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Die Schwestern Svea und Pölze wachsen auf dem Pferdegut ihres Onkels auf und haben in der Aufzucht und im Umgang mit Pferden ihren Lebensinhalt gefunden. Sie geniessen das Leben auf dem Pferdehof und am meisten lieben sie den Ausritt auf ihren Lieblingspferden "Rote Rosse" und "Rochus". Als jedoch Svea jedoch vom stürzt und sich schwer verletzt, wenden sich die beiden Schwester von ihrem bisherigen Leben ab: Auslandreisen, Umzug und Studium. Doch immer mehr wird für Pölze klar, sie gehört aufs Land.... zu den Pferden... - Eine wunderschöne Geschichte über die Lieblichkeit des Lebens.-
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Seitenzahl: 323
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Lise Gast
Saga
Junges Herz im Sattel
German
© 1978 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509678
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
1908 in Leipzig geboren, verbrachte ich entscheidende Jahre meiner Kindheit auf dem Land und verliebte mich in Pferde, was mein ganzes Leben lang durchhielt. Aus Sehnsucht danach wurde ich landwirtschaftliche Lehrerin, bekam aber in diesem Beruf kein Pferd zu sehen, und heiratete 1933 meinen besten Jugendkameraden und Vetter, mit dem ich sieben Kinder bekam. Das achte wurde erst nach seinem Tod auf der Flucht geboren. 1955 gründete ich den Ponyhof in Lorch/Württemberg, wo wir kleine Pferde züchten. Die meisten meiner Kinder reiten, aber einen Beruf haben sie alle. Da ich für meine Kinder da sein mußte, verdiente ich mir ihren und meinen Lebensunterhalt und ihre Ausbildung durch das Schreiben von Büchern. Ich schreibe ausgesprochen gern. Drei meiner Töchter schreiben bereits auch. Das und das gemeinsame Reiten verbindet unsere Familie sehr. Jetzt reitet schon die dritte Generation, vielleicht bringen wir es noch auf Urahne, Großmutter, Mutter und Kind im Sattel.
Lise Gast
„Achtung! Achtung! Als nächste startet Nummer sieben, Svea Holmer auf Rote Rose. Züchter Hippolyt Elgers, Rosenhof. Bitte zum Start reiten!“
Pölze fühlte, wie eine Bewegung durch die Zuschauer ging. Svea war so bekannt, daß ihr jetzt unzählige den Daumen hielten; aber irgendwie war sie auch allein unter den elf Bewerbern des Jagdspringens. Pölze hätte nicht sagen können, woran das lag; aber sie hatte es noch nie so deutlich gespürt wie in diesem Augenblick, in dem sie, beide Fäuste vor der Brust geballt, noch einmal tief Luft holte. Neben sich fühlte sie Onkel Hipps Schulter, die sich ein wenig bewegte.
Sie sah nicht nach links. Onkel Hipp hatte immer entsetzliches Lampenfieber, das wußte sie. Er verfluchte im Augenblick des Starts sich und seinen ganzen Hof, die Pferde, die doch sein Stolz und sein Lebensinhalt waren, seinen brennenden Wunsch, Erfolg zu haben mit seiner Züchtung – und am allermeisten seine Idee, Svea reiten zu lassen. „Nie wieder, nie wieder“, stöhnte er jetzt innerlich, das wußte sie genau, und der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Nein, sie vermochte nicht, ihn anzusehen. Sie drückte nur ein wenig mit der Schulter zurück, und in ihrer eigenen Angst und Aufregung flüsterte sie, nur für ihn hörbar und verständlich, ziemlich sinnlos, aber beschwörend wie eine Zauberformel vor sich hin: „Laß mal, Onkel Hipp, laß mal! Du wirst schon sehen!“
Er hätte sie nicht reiten lassen dürfen. Pölze fühlte eine bisher nie gekannte Angst, anders als das übliche Lampenfieber für die Schwester, das ja schließlich selbstverständlich war. Sie tröstete Onkel Hipp, aber in ihr war eine schreckliche Ahnung, daß dies nicht gut ausgehen würde. Vergeblich versuchte sie sich zu sagen, daß es ja schließlich ein sogenanntes L-Springen sei wie zahllose andere, also ein ‚Leichtes Springen‘, kein Hindernis über einszwanzig. Es war auch nicht naß, der Boden gut. Und Rote Rose sprang zuverlässig und willig. Trotzdem! Dies würde nicht gut ausgehen, sie fühlte es deutlich. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie hinunter auf die Bahn.
Rote Rose ging ruhig, ein wenig vorsichtig, im Schritt hinaus. Svea hielt sie am Zwirnsfaden, wie sie zu sagen pflegte, obwohl das hier im unbekannten Gelände und bei den vielen Zuschauern gewagt war. Jetzt machte das Pferd den Hals lang – Svea ließ es geschehen. Rote Rose schüttelte ein wenig den Kopf, das Nummernschild oben am Kopfstück schien sie zu irritieren. Wenn Svea ihr vorhin wenigstens die Hindernisse hätte zeigen können!
Jetzt drehte sie das Pferd leicht nach links. Rote Rose bog sich willig um den Schenkel; es sah einen Augenblick aus, als wollte sie antraben, dann aber blieb sie im Schritt. Pölze hatte die Fäuste vor dem Mund. Sie wußte, daß diese Sekunden vor dem Start die wichtigsten, die ausschlaggebenden des Springens waren. Die Sprünge selbst nachher – die wickelten sich dann ab, einer nach dem andern. Aber jetzt, jetzt ...
Ganz plötzlich, fast aus dem Stand, gab Svea Galopphilfe. Rote Rose folgte ein wenig überrascht, aber willig. Pölze sah, wie die Flagge des Starters niederging: Svea ritt. Nun würde es keine zwei Minuten dauern, bis die entsetzliche Angst vorbei war. Die Zeiten waren bisher immer zwischen achtundachzig und siebenundneunzig Sekunden gewesen. Wieviel kann man denken innerhalb einer so kurzen Zeit!
Ein wenig ließ die Spannung nach, Pölze fühlte das deutlich und dankbar. Es war etwa so: Jetzt ist nichts mehr zu ändern. Ich kann sie nicht mehr zurückrufen. Die Sache läuft. Nun heißt es nur noch, das Herz festhalten.
Der Parcours, die vorgeschriebene Springstrekke, ging zunächst von der rechten vorderen Ecke des quadratischen Feldes nach der linken hinteren, also diagonal. Als erstes Hindernis die Hecke mit Stange, ein Meter hoch. Rote Rose kam mit den Sprüngen gut aus und sprang dann flüssig und leicht. Die Zuschauer lächelten – Pölze fühlte es mit einer mitleidigen Befriedigung. Was wußten die Zuschauer!
Das Gatter, ein Meter zehn. Auch leicht. Nun nach rechts, ohne das Pferd im Maul zu stören. Rote Rose ließ sich nicht gern nach rechts biegen, Pölze wußte das. Aber Svea hatte eine unglaublich leichte Hand. Sie hatte gewendet. Diese Wendung war vielleicht – außer dem Start – das schwierigste des ganzen Parcours. Sie bildete ja praktisch nicht nur einen rechten, sondern einen spitzen Winkel, während alle anderen Wendungen weiter nichts waren als die Ecken in der Reitbahn. Jetzt sofort der Tiefsprung, erst hinunter, dann den einsfünfzig breiten Graben, dann wieder hinauf. Ein Graben ist immer schwer zu springen, Wasser glitzert. Rote Rose, noch nicht ganz in der neuen Richtung, schwankte, während sie die achtzig Zentimeter hinabsetzte, und ein anderer Reiter wäre ihr jetzt wahrscheinlich ins Kreuz gefallen. Svea aber klebte – Pölze sah es wieder einmal mit Stolz – nur in den Knien am Sattel. Sie konnte einfach nicht hart aufkommen.
Rote Rose streckte sich. Der Graben. Der Aufsprung. Die Ecke, Jetzt ging sie geradewegs auf die Tribüne zu, hatte also im ganzen um etwas mehr als hundertachtzig Grad gedreht. Pölze fühlte, wie ihre Angst nachließ. Vielleicht kam das daher, weil man bei einem Reiter, der auf einen zukommt, die Bewegungen nicht so genau sieht wie bei einem, der an einem vorbeireitet.
Dabei wurde es, sachlich betrachtet, jetzt schwerer. Das Birkenrick war einszwanzig hoch und schwer zu springen, vor allem deshalb, weil dort heute schon zwei Reiter gescheitert waren. Einer hatte sich vom Pferd getrennt, gottlob, ohne sich oder dem Pferd zu schaden, bei dem anderen hatte die Stute verweigert. Pölze wußte, wie solche Geschehnisse auf einen wirken, wenn man sie vor dem eigenen Start sieht. Hoffentlich hatte es Rote Rose nicht gesehen; aber das wußte Pölze nicht.
Svea sprang. Pölze sah sie aufsetzen, Svea gab den Zügel weit vor, sie hatte die Fäuste jetzt fast unter dem Kehlriemen. So willig Rote Rose sonst sprang, Holzstöße waren ihr nie angenehm. Da mußte man sie bei sehr guter Stimmung halten.
Ein Meter hoch, ein Meter breit. An sich nichts Erschütterndes, wenn das Pferd willig ist. Rote Rose war im Zuge, warm, gelöst – sie sprang so, daß ein kurzes Klatschen aufkam. Pölzes Herz erzitterte – wie konnten die Leute! Aber Rote Rose schien sich nicht darum zu kümmern. Sie ging ruhig in die Wende.
Erst jetzt, in der Hälfte der Bahn, konnte Pölze an die Zeit denken. Freilich, nach der Sekundenuhr zu sehen, dazu reichte ihr Mut nicht. Aber sie dachte daran, vielleicht, weil Rote Rose so sehr ruhig ging. Ob Svea nicht doch ein wenig anziehen müßte im Tempo?
Sie schien das gleiche zu denken. An der Schmalseite längs der Tribüne, wo sie jetzt ritt, räumte sie Boden. Das Gartentor, das einzige Hindernis hier, wurde sozusagen nebenbei mitgenommen, überflitscht, obwohl es einszwanzig hoch war. Die Wende in die lange Gerade. Pölze fühlte sich erschöpft von der Spannung, ihr war, als könne sie nicht bei allen elf Sprüngen mittun, und trotzdem hatte sie das Gefühl, als müsse sie es. Sie mußte bei Svea und Rote Rose sein, ganz und gar, unermüdet und ohne Pause; vielleicht ...
Ehe sie zu Ende denken konnte, hatte Rote Rose den Oxer, das Doppelhindernis und den Tafelsprung hinter sich, wie, das war eigentlich an Pölze vorbeigegangen. Die vorletzte Wende – jetzt kam der Graben, dreifünfzig breit. Jetzt – jetzt – jetzt würde es geschehen ...
Pölze stöhnte unterdrückt. Onkel Hipp stöhnte auch. Sie fühlte wieder seine Schulter an der ihren und versuchte, das Ächzen zu unterdrücken; aber man hörte es. Rote Rose stutzte, besann sich einen winzigen Sekundenbruchteil, ob sie verweigern sollte – Verweigern beim Graben ist nicht so schlimm, dachte Pölze blitzschnell und versuchte, sich schon zu trösten. Wenn es nur das war – ein Verweigern vorm Graben!
Aber Svea war auf der Hut. Sie trieb – jetzt trieb sie, zum erstenmal bei dem ganzen Parcours. Jetzt war sie diejenige, die dem Pferd ihren Willen aufzwang, während sie bisher – Pölze fühlte das genau – gesprungen war, lediglich das Pferd lenkend und ihm helfend.
Rote Rose sprang. Sie sprang knapp. Aber sie erreichte den Rand, schob die Hinterhand unter, taumelte, kam wieder in Galopp. Die nächste Wende mußte weiter genommen werden als nötig, das bedeutete Zeitverlust. Aber es ging nicht anders, Svea mußte zwei Sprünge zugeben, um Rote Rose auslaufen zu lassen. Jetzt kam die Mauer. Ein Meter hoch. Pölze sah Sveas Gesicht, bisher hatte sie nur ihren Sitz und die Knie gesehen. Sveas Augen waren bis auf einen Spalt geschlossen, Pölze wußte, daß sie empfindliche Augen hatte. Immerhin, bei der verhältnismäßig kurzen Strecke konnten sie durchhalten, ohne zu tränen. Rote Rose drückte ab – zu zeitig, zu zeitig! Man sah es, obwohl die Mauer von hier aus vor dem Pferd lag. Der Pferdekörper streckte sich, er wurde länger, unwahrscheinlich lang, das Tier spürte wohl selbst, daß es nicht reichte. Nicht reichte, wo Rote Rose sonst stets verschenkte, zehn, ja, zwanzig Zentimeter höher sprang als nötig, und das war schade, denn es hätte für ein M-Springen gereicht. Jetzt aber reichte es nicht.
Krach, angeschlagen. Der Kasten wankte – es war der linke Vorderhuf gewesen, der ihn traf. Rote Rose zog die Hinterbeine schräg an, lag einen Augenblick schief in der Luft – der Kasten fiel. Pölze biß sich in die Fingerknöchel – aber nur der Kasten fiel, das Pferd nicht. Auch Svea nicht. Drei Galoppsprünge – der Wegesprung. Rote Rose nahm ihn weit, aber das nützte nichts mehr. Der Kasten war gefallen, vier Fehler. Rote Rose lief aus, weit, ein wenig unbeherrscht. Man sah es deutlich, sah auch, daß Svea gut und fest saß. Pölze wußte es und drückte beide Fäuste vor die Augen. Enttäuschung, daß der Kasten gefallen, oder ungeheure Erleichterung, daß Svea und das Pferd nicht gestürzt waren?
„Menschenskind“, hörte sie Onkel Hipp neben sich stöhnen. Er puffte sie in die Seite, schon seit einer Weile, sie mußte dort blaue Flecke haben. Er schien ihr etwas Wichtiges mitteilen zu wollen.
„Laß doch! Laß doch“, murmelte sie unausgesetzt, ohne es zu wissen. Schließlich erwachte sie aus dieser halben Betäubung und versuchte aufzunehmen, was er meinte.
„Die Zeit“, sagte Onkel Hipp immerzu, „die Zeit, Pölze. Die Zeit. Sechsundachtzig Sekunden. Hättest du das gedacht?“
Ja richtig, die Zeit. Pölze hob das Gesicht, sah die Uhr, hörte das Megaphon und versuchte, wieder vernünftig zu denken. Es gelang ihr erst allmählich. Freilich, die Zeit war enorm. Und vier Fehler. Wenn er doch still sein wollte! Aber inmitten all ihrer Erleichterung, daß Svea nicht gestürzt war, in ihrem atemberaubenden Glück, daß der Knäuel von Mensch und Pferd, den sie die ganze Zeit über zu sehen gefürchtet hatte, eben eine Einbildung und weiter nichts gewesen war, drückte es noch immer zentnerschwer und gegen alle Vernunft beklemmend auf ihr Herz: Es ist nicht gut gegangen.
Nicht wegen der Mauer. Vier Fehler bei dieser hervorragenden Zeit waren nicht erschütternd, und außerdem war es ja gleichgültig, ob Svea den ersten oder zweiten odep gar keinen Preis machte, wenn sie nur lebte, samt Rote Rose. Trotzdem fühlte Pölze ihr Herz entsetzlich schwer; sie wußte selbst nicht, warum eigentlich; denn es hatte doch alles geklappt! Aber sie konnte den Gedanken nicht loswerden: Trotz allem, es war nicht gutgegangen!
„Na? Was hab ich gesagt! Ihr habt doch immer Glück, freut ihr euch eigentlich, ihr beiden?“ schwatzte Tante Ulle. Pölze lächelte schwach und nickte. Sie hatte die Tante die ganze Zeit über einfach vergessen, während sie Onkel Hipps Gegenwart immer gespürt hatte, sosehr sie auch bei Rote Rose und Svea gewesen war. Jetzt machte sich Tante Ulle wieder kräftig bemerkbar.
„Verdient habt ihr es ja nicht, unvernünftig wie ihr seid“, eiferte sie und grub in ihrer Handtasche. Immer grub Tante Ulle in ihrer Handtasche, wenn sie aufgeregt war. Und sie war sehr oft aufgeregt, manchmal freundlich, manchmal zornig aufgeregt, aber immer mit ihrem aufgeregten Herzen bei anderen. Sie selbst schien sozusagen nicht zu existieren; ihre kleine, runde Persönlichkeit kannte nichts anderes, als für die Menschen ihrer Umgebung in flammender Empörung, herzlicher Teilnahme oder hingerissener Bewunderung da zu sein. Tante Ulle war großartig und entzückend, obwohl sie in ihrem Leben noch auf keinem Pferd gesessen hatte.
Das war sonst der Maßstab, jedenfalls für Pölze, Svea und Onkel Hippolyt. Leute, die nicht ritten, nicht in Ställen und Koppeln, im Sprunggarten und auf der Fohlenweide den Hauptteil ihres Lebens zubrachten, denen die Pferde-Kalender nicht die Lieblingslektüre, die Haferkiste der liebste Sitzplatz und die Reithose schlechthin der Anzug waren, waren eben keine Leute. Sicher, Onkel bewirtschaftete „nebenbei“ sein Gut, Svea saß in der Oberprima, Pölze war mit ihren einundzwanzig Jahren schon eine recht tüchtige und energische Gutssekretärin, die auch sonst noch manches auf dem Hof tat, was nötig und gut für die Leute war; aber das alles galt sozusagen erst in zweiter Linie. Die Hauptsache, das, um das alle Gedanken kreisten, waren die Pferde. Die Pferde, die Pferde und nochmals die Pferde. Tante Ulle wußte das natürlich, aber mitunter mußte sie doch dagegen angehen oder wenigstens so tun.
„Unsinn ist und bleibt es, versteht ihr“, brummte sie auch jetzt, während sie sich hinter Pölze, die ihrerseits Onkel Hipp folgte, durch die Bänke der Zuschauer schob. Sie mußten natürlich zu Rote Rose und Svea. Svea hatte flehentlich gebeten, daß sie beim Start nicht dabei wären, außer Toni, dem alten Pferdepfleger. Und sie hatten das verstanden. Jetzt aber mußten sie hin, und kein Mensch der Welt hätte sie daran hindern können.
Svea war schon abgesessen. Sie war blaß, und ihr Lächeln schien Pölze verzerrt – kein Wunder, nach dieser Konzentration. Sie wäre jetzt gern allein gewesen, vielleicht hätte sie geheult, das Gesicht an Tonis Schulter gedrückt. Aber es gehörte bei einem Jagdspringen wohl auch dazu, daß man nach der Anstrengung vernünftig blieb und sich beherrschte, auch wenn es kaum mehr ging.
Das ist überhaupt das Gute am Reiten, daß man sich beherrschen muß, immer. Pferde dulden es einfach nicht, daß man sich gehen läßt, man darf es nicht, wenn man es picht mit ihnen verderben will. So nahm auch Svea jetzt Händedrücke, Schulterhiebe und Gratulatipnen, manche ehrlich gemeint, manche von heimlichem Neid erfüllt, pflichtschuldigst strahlend entgegen, nickte zu allem, was ihr da entgegensprudelte und von dem sie das meiste überhaupt nicht verstand, hielt sich aber doch nahe an Tonis mächtiger, ruhiger Gestalt.
Der alte Pferde- und Menschenkenner schien es zu wissen, er schob schließlich seinen Arm zwischen Pferd und Reiterin und die anderen Menschen dieser Erde, sagte etwas von Abreiben und Ruhe und dirigierte Svea und Rote Rose dem Stall zu. Auch Onkel Hipp durfte nicht mit. Er gehorchte widerspruchslos und zündete sich nun endlich die Zigarette an, auf die er schon lange sehnsüchtig wartete.
Pölze sah den dreien nach, die von dannen zogen, langsam und erschöpft. Toni hatte die rechte Hand an Rote Roses Kopfstück unten am Trensenring und den linken Arm um Sveas Schulter liegen. Svea schmiegte sich schmal und ein wenig zusammengesunken unter diesen mächtigen Arm.
Es war zu viel. Sicher war es zuviel, dachte Pölze bedrückt. Sie verstand sich selbst nicht ganz. Svea war neunzehn Jahre alt und ebenso gesund wie sie selbst. Sie, also Pölze, war zu ihrem Kummer ein richtiges Landmädchen, kerngesund mit schlanken Gliedern, geraden Schultern (das war noch ein Trost, wenn auch ein schwacher!) und einem recht freundlichen Gesicht. Nicht hübsch, ach nein, es wäre blöd gewesen, sich das einreden zu wollen, aber auch nicht häßlich, und da sie vor Gesundheit strahlte und fast immer vergnügt war, sah sie jeder gern an. Trotzdem war es nicht immer einfach, neben der sehr hübschen, ja eigentlich schönen Schwester zu stehen. Svea war anders als Pölze. Sie hatte die helle, reine Haut ihrer verstorbenen Mutter, die Schwedin gewesen war – daher ihre nordischen Namen. Pölze hieß in Wirklichkeit Björg, aber niemand wußte das eigentlich mehr. Onkel Hippolyt hatte sie, als sie noch ein Kind war, Pölze genannt – das bedeutet auf Schwedisch „Würstchen“ –, und der Name war ihr angewachsen. Auch in der Schulzeit hatte man sie allgemein so gerufen, selbst die Lehrer. Pölze war eben Pölze, die Bedeutung des Wortes war zum Glück vergessen worden, sofern Außenstehende sie überhaupt je gewußt hatten. Denn Würstchen zu heißen – dazu hätte noch niehr Gleichmut gehört, als ohnehin nötig war, sich neben einer Svea zu behaupten.
Das ging überhaupt nur, weil Pölze Svea liebte. Sie liebte ihre jüngere, spviel hübschere, kluge und beliebte Schwester auf eine merkwürdig heftige, aber verborgene Art. Denn Pölze war der Mensch, der Svea kannte – der einzige. Auch Onkel Hippolyt, der Svea nicht nur Wie eine eigene Tochter liebte, sondern auch übertrieben und ein bißchen verrückt stolz auf sie war, so, wie ein vernünftiger Vater es nicht hätte sein dürfen – Tante Ulle hielt ihm das immer vor, aber ohne Erfolg –, auch Onkel Hippolyt kannte Svea nicht, oder doch nur von einer Seite. Er kannte die schöne Neunzehnjährige, die kluge Primanerin, das Mädchen, das gut tanzte und ausgezeichnet ritt. Dies aber war nur eine Svea. Von der anderen wußte auf der ganzen Welt nur ein einziger Mensch, und das war Pölze. Svea war sehr verschlossen, so sehr, daß sie fast nie, auch Pölze gegenüber, von eigenen Angelegenheiten sprach und man so gut wie alles mühsam erraten mußte; sie war überempfindlich, ungeheuer leicht verwundbar, sie war trotz, ja, vielleicht gerade wegen ihrer Leistungen im Grunde ein Mensch, der sich selbst nichts oder doch nur wenig zutraute. Ausgenommen zu Pferde. Da hatte sie Mut, sie hatte das Reiterherz, das es vermag, sich voranwerfen zu lassen über das Hindernis, sie hatte die Kaltblütigkeit, sofort wieder aufzusitzen, wenn sie aus dem Sattel geflogen war. Die hatte sie übrigens schon mit fünf Jahren gehabt. Onkel Hippolyt war fast geplatzt vor Stolz, als Svea damals von ihrem Pony sauste, kopfüber in die Brennesseln, von denen ihr Gesicht augenblicklich aufging wie Klatschmohn, rot und gedunsen, und kein Wort sagte außer dem einen: „Noch mal!“
Sie war wieder aufgestiegen, verbissen, entschlossen, sie hatte die dicke Adele an den Zügel gekriegt, nicht zornig und voller Rachedurst, sondern ruhig, weich und unnachgiebig, und hatte sie um den Zirkel gezwungen, zehnmal, zwanzigmal, dreißigmal, so lange, bis Onkel Hipp vom Zusehen ganz schwindlig wurde.
Pölze ritt auch, selbstverständlich. Und auch sie war schon „ausgestiegen“, wie sich ja überhaupt jeder Reiter mitunter von seinem Pferd trennen kann. Selbstverständlich war auch sie wieder hinaufgeklettert, sowohl früher auf das Pony als auch jetzt auf das Reitpferd, mit dem sie gerade versuchte, einig zu werden. Dies alles aber war etwas anderes, es war sozusagen normal und alltäglich, während es bei Svea ungewöhnlich und im allertiefsten Grunde beängstigend War. Auch dies wußte niemand außer Pölze. So hatte denn auch niemand heute eine solch schreckliche Angst auszustehen gehabt wie Pölze, Gottlob umsonst. Wirklich umsonst?
„Du machst ein Gesicht, als hätte Svea mindestens sechs Rippen gebrochen oder Rote Rose dreimal verweigert“, sagte Tante Ulle unzufrieden und schob ihr eine halbe Tafel Schokolade zu. „Da, iß. Du hast ja heute sowieso noch nichts im Leibe.“
„Danke“, sagte Pölze schuldbewußt. Sie hatte wirklich noch nichts gegessen. Auch jetzt schmeckte es ihr nicht. Sie sah zerstreut zu, wie die anderen Reiter sprangen, notierte Zeiten und Fehler und horchte, ob Svea nicht käme. Svea aber kam nicht. Lag sie im Stall und heulte? Nun, dann war ja Toni bei ihr. Vor Toni konnte man ruhig mal heulen.
Pölze wünschte sich plötzlich heftig und inbrünstig, daß es so sein möge, daß Svea jetzt im Stall auf einem Ballen Stroh sitzen und in die Armbeuge schluchzen möge, alle Aufregung dieses Tages aus sich hinausheulend, während Toni neben ihr saß und ihr den Oberarm klopfte, so, wie er es mit Rote Rose machte, wenn sie steigen wollte, während er ihr die Trense einschmeichelte. „So so, ja, so schön. Ja, gutes Pferd.“
Svea aber weinte nicht. Sie hatte, während sie mit Rote Rose und Toni dem fremden Stall zuschritt, eine Begegnung. Ein sehr großer, gut angezogener alter Herr mit schneeweißem Haar kam ihnen entgegen, und Toni erkannte ihn zuerst. Er gab Svea einen kleinen Puff in die Seite und nahm unauffällig den Arm von ihrer Schulter.
„Das ist Herr von Friesberg“, flüsterte er eindringlich. Dieser Name bewirkt, daß Svea, so ausgelaugt und kaputt und kraftlos sie war, den Kopf hob und die Schultern straffte. Der Herr sah es genau und bekam ein ganz kleines, verstecktes Glänzen in seine klugen Augen. Er grüßte höflich und wartete, bis sie Rote Rose im Stall versorgt hatte. Wenn er nicht gewartet hätte, wäre er nicht Herr von Friesberg gewesen. –
„Pölze?“
„Ja?“
„Arbeitest du?“
„Nicht doll.“
„Also darf man dich mal stören?“
„Bitte.“
Pölze saß an Onkel Hippolyts Schreibtisch, das große Buch mit den Sozialversicherungen der Gutsarbeiter vor sich, Svea am Fenster mit einem Schulbuch. Draußen regnete es, Onkel Hipp war weg, Tante Ulle in der Küche. Es war vormittags, und Svea hatte keine Schule, weil irgendeine Konferenz stattfand. Sonst sahen sich die beiden Schwestern selten in Ruhe, höchstens einmal beim Schlafengehen. Aber auch das traf sich selten, da Pölze frühzeitig heraus mußte, während Svea erst den Sieben-Uhr-Bus zu erreichen brauchte, Pölze also auch abends eher zu Bett ging.
Pölze hatte den Bleistift hingelegt. Sie wartete. Irgend etwas in Sveas Stimme hatte anders geklungen als sonst. Sie mußte lange warten, so lange, daß sie schon glaubte, Svea habe es sich wieder anders überlegt. Da aber sagte diese doch: „Du erzählst es niemandem, nein?“
Pölze schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen. Da fuhr Svea fort, halblaut, während sie mit dem Daumennagel eine Rille in ihr Lateinbuch zog, von oben nach unten, am Rand entlang:
„Ich habe mich verlobt – wie man das früher zu nennen beliebte.“
Pölze schwieg. Sie bemühte sich, nicht auffällig den Atem anzuhalten, sondern einfach dazusitzen, als habe Svea erzählt, daß sie eine Drei in Mathematik oder ein Gut im Aufsatz habe. Svea sprach so selten von inneren Angelegenheiten, daß dieser Satz geradezu etwas Einmaliges bedeutete. Pölze wagte nicht, sich zu rühren.
Mußte sie jetzt fragen, mit wem? Oder durfte sie gerade das nicht? Verlobt – wie überaus altmodisch klang dieses Wort! Ach, die Leute von früher hatten es gut! Die fielen einer Schwester, die dieses schicksalhafte Wort aussprach, einfach um den Hals, küßten sie – Pölze und Svea hatten sich zeit ihres Lebens noch nie einen Kuß gegeben – und weinten ein bißchen vor Rührung. Und dann wurde Kuchen gebacken und Wein geholt, Blumen erschienen, weiße Tischtücher schimmerten, und es hatte nach Braten und anderen seltenen Herrlichkeiten zu duften, während Silber und Kristall leise klirrten ...
So wiederholte Pölze nur fragend: „Verlobt?“
„Ja. Und ich muß dir natürlich auch sagen, woraufhin ich das riskiert habe“, fuhr Svea hastig und ein wenig schuldbewußt fort, „du wirst ja wohl nicht annehmen, daß ich so ins Blaue hinein, na ja. Also am Sonntag nach dem Turnier – oder während des Turniers, nachdem ich geritten war, habe ich Friesberg getroffen. Wußtest du, daß er da war? Ich wußte es übrigens“, sagte sie, und ihre Stimme kam jetzt wieder in den gewohnten Klang hinein, ruhig, sachlich, ein wenig kühl. Svea hatte nicht die ungestüme und sprudelnde Art, in der Pölze sprach.
Sie wog die Worte ab, ruhig, klar. Deshalb wohl auch war sie in der Schule so gut, hatte das Amt der Klassensprecherin inne und wurde überall dorthin geschickt, wo es Verhandlungen zu führen galt.
„Friesberg? Nein!“ sagte Pölze interessiert. Svea lächelte.
„Ich hatte deshalb noch ein bißchen mehr Startfieber als sonst, kannst du dir vorstellen“, gestand sie, „schlecht ist mir ja immer vor dem Reiten. Aber diesmal – und ich habe eigentlich nicht gedacht, daß es gutgeht. Diesmal wirklich nicht.“
„Du auch nicht?“ fragte Pölze impulsiv. Beinahe hätte sie sich sogar umgedreht. Nur der Gedanke, daß Svea dann bestimmt nicht weitersprechen würde, hinderte sie im letzten Augenblick daran.
„Wieso, auch?“ fragte Svea jetzt langsam. Pölze wurde rot. Blöd, daß sie das gesagt hatte!
„Ich hatte halt auch Lampenfieber, und nicht zu knapp“, sagte sie schnell. „Also Friesberg war da ...“
„Ja. – Er kam, als wir zum Stall gingen. Und er fragte mich, ob ich zu ihm auf das Gestüt kommen wollte, als Bereiterin. Mit Gehalt. Mit der Möglichkeit, mich weiter auszubilden. Als Hilfsreitlehrerin, Reitlehrerin, staatliche Reitlehrerin. Du weißt ja die Stufen und Titel. Aber von Anfang an bezahlt, ganz gut bezahlt, finde ich. Also sozusagen auf eigenen Füßen, noch in der Ausbildung, aber selbständig. Bei Friesberg.“
„Menschenskind! Bei Friesberg!“ Pölze war ganz erschlagen von dieser Aussicht, dieser Neuigkeit, diesem Namen, so erschlagen, daß sie das Vorherige darüber völlig vergaß. Herr von Friesberg galt als der beste Pferdemann der näheren und weiteren Umgebung (Tante Ulle, die gern etwas großspurig sprach, hätte gesagt: von Deutschland, wenn nicht von Europa), sein Gestüt hatte die besten Pferde. Dort angestellt zu werden, bedeutete die Erfüllung kaum gewagter Träume.
„Du hast doch hoffentlich gesagt ...“ Pölze, durch Sveas plötzliches Verstummen erschreckt, flüsterte das schnell und ängstlich. Svea lachte ein wenig.
„Natürlich habe ich. Das heißt, erst muß ich ja das Abitur machen. Das habe ich ihm selbstverständlich gesagt. Er wußte auch, daß ich in der Oberprima bin. Und ganz so, wie du denkst und wie es vielleicht klingt, ist es auch nicht. Er meinte, er würde mich gerne nehmen. Er hatte mich reiten sehen. Deshalb sei er überhaupt da. Onkel Hipp scheint ihm irgendwas erzählt zu haben.“
„Na und?“ fragte Pölze gespannt. Es klang gleichzeitig triumphierend. Svea lachte.
„Du meinst, so wie ich mit Rote Rose die Mauer gerissen habe, wer so großartig reitet, den nimmt er mit Handkuß.“
„Ach was, die Mauer. Es war ein großartiger zweiter Platz, und im Grunde bist du besser geritten als der Sieger.“
„Schnickschnack. Ich weiß genau, wie ich geritten bin. Den Graben habe ich schlecht genommen – und zu weit ausgeritten. Und sonst – na, reden wir nicht mehr darüber. Ich hab es nie gemocht, wenn man ein Schachspiel hinterher rückwärts spielt. Außerdem ist ein Schachspiel, bei dem man bei jedem Zug minutenlang überlegen kann, ein Kinderspiel gegen einen Parcours. Also kurz und gut, Friesberg machte mir dieses Angebot; nur meinte er, ich solle vorher – er sagte das nicht als Bedingung, sondern bat mich sozusagen um dies, als um eine Gefälligkeit – falls ich Ostern zu ihm kommen wolle ...“
„Ja?“
„Er verreise jetzt und könne sich nicht darum kümmern – ob ich ihm, wenn Onkel Hipp einverstanden wäre, einen vierjährigen Hengst zureiten wolle, hier, auf Rosenhof. Er würde ihn uns dann für ein paar Monate geben.“
„Etwa den Rochus?“ fragte Pölze blitzschnell.
Svea lachte. „Genau. Den Rochus. Sohn von Roland und Antigone. Was sagst du dazu?“
„Menschenskind!“ Nun mußte sich Pölze doch umdrehen. Sie sah Svea an. Sveas Gesicht war einen Augenblick lang ganz offen und strahlend stolz. Es war so, wie Pölze es sehr selten und andere Leute fast nie gesehen hatten.
„Wunderbar. Weiß Onkel Hipp es schon?“
Er ist heute deshalb hingefahren. Friesberg rief ihn vorhin an. Onkel Hipp platzt, kann ich dir sagen.“
„Und mit Recht! Der Rochus! Mein Gott, den hierzuhaben! Allein schon das! Svea, das ist einfach – der Rosenhof ist in Glanz getaucht, von dem noch die Enkel berichten werden.“
„Nicht wahr? Wenn er uns den Rochus gibt, das ist doch schon so gut, als hätte er mich angestellt“, sagte Svea jetzt hastig, ihr selbst ganz unähnlich, dringlich. „Findest du nicht auch, daß das so ist? Das ist sogar mehr als ein schriftlicher Arbeitsvertrag. Siehst du, und daraufhin ...“
„Daraufhin ...“
„Hm. Wie ich vorhin sagte.“ Svea war wieder so befangen, daß Pölze ihr aufs neue den Rücken zudrehte. Sie malte mit dem Bleistift in der Liste der Krankenversicherungen, ohne es zu merken, die Quadrate aus, schraffierte sie, eins nach dem andern – Onkel Hipp würde den Kopf schütteln.
„Du kennst ihn nicht. Ich habe ihn bei Tulla kennengelernt. Er ist Witwer, Conrad Toon heißt er, dreiunddreißig Jahre alt, zwei Söhne von fünf und acht Jahren. Einen Arm durch Unfall verloren, jetzt Angestellter einer Benzinfirma. Angenehmes Äußeres, gute Formen, Augen braun, Gesicht oval ...“, sie brach ab. Anders als auf diese Weise war es ja überhaupt nicht möglich, so etwas ‚Privates‘ auszusprechen. Nun war es heraus, Gott sei Dank. Pölze saß und sagte nichts.
„Findest du es sehr – übereilt von mir? Es ergab sich so“, murmelte Svea. „Ich kenne ihn noch nicht lange, aber ich weiß nun, wie er zu mir steht. Das weiß man eben. Aber ich bin ja nichts und kann nichts – außer Reiten“, setzte sie eilig hinzu. „Und er – ja also: Conrad – ja, er bekommt eine Rente wegen seines Armes. Sehr gern ist er nicht in seinem Beruf. Den ganzen Tag unterwegs, und immer mit Autoleuten zusammen – er ist Ostpreuße, weißt du. Er sehnt sich danach, wieder auf dem Lande zu wohnen, mit seinen Jungen zusammen, alles andere kommt erst in zweiter Linie. Ich kann ihm das nachfühlen. Neulich sagte er, er träume nachts oft von Weiden und Koppeln und Bäumen – und vom Haff natürlich. Dabei ist er absolut nicht sentimental, das darfst du nicht denken. Es kam auch nur durch Zufall heraus, das, was er mir da erzählte. Man sieht es ihm nicht an. Ich mag ihn sehr, sehr ...
Um die Jungen kann er sich natürlich auch nicht kümmern bei seiner vielen Reiserei. Er hat sie bei einer Tante untergebracht. Schon um der Jungen willen muß er wieder heiraten. Es sind zwei nette, frische Jungen, die mir gleich gefielen. Der kleinere ist ganz der Vater, na und der – nun ja.“
„Aber ...“
„Natürlich. Ich heirate ihn nicht, um die Jungen von der Tante wegzubekommen. Ich heirate ihn, weil – nun, weil ich ihn mag. Und jetzt kann ich es doch. Daß man nicht heiraten darf, ohne eine Familie unterhalten zu können, das wissen wir alle. Aber sein Einkommen und mein Gehalt bei Friesberg, das könnte gehen. Später ziehen wir dann zusammen und nehmen die Jungen zu uns. Zunächst würde er noch im Geschäft bleiben.“
Pölze schwieg. Svea verlobt! Das war ja eine tolle Sache! Sveas Stimme war leise, verhalten und eindringlich, als sie jetzt fortfuhr, und irgendwie klang sie auch beschämt, schuldbewußt:
„Es muß schrecklich sein, einen Beruf zu haben, zu dem man nicht paßt“, sagte sie.
„Weiß Onkel Hipp es schon?“ fragte Pölze nach kurzer Stille.
Svea schüttelte heftig den Kopf. „Keiner weiß davon. Ich habe ihm von Friesberg erzählt, ich war so froh über diese Aussicht, so unvernünftig glücklich. Und es ist doch auch so, als hätte ich diese Stellung schon sicher. Verstehst du, er hat das mit dem Rochus nicht etwa als Bedingung gestellt. Er hat erst von der Anstellung gesprochen und dann vom Rochus. Es ist also nicht so, daß er mich nur nimmt, wenn ich aus Rochus etwas mache.“
„Und selbst wenn! Denkst du, du kommst mit ihm nicht aus? Du kriegst ihn nicht hin?“ Jetzt hatte Pölze sich wieder umgedreht und lachte Svea ins Gesicht, so strahlend und siegessicher, daß Svea lachen mußte.
„Du meinst also, ich kann genug?“
„Willst du Lobeshymnen hören? Nein, ich weiß“, unterbrach sich Pölze schnell. „Svea, bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Wieviel Pferde hast du schon zugeritten und eingesprungen? Und Rochus ist doch nicht schwierig, soviel ich weiß.“
„Überhaupt nicht. Er ist ...“
„Erzähle doch. Du warst doch damals mit Onkel Hipp bei Friesbergs, hast du ihn da gesehen?“
„Ja, allerdings nur in der Box. Aber er muß wundervolle Gänge haben, bei der Schulter! Und er ist gehalten wie ein Kind, hat kein böses Wort gehört, nie einen Schlag bekommen. Er kam von der Krippe her zu mir und suchte nach Zucker, stieß mich an, frech, ganz unbefangen. Er ist eben nur noch vollkommen roh, unzugeritten, aber – ach! Pölze, ein solches Pferd ganz allein zureiten zu dürfen ...“
„Nicht wahr!“ seufzte Pölze aus tiefstem Herzen. Und da sagte Svea schnell, leise, beschämt, aber einmal mußte sie es doch aussprechen:
„Ich bin wahnsinnig glücklich, Pölze, du. Du kannst das verstehen, ja?“ Wobei ihr selbst wohl nicht klar war, ob sie das auf ihre Verlobung oder auf den Hengst Rochus bezog.
Gleich darauf war Tante Ulle eingetreten und hatte das Gespräch durch irgendeine schrecklich wichtige Nichtigkeit unterbrochen. ‚Wichtige Nichtigkeiten‘ waren ihre Stärke und zugleich ihr Charme, sie war darin unübertrefflich. Sie bekam dann kugelrunde Augen. Es war unglaublich nett, ihr zuzuhören und sie anzusehen, wenn sie schilderte, wie sie wieder einen Jungen beim Vogelnesterausnehmen erwischt habe. Es ersetzte einen Film. Einen solchen Erfolg wie heute aber hatte sie noch selten gehabt. Svea und Pölze lachten und lachten, während sie erzählte, sie lachten, daß sie nasse Augen bekamen, und brachten sie damit immer mehr in Feuer und Eifer. Schließlich sprang Pölze auf und fiel ihr um den Hals.
„Du bist die goldigste Ulletante der Welt“, lachte sie und drückte sie an sich. „Nicht wahr, Svea?“ Und Svea lachte und nickte auch.
„Ich bin wütend gewesen!“ stellte Tante Ulle sicherheitshalber noch fest. „Wirklich ehrlich wütend! Es ist doch unerhört, und ...“
„Eben! Natürlich! Gerade wenn du wütend bist, bist du goldig!“ rief Pölze. „Und jetzt, Tante Ulle, bringst du uns armen Kopfarbeitern etwas Wunderschönes zum Schlecken! Ja? Wir sind ausgehungert nach etwas Gutem – aber du mußt mithalten! Komm, ich geh’ mit dir in die Speisekammer, darf ich? Sieh mal, Svea arbeitet so konzentriert, und ich verrechne mich, wenn ich nicht genug Gehirnschmalz bekomme, wo ich Ärmste doch ohnehin schon meine ganze Jugend bei dieser trostlosen Buchführerei vertrauere!“
Sie hatte Tante Ulle untergehakt und zog sie mit sich, der Küche zu. Tantes lachender Protest kam gar nicht auf. Sie schalt, die Mädels seien verfressen und wollten sich nur etwas erschmeicheln, weil der strenge Hausherr einmal nicht da sei, aber das gebe es nicht, und ...
Pölze widersprach, aber nur nebenbei. Sie ließ Tante Ulle nicht richtig zum Zuge kommen und schwatzte das Blaue vom Himmel herunter.
Pölze fand sich selbst albern und unverständlich, deshalb war sie so froh, daß Tante Ulle gekommen war und dem Gespräch ein Ende gemacht hatte. Svea hatte etwas gesagt, was sie – so meinte Pölze zu wissen – seit undenklichen Zeiten nicht mehr über die Lippen gebracht hatte. Ihre Mutter war Schwedin gewesen, aber sie hatten sie früh verloren, und den Vater, Onkel Hipps Vetter, kurz danach. Sie sprachen auch nie mehr schwedisch miteinander, schon lange nicht mehr. Es war schade, denn man vergaß es auf diese Weise doch, wenigstens das richtige, flüssige Sprechen.
Die schwedische Sprache kennt keine Verkleinerungen, kein zärtliches ‚chen‘ oder ‚lein‘. Außerdem wäre das unmöglich bei einem so unmöglichen Namen, wie Pölze an sich schon war. ‚Pölzelein‘, brrr.
Svea war nie zärtlich, weder mit ihrer Schwester noch mit Onkel Hippolyt oder Tante Ulle oder sonst jemandem auf der Welt. Sie war es nur mit den Pferden. Rote Rose liebkoste sie, streichelte und klopfte ihren Hals und die Nüstern und sprach mit ihr, schmeichelnd und liebevoll, sanft und scherzend. Sonst aber sagte sie nie etwas Zärtliches, während sie, Pölze, ihr Herz mehr auf der Zunge trug. Sie liebte die Schwester und ließ das gern merken, sprach aus, daß sie Svea hübsch fand, schneidig im Sattel, wunderschön gewachsen und klug, viel klüger als sie selbst. Aber daß Svea sie, Pölze, liebte ...
Sie hatte es gesagt, ganz nebenbei, ohne es wahrscheinlich selbst zu wissen. Und das machte Pölze so übermütig vor Glück, beinahe noch glücklicher als die überwältigenden Nachrichten, die von Rochus (Pölze dachte jetzt unwillkürlich in dieser Reihenfolge), die von den beiden kleinen Jungen und schließlich die von der Verlobung. Natürlich freute sie sich auch darüber. Aber am meisten doch deshalb, weil Svea das gesagt hatte, was in ihrer beider Muttersprache so viel mehr bedeutet als im Deutschen, dieses kleine nebensächliche Du beim Namen. Svea hatte gesagt: ‚Pölze, du.‘
„Nanu?“ fragte Onkel Hippolyt. Die Stalltür stand offen, er war hereingekommen, ohne daß Pölze ihn bemerkte. Sie stand in der Box und striegelte den Hengst. Es war früh am Tage, aber die anderen Pferde waren schon fort. „Ich denke, das ist Sveas Aufgabe?“
„Ich hab es ihr für heute abgebettelt.“ Pölze hatte den Striegel in der Linken und strich die Kardätsche daran ab, klopfte ihn am Flankierbaum aus. Der Hengst mahlte genüßlich seinen Hafer und stand still und fromm. Pölze fuhr ihm den breiten, geraden Rücken entlang, während ihre Augen vor Bewunderung und Zärtlichkeit glänzten.
„Findest du nicht, daß er ganz die Mutter ist? Ganz Ostpreuße? Der Vater ist ja Hannoveraner. Aber sieh mal den Kopf! Und die Gänge, Onkel Hipp! Hast du ihn gestern gesehen?“
„Freilich“, sagte Onkel Hippolyt und lachte.
Jeder auf dem Hof hatte Rochus gesehen, gestern, als Svea ihn longierte, von Tante Ulle angefangen über die Hausmädchen, die Gutsarbeiter, den Schäfer bis hin zum jüngsten Hofkind. Es war ein Auflauf gewesen. Svea hatte ihn noch nicht geritten, aber was für Gänge er hatte, wie er die Beine aus der Schulter warf, das hatte man auch beim Longieren schon feststellen können. Es war beinahe Stechschritt. Ein solches Pferd hatten sie noch nie auf dem Hof gehabt.
„Wirst du ihn auch reiten, Onkel Hipp?“ fragte sie jetzt. Sie stand gebückt und kratzte die Haarbüschel an den Sprunggelenken sauber, an denen noch etwas getrockneter Lehm hing. Sie hatten den Hengst gestern auf schwerem Boden gehen lassen, weil er lange gestanden hatte. Er hatte unheimliche Kräfte.
„Vorsicht – du kennst ihn doch noch gar nicht“, warnte Onkel Hippolyt, als sie sich wieder bückte. Pölze lachte.
„Keine Sorge. Er ist rührend, läßt alles mit sich tun. Er ist – Onkel Hipp, ich glaube für so ein Pferd könnte man seine Seele verkaufen.“
„Du bist verrückt“, sagte Onkel Hipp freundlich. Er selbst wandte keinen Blick von dem Hengst. Pölze redete weiter, während sie mit der Kardätsche nachging.
„So, mein Guter, ja, siehst du, nun haben wir wieder saubere Schuhe. Er ist noch nicht beschlagen, Onkel Hipp. Meinst du, daß wir es tun sollen? Wenigstens vorn? – Komm, jetzt wollen wir dich kämmen.“
Sie reichte gut hinauf bis zum Stirnhaar, als sie sich jetzt reckte. Ach ja, sie war mindestens eine Handbreit größer als Svea, und es sah hübsch aus, wie sie so mit dem Pferd hantierte.
„Siehst du, so, und nun die Mähne. Sogar Locken hat unser kleiner Junge. – Nein, es gibt noch nichts, erst, wenn wir fertig sind!“