani wandte den Blick ab. Sie wollte sein Mitgefühl nicht.

„Es ist lange her. Ich wollte damit nur sagen, dass ich bei meiner Großmutter Tutu und meinem Onkel Makoa aufgewachsen bin, und zwar sehr behütet. Ich durfte nichts tun, was auch nur ein kleines bisschen riskant gewesen wäre. Natürlich habe ich mich gefragt, ob es meine Schuld war, dass meine Eltern gestorben sind. Könnte noch etwas Schreckliches passieren? Tutu und mein Onkel regten sich furchtbar auf, wenn ich auf Bäume kletterte oder unbeaufsichtigt mit meinen Cousins und Cousinen hinunter zu den Klippen ging. Ich hatte Angst, ich würde auch sie verlieren, wenn ich mich ihrem Verbot widersetzte.“ Sie senkte den Blick, weil das Feuer in Javis haselnussbraunen Augen sie zu verbrennen drohte.

„Was ist passiert?“, wollte er wissen.

Ailani atmete aus und griff nach ihrem Sandwich. „Eine meiner älteren Cousinen händigte mir eine Kiste mit Sachen meiner Eltern aus. Darunter auch Tagebücher meiner Mutter. Die Lektüre hat mir die Augen geöffnet. Meine Mom war unglaublich abenteuerlustig. Sie hat beschrieben, was sie alles erlebt hat, bevor ich zur Welt kam. Welche Länder sie bereist hat. Dann war da noch die Löffelliste. Einige Vorhaben waren schon abgehakt. Zu anderen ist sie nicht mehr gekommen.“

„Also hast du beschlossen, die an ihrer Stelle zu übernehmen?“

Sie sah auf, weil seine Stimme merkwürdig geklungen hatte. Seiner Miene konnte sie jedoch nichts entnehmen.

„Tatsächlich ist mir bewusst geworden, dass ich mein eigenes Leben führen muss, so wie ich es mir vorstelle und wie meine Mutter es getan hatte. Tutu und mein Onkel haben versucht, mich zu beschützen. Sie hatten Angst, die letzte Verbindung zu meiner Mom zu verlieren, falls mir etwas passieren sollte. Aber ich konnte ihnen zuliebe doch nicht auf meine Bedürfnisse verzichten.“

Natürlich war ihr das schwergefallen, denn besonders der an ADHS und Autismus leidende Onkel Makoa kam nur schlecht mit Veränderungen zurecht. Tutu hingegen hatte schließlich Verständnis gezeigt, wenn sie auch nicht gutheißen konnte, dass ihre Enkelin verrückte Sachen machte, wie sie es nannte.

„Hast du da beschlossen, Krankenpflegerin zu werden?“

Ailani lachte amüsiert. „Nein, die Ausbildung hatte ich bereits abgeschlossen. Tutu und mein Onkel hatten nichts dagegen, obwohl ich die Ausbildung auf Big Island machen musste. Ich bekam ein Stipendium, unter der Voraussetzung, dass ich nach dem Examen fünf Jahre lang auf Molokai arbeiten würde. Die Tagebücher meiner Mutter habe ich erst vor zwei Jahren gelesen und danach beschlossen, meinem Leben eine neue Wendung zu geben.“

Javi lächelte gezwungen. Irgendetwas an ihrer Geschichte hatte ihm offenbar missfallen.

„Der langen Rede kurzer Sinn: Kinder verstehen schon mal etwas falsch oder fühlen sich für etwas verantwortlich, was gar nichts mit ihnen zu tun hat.“

Er nickte bekümmert und senkte den Blick.

„Als Michael – mein Exmann – Schluss gemacht hat, habe ich ihn nur um eins gebeten: Mabel zu versichern, dass sie nichts mit seinem Entschluss zu tun hat.“ Angespannt spielte er mit der Tasse in seiner Hand. „Wir hatten sie erst anderthalb Jahre zuvor adoptiert, und sie hatte Schwierigkeiten, sich einzugewöhnen. Ich hatte Angst, sie könnte aus dem Gleichgewicht geraten, wenn er weggeht.“

Seine Worte berührten sie. „Und?“, fragte sie besorgt.

„Es war halb so schlimm. Meine Eltern und Schwiegereltern haben uns aufgefangen. Sie unterstützen Mabel und mich, wo sie können. Und mein Ex ist noch immer eine feste Größe in Mabels Leben. Das muss ich ihm hoch anrechnen.“

„Das freut mich.“

Sein Blick war so herzlich, aber auch so verletzlich, dass sie ihren schnell senkte. Der Impuls, diesem Michael eins auf die Nase zu geben und Javi zu beschützen und zu trösten war fast übermächtig. Sie wollte das nicht.Entschlossen wechselte sie das Thema.

„Hast du eine Ahnung, wo ich hier Weihnachtsdeko kaufen kann? Bryn sagt, sie hält dieses Jahr Winterschlaf bis Weihnachten vorbei ist. Aber ich möchte die Wohnung weihnachtlich schmücken. Für mich gehört das einfach dazu.“

Javi sprang sofort darauf an. „In Cambridge gibt es ein großes Kunsthandwerkgeschäft. Da findest du bestimmt etwas Weihnachtliches. He, was siehst du mich so erstaunt an? Ich habe eine kleine Tochter. Natürlich weiß ich, wo man Kunsthandwerk und Künstlerbedarf kaufen kann.“

„Klar.“ Sie lächelte frech. „Perfekte Ausrede“, sagte sie neckend.

„Ich muss doch sehr bitten.“ Gespielt hochmütig sah er sie an, machte ihr dann aber lachend ein Geständnis. „Du musst das unbedingt für dich behalten, aber eigentlich wollte ich Kunst studieren. Aber dann habe ich mich doch für Medizin entschieden.“

Damit hatte sie nicht gerechnet. „Echt?“

„Allerdings. Traust du mir das nicht zu? Hältst du mich für einen trockenen, eindimensionalen Naturwissenschaftler?“, gab er sich beleidigt.

„Aber nein. Nur gibst du mir Rätsel auf.“

Er hatte sich dicht zu ihr vorgebeugt, lehnte sich jetzt wieder zurück. „In meiner Schulzeit habe ich als Einziger Preise für Naturwissenschaften und Kunst gewonnen. Natürlich wollte ich lieber Kunst studieren, als mindestens elf Jahre lang im Medizinstudium zu verbringen und anschließend den heftigen Studentenkredit zurückzuzahlen.“

Neugierig musterte sie ihn. „Und was gab dann den Ausschlag?“

„Mein Vater.“

Diese beiden Worte klangen so bedeutungsschwanger, dass Ailani sich das Lachen nicht verkneifen konnte. „Oha“, keuchte sie.

„Er hat mir klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass ich auf mich allein gestellt wäre, wenn ich Kunst studieren wollte und mir auch eine eigene Bleibe suchen müsste. Er wäre aber selbstverständlich bereit, mich zu unterstützen, wenn ich etwas Richtiges studieren würde.“

„Das ist hart“, sagte sie mitfühlend und sah, dass er einen Blick auf seine Armbanduhr warf. Die Mittagspause war beendet.

„Malst oder zeichnest du denn noch in deiner Freizeit?“

Javi stand auf und schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich habe keine Freizeit. Vielleicht fange ich wieder an, wenn ich alt und im Ruhestand bin.“

Das machte sie wieder traurig. Schnell zog sie die Situation ins Lächerliche. „Du meinst, wenn du im Ruhestand bist. Alt bist du ja schon.“

Wie erhofft warf er ihr einen entrüsteten Blick zu, der sie sofort wieder zum Lachen brachte.

Lachend und scherzend machten sie sich auf den Rückweg zur Klinik. Gleichzeitig dachte Javi darüber nach, was er über Ailani erfahren hatte. Genau wie Michael schien auch sie unter Wanderlust zu leiden. Warum gerate ich immer an den gleichen Typus? überlegte er niedergeschlagen und schwor sich, nichts mit Ailani anzufangen, auch wenn er sie unglaublich anziehend fand. Mehr als Freundschaft war nicht drin, zumal sie ja Boston in drei Monaten schon wieder verlassen würde.

Zwar war er über die Scheidung von Michael inzwischen hinweg, doch er wollte so etwas nicht noch einmal erleben. Daher hatte er sich fest vorgenommen, sich nur noch auf Mabel und auf seinen Job zu konzentrieren.

„Wir sehen uns auf Station“, sagte Ailani, als sie den Personalraum erreicht hatten und winkte Javi nach, der sich in seinem Büro umzog.

Vorhin war ein weiterer Patientenzugang angekündigt worden. Ein Junge aus Providence, Rhode Island, der von Dr. Murphy operiert werden sollte. Zum Glück wurde die Familie vom behandelnden Kinderarzt begleitet. Dr. Dylan Geller hatte auch zugesagt, sich während seines Aufenthalts in der Kinderambulanz nützlich zu machen…

Leigh stand hinterm Schwesterntresen und atmete erleichtert auf, als Ailani zurück auf Station war.

„Dem Himmel sei Dank“, sagte sie und drückte Ailani eine Patientenakte in die Hand. „Tricia musste nach Hause, weil sie Fieber hat, und während deiner Abwesenheit hatten wir eine Menge Neuaufnahmen. Es ist wirklich verrückt.“

„Wo ist mein Patient?“ Ailani hatte festgestellt, dass die Zimmernummer in der Akte fehlte.

„In der Radiologie. Er wurde mit dem RTW gebracht, hatte einen Unfall im Park.“ Sie warf einen Blick aufs Board. Die 205 ist frei.

Patienten aus der Kindernotaufnahme wurden nur auf Station gebracht, wenn eine weitere Behandlung notwendig war. Auf dem Weg zu Zimmer 205 überflog Ailani die Patientenakte. Der achtjährige Isaac Barone war auf dem Spielplatz gestürzt und hatte sich Abschürfungen am Hinterkopf und über einem Auge zugezogen. Vermutlich auch eine Fraktur des rechten Arms. Laut Notaufnahme war er bei Bewusstsein und ansprechbar. Anzeichen einer Gehirnerschütterung lagen nicht vor. So weit, so gut. Was Ailani jedoch aufmerken ließ, war die Anmerkung, sein Vater sei Epileptiker gewesen und bei einem Anfall verstorben. Offenbar sollte auf Station geklärt werden, ob Isaac als Folge eines Anfalls gestürzt war.

Schnell bereitete sie das Krankenzimmer auf den neuen Patienten vor. Seit ihrer Ankunft auf Station vor zwei Tagen hatte sie eine hohe Patientenfluktuation erlebt. Immer wieder mussten die Zimmer schnell hergerichtet werden. Nichts durfte fehlen.

Vor der Mittagspause war das Zimmer noch belegt gewesen. Ein kleines Mädchen war wegen einer Atemwegserkrankung an einen Vernebler angeschlossen gewesen. Der Kleinen ging es aber schon viel besser. Daher vermutete Ailani, dass man sie nach Hause entlassen hatte.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass in der 205 alles bereit war für die Neuaufnahme, eilte sie zu den Aufzügen. Gerade schob ein Pflegehelfer ein Bett heraus, in dem ein kleiner Junge mit verbundenem Kopf lag. Der panische Gesichtsausdruck der Frau, die neben dem Bett herging, sprach für sich.

„In die 205“, rief sie dem Pflegehelfer zu und sprach den Verletzten an. „Hi, Isaac. Ich bin Schwester Ailani und werde mich um dich kümmern. Sind Sie seine Mom?“, fragte sie dann die kreidebleiche Frau.

„Ja“, antwortete die mit tränenerstickter Stimme.

„Okay. Ihr Sohn ist hier in guten Händen. Hier entlang, bitte.“

„Die Radiologie schickt den Befund so schnell wie möglich. Kann ’ne Weile dauern. Da ist die Hölle los“, berichtete der Pflegehelfer.

„Danke.“ Der Befund wurde online geschickt. Der behandelnde Arzt würde ihn auf seinem Tablet finden.

Im Krankenzimmer wurde Isaac behutsam umgebettet. Er atmete scharf ein, als sein verletzter Arm dabei berührt wurde, war aber sehr tapfer.

Der Pflegehelfer und Javi gaben sich die Türklinke in die Hand. Aha, dachte Ailani, Javi übernimmt also die Behandlung.

„Guten Tag, Mrs. Barone, Isaac, ich bin Dr. Pascal“, stellte er sich vor.

Mutter und Sohn waren ganz offensichtlich vollkommen verängstigt. Die Vorstellung, auch Isaac könnte an Epilepsie leiden, setzte ihnen sehr zu.

Javi lächelte ihnen so sanft und mitfühlend zu, dass die Barones sich etwas entspannten. „Du bist also auf dem Spielplatz gestürzt. Kannst du mir sagen, wie das passiert ist, Isaac?“

Während der Kleine erzählte, begann Javi mit der Untersuchung.

„Ich …“ Er schüttelte den Kopf und zuckte vor Schmerz zusammen. „Ich habe auf dem Klettergerüst was ausprobiert, wollte einen Salto machen. Dabei bin ich gefallen.“

Javi tastete nun die Beine ab. „Erinnerst du dich, wie du gefallen bist?“

Isaac bewegte die Augen nach oben, nach links und dann zur Seite. „Ja“, sagte er schließlich. „Da war ein Mädchen. Sie hat was zu mir gesagt. Ich habe sie angesehen, dann bin ich gefallen.“

„Das ist sehr gut“, sagte Javi und warf Mrs. Barone einen Blick zu.

Normalerweise erinnerten sich Personen, die einen Anfall erlitten hatten, nicht wie es dazu gekommen war und was während des Anfalls geschehen war.

Ailani lächelte erleichtert vor sich hin.

Lächelnd legte Javi dem kleinen Patienten eine Hand auf die Schulter des unversehrten Arms und rieb sie ein wenig. „Ich sehe mir jetzt mal deine Verletzung am Hinterkopf an. Der Kollege aus der Notaufnahme schreibt, die muss genäht werden. Du wirst also mit einer kahlen Stelle herumlaufen müssen.“

Isaac stöhnte. „Das sieht bestimmt doof aus. Müssen Sie den Kopf rasieren?“

„Ich fürchte, ja, Kumpel.“ Javi machte eine so ernste Miene, dass Ailani sich kaum das Lachen verkneifen konnte. „Und dann hast du noch einen Knickbruch im Arm. Ich werde dir einen Gips verpassen, der zu der kahlen Stelle passt.“

„Der Gips ist okay, aber die kahle Stelle ist doof.“

„Isaac!“ Seine Mutter rief ihn zur Ordnung.

„Sag mal, wer ist denn dein Lieblingssportteam?“

„Die Bruins. Die mochte mein Dad auch am liebsten.“

Mrs. Barone atmete tief ein. Schnell berührte Ailani sie beruhigend am Arm.

„Ich auch“, sagte Javi. „Ich könnte dir ihr Logo auf den Gips malen. Wie findest du das?“

„Cool.“ Der Kleine strahlte.

„Gut, dann ist das abgemacht. Du kannst es deinen Freunden zeigen, wenn du Montag wieder in der Schule bist, okay?“

Selbst Mrs. Barone musste über die enthusiastische Reaktion ihres Sohnes lächeln.

Javi beschloss, zuerst die Wunde am Hinterkopf zu versorgen und machte sich ans Werk, sowie die Lokalanästhesie wirkte.

Ailani lenkte den Jungen derweil ab. „Sag mal, wer sind denn die Bruins?“, fragte sie interessiert.

Isaac riss erstaunt die Augen auf. „Sie kennen die Bruins nicht?“

„Nein“, antwortete sie und grinste frech. „Ich weiß nur das bruin Bär heißt. Das ist alles.“

„Haben Sie schon mal was von Hockey gehört?“

„Meinst du Eishockey? Halt still“, mahnte sie. „Du darfst den Kopf nicht bewegen. Wo ich herkomme, gibt es kein Eis, auf dem man Schlittschuh laufen kann.“

Isaac erzählte ihr mehr über Eishockey, als sie je wissen wollte. Im Gegenzug beschrieb sie ihm das Leben auf Hawaii.

Währenddessen hatte Javi die Wunde am Hinterkopf genäht, den Riss über dem Auge mit einem Klammerpflaster versehen, und mit dem Gips war er auch fast fertig.

Mrs. Barone wirkte inzwischen schon viel entspannter.

Das ist nur Ailani zu verdanken, dachte Javi. Sie hatte so eine positive, fröhliche Art, mit Menschen umzugehen.

Als Javi sich die Handschuhe auszog, bewunderte Isaac das Logo der Boston Bruins auf seinem Gipsarm und fragte, ob er es anmalen könnte, wenn der Gips trocken war.

„Klar, wenn deine Mom dich einen Permanentmarker benutzen lässt, hält das, bis der Gips in vier bis sechs Wochen abgenommen wird.“

„Cool.“

Ailani raunte Isaacs Mutter etwas zu, die daraufhin nickte und fast lächelte.

„Mrs. Barone?“

Beide Frauen sahen ihn an.

„Ich würde gern mit Ihnen besprechen, wie es nun mit Isaac weitergeht. Und Sie müssen auch noch einige Papiere unterschreiben.“

„Selbstverständlich.“ Mrs. Barone stand auf, schaute ihren Sohn zärtlich an und sagte: „Ich bin gleich wieder da, Schatz.“

„Ich bleibe bei dir, bis deine Mom zurückkommt“, versprach Ailani dem Jungen.

Der nickte zustimmend, wie Javi erleichtert feststellte.