Julius Robert Mayer - Salomo Friedlaender/Mynona - E-Book

Julius Robert Mayer E-Book

Salomo Friedlaender/Mynona

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Beschreibung

Der von Mayer auf einer Reise nach Java konzipierte und 1842 aufgestellte Satz von der "Unzerstörlichkeit der Kraft" (Erhaltung der Energie) bildet einen Grundpfeiler moderner Naturwissenschaft; er bereitet den ersten Hauptsatz der Thermodynamik vor. Mit der Berechnung des mechanischen Wärmeäquivalents war das Verhältnis von mechanischer Bewegung und Wärme zum ersten Mal zahlenmäßig fixiert. - Das hier nach 105 Jahren wieder vorgelegte Buch, Erstling des 33 Jahre alten Friedlaender/Mynona, ist die früheste populäre Darstellung von Mayers tragischem Leben, seiner Schriften und der Folgen seiner Entdeckung. Es ist zugleich ein Lehrstück der Wissenschaftshistorie und der Kulturkriminalistik. - In der Einleitung schildert der Herausgeber die Entstehung des Buches und seine Rezeption, beleuchtet Mayers Stellung zu Kant und zur zeitgenössischen Naturphilosophie sowie zur Psychiatrie. Er zeigt auch, wie Friedlaender/Mynona die Gelegenheit nutzt, um sein eigenes Anliegen vorzutragen: einen philosophischen Polarismus, der die idealistischen Naturspekulationen Schellings unterläuft.

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Inhalt

Einleitung: Das Gesetz der Erhaltung des Lebens von Detlef Thiel

Vorwort

Teil I: Der Lebensgang

I. Einleitende Betrachtung

II. Von der Kindheit bis zum Erwachen der neuen Einsicht

III. Robert Mayers Kämpfe bis zu seiner Internierung im Irrenhaus

IV. Von 1853 bis zum Tode Robert Mayers

Teil II: A. Die Lehre

I. Geschichtlicher Überblick

II. Vom Leben zur Lehre

III. Erörterung des Prinzips

IV. Das mechanische Wärmeäquivalent in der organischen Natur

V. Robert Mayers „Dynamik des Himmels“

B. Versuch einer historisch-kritischen Erwägung des Robert Mayerschen Prinzips

I. Die Nachfolger R. Mayers

II. Über das Prinzip von der Erhaltung der Energie als Gegenstand einer möglichen Philosophie der Natur

Selbstanzeige und Rezensionen

S. Friedlaender: Zur Rezension meines Buches „Robert Mayer“

Nachweise und Anmerkungen

Verzeichnis der Abbildungen

Schriftenverzeichnis J. R. Mayer

Literaturverzeichnis und Abkürzungen

Namenverzeichnis

Sachverzeichnis

Detlef Thiel

Das Gesetz der Erhaltung des Lebens

„ich stecke mit beiden Armen in der Tinte…“

Aufbau des Buches und Quellen

Zur Problemgeschichte

„Einige Gedankenblitze“

Mayer, Friedlaender/Mynona und die Psychiatrie

Zur weiteren Rezeption des Buches

Nietzsche und Mayer

Marcus & Mayer

Kritisch-polaristische Weiterführung

Der von Mayer 1842 aufgestellte Satz von der „Unzerstörlichkeit der Kraft“ (Erhaltung der Energie) bildet einen Grundpfeiler moderner Naturwissenschaft und bereitet den ersten Hauptsatz der Thermodynamik vor. Er beruht auf der Berechnung des mechanischen Wärmeäquivalents: „daß dem Herabsinken eines Gewichtstheiles von einer Höhe circa 365 m, die Erwärmung eines gleichen Gewichttheiles Wasser von 0° auf 1° entspreche.“1 Damit war das Verhältnis von mechanischer Bewegung und Wärme zum ersten Mal zahlenmäßig fixiert.

Das hier nach 105 Jahren wieder vorgelegte Buch ist die früheste populäre Darstellung von Mayers Leben, Werk und der Folgen seiner Entdeckung. Doch was heißt populär? Friedlaender/Mynona (im folgenden: F/M), 33 Jahre alt, liefert in seinem Erstling ein Lehrstück der Wissenschaftshistorie und der Kulturkriminalistik. Er nutzt die Gelegenheit, um auch sein eigenes Anliegen vorzutragen: einen philosophischen Polarismus, der die idealistisch-romantischen Naturspekulationen Schellings und seiner Anhänger unterläuft. Eine gründliche Auseinandersetzung damit fehlt bis heute. Im folgenden soll nicht zum wievielten Mal Mayers ‚Leben & Werk’ nacherzählt werden. Es geht um die Leitlinien, die durch das Buch laufen, im Schlußkapitel kulminieren und in F/Ms späten, noch unveröffentlichten Schriften zu klarer Fassung gelangen.

1. „ich stecke mit beiden Armen in der Tinte…“

Anfang 1902 promoviert F/M bei dem Neukantianer Otto Liebmann in Jena;2 dann zieht er nach Berlin. In der brodelnden Stadt, deren Einwohnerzahl zwischen 1880 und 1910 von einer auf zwei Millionen wächst, verkehrt er in den Kreisen der alten Bohème und des frühen Expressionismus: Paul Scheerbart, Herwarth Walden, Else Lasker-Schüler, Ludwig Rubiner, Samuel Lublinski, Johannes Schlaf, Martin Buber, Erich Mühsam, Kurt Hiller u. a. Auf den zehn Jahre jüngeren Rudolf Pannwitz und seinen Bruder Walther, deren Vater wie F/M aus Posen stammt, geht die Initiative zum vorliegenden Buch zurück.3 Pannwitz hatte als Abiturient 1901 Georg Simmels Schülerin Gertrud Kantorowicz kennen gelernt, die ihn unterstützte.4 Er studiert Germanistik, Philosophie, Archäologie in Marburg, in München (wo er mit Karl Wolfskehl bekannt wird) und in Berlin bei Simmel; seit Ende 1903 ist er für drei Jahre Hauslehrer von dessen Sohn sowie bei dem Malerehepaar Reinhold und Sabine Lepsius. Bereits seit 1899 veröffentlicht Pannwitz Gedichte, Erzählungen, pädagogische Studien; sein episches Poem Prometheus (1902) wird von Otto zur Linde wohlwollend besprochen; Pannwitz schreibt ihm, daraus entsteht eine Freundschaft; sie gründen die Dichtervereinigung Charon und geben seit Januar 1904 die gleichnamige Monatszeitschrift heraus.5 Dort erscheinen von August 1904 bis April 1908 rund 50 Gedichte F/Ms.

Die Charon-Herausgeber waren bekannt mit dem Kunstkritiker und Journalisten Lothar Brieger-Wasservogel.6 Er plant im Sommer 1904 eine Buchreihe, „Klassiker der Naturwissenschaften“, und sucht Autoren; für den Band über Mayer bringt Pannwitz F/M in Vorschlag. Am 7. August beschwört er ihn:

Lieber Herr Friedlaender!Ich bringe Ihnen Grüsse von Otto zur Linde, dem ich auch von dem Ihnen gemachten Anerbieten gesagt habe, und soll Ihnen auch von ihm bestellen, dass Sie es unbedingt annehmen müssen. Selbst wenn – was gar nicht zu erwarten – das Buch ganz miserabel würde: in der Not hilft es nichts, und außerdem, gerade da es populär sein soll, Sie also das Allerspezialwissenschaftlichste wie die Formeln u. dgl. nicht einzeln erörtern können, so ist es für Sie keine schwierige Aufgabe. Philosophisches Denken und gerade das Ihre erleichtert es Ihnen dann noch sehr. Dann meint Otto zur Linde auch, Sie müssten doch dies Anerbieten angenommen haben (und die Sammlung eröffnen) Ihrem Verleger in spe sofort mitteilen, ehe er darauf verfallen kann, Ihnen das Buch zurückzuschicken: er sieht es unter den Umständen ganz anders an und Sie haben viel mehr Chancen. Wir beiden, O. zL. und ich, haben soviel Fehler gemacht, uns so oft verhauen, dass wir nun schon ein wenig Bescheid wissen, und es wäre wirklich ein ganz ungeheuerlicher Fehler, wenn Sie das Anerbieten nicht annähmen. Es wird einem nicht so oft was angeboten. Und wenn es einem angeboten wird und man es annimmt, so folgen schon weitere Anerbietungen. Es ist so oft der Wendepunkt, wenn zum ersten Mal einer von denen, auf die man angewiesen ist, also Verlegern etc, seinerseits zu einem kommt. Und dann eben, vor der Aufgabe brauchen Sie sich nicht zu fürchten: denken Sie stets, was in populärer Naturwissenschaft für erschreckliches allerseits geleistet wird. Also auch wenn Sie ein schlechtes Buch schrieben, was ja nicht der Fall sein wird, oder sagen Sie, nur nicht ein so gutes wie Sie möchten, so wird dies sich immer noch genügend hervorheben und Sie bekommen dann eher die Möglichkeit anderes – wo Sie sich den Stoff und die Art von innen heraus wählen können, unterzubringen. Die nächste Hauptsache aber ist doch, daß Sie so Geld bekommen, wovon Sie so und soviel Monate leben können, und das allein wäre ja ausschlaggebend. Also hoffe ich bald von Ihnen zu hören, dass Sie das Anerbieten angenommen haben. –“7

F/M hatte wohl schon Vorbereitungen getroffen; zwei Tage später antwortet er:

„Man sieht’s, verehrter Herr Pannwitz,wie sehr Sie meine Lyrik schätzen: dadurch, daß Sie mir den Mayer so warm an’s Herz legten, haben Sie der Lyrik seine [!] Wärme entzogen. Daß ich auf Ihren Brief, den ich, glauben Sie mir, als eine gute Menschenfreundlichkeit empfinde, nicht, wie ich gern möchte, näher eingehe, hat in nichts Schlimmeren als im Zeitmangel seinen Grund: ich bin der Ge-Mayerte. – Als Solcher Ihr S. F.

Grüßen Sie Ihren H[errn] Bruder.“

Aus F/Ms Postkarte vom 13. August an Herwarth Walden, Gründer und Geschäftsführer des „Vereins für Kunst“ (Vorträge, Lesungen, dramatische und musikalische Aufführungen), gehen bereits die Bedingungen hervor; er erklärt, warum er sich „im folgenden Semester“ entgegen seinem Versprechen nicht zu Waldens Verfügung halten kann:

„Ich muß gegen 600 M. Honorar bis Mitte Oktober ein Buch schreiben; meine ganze Zeit ist, bis auf einige freie Stunden, auf zwei Monate diesem löblichen Unternehmen zu opfern. –“

Drei Tage später, 16. August, an Walden:

„Ich bin also leider in die Lage versetzt, mich über Ihre mit dankenswerter Bereitwilligkeit erteilte Dispensation obendrein freuen zu müssen. Möge das Buch uns einst ein Quickborn unerschöpflichen Humors werden! Verzweifelter Weise kann ich auch von der Erlaubnis, Sie zu sehen, so bald keinen Gebrauch machen: ich stecke mit beiden Armen in der Tinte von Mittag bis Mitternacht. Mitte Oktober bin ich’s los. –“

Am folgenden Tag an Pannwitz:

„Je mehr, verehrter Herr Pannwitz,ich mich über Ihren Brief freue, desto empfindlicher wird mir meine Ohnmacht – in jeder Beziehung und obendrein jetzt in meiner Mayerei – gebührend reagiren zu können. […] Ach, werter Herr, wenn Sie einen Blick in den hohlen Krater meines trichterförmigen Portemonnaies thun könnten! –

Ihr ergebenster Friedlaender“

Am 18. August 1904 unterzeichnet F/M den Verlagsvertrag mit Theodor Thomas, Leipzig: Umfang zwölf Bogen, 192 Seiten; Abgabetermin: „15. Oktober, spätestens 1. November 1904“; Honorar 50,- Mark pro Bogen, also 600,- Mark; Auflage 1500 Stück. Zehn Wochen! Fast ein faustischer Pakt. F/M hatte keine Wahl. Die Klausur mag ihm bei seinem ausschweifenden Lebenswandel nicht leicht gefallen sein, wie einzelne Signale aus dieser Zeit zeigen. An Pannwitz, 2. September 1904: „Mayer? Volldampf voraus!“ – 17. September:

„Ich muß noch 6 Wochen stramm arbeiten: Mayer! […] Entschuldigen Sie die hastige Schrift & sonstige Formlosigkeit mit meiner Eile: eigentlich habe ich gar keine Zeit mehr – bis zum 1. XI. 1904. –“

Am selben Tag unterzeichnet er seine Gratulation zu Waldens 26. Geburtstag: „Ihr ergebener Mayer. Friedlaender.“8 Der Charon bringt noch jeden Monat Gedichte F/Ms; im Oktober druckt René Schickele im Neuen Magazin einen Aufsatz über Nietzsche.9 Das Buchmanuskript wurde offenbar fristgemäß abgeschlossen. Seit Ende November 1904 erscheinen fünf Vorabdrucke:

Vossische Zeitung, 27. November: Kapitel I/III;

Frankfurter Zeitung, 10. Dezember: Kapitel I/II;

Neckar-Zeitung, 13. Dezember: Kapitel I/II;

Neckar-Zeitung, 14. Dezember: Kapitel I/III;

Allgemeine Zeitung, 16./17. Februar 1905: Kapitel II/A III.

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Im Januar 1905 signiert F/M das Vorwort; am 25. Februar bringt Maximilian Hardens Die Zukunft eine Selbstanzeige; kurz danach erscheint das Buch in drei Ausgaben: kartoniert (Vorderdeckel mit Vignette u. Goldprägung), grünes Ganzleinen (farbig illustriert, Deckel- u. Rückenprägung); rotes Halbleder mit Goldprägung; jeweils marmorierter Schnitt; Preis: „elegant broschiert Mk 3,-, elegant gebunden Mk 4,-“.11 In der Reihe „Klassiker der Naturwissenschaften“ folgen im selben Jahr noch fünf Bände:

II. Samuel Lublinski:

Charles Darwin. Eine Apologie und eine Kritik

(112 S.)

III. Wilhelm Haacke:

Karl Ernst von Baer

(VIII+176 S.)

IV. Siegmund Günther:

Varenius

(VI+218 S.)

V. Lothar Brieger-Wasservogel:

Plato und aristoteles

(VIII+184 S.)

VI. Julius Reiner:

Hermann von Helmholtz

(204 S.)

Weitere Bände waren geplant, wurden aber nicht realisiert (vgl. Abb. S. →). Brieger-Wasservogel begann im folgenden Jahr eine neue Reihe beim Verlag Robert Lutz in Stuttgart: „Aus der Gedankenwelt großer Geister. Eine Sammlung von Auswahlbänden“; bis 1910 erschienen fünfzehn Bände, als Bd. 5/6 F/Ms zweibändige Schopenhauer-Anthologie.12

Theodor Thomas hatte vor 1900 einen älteren Verlagsbuchhandel übernommen; die Firma wurde nach seinem Tod weitergeführt von der Witwe und von Friedrich Wilhelm Junghans (1856–1918). Das Verlagsbüro wird Geschäftsstelle der 1909 von Raoul Heinrich Francé gegründeten Deutschen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft; zum Programm gehören Francés Zeitschrift Natur sowie Bücher zu Kunst, Philosophie, Volksbildung und Landwirtschaft. Francé, Biologe, Ökologe, Künstler, gab 1911 drei Bändchen mit Mayers großen Abhandlungen heraus.13 Später wird das Büro kurzzeitig zur ersten Geschäftsstelle der 1921 gegründeten „Vereinigung völkischer Verleger“. 1933 erlosch der Verlag.14

2. Aufbau des Buches und Quellen

Im ersten Teil schildert F/M auf gut 40 Seiten Mayers Biographie, beginnend mit dem frühen Interesse an mechanischen, physikalischen, chemischen Experimenten und dem kindlichen Versuch, ein perpetuum mobile zu bauen, bis zu Mayers Charakter, persönlicher Harmonie, seinem Humor und seiner Religiosität.15

Der zweite Teil, vier Fünftel des Buches, behandelt Mayers Lehre, deren spätere Entwicklung und F/Ms Weiterführung.

Kapitel I. In einem problemgeschichtlichen Abriß werden die Ursprünge des Erhaltungsgedankens in der Antike beschrieben (Konstanz der Quantität, der Kraft, der Bewegung), die mechanisch-dynamischen Wärmetheorien des 17. Jahrhunderts (Bacon, Hooke, Huygens, Leibniz etc.) sowie die Versuche quantitativer Bestimmung im frühen 19. Jahrhundert (Thompson, Carnot etc.).

Kapitel II. Anhand des Briefwechsels mit dem Arzt Wilhelm Griesinger verfolgt F/M, wie sich Mayers Gedanken klären: Wärme und Bewegung; Eigenschaften der Imponderabilien (Bewegung, Reibung usw.); Verknüpfung von Mechanik, Elektrizitäts- und Wärmelehre, von Physik und Physiologie.

Kapitel III. Zeitgenössischer Kontext. Gegen die romantisch-idealistische Naturphilosophie, gegen Konzepte wie Lebenskraft, Feuer-, Wärmestoff entwickelt Mayer sein Prinzip: Ein Objekt erscheint in verschiedenen Formen, als Bewegung, Licht, Wärme, Elektrizität usw. Gefragt ist nicht die Qualität, sondern die Quantität; keine Verbaldefinition, sondern eine konkrete Zahl, welche die Verwandlung jener Formen ineinander bestimmt. F/M geht daran, die wichtigsten Schriften seines Autors auf gut 80 Seiten vorzustellen. Ausdrücklich folgt er dem Gedankengang und läßt „gern einmal Mayer selbst zu Worte kommen“ (168). Er beginnt mit der Abhandlung Bemerkungen über das mechanische Äquivalent der Wärme (1851; 166–175) und faßt dann drei Vorträge zusammen: Über nothwendige Consequenzen… (1869); Über die Bedeutung unveränderlicher Größen (1870); Über veränderliche Größen (1873; 176–181).16

Kapitel IV. Ausführliche Betrachtung, mit wenig Zitaten, von Mayers umfangreichster Abhandlung, Die organische Bewegung (1845; 183–209). Darin wird das Prinzip auf alle bekannten Energieformen, auch auf das organismische Leben angewendet; die Schrift enthält die erste systematische Tabelle der bekannten Energieformen sowie den Hinweis daß alle irdische Energie von Sonnenstrahlung stammt. Weitere fünf Aufsätze und Vorträge: Über das Fieber (1862); Über die Ernährung (1871); Über Auslösung (1876); Die Torricellische Leere (1875); Über Erdbeben (1870; 212–224).

Kapitel V. Ausführlich zu den Beiträgen zur Dynamik des Himmels (1848; 230–249); nur gegen Ende sehr gerafft. Hier wendet Mayer sein Prinzip auf die Astronomie an und gibt u. a. eine Erklärung der Sonnenwärme. F/M schließt seine Betrachtung der Hauptwerke ab mit der Bemerkung, das einzige Verdienst einer solchen „Wiedergabe“ sei es, zu direkter Lektüre anzuregen (249).

Das vorletzte Kapitel behandelt Mayers Nachfolger bzw. Weiterführer: Joule, Colding, Holtzmann, Helmholtz, Clausius, Rankine, Hertz. F/M diskutiert Ernst Machs Ansatz, die Kausalität aus der Natur zu eliminieren (263 ff.) und geht über zu einer Beurteilung aus eigener Sicht, die mit Nietzsche ausmündet.

Im Schlußkapitel sucht er, das Gewonnene mit seiner originalen Philosophie des polaristischen Indifferentismus zu verweben. –

Die Frage, welche Quellen F/M nutzte, ist teils einfach, teils schwer zu beantworten. Mayer selbst gab 1867 unter dem Titel Die Mechanik der Wärme eine erste Sammlung seiner Arbeiten heraus; zweite, erweiterte Auflage 1874. Fünfzehn Jahre nach seinem Tod ediert Jacob Johann Weyrauch 1893 eine dritte Auflage; er versieht die dreizehn Texte mit nützlichen Anmerkungen und schiebt jeweils biographisch-wissenschaftliche Darstellungen ein. Im selben Jahr bringt er Mayers übrige kleinere Schriften, den gesamten Briefwechsel, Tagebücher, Autobiographisches und weitere Dokumente heraus.17 1978 versammelt Hans Peter Münzenmayer 25 Texte, darunter sieben bislang ungedruckte Vortragsmanuskripte; es fehlen die speziell medizinischen Arbeiten sowie die Rezensionen. Da Münzenmayer die Erstdrucke im Faksimile wiedergibt, kommt es besonders dort zu Differenzen, wo Zahlenangaben später korrigiert wurden. Insofern bleiben die beiden rund 1000 Seiten umfassenden Bände Weyrauchs von 1893 die bis heute unersetzte Grundlage der Beschäftigung mit Mayer.

Auch F/M mußte sie benutzen; er nennt Weyrauch einmal, erwähnt zudem Schriften von Eugen Dühring, mit dem er sich ausführlich auseinandersetzt;18 von Friedrich Zöllner, Heinrich Rohlfs, Helmholtz, Bosscha (261 ff.), Mayers Sohn Paul sowie ärztliche Gutachten von Otto Hussell und Arthur Mülberger.19 Mehrere Zitate in den Übersichtskapiteln (II A. I und B. I) finden sich bei John Tyndall (1867). Aus welchen Quellen F/M für seine Ausführungen zur Wissenschaftsgeschichte sonst noch geschöpft hat, ließ sich nicht ermitteln.20 Als Laie mußte er sich an die Texte halten; jedoch schreibt er nirgends einfach ab. Er paraphrasiert, zitiert, faßt zusammen; er läßt sich kaum ein poetisches Zitat entgehen, fügt aus seinem reichen Fundus eigene Lesefrüchte (Kant, Goethe, Schiller, Schopenhauer, Nietzsche u. a.) und sprachliche Bilder hinzu.21

3. Zur Problemgeschichte

Hier seien nur zwei Aspekte herausgegriffen: Mayers Leitsätze und seine Stellung zur zeitgenössischen Naturphilosophie sowie zu Kant. – Mayer macht sich drei Leitsätze zu eigen (83):

ex nihilo nihil fit – aus nichts wird nichts

nihil fit ad nihilum – nichts geschieht für nichts (umsonst)

causa aequat effectum – die Ursache ist gleich der Wirkung.

Als Urheber des ersten Satzes nennt man den Pythagoräer Melissos von Samos (um 440 v. C.); der erste und der zweite Satz finden sich wenig später bei dem Atomisten Demokrit; ihm folgen Epikur und Lukrez.22 Aristoteles diskutiert diese Ansicht der „Alten“ im Zusammenhang mit der Frage nach dem Sein und dem Werden (Physik I, 8). Dem ersten Satz widerspricht die frühchristliche, dann auch von Augustinus vorgetragene Lehre von der creatio ex nihilo, einer Weltschöpfung aus dem Nichts.

Der dritte Satz, causa aequat effectum, wird im Sinne eines Kausalitätsprinzips im scholastischen Mittelalter faßbar. Das Postulat, daß alles Entstehende stets eine Ursache haben müsse (reddere rationes), kam im westlichen Abendland erst auf, als im frühen 12. Jahrhundert Chalcidius’ lateinische Übersetzung des platonischen Timaios zugänglich und vor allem in der Schule von Chartres kommentiert wurde.23 Um 1260 begegnet der Satz bei Thomas von Aquin in theologischem Zusammenhang.24 Zu Anfang des 14. Jahrhunderts schränkt der Pariser Magister Nikolaus von Autrecourt das Prinzip der Äquivalenz von Ursache und Wirkung auf einfache Wirkungen ein; es gelte nicht für komplexe Faktorenbündel aus verschiedenen Wirkungskräften; Behauptungen über einen Kausalnexus seien bloße Mutmaßungen. Im Zuge seines konsequenten Empirismus in der Nachfolge Wilhelm von Ockham leugnet Nikolaus die Möglichkeit, Gottes Existenz mit philosophischen Argumenten zu beweisen. 1346 wird er von der Sorbonne verurteilt, muß seine Bücher verbrennen.25

300 Jahre später erklärt Descartes, es sei durch das Vernunftlicht (lumen rationale) einsichtig, daß in der gesamten wirkenden Ursache (in causa efficiente) mindestens ebensoviel „Realität“ vorhanden sein muß wie in ihrer Wirkung (in effectu); daraus folge, „daß weder etwas aus dem Nichts entstehen kann, noch auch etwas Vollkommeneres, also etwas, das mehr Realität in sich enthält, aus dem weniger Vollkommeneren.“ Die Vorstellungen oder Bilder (ideae, imagines) in unserem Geist sind die Arten und Weisen des Denkens (cogitandi modi), des Bewußtseins von den Dingen; sie enthalten unterschiedliche Grade an „objektiver Realität“, an Sachgehalt. Die letzte Ursache (causa ultima) ist Gott.26 Er schuf mit der Materie zugleich Bewegung und Ruhe, seine Unwandelbarkeit ermöglicht deren Erhaltung. „Denn wenn auch diese Bewegung nur ein Zustand an der bewegten Materie ist, so hat sie doch eine feste und bestimmte Menge (quantitas), die sehr wohl in der ganzen Welt zusammen die gleiche bleiben kann.“27

Die spezifische Fassung des Satzes stammt aus dem späten 17. Jahrhundert. Der Leibnizforscher Herbert Breger hat auf die Quelle hingewiesen: John Wallis, Mitglied der Royal Society, erklärt 1670/71, Ursachen seien proportional den Wirkungen, dadurch werde die Physik der mathematischen Behandlung zugänglich. „Leibniz hat diese Bemerkung von Wallis exzerpiert und wenig später das Prinzip aufgestellt, daß die Ursache der Wirkung gleich sei“; dies erlaube es, die Physik auf Geometrie zu reduzieren.28 Das Prinzip der kausalen Äquivalenz als metaphysisches Gesetz hat Leibniz „als erster in der Mechanik“ formuliert.29

F/M referiert den von Leibniz gegen die Cartesianer entfachten Streit um das wahre Maß der „Kraft“ (124 f.), die mathematische Formel für die Energie. Die Cartesianer gaben dafür das Produkt von Masse und Geschwindigkeit an (mc). Leibniz machte das Quadrat der Geschwindigkeit geltend (mc2). Er zeigte, daß bewegende Kraft nicht, wie Descartes meinte, gleichbedeutend ist mit Bewegungsquantität; Kraft ist nicht zu berechnen nach der Geschwindigkeit, die sie einem Körper mitteilt, sondern nach ihrem Effekt, z. B. der Höhe, zu der sie einen Körper hebt.30 In der Natur erhält sich die Bewegungsquantität – dieser berühmteste Satz der Cartesianer bleibt, so Leibniz, unbewiesen, „denn wie schwach der Beweisgrund aus der Beständigkeit Gottes ist, sieht jeder.“ Dagegen habe er, Leibniz, bewiesen, daß die Erhaltung nicht die Quantität der Bewegung, sondern die der Kräfte betrifft.31 Der Streit wurde erst durch d’Alembert 1743 geklärt: die cartesianische Formel (mc) bezeichnet das Zeitintegral, die „Kraft“; die leibnizische Formel (mc2) aber das Wegintegral, die „Energie“, Arbeit, Arbeitsfähigkeit. –

Die Frage nach Mayers Stellung zur zeitgenössischen Naturphilosophie führt auf verworrenes Gelände. Der führende Chemiker Justus v. Liebig verkündete das Theorem der quantitativen Unveränderlichkeit der Stoffe; er versuchte, Prozesse wie die Gärung mit Hilfe einer „Lebenskraft“ zu erklären (209, 195 ff.). Auch das ist ein altes Konzept (vis vitalis); seine neuere Fassung stammt von dem Göttinger Zoologen und Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach; es florierte in zahlreichen Theorien, nachdem Galvani 1791 die Debatte über tierische Elektrizität eröffnet hatte.32 Mayer weist es entschieden zurück, gegen jeden Vitalismus, speziell gegen die spekulative Naturphilosophie Schellings und seiner Schule will er die „Unzerstörlichkeit“ und Äquivalenz der Stoffe, Kräfte und Prozesse mathematisch exakt bestimmen. F/M betont mehrmals die sachliche und methodische Gegnerschaft, teils mit Mayers Worten.33

Nun hat die Naturspekulation bereits den Spott anderer exakt forschender Zeitgenossen auf sich gezogen.34 Allerdings wurde sie auch von Schelling selbst vehement kritisiert. Die meisten Naturforscher, erklärt er 1798 in seiner Schrift über die Weltseele, haben den wahren Sinn des „Problems vom Ursprung organisirter Körper“ verfehlt. Die einen nehmen eine besondere Lebenskraft an, „die als eine magische Gewalt alle Wirkungen der Naturgesetze in belebten Wesen aufhebt“; damit ist zugleich die Möglichkeit beseitigt, die Organisation physikalisch zu erklären. Die anderen greifen zu „todten chemischen Kräften“; damit annullieren sie alle Freiheit der Natur im Bilden und Organisieren. „Beydes aber soll vereinigt werden.“ „Die Natur soll in ihrer blinden Gesetzmäßigkeit frey, und umgekehrt in ihrer vollen Freyheit gesetzmäßig seyn.“ In dieser Verknüpfung allein liege der Begriff der Organisation. „Der Begriff Lebenskraft ist sonach ein völlig leerer Begriff.“35

Mayer nennt Schelling und Hegel nirgends.36 Kant hat er nicht gelesen, hält ihn für einen jener Naturphilosophen: statt Dinge wie Wärmestoff, Äther, Feuerelement usw. zu erspekulieren, soll „gemessen und gezählt“ werden (167 ff.). Indirekt macht er ihn sogar verantwortlich für die Mühsal, die zur Klärung seiner, Mayers, Idee nötig war: Die alte Lehrbuchdefinition der Kraft (mc), „verbunden mit einem Überreste von aus der Kantschen naturphilosophischen Schule herstammenden Begriffen einer Zentripetal- und Zentrifugalkraft, führte mich in ein Labyrinth von Hypothesen und Widersprüchen“.37 So entging ihm, daß Kant in seinen Ausführungen zum „Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz“ über die ersten beiden jener Leitsätze sagt, die Alten hätten sie stets verknüpft, die Neueren aber aus Mißverstand getrennt.38 In einem früheren Aufsatz stellt Kant den Satz auf: „In allen natürlichen Veränderungen der Welt wird die Summe des Positiven […] weder vermehrt noch vermindert.“39

Mayer wußte anfangs auch nicht, daß Kant 1754 behauptet hatte, die Aktion der Gezeiten verlangsame die Erdrotation; später kritisiert er diese These.40 Den geistesgeschichtlichen Kontext des Problems – Deformation der Erde, Abschied vom Gedanken ihrer vollkommenen Gestalt als Kugel – hat Hans Blumenberg dargestellt; er bemerkt, daß Kants am falschen Ort publizierter Aufsatz in Vergessenheit geriet, so daß seine Behauptung ein Jahrhundert später von Mayer und anderen neu gefunden werden mußte.41 Der Astronomiehistoriker Peter Brosche präzisiert das in einer Skizze zum „nonlinearen“ Verlauf der Wissenschaftsgeschichte: Da Kants Text obskur blieb, konnte Laplace 1786 mit seiner Himmelsmechanik Furore machen: Beschleunigung des Mondumlaufs. Kant sah nur die actioder Erde, Mayer nur die reactio des Mondes; die anscheinend beobachtete Nullwirkung erklärte er mit der Vermutung, es könne eine Balance der Verlangsamung durch Flutwellen geben.42 Brosche erinnert daran, daß einem offenen Problem nichts schädlicher sei als eine scheinbar perfekte Lösung durch einen anerkannten Experten. Eben das haben Marcus und F/M in ihrer Kampagne gegen Einstein – vergebens – geltend gemacht:

„Man lasse […] das Problem lieber ungelöst bestehen. Der Schutz eines Problems vor Scheinlösungen ist wichtig. Schon Goethe hat urgiert, daß die Bestätigung einer Hypothese durch mathematische Formeln kein Beweis der Richtigkeit ist. Mathematiker wähnen, die Anschauung entbehren zu können. Das heißt, auf Erfahrung verzichten.“43

Andererseits hatte Kant das Programm aufgestellt: Alle Naturphilosophie bestehe „in der Zurückführung gegebener, dem Anscheine nach verschiedener Kräfte auf eine geringere Zahl Kräfte und Vermögen, die zu Erklärung der Wirkungen der ersten zulangen“; das gehe aber nur bis zu Grundkräften fort, „über die unsere Vernunft nicht hinaus kann“.44 Dieser Reduktionismus entspricht Kants konstanter Anwendung von ‚Ockhams Rasiermesser’: entitates non sunt multiplicanda praeter necessitatem; „daß man die Anfänge (Prinzipien) nicht ohne Not vervielfältigen müsse“.45

Der Schelling-Spezialist Jörg Jantzen (1994, 560 ff.) jedoch kommt zu dem Ergebnis: Kants Programm erkläre nichts, es gelinge nur im Bereich der Theorie. Die Physiologie war Ende des 18. Jahrhunderts gekennzeichnet durch den auch von Kant beglaubigten Reduktionismus, das wird aber „abstrakt und bedeutungslos“. „Der Erfolg, den die Erklärungen von Natur seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts haben, hat seinen Grund nicht zuletzt im Verzicht auf die von Kant vorgeschlagene Reduktion der Erscheinungen auf sogenannte Grundkräfte.“ Wäre Kant also nur ein Hindernis für Mayer und andere gewesen? Dazu unten, Abschnitt 8.

4. „Einige Gedankenblitze“

Ohne Umschweife schlägt F/M sein Leitmotiv an. Lebendige Weltanschauung hat zwei Stämme, echte Sinneserfahrung und vernünftiges Urteil. Die Verknüpfung einzelner Beobachtungen, seien sie noch so gering, mit allgemeinen Wahrheiten, dieser „Ehebund“ von Empirie und Apriorismus, ist so selten wie epochal. Jene Verknüpfung erläutert F/M an Beispielen aus der Mechanik. Wie lange hatte es gedauert, bis die Wirkungsweise des Hebels als ein Problem erkannt und von Archimedes gesetzlich bestimmt wurde! Und wie lange, bis es einem Galilei aufging, daß auch fallende Körper einem Gesetz gehorchen. Alles in der Wissenschaft liegt am Aperçu, wie Goethe sagt, am „Gewahrwerden“ der Fundamente der Erscheinungen. Aus einem solchen Aperçu entwickelte auch Mayer sein „Gesetz der Weltökonomie“ (72).

Nach seinem Medizinstudium tritt Mayer, einem lange gehegten Plan folgend, in den niederländischen Kolonialdienst ein und reist als Schiffsarzt mit dem Dreimaster „Java“ nach Ostindien. Dort erfährt er sein Aperçu. Er beschreibt es selbst: Nach einer recht ereignislosen Fahrt von 101 Tagen, während der er in aller Ruhe seinen Beobachtungen, Lektüren und Studien nachging, hielt er sich nach der Landung in Surabaya (Java) am liebsten an Bord auf,

„wo ich unausgesetzt arbeiten konnte, und wo ich mich in manchen Stunden gleichsam inspiriert fühlte, wie ich mir zuvor oder später nie etwas Ähnliches erinnern kann. Einige Gedankenblitze, die mich, es war auf der Rhede von Surabaja, durchfuhren, wurden sofort emsig verfolgt und führten wieder auf neue Gegenstände.“46

Die Gedankenblitze des 26jährigen datieren vom 4. Juli 1840. Voraus gingen zwei Szenen: Auf der Reise die Bemerkung des Steuermannes, sturmgepeitschte Wellen seien wärmer als ruhige;47 und nach der Landung, als die Mannschaft an Lungenaffektionen litt, die Beobachtung, daß bei Aderlässen das venöse Blut so hellrot war wie das arterielle.48 Aus Mayers Meditation über seine neuen Ideen entspringt seine Grundkonzeption: Die Ursache mechanischer Vorgänge geht nicht verloren, sondern verwandelt sich in gleichwertige Wirkung.

Seine eher trockene Formulierung – „gleichsam inspiriert“ – soll nicht darüber hinwegsehen lassen, daß solche Momente in Philosophie, Religion, Wissenschaft, Literatur, Kunst eine durchaus konstitutive Rolle spielen. Das ist ein weitverzweigtes, doch selten systematisch betrachtetes Thema, abgesehen von der Flut populärer Anleitungen zu Kreativitätstraining, seriellem Heureka, Pimp your brain etc. Der amerikanische Physiologe Walter Cannon hat in seinem letzten Buch 1945 der Rolle der „Geistesblitze“ ein ganzes Kapitel gewidmet. Er bezieht sich auf eine Studie aus dem Jahr 1931, in der versucht wurde, dem hunch, dem plötzlichen Anstoß oder ahnungsvollen Gefühl, mittels einer Umfrage näherzukommen.49Hunch wird definiert als „vereinheitlichende oder klärende Idee, die sprunghaft ins Bewußtsein tritt als Lösung eines Problems, an dem wir nachdrücklich interessiert sind.“ Cannon bringt zahlreiche Beispiele für dieses jähe Aufleuchten, darunter Henri Poincaré, Helmholtz, Darwin. Im typischen Fall stellt es sich erst nach langem Studium ein, zu einer Zeit, da der Forscher gerade nicht an seinem Problem arbeitet, oft in schlafloser Nacht. Cannon sucht Regelmäßigkeiten und Bedingungen zu fixieren, Elemente einer Art Psychologie der naturwissenschaftlichen Forschung.

Nun bewahren zumindest die Termini, welche die deutsche Übersetzerin Hildegard v. Barloewen wählt – „Erleuchtung“, „Eingebung“, „Offenbarung“ usw. –, einen religiösen bzw. theologischen Beiklang. Das mag in manchen Fällen, auch etwa bei Mayer, zutreffen; insgesamt jedoch wird das Phänomen dadurch verzerrt. Denn die als religiös bezeichneten Ereignisse bilden nur eine Gruppe von Beispielen eines sehr viel weiter verbreiteten Phänomens, nicht aber dessen Schema oder Paradigma.

So spielt das Moment des plötzlichen „Fünkchens“ (psychaios spinthér, scintilla animae) in der gesamten platonischen Tradition eine Rolle. Michel Tardieu hat die Belege von den Gnostikern des 2. Jahrhunderts n. C. über Kirchenväter (Augustinus) und Neuplatoniker (Proklos u. a.) bis zu den Scholastikern (Petrus Lombardus, Bonaventura, Thomas von Aquin) und weiter bis zu Meister Eckharts „vünkelîn der sêle“ zusammengestellt; er sieht den Ursprung der Metapher im platonischen Mythos von Er, im plötzlichen Aufgetriebenwerden der Seelen, die, „hüpfend wie Sterne“, hier oder da ins Leben treten.50 Doch ist auch auf eine Passage im Siebten Brief hinzuweisen: Der eigentliche Gegenstand der Philosophie entzieht sich radikal den Schul-Ausdrücken; er ist nicht sagbar, sondern erzeugt sich selbst „aus häufiger familiärer Unterredung“ (ek polles synousías) und aus „innigem Zusammenleben“ (syzen), plötzlich (exaíphnes), „wie aus einem abspringenden Feuer das angezündete Licht“ in der Seele und ernährt sich dann sogleich aus sich selbst.51

Die Denkfigur setzt sich in den Gestalten des jähen Geistesblitzes, des unvorhersehbaren Einfalls, des zündenden Aphorismus bis in die Gegenwart fort. Der immer fleißig zitierte Thomas S. Kuhn (1978, 102) suchte im konkreten Tun und Lassen der Forscher gewisse Gesetzmäßigkeiten auszumachen, stieß jedoch auf ein scheinbar marginales Phänomen: auf die unkalkulierbare, also zufällige Plötzlichkeit einer Emergenz all at once:

„Vielmehr taucht das neue Paradigma oder ein ausreichender Hinweis auf eine spätere Artikulierung ganz plötzlich, manchmal mitten in der Nacht, im Geist eines tief in die Krise verstrickten Wissenschaftlers auf.“

F/M spielt mehrmals auf die Anekdote von Newton an, der das Problem der krummlinigen Planetenbahnen löste, als er den Fall eines Apfels beobachtete.52 Sein eigenes Schlüsselerlebnis aus dem Jahr 1896, jene Vision einer „Farbenleiter der Unendlichkeiten“, suchte er in Schöpferische Indifferenz zu verarbeiten.53

Ostwald (2003, 220) weiß, daß Mayer sein Energiegesetz zwar „als plötzliche Erleuchtung“ empfing, aber „hernach Jahre angestrengtester Arbeit gebraucht hatte, um diese erstmalige Eingebung zu einem wirklichen, wissenschaftlich haltbaren und auf beliebige Einzelfälle sicher anwendbaren allgemeinen Gesetz zu entwickeln.“ Mayer sei einer der Forscher, „deren ganzes Leben der Durchführung eines einzigen, großen Gedankens gewidmet bleibt“. Das läßt sich ebenso von F/M sagen, mag er auch Ostwald wegen seines Monismus und seines Energetischen Imperativs oft verspottet haben.54 Vielleicht quillt eine gewisse Monomanie, bei Mayer wie bei F/M und anderen, aus der Intensität eines Aperçu, eines satori? Ostwald spricht weiterhin vom tragischen Schicksal eines Mannes, der „unter der Last der ihm auferlegten geistigen Tat zerbrochen“ sei, der isoliert und ohne direkte Schüler blieb: „Die größte Entdeckung des 19. Jahrhunderts gereichte ihrem Träger zum Unglück.“55 Auch das gilt, wie allmählich sichtbar wird, für F/M. Fast dämonische Parallele: Mayer und F/M bleiben vom Unglück verfolgt, werden totgeschwiegen, verleumdet, für verrückt erklärt.

5. Mayer, Friedlaender/Mynona und die Psychiatrie

Für dieses heikle Thema sind einige Stichworte nötig. Nach der Reise nimmt Mayer im Februar 1841 seine Arztpraxis in Heilbronn wieder auf, 1847 wird er Stadtarzt. Er sucht seine Idee zu formulieren; ein erster Aufsatz, Über die quantitative und qualitative Bestimmung der Kräfte, Juni 1841, wird von Poggendorff, Herausgeber der Annalen der Physik und Chemie, abgelehnt, geht verloren und kommt erst nach dessen Tod, ein Jahr vor Mayers Tod, wieder ans Licht. F/M nimmt Mayer hier wie sonst in Schutz: Poggendorff hätte den Aufsatz nicht so kurzerhand ablehnen sollen; bereits im Brief an den Mathematiker Karl Baur vom 12. September 1841 deute Mayer zum ersten Mal den Begriff des Wärmeäquivalentes an (81, 83). Ostwald jedoch gibt Poggendorff recht: Zwar war Mayer Anfang 1842 im vollständigen Besitz der richtigen Formeln, doch arbeite er noch mit der alten Größe mc; Kraft ergibt nicht Bewegung, sondern Arbeit. Der „ganz besonders glückliche Zufall“ mit Poggendorff habe ihn vor öffentlicher Blamage bewahrt und zu Korrekturen gezwungen.56 Kurz nach seinem ersten Aufsatz57 veröffentlichen Joule, Colding, Holtzmann ihre Arbeiten (1843, 1845). Liebig lehnt die Abhandlung Die organische Bewegung ab, wegen schwerer physikalischer Irrtümer; hinter den Kulissen läßt er verlauten, Mayer sei ein Narr. Das löst bei F/M allgemeine Kritik an den „Fachleuten“ aus: sie blicken kaum über die „Grenzen ihrer geistigen Gewöhnungen“ hinweg, neigen zum Plagiieren und zu verkünstelter, unnötig komplizierter Darstellung.58

Mayer muß seine drei Abhandlungen auf eigene Kosten drucken lassen. Die erste bleibt ohne Echo; Griesingers Besprechung wird abgelehnt, die anderen Rezensenten verkennen den Hauptpunkt. Auf zugesandte Aufsätze reagiert der Berliner Physiologe Johannes Müller mit Schweigen, ebenso die Pariser Akademie. Inzwischen publizieren Helmholtz und Donders Einschlägiges. Erst im August 1847 kann Mayer in Paris einen Prioritätsstreit mit Joule austragen (91 ff.). Nach der Märzrevolution 1848 wird sein Bruder Fritz ein Führer der demokratisch-republikanischen Partei; Mayer hält sich auf der gemäßigten Seite, wird persönlich angegriffen. Im August sterben zwei kleine Töchter. Im Mai 1849 attackiert ihn der junge Physiker Otto Seyffer auf unsachliche Weise in einem Zeitungsartikel; die Redaktion und Liebig verweigern eine Erwiderung. Im Juni sucht Mayer nach seinem Bruder in Sinsheim, Freischärler verhaften ihn, knapp entgeht er einer standrechtlichen Erschießung. Anfang 1850 wird er erstmals von Joule, Helmholtz und Clausius erwähnt, aber nur am Rande. Am 28. Mai 1850 stürzt er sich in einem Anfall plötzlichen Deliriums aus dem Fenster im zweiten Stock und bricht beide Beine; im September stirbt sein Vater. Er sucht Halt in der Religion. Im Frühjahr 1852 muß er kurzfristig eine Heilanstalt aufsuchen, Kennenburg. Hofrat Zeller, Direktor der Anstalt Winnenthal, überweist ihn an Dr. Landerer, Chefarzt des Christophsbades in Göppingen; der führt ihn in der Nacht vom 31. Juli auf 1. August 1852 in der Zwangsjacke ab. Damals ging man in der Psychiatrie zu moderneren Methoden über; gleichwohl wird Mayer während seiner dreizehnmonatigen Internierung, bis 1. September 1853, oft gewaltsam behandelt. Seitdem wird er mehrfach totgesagt – „im Irrenhaus gestorben“;59 zugleich erfährt er erste Anerkennungen: Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Akademien, Ehrendoktorate u. a. Seit Juni 1862 tritt der englische Physiker John Tyndall entschieden für ihn ein. Mayer war noch dreimal auf der Kennenburg, 1856, 1865 und 1871, jeweils 5, 4 und etwa 12 Wochen. Am 21. März 1878 stirbt er an einer Lungenentzündung, 63 Jahre alt. –

F/M, der sich bemüht, den geistigen und seelischen Charakter zu bestimmen, betont mehrfach: Mayer war nie geisteskrank; man konnte ihn seelisch brechen, aber nicht zerbrechen (76 ff., 99 f.). Ähnlich erklärt F/M in einem anderen eklatanten Fall, Nietzsche: Zum „tiefen Verständnis seiner sogenannten ‚Krankheit’“ gehöre Philosophie!60 Noch 1921, in seiner Generalabrechnung mit dem Dionysier, entkräftet er die „Vermutung, daß hier nichts als Größenwahn vorliege“:

„Gewöhnliche Normalität ist ja ein Mittelniveau zwischen dem, was über, und dem, was unter ihr ist: man muß also Urteilskraft aufbieten, um zu entscheiden, ob eine ungeheure Selbsteinschätzung über- oder untergewöhnlich sei. Die Tatsache, daß etwas nicht normal sei, ist also zweideutig.“61

Diese Haltung hat heftigen Widerspruch bei Fachleuten ausgelöst. Auf der 36. Versammlung der südwestdeutschen Irrenärzte in Karlsruhe, 4./5. November 1905, hält Willy Hellpach einen Vortrag über die neue Literatur der Pathographien.62 In der Diskussion lobt ihn der Vorsitzende, Medizinalrat Heinrich Kreuser, um sogleich eine Drohung gegen F/M auszustoßen:

„Die klare Formulierung der Voraussetzungen für pathographische Darstellungen, wie sie uns der Herr Vortr. gegeben hat, ist um so mehr zu begrüßen, als in Biographien hervorragender Männer, die das Unglück gehabt haben, geisteskrank zu werden, gegen diese Forderungen sehr gewöhnlich bedauerlich verstoßen wird. Am wenigsten pflegt es Laien zu gelingen, ihr Werturteil über eine Persönlichkeit in Einklang zu bringen mit der Diagnose einer geistigen Erkrankung. Als Beispiel hierfür möchte ich die kürzlich erschienene Lebensbeschreibung Robert Mayers von Dr. phil. S. Friedlaender nennen. Um der Bedeutung des Mannes voll gerecht zu werden, glaubt der Verfasser die Tatsache einer Geisteskrankheit in Abrede ziehen zu müssen und hält sich für berechtigt, gegen R. Mayers psychiatrische Ärzte schwere Vorwürfe zu erneuern. Einer Richtigstellung steht zurzeit noch der § 300 des St.G.B. im Wege.“63

Von der psychiatrischen Unruhe in Karlsruhe erfuhr F/M wohl kaum etwas; mit Hellpach aber hat er sich im Pariser Exil einmal beschäftigt. In seinem Brief vom 21. März 1938 seziert er fünf Seiten lang Hellpachs Broschüre Schöpferische Unvernunft? Ergebnis: Von transzendentalphilosophischem Standpunkt (Kant-Marcus) aus entpuppt sich Hellpach als typischer Zeitgenosse: Sophist, Obskurant; Kant-Ignorant. Praktische Vernunft hält er für irrational, Irrationales für schöpferisch; er läßt Unbedingtes aus Bedingtem entspringen, Vernunft aus Natur, Wissenschaft aus Unbewußtem, aus Magie und Mythos, Form aus Stoff, Reinheit aus Unreinheit, Humanität aus Volk und Sippe…. „Das Vernunft-Erlebnis hat dieser schöpferische Unvernünftler noch immer nicht gehabt. Sondern warmherzig nimmt er sich der irrationalen Unsicherheitsrelation aller Wissenschaft an.“64 –

Der Psychologe Ernst Anton Jentsch, Verfasser eines Aufsatzes zu E. T. A. Hoffmanns Nachtstück Der Sandmann, der von Freud aufgenommen wurde und eine ausgedehnte Diskussion über ‚das Unheimliche’ bewirkt hat,65 beschäftigt sich in einer späteren Studie ausführlich mit Mayers Pathologie. Er trägt die Ansichten und Urteile anderer Autoren zusammen und bestimmt generelle Argumentationslinien. So kann er auch F/Ms Aussagen einsortieren: Die Unterscheidung von Geistes- und Gemütskrankheiten sei so klar nicht aufrechtzuerhalten; wie Dühring und Ostwald suche F/M für Mayers Einweisungen in Heilanstalten nach externen „Veranlassungsursachen“ und behaupte, er sei durch die Zwangsmittel „aufs roheste“ „mißhandelt“ worden.66

Ähnlich äußert sich Franz Stuhlhofer in seiner Studie über Lohn und Arbeit in der Wissenschaft, im Kapitel über den Energie-Erhaltungssatz; er zitiert F/Ms Vorwort und seine Kritik an Poggendorff; wie andere Autoren nehme F/M eine mittlere Position ein: Mayer war krankhaft veranlagt, die Schuld seiner Psychosen liege aber bei der Umwelt.67 – Der Literaturspaziergänger Dirk Heißerer (1992, 139 Anm.) vermerkt in seiner Studie zu Carl Einstein, F/M nehme Mayer „vehement vor der kolportierten Schmähung vom ‚Tod im Irrenhaus’ in Schutz“.

Auf einer Tagung der württembergischen Psychiater und Neurologen im Christophsbad am 27. Juni 1952 berichtet K. John (1953), Oberarzt in Jena, teils Hanebüchenes. Aus Landerers Krankengeschichte gehe „eindeutig und unwiderleglich“ hervor, daß Mayer, „der berühmte Entdecker des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft“ (!), „an manisch-depressivem Irresein gelitten habe“. Sein eigenes Zeugnis von 1864 sei „erwiesenermaßen in einer neuen psychotischen Phase“ niedergeschrieben; Dühring nutzte es „in bissiger Gehässigkeit gegen die Universität, die ihn relegiert hatte“. „Die darin zum Ausdruck gebrachten Anschauungen wurden dann weiterkolportiert durch Biographien wie S. Friedlaender 1905, W. Ostwald 1909“ usw. bis zu Finckh 1932. John ignoriert F/Ms klare Distanzierung von Dühring; er verteidigt seine Kollegen gegen „die tendenziösen, ja teilweise frivolen Angriffe von seiten der Biographen“. Die Sensationslust der Masse und die Stigmatisierung psychischen Krankseins seien schuld daran, daß sich „eine von dem Kranken selbst inspirierte Geschichtsfälschung immer wieder durchsetzen könne“. „In dieser Hinsicht sei der Fall Rob. Mayer gerade in der letzten Zeit ein lehrreiches Beispiel für die Notwendigkeit, sowohl die Geisteskranken wie auch die Nervenärzte durch eine wohldurchdachte Gesetzgebung zu schützen.“ Zuletzt räumt John ein: Gerade Mayers „eigenartige geistige Veranlagung“ habe auch die Kräfte mobilisiert, um sein Gesetz, eine „Konzeption von solcher Tragweite“, zu erfassen und auszubauen.

Die damit angedeutete Verbindung zwischen Psychobiographie und wissenschaftlicher Leistung ist mit Hilfe der Tiefenpsychologie hergestellt worden. Carl Alfred Meier (1905–95), Schüler Freuds und erster Präsident des Carl Gustav Jung-Instituts Zürich, sammelt in einem Kapitel seines Lehrbuches der Komplexen Psychologie 1968 aus den Dokumenten, auch aus dem Reisetagebuch, Stellen, die eine manische Depression und eine gewisse Fixierung auf den Vater anzeigen. In Surabaya sei Mayer dem „Archetypus“ begegnet, einem „archetypischen Bild“ (Jung), das, wenn einmal angeregt, sich dem Bewußtsein mit elementarer Gewalt aufdränge: in diesem Fall der Serie „Sonne – Vater – Kraft“.68

Im selben Jahr 1968 stellt Jacques Derrida, der sich zwar oft auf Freud, aber (soweit ich sehe) niemals auf Jung bezogen hat, in einer gründlichen strukturalistischen Platonlektüre dieselbe ‚archetypische’ Kette her. In den Präliminarien der drei großen Gleichnisse von der Sonne, der Linie und der Höhle wird Sokrates aufgefordert, vom Guten selbst zu sprechen; doch er entrichtet nur einen „Abschlag“ oder „Zins“. Derrida faßt die eng ineinander verflochtenen Stichworte dieser Passage zusammen:

„Die Figur des Vaters ist, wie man weiß, auch die des Guten (agathon). Der logos repräsentiert das, dem er etwas schuldig ist, den Vater, der auch ein Chef, ein Kapital und ein Gut(es)ist. Oder eher der Chef, das Kapital, das Gut(e). Dieses alles zugleich heißt im Griechischen patēr.“69

Es wäre eine Studie wert, zu untersuchen, wie sich diese Kette bei F/M darstellt (einige Späne davon in Abschnitt 9). Zu all dem ist hier nicht Stellung zu nehmen; es ging nur darum, zu beobachten. Pikant, daß F/M selber mehrmals in jene Zonen gedrängt wurde. Ein beachtliches Dokument bildet der Brief des Leipziger Verlegers Wilhelm v. Crayen an Georg Simmel vom 18. September 1908 (GS 9, 25 f.): Nach Durchsicht von F/Ms Nietzsche-Manuskript sei er davon überzeugt, daß der Verfasser „in einer Weise krankhaft exaltiert ist, die die Grenze des Psychiatrischen bereits erreicht, wenn nicht überschritten hat“; bei diesem „vorgerückten Stadium der Psychose“ sei „schleunigstes Eingreifen des Arztes dringend notwendig“…. Fast vierzig Jahre nach F/Ms Tod berichtete seine in Israel lebende Nichte von einem Gespräch mit einem nach Paris geflohenen Schauspieler; sie klagte, daß die Emigranten-Verleger ihren Onkel nicht berücksichtigt hätten, „worauf mir der Herr sagte, ob ich denn nicht wüßte, daß F. in den letzten Jahren irre war u. unsinniges Zeug schrieb. Das wurde anscheinend verbreitet. Schön, was?“70 –

6. Zur weiteren Rezeption des Buches

Die Rezensenten, soweit identifizierbar, waren meist angesehene Fachleute; ihre Urteile fallen, wie stets im Fall F/M, extrem aus. Einig sind sie nur darin, daß Mayer wegen seiner Leistung und seines bedauernswerten Schicksals eine ausführliche Darstellung verdient habe. Er sei, notiert Karl Schaum, „bis heute“ nicht zu seinem Recht gekommen (Rezension 2) – mithin ist F/M der Erste, der ihm dazu verhilft. Mehrfach wird bemängelt, daß F/M zuviel Philosophie treibe (Nr. 2, 4, 6, 8); ein Kritiker bleibt diplomatisch: Weyrauch gehe vom physikalisch-technischen, F/M vom philosophischen Gesichtspunkt aus (Nr. 11). Der Basler Chemiker und Wissenschaftshistoriker Georg Kahlbaum widmet kurz vor seinem Tod dem Buch eine Notiz und eine sarkastische Rezension: Mayer aus Nietzsches Perspektive zu behandeln, führe zu schiefer Beleuchtung. Kahlbaum amüsiert sich über einen – allerdings eklatanten – Druckfehler (Nr. 9 u. 10). Die Zeitschrift Gaea bringt im Oktober 1905 längere Auszüge aus dem biographischen Teil mit eigenen Zusammenfassungen; beanstandet wird nur, daß F/Ms Vorwurf, Helmholtz habe noch im Jahre 1850 Mayers Aufsatz von 1842 ignoriert, unangemessen sei (Nr. 12).

F/Ms Psychiatrieschelte stößt teils auf Zustimmung (Nr. 2 u. 12), teils auf Widerspruch. Anton Lampa moniert, diese Ausführungen hätten „stellenweise einen gehässigen Charakter“; F/M vermische seine eigene Weltanschauung mit Mayers Ideenwelt, deshalb sei das Buch abzulehnen (Nr. 8). Dieselbe Vermischung bezeichnet ein anderer Kritiker als „ungezwungen“ (Nr. 14); noch ein anderer jedoch spricht „scharfen Tadel“ aus: F/M urteile aus aktueller Sicht und voreingenommen zugunsten seines Helden; es mangele ihm an Objektivität; zurückzuweisen seien „die niedrigen Verdächtigungen“, die er mehrfach gegen Mayers Ärzte ausspreche (Nr. 7). Auf diese etwas oberlehrerhaften Vorwürfe des Herrn K. sah F/M sich genötigt zu antworten. Er entkräftet alle Einwendungen mit dem nachdrücklichen Hinweis: Die Ehre der Ärzte habe er nicht angetastet, vielmehr das getan, was heute möglich und notwendig sei: sachliche Beurteilung ohne jenen Zorn und Eifer eines Dühring oder Zöllner (Replik).

Über die Rezensionen hinaus ist F/Ms Buch erstaunlich oft bibliographisch notiert (siehe Anhang zur Bibliographie), doch insgesamt wenig beachtet worden. Es hat eher untergründig gewirkt – vermutlich auch bei den Autoren, die es ausdrücklich für irrelevant erklären, um es verschwiegenerweise zu benutzen. So vermerkt Bernhard Hell in seiner Mayer-Studie von 1925: „Von Friedlaender ist […] ein Buch über R. Mayer erschienen, das sich wohl stark an Weyrauch anlehnt.“71 Auch Heinrich Emil Timerding (1925, 5), Prof. f. Mathematik in Braunschweig, legt F/Ms Buch beiseite: „Für unseren Zweck kommt auch wenig in Betracht die ziemlich kritiklose Monographie von S. Friedlaender […]“ Die übrigen bisher bekannten Reaktionen seien hier als kreuz und quer strahlende spotlights aufgestellt und eingeschaltet.

Im September 1905 – bis dahin waren 31 Gedichte F/Ms im Charon gedruckt – erscheint ein Aufsatz von Johannes Schlaf über neue Lyrik. Im Charon-Kreis, lobt er, sei man vom Materialismus der letzten Phasen und vom „populären, peripheristischen Monismus“ Haeckels auf tiefere erkenntnistheoretische Probleme gekommen:

„Es ist nicht von ungefähr, daß einer von den drei talentvollsten Dichtern dieses Kreises, S. Friedlaender, […] vor kurzem eine sehr wertvolle, umfangreichere Monographie über J. R. Mayer und das Prinzip von der Erhaltung der Kraft veröffentlicht hat. […] Ein vortreffliches Werk, das auch bei hervorragenden Fachgelehrten ernstes Interesse gefunden hat. – Eine Weltanschauung, die auf den Hauptlehren Nietzsches und auf den Konsequenzen, die sich aus der Lehre Mayers ziehen lassen, beruht: wir dürfen wohl das beste Heil auch für die Entwicklung wahrer Dichtung von ihr zu erwarten haben!“72

Der mit Schlaf und F/M befreundete Literaturhistoriker Samuel Lublinski würdigt die beiden:

„Neben Schlaf ist der Lyriker und Philosoph Doktor S. Friedlaender, der Verfasser einer Robert Mayer-Biographie und vorzüglicher Schopenhauer- und Jean-Paul-Anthologien, einer der feinsten und geistvollsten Vertreter der modernen Naturempfindung und Polaritätslehre.“73

Um 1908 geriet F/Ms Buch in die Hände von Hanns Hörbiger, Urheber der pseudowissenschaftlichen „Welteislehre“ bzw. „Glacial-Kosmogonie“. Er las es aber nur teilweise, da es angesichts seines eigenen Schicksals auf ihn „wie Gift wirken“ müsse.74 Um 1915 wird Raoul Hausmann, „Dadasoph“, mit F/M bekannt, studiert eifrig die Schöpferische Indifferenz, übernimmt polaristische Ideen; 1923/24 begeistert er sich für die Welteislehre, korrespondiert mit Hörbiger, plant ein Buch „Das Prinzip der universalen Funktionalität und die Welteislehre“.75 Gleichwohl erkennt er: „nichtsdestowenig aber kann ich die Welteislehre nur als großartiges, aber unbewiesenes Gedankengebäude betrachten.“76 1929 notiert F/M sich eine Idee, die sich sowohl polaristischer Umkehrung verdanken wie auch einen ironischen Hieb auf Hörbiger bedeuten kann: „Vermutlich ist es unter der Sahara eiskalt? Sie ist eine nach unten wirkende Eisfabrik.“77 Dieses Notizbuch enthält Entwürfe zu F/Ms grandioser Streitschrift gegen den zeitgenössischen Relativismus, Skeptizismus, Fatalismus: Hat Erich Maria Remarque wirklich gelebt? (1929), darin wird Hörbiger genannt.78 –

Die Physikerin Frida Ichak war um 1908 mit F/M und Scheerbart bekannt; 1911 heiratet sie den anarchistischen Expressionisten Ludwig Rubiner, Duzfreund F/Ms. Anhand des Buches Neue Energetik von Leo Gilbert arbeitet sie 1913 den Gedanken der physikalischen Korrelation oder Bipolarität heraus: „Jede Energieerhaltung ist nur so möglich, daß der Prozeß einen Gegenprozeß hervorruft, der ihn deckt.“ Ichak schließt:

„So viel sei hier nur bemerkt, daß in letzter Zeit auch von rein philosophischer Seite aus der Versuch gemacht wurde eine Polaritätsphilosophie aufzubauen; das hat zum Beispiel S. Friedlaender getan.“79

Edwin Pfister, Arzt in Kairo, würdigt in einem kleinen Aufsatz Mayer als Schiffsarzt; nachdrücklich verweist er auf die Bücher von F/M und Ostwald 1909.80 Ebenso der schwäbische Heimatschriftsteller Ludwig Finckh in seinem Mayer-Roman Der göttliche Ruf (1932).81 In ihrer bei Hellpach entstandenen Heidelberger geisteswissenschaftlichen Dissertation zitiert Maria Holste (1936, 14) im Kapitel über Mayer F/Ms ersten Satz. Jochen Brennecke (1989, 76), seit den 1940er Jahren Verfasser auflagenstarker Bücher zur Marine- und Militärgeschichte, erwähnt F/Ms Buch in einer fehlerhaften Notiz.

Jüngere amerikanische Wissenschaftshistoriker urteilen recht günstig über F/Ms Buch. „Existing biographies of Mayer tend to whiggishness, one of the better ones is S. Friedlaender […].“82 Kenneth Caneva (1993, 275), an der University of North Carolina in Greensboro lehrend, schreibt in einer umfassenden Studie, in der er auch den Lebenskraft-Begriff diskutiert: „The first person to suggest, albeit guardedly, that Mayer’s thinking may have owed something to Naturphilosophie seems to have been Salomo Friedlaender in an insightful study of Mayer’s work published in 1905.“

7. Nietzsche und Mayer

Seit Ende 1902 korrespondiert F/M mit Elisabeth Förster-Nietzsche; am 20. Dezember 1904 kündigt er ihr die Zusendung seines Werkes über Mayer an: „darin ist mehrfach auf Nietzsche als auf den fruchtbarsten Vertiefer des Gedankens von der Konstanz der Weltkraft hingewiesen.“ Am 26. April 1905 wiederum: „daselbst ist mehrmals, zumal aber von Seite 195 [270] an auf Nietzsche als den Entdecker der Polarität des Unendlichen der Blick gerichtet.“83

Der zweite Hinweis ist in der immensen Forschungsliteratur noch weniger beachtet worden als der erste. F/M unterstreicht: Aus Mayers Konstanzidee nahm Nietzsche seinen Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen und damit die Perpetuierung von Allem, auch des Geringsten und scheinbar Flüchtigsten. Der abrupte Griff nach dem Unendlichen vergreift sich, dieser Salto wird mortale, aber der „langsamen Annäherung“ sind keine unüberschreitbaren Grenzen gesetzt (122, 268, 277).

Anfang 1881 studierte Nietzsche die Sammlung Mechanik der Wärme (1874), die ihm Peter Gast beschafft hatte. F/M stützt sich auf ein Fragment, in dem Nietzsche seine Konsequenzen aus dem Gedanken zieht, daß die „Kraft“ (Energie) in ihrer Summe erhalten bleibe, also endlich und ewig sei:

„Das Maaß der All-Kraft ist bestimmt, nichts ‚Unendliches’: hüten wir uns vor solchen Ausschweifungen des Begriffs! Folglich ist die Zahl der Lagen Veränderungen Combinationen und Entwicklungen dieser Kraft, zwar ungeheuer groß und praktisch ‚unermeßlich’, aber jedenfalls auch bestimmt und nicht unendlich. Wohl aber ist die Zeit, in der das All seine Kraft übt, unendlich d. h. die Kraft ist ewig gleich und ewig thätig: – bis diesen Augenblick ist schon eine Unendlichkeit abgelaufen, d. h. alle möglichen Entwicklungen müssen schon dagewesen sein. Folglich muß die augenblickliche Entwicklung eine Wiederholung sein und so die, welche sie gebar und die, welche aus ihr entsteht und so vorwärts und rückwärts weiter! Alles ist unzählige Male dagewesen, insofern die Gesammtlage aller Kräfte immer wiederkehrt. Ob je, davon abgesehen, irgend etwas Gleiches dagewesen ist, ist ganz unerweislich. Es scheint, daß die Gesammtlage bis in’s Kleinste hinein die Eigenschaften neu bildet, so daß zwei verschiedene Gesammtlagen nichts Gleiches haben können. Ob es in Einer Gesammtlage etwas Gleiches geben kann, z. B. zwei Blätter? Ich zweifle: es würde voraussetzen, daß sie eine absolut gleiche Entstehung hätten, und damit hätten wir anzunehmen, daß bis in alle Ewigkeit zurück etwas Gleiches bestanden habe, trotz aller Gesammtlagen-Veränderungen und Schaffung neuer Eigenschaften – eine unmögliche Annahme!“84

Hundert Jahre nach Mayers erstem Aufsatz, 1942, hat Alwin Mittasch bemerkt, daß Nietzsches Idee der ewigen Wiederkunft durch das Erhaltungsgesetz zwar nicht angeregt sei, aber doch „eine wesentliche Verstärkung und Vertiefung“ erfahren habe. In der Tat verknüpft Nietzsche seit 1881 den Kraftbegriff regelmäßig mit dem Wiederkunftsgedanken.85 Für diesen haben neuere Forscher freilich eine ganze Reihe möglicher Quellen geltend gemacht; F/Ms Befund blieb bisher unbeachtet.86

Mittasch, Theoretiker und Historiker der Katalyse, gilt weiterhin als der Erste, der die Bedeutung von Mayers spätem Aufsatz Über Auslösung (1876) für Nietzsche erkannte.87 Es gibt zwei Arten der Kausalität: Erhaltung im Sinne des causa aequat effectum und Auslösung – kleine Ursachen, große Wirkungen, wobei Ursache Anstoß bedeutet, Anregung, Entfachung, Steuerung, Regelung. F/M hat das wohl gesehen; er spielt auf den Satz an: avec le minimum d’effort le maximum d’effet, zieht aber keine Verbindung zu Nietzsche.88 Im übrigen ist auch das ein alter Gedanke. Um 1462 schrieb Cusanus:

„Das Sichtbare ist handgreiflich vor Augen und das Unsichtbare ist den Augen fern. Aristoteles sagt, Prinzipien sind der Menge nach die wenigsten und der Kraft nach die größten. Die Kraft ist geistig und unsichtbar und die Kraft des Feuerfunkens hat so viel Macht wie das ganze Feuer.“89

8. Marcus & Mayer

„Die Kämpfe mitanzusehen, in die sich der Genius ohne virtuoses Talent verstrickt, gehört zum rührendsten der Weltliteratur. Etwa vergleiche man Robert Mayer mit Helmholtz; oder den grandiosen Genius Ernst Marcus mit Einstein. Mayer und Marcus (es klingt sogar erfreulicherweise wie eine solide Firma) haben nebbich nur ihr bißchen Genie. Die helmhöltzernen Einsteine aber haben achwieviel Talent, es sind gescheite, die andern nur gescheiterte Jüngelchen.“90

F/Ms Bemerkung, Kants „sonnenhellster“ Interpret Ernst Marcus werde „neuerdings viel gelesen“ (118), ist freilich ein Euphemismus bzw. eine ironische Anspielung auf seine eigene Lektüre: Marcus wurde damals noch kaum, später auch nur sporadisch rezipiert. Gleichwohl nennt F/M seinen Mentor, mit dem er seit Jahren im Gespräch war, viermal im Buch. Auf dessen Zusendung antwortet Marcus am 16. April 1905:

„Meinen herzlichen Dank für die angenehme Überraschung. Ich hatte schon die Anschaffung des Buches in Aussicht genommen. Daß es das Produkt einer großen und mit Liebe durchgeführten Arbeit ist, darf ich annehmen, wenn das folgende der Einleitung entspricht, über deren ‚viel in wenig Worten’ ich mich sehr gefreut habe. Viel Glück zu Ihrem Erstling. Ich lese es, sobald ich Zeit habe, u. sehe dazwischen hinein.“ (Postkarte, AAFMAG)

Am 27. Januar 1907 lobt Marcus F/M: „Auch in Ihrer kleinen Logik (ebenso wie im ‚Robert Mayer’) finde ich Ihre Kunst Abstraktionen mit Leben zu erfüllen, wundervoll.“ (ULB) Früchte dieser Lektüre zeigen sich sogleich in Marcus’ Schriften, denn das Buch lieferte ihm Materialien zu einem philosophischen Lehrstück, das er bereits bearbeitet hatte.

1902 hatte Marcus behauptet, das Energieerhaltungsgesetz sei „im Grunde nichts als eine apriorische Konsequenz des Gesetzes von der Erhaltung des dynamischen Charakters“. Letzteres ist „nur ein einfacher Ausdruck für den Kantschen Satz: ‚daß alles, was geschieht, etwas voraussetzt, worauf es nach einer Regel folgt’.“91 Jede Realität muß ihren einmal betätigten dynamischen Charakter beibehalten. Wenn ich beobachte, daß Wasserstoff und Sauerstoff sich einmal zu Wasser verbinden, ein anderes Mal aber zu Gold, so habe ich weder eine Erfahrung noch ein Wissen. Bleibt hingegen die „dynamische Identität“ der Objekte gewahrt und erkennbar (rekognoszierbar), so kann Erfahrung zustandekommen. Diese objektive Gültigkeit der Kategorien und Grundsätze ist Kant zufolge die Voraussetzung der objektiven Einheit der Naturdinge, daher der Erfahrung.92 Mag sich nun das Energieerhaltungsgesetz experimentell bestätigen lassen, so läßt sich doch seine notwendige Geltung durch kein Experiment beweisen.

„Daß man das Gesetz von der Erhaltung der Energie erst neuerdings entdeckt hat (thatsächlich hat man nicht das Gesetz, sondern nur einige Anwendungsfälle experimentell festgestellt), widerspricht nicht seinem apriorischen Charakter. Auch die apriorischen Sätze der Mathematik hat man erst a priori erdenken müssen, bevor sie bekannt wurden.“93

Nach der Lektüre von F/Ms Buch kommt Marcus ausführlich und ausdrücklich auf Mayer zu sprechen. Er verdeutlicht den inneren Zusammenhang des angeblich erst von der Moderne entdeckten Erhaltungsgesetzes mit den von Kant längst vorgeführten und weit früher bereits bekannt gewesenen Sätzen:

„Auch das noch berühmtere Gesetz von der Erhaltung der Energie, dessen Formulierung und Aufdeckung dem Entdecker (Robert Mayer) allerdings große Ehre macht, läßt sich auf die von Kant aufgedeckten eigentlichen Grundgesetze zurückführen. Es ist a priori und zusammengesetzt aus den Kantschen Grundgesetzen der Intensität, der Extensität, der Substanz und der Kausalität. Dieses Gesetz führt man vielfach zum Beweise an, daß Kant überholt sei. In Wahrheit ist seine späte Aufdeckung der Beweis, daß man ihn nicht rechtzeitig einzuholen vermochte.“94

Kant entdeckte die Kategorientafel präziser und vollständiger als Aristoteles; er gewann das „System der allgemeinen obersten Naturbegriffe“ bzw. Naturgesetze aus einem Vergleich mit der allgemeinen Logik, mit den „Zentralfunktionen“ des Denkens. Auf seine „Entdeckertat“ folgten wahrscheinlich die „Entdeckerleiden“, wie man sie u. a. an Kopernikus, Darwin, Mayer beobachten könne. Bei letzterem, merkt Marcus an, trete besonders

„die unerhörte Schwerfälligkeit und Passivität hervor, die die stets konservative, im ausgefahrenen Geleise sich bewegende Schulgelehrsamkeit neuen Entdeckungen entgegensetzt. Es scheint wirklich, daß neben jedem Entdecker noch einige Entdecker des Entdeckers als ‚Herolde’ erforderlich sind, wenn nicht etwa Folge-Tatsachen (wie Experimente) die Masse geradezu zur Anerkennung zwingen.“95

Mayers Gesetz beruht darauf, daß die notwendigen Akzidenzen aller Substanz zwar veränderlich sind, nicht aber absolut untergehen können: verlorene Intensität muß sich „in eine andere Form der Intensität oder in Extensität umsetzen“ und umgekehrt. Man will das im 19. Jahrhundert experimentell entdeckt haben.

„Aber ein Experiment entdeckt kein Gesetz, sondern bestätigt es höchstens. Denn es beweist niemals, daß künftige Experimente notwendig auf gleiche Art ausfallen müssen.“… „Robert Mayers Gesetz ist also auf die Kantschen Grundgesetze zurückführbar, wodurch indessen keineswegs seine originelle Entdeckertat verkleinert, vielmehr die Richtigkeit dieser Entdeckung a priori bewiesen (deduziert) wird.“96

Marcus vermerkt, er führe diese Deduktion erstmals vor (ebd. XII). In seinen 1917 veröffentlichten Privatvorlesungen wiederholt er: Mayers Gesetz, „von welchem mancher Naturforscher heute irrig annimmt, es sei experimentell beweisbar oder durch Experimente entdeckt“, besitzt apriorische Gültigkeit und geht aus dem Satz von der Erhaltung der Substanz hervor.97 Immer wieder wird versucht, diesen Satz, überhaupt Natur-Grundgesetze zu bezweifeln; und das, erläutert Marcus (1907) in einem Aufsatz, bedeutet „praktisch eine ungeheure Gefahr für die Kultur“.

Marcus’ These ist in der Literatur bislang unbeachtet geblieben. Sie läßt sich noch durch ein biographisches Detail bekräftigen: Tatsächlich konnte Mayer keine großangelegten Experimente durchführen wie etwa Joule; er gelangte zu seinen Sätzen durch scharfsinnige Analyse der Ergebnisse von Gay-Lussac und anderen (83 u. 90 f.).

Zu Mayers Einweisung in Irrenanstalten bemerkt Marcus trokken: „Der arme Kerl war wohl zu ungeduldig und bedürftig der Anerkennung. Ich habe mir aber dieses Bedürfnis im Interesse der Behaglichkeit und des idyllischen Glücks möglichst schnell abgewöhnt.“98 Noch in seinem letzten Buch betont Marcus den Unterschied zwischen apriorischen und experimentell auffind- bzw. beweisbaren Sätzen. Er diskutiert das Problem der exzentrischen Empfindung und seine neue Lichthypothese; launig empfiehlt er künftigen Kritikern:

„Macht es ruhig so, wie Helmholtz gegenüber Robert Mayer. Verifiziert sie experimentell oder in Relation zu bereits vorhandenen Experimenten und behauptet sodann, daß ihr die Entdecker seid. Ich habe nichts dagegen.“99 –

9. Kritisch-polaristische Weiterführung

In der Selbstanzeige weist F/M emphatisch auf das Schlußkapitel seines Buches hin, fast relativiert er alles andere. Doch hat kaum jemand diese fünfzehn Seiten beachtet. Über das ganze Buch sind polaristische Elemente und Ankündigungen verstreut.100 Die „dürftigen metaphysischen Konsequenzen“, die Mayer aus seiner Lehre zieht, werden nun entfaltet (107). F/M beschreibt zunächst den Prozeß der Selbsterkenntnis der Wahrheit. Das Ideal selbst zu erblicken, bedeutet einen Schreck und den Verlust angenehm schmeichelnder Spiegelbilder. Das erinnert an eine der berühmtesten Stellen im platonischen Phaidros (250 d ff.): „Denn furchtbare Liebe würde uns verzehren“, wenn uns von der Weisheit (phrónesis) ein Bild (eídolon) präsentiert würde; wer aber ein Abbild der Schönheit erblickt, der wird heftig zu ihr selber fortgezogen…. Auf die „Kant-Katastrophe“ folgte Nietzsches Umwertung aller Wahrheit in lügenhafte Falschheit (271); das Absolute wird komparativ, provisorisch. Das Apriori meint freilich kein zeitliches Früher, sondern transzendentallogisch die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung (272, 275). Es führt also zurück auf Einheit, Identität, im Fall des Energieprinzips auf Konstanz.

Hier setzt F/M seinen Schlüssel ein: „Diese Einheit ist mit sich selbst inkommensurabel, weil sie hyperbolisch innig ist.“ (272) Sobald Identität gleichsam zu identisch wird, muß sie sich mit sich selber entzweien. Das „Weltwesen“ ist durch seine Enormität entzweit (272, 276). Zehn Jahre später heißt es: „Etwas Hyperidentisches artet notwendig in Selbstalteration aus.“101 Das ist der unermüdlich variierte polaristische Grundgedanke, den F/M bei Goethe und Schopenhauer fand oder auch bei Heraklit.102 Goethe erblickte in der Kompensation bzw. Polarität das Weltgesetz (245); Schelling (1798, 179) betonte: „So ist wohl das Gesetz der Polarität ein allgemeines Weltgesetz.“

Identität will das Chaos umfassen, alle Differenzen umspannen. Wir Menschen sind die Welt, zwar anfangs noch unwissentlich, „dunkel-instinktivisch“ (272), doch mit jeder Erfahrung irgendeines Gegebenen lernen wir uns kennen. „Ich bin die persönliche Bekanntschaft der Welt mit sich selber“; Philosophie ist „Autobiographie der Welt“.103 Die Welt ist unendlich; Unendlichkeit aber polar, harmonisch-zwieträchtig: die Extreme spielen um ihren Ausgleich, das Größte ist stets noch zu klein, das Kleinste immer noch zu groß. Das Wesen der Welt, im subjektiven Sinn: das „Weltwesen“, ist das, was fähig ist, so klein und so groß wie möglich zu sein, schrankenlos und beschränkt, unermeßlich und meßbar, überall und nirgends, offenbar und verborgen. Weil es Alles und Nichts sein kann, entzieht es sich dem Begriff, der Definition; es selber ist namenlos. F/M will es behelfsweise Proteus nennen – oder auch Unendlich: ∞ (273, 278 f.).

Damit nähert sich F/M einem mittelalterlichen Spruch: Gott ist wie eine Kugel oder ein Kreis, dessen Zentrum überall ist.104 Faßbar wird das in keiner einzelnen Ausprägung, sondern nur komparativisch, durch Vergleichung, als das dynamisch Identische in allen konkreten Formen. F/M spricht von „transitorischer“, „proteischer“, „polarer“ Identität (130, 162, 275 etc.). Erfahrbar sind nicht die Extreme, sondern nur Mittleres dazwischen; das Weltwesen verknüpft und vermittelt sie, die „Enden seiner Unendlichkeit“; so macht es sich mit sich selbst bekannt, als jener „Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt ineinander griffen“.105 Ein „Kardinalsatz der Logik des Unendlichen, des Lebens“, lautet: Extreme berühren sich.106 Der Mensch als Kultur-Ideal und als wildes Tier – beides aus demselben Stoff; beide Enden, ringförmig zusammengezwungen, berühren sich lebendig in demjenigen, der das zu erleben wagt.

Die Berührung aber, die Mitte, ist Desiderat. Das „Gewissen“ des Unendlichen, das „Herz“ der Polarität ist nicht einfach da, sondern muß erarbeitet, kultiviert werden. Welterkenntnis heißt Selbsterkenntnis, allegorisch; Welt ist in Leib und Leben vereint und entzweit. Ohne diese Polarität wären wir wirklich jenes Weltwesen: allgegenwärtig, allwissend, allmächtig. Doch das Spiel der Gegensätze bewirkt eine fundamentale Dynamik, ein Zittern, Oszillieren; unentwegt verhindert und fördert es die Identität, indem es die Differenzen wechselseitig korrigiert; es arbeitet an der „Koinzidenz“ von Gewißheit und Ungewißheit, von Dogmatik und Skepsis, von Apriori und Aposteriori (277).

Das „Gesetz der Mitte“ (269) besagt: Jedes Gegebene ist „Streitobjekt des Enormen“. Nichts entrinnt dem Antagonismus. Um jeden Punkt streiten sich die räumlichen Vektoren: rechts/links, oben/ unten, vorn/hinten; um jeden Augenblick streiten sich die temporalen Vektoren: früher/später sowie die kausalen: Ursache/Wirkung. Harmonie erscheint als „das Produkt widerspenstiger Faktoren“; zur Kugel gehört alles, was ihre Oberfläche ein- und ausschließt; die Null ist zweideutig, „ein Wunder von Kombination“ von + ∞ und – ∞ (279, 282, 284).

Dieser Weltgedanke – Konzept, Anschauung der Welt –, vermerkt F/M, sei uralt; die Schellingschule habe das Verdienst, ihn aufgefrischt zu haben, jedoch verstieg sie sich in apriorische Konstruktionen (278). Sie ignorierte das neutrale Zentrum, den ‚subjektiven’ Nullpunkt. Man spricht vom Weltall, dabei vergißt man das „Weltnichts“. Das sind „Pole der Unermeßlichkeit“.107