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Das Einzige was wirklich zählt, ist das, wonach dein Herz sich sehnt
Der mitreißende Boys Love Roman für Fans von LGBTQ+ Geschichten
Rusty Baker ist ein blonder, reicher Football-Spieler, für den seine Eltern bereits das perfekte Leben geplant haben. Obwohl er weder ein Womanizer noch karriere-orientiert ist, versucht er, ihren Erwartungen gerecht zu werden. Doch als Rusty im letzten Jahr der High School Oliver trifft, einen Jungen aus völlig anderen Verhältnissen, entwickelt sich eine unerwartete Freundschaft. Oliver ist der Einzige, bei dem Rusty sich nicht verstellen muss, und er spürt eine unerklärliche Anziehung zu ihm. Während der Druck von außen zunimmt und Rusty sich mit den Herausforderungen der Universität, seinem neuen Mitbewohner sowie seinen verwirrenden Gefühlen für Oliver herumschlagen muss, wird die Situation immer belastender und dann stellen sich auch noch seine Eltern gegen ihn. Schneller als er sich versieht, ist Rusty obdachlos, mit nur einer Person, die ihm helfen kann ...
Erste Leser:innenstimmen
„Ein mitreißender Liebesroman, der die Macht der Freundschaft und Selbstfindung zelebriert.“
„Eine fesselnde Gay Romance über die Überwindung von Vorurteilen und die Entdeckung der wahren Selbstliebe.“
„Die Liebesgeschichte zwischen Rusty und Oliver ist voller Höhen und Tiefen, die einen nicht mehr loslassen.“
„Die Chemie zwischen den beiden Protagonisten ist elektrisierend, und ihre Reise hat mich emotional zutiefst berührt.“
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Seitenzahl: 398
Rusty Baker ist ein blonder, reicher Football-Spieler, für den seine Eltern bereits das perfekte Leben geplant haben. Obwohl er weder ein Womanizer noch karriere-orientiert ist, versucht er, ihren Erwartungen gerecht zu werden. Doch als Rusty im letzten Jahr der High School Oliver trifft, einen Jungen aus völlig anderen Verhältnissen, entwickelt sich eine unerwartete Freundschaft. Oliver ist der Einzige, bei dem Rusty sich nicht verstellen muss, und er spürt eine unerklärliche Anziehung zu ihm. Während der Druck von außen zunimmt und Rusty sich mit den Herausforderungen der Universität, seinem neuen Mitbewohner sowie seinen verwirrenden Gefühlen für Oliver herumschlagen muss, wird die Situation immer belastender und dann stellen sich auch noch seine Eltern gegen ihn. Schneller als er sich versieht, ist Rusty obdachlos, mit nur einer Person, die ihm helfen kann ...
Erstausgabe 2013 Überarbeitete Neuausgabe Juni 2024
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-014-3
Copyright © 2013, Amy Lane Titel des englischen Originals: Christmas Kitsch
Copyright © 2017, Cursed Verlag Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2017 bei Cursed Verlag erschienenen Titels Rustys Traum vom Glück (ISBN: 978-3-95823-119-1).
Übersetzt von: Vanessa Tockner Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Parsadanov elements.envato.com: © MalyskaStudio
E-Book-Version 30.07.2024, 10:03:23.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Für Mate.
Das ist unser 25. gemeinsames Weihnachten und wir haben noch so viele gemeinsame Pläne.
Für meinen Hexenzirkel – kichert nicht, meine Damen, ihr werdet einen Kegel der Macht beschwören, der die Sterne auslöscht. Nutzt eure Kräfte nur für das Gute.
Das war irgendwie ein Schock. Ich meine, ich hätte zu Thanksgiving nach Hause kommen, nicht einen Monat vor Weihnachten auf der Straße landen sollen. Wenn ich gemein wäre, hätte ich Oliver die Schuld dafür gegeben, aber das konnte ich nicht. Ich meine … man kann Oliver nicht wirklich die Schuld an irgendetwas geben. Er ist einfach viel zu nett. Deshalb waren wir seit unserem zwölften Schuljahr auch ständig zusammen. Ich meine, mit den anderen Clowns hing ich schon mein ganzes Leben lang ab. Kindergarten, Grundschule, Mittelschule – man hätte unsere Sportler-Gene in einen Mixer werfen und mehr oder weniger alle Bauteile austauschen können. Wir waren auswechselbar. Weiße Jungs mit blauen/grünen Augen, sandblonden/sandbraunen Haaren, gutem Knochenbau, guter Ernährung – irgendeine teutonische Verschwörung, um eine Football-Mannschaft in den neureichen Vororten im Vorgebirge zu produzieren, das waren wir. Ich meine, ich habe braune Augen und blonde Haare und kam einer ethnischen Minderheit damit näher, als es unsere Highschool je erlebt hatte.
Bis Oliver kam.
Oliver tauchte Anfang September in meinem zwölften Jahr auf, schlank, braun auf braun auf braun. Dunkelbraune Haare, die so geschnitten waren, dass die langen Stirnfransen sein schmales Gesicht umrahmten, dunkelbraune Augen mit dichten, dichten Wimpern und hellbraune Haut. Er saß lässig und still hinten in Mr. Rochesters Kurs für englische Literatur und beäugte uns mit einer Art milder Belustigung.
»Yo, Rusty«, rief Clayton zu mir hinüber, als ich mich an meinen Platz neben dem Neuen setzte. »Was ist der Neue?«
Ich sah Clayton ausdruckslos an. Er war einer von diesen großen, weißblonden Jungs mit einem Gesicht, das rot anlief, wenn er sich anstrengte. Er spielte in der Defensive Line der Football-Mannschaft und sein Vater verkaufte Versicherungen. Außerdem war er ein sadistischer Scheißer, der gerne Neuntklässler einschüchterte, indem er sie gegen Spinde stieß und beschimpfte, bis sie heulten. Dieser Mist war irgendwie lustig gewesen, als wir in der Zehnten gewesen waren, aber meine kleine Schwester hatte mir erzählt, dass der letzte, mit dem er das getan hatte, die Schule wechseln und zum Seelenklempner musste, und es ist schon echt schlimm, so etwas einem Kind anzutun.
Plötzlich fiel mir ein, dass der dunkle Junge, der in einer Ecke des Raums hockte, ein ideales Ziel für Clayton war, aber er sah zu uns herüber, ganz amüsiert, als wäre ihm das total egal, und das hätte ihm in dem Moment vielleicht etwas Schutz geboten. Mir gefiel das. Es war ihm egal. Das letzte Mädchen, mit dem ich ausgegangen war, war so begeistert gewesen, mit einem Footballspieler zusammen zu sein, dass sie sich buchstäblich vor dem Abendessen über mich hergemacht hatte, und, na ja, ich hatte sie gern gehabt, aber ich war nicht sicher gewesen, ob ich sie so gut kennenlernen wollte. Hungrig war ich auch gewesen. Ich hatte sie irgendwie von meinem Schritt weggezogen und gefragt, ob wir Steak essen gehen könnten. Ich glaube, ich hatte ihre Gefühle verletzt – beim Essen hatte sie nicht viel gesagt und meinen Kuss auf die Wange hatte sie ertragen, als wäre er eine Beleidigung oder so.
Als der Junge uns also freundlich anlächelte, aber nicht sabberte oder Angst vor uns hatte – das war irgendwie nett.
Es gefiel mir nicht, wie Clayton in Verbindung mit diesen lachenden braunen Augen Was sagte.
»Was meinst du mit Was?« Ich bin nicht so intelligent, aber ich wusste, dass mir die Antwort darauf wahrscheinlich ebenso wenig gefallen würde.
»Ich meine, ist er Indianer, Mex, schwarz, was?«
Da hob ich mit einem Ruck den Kopf. Meine Mutter war zwar nicht der herzlichste Mensch des Planeten, aber sie war nicht einverstanden damit, wenn wir so unhöflich waren.
»Wer zum Teufel hat dich denn erzogen?«, schnappte ich angewidert. »Gott, er ist ein Mensch. Lass ihn verdammt nochmal in Ruhe!«
Clayton rollte die Augen in meine Richtung. »Oh mein Gott, Baker, kannst du dich noch mehr wie eine Märchenprinzessin aufführen?« Aber das war in Ordnung. Er war so sauer auf mich, dass er den Jungen vergessen hatte, der unser Geplänkel verfolgte wie ein Tennismatch.
»Siehst du etwa, wie ich dir im Kleid einen blase?«, fragte ich und unsere Mitschüler kicherten. Clayton wurde rot (röter) und funkelte mich an, als der Lehrer hereinkam. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und schenkte dem Jungen ein ermutigendes Grinsen.
»Jetzt sollte er dich in Ruhe lassen«, sagte ich leise, während Mr. Rochester auf die erste Übung an der Tafel zeigte. »Siehst du das? Das ist die Seitenzahl. Es gibt eine kurze Aufgabe in unserem Grammatikbuch, die wir machen, und dann korrigieren wir sie.«
»Danke«, sagte der Junge. »Aber weißt du, ich bin schwul. Ich steh nicht so auf das Prinzessinnenkleid, aber wenn er kein Arschloch wäre, hätte ich nichts dagegen, ihm einen zu blasen.«
Und das war Oliver.
Ich saß mit offenem Mund da, während die anderen ihre Bücher herausholten und mit der Aufgabe begannen. Nach etwa einer Minute sah mich der Junge von der Seite an und ich entdeckte endlich einen Hauch Unsicherheit in ihm.
»Noch nie eine Schwuchtel getroffen?«, fragte er und wieder setzten sich die guten Manieren durch, die unter Schmerzen in die harten Schädel von mir und meiner kleinen Schwester geprügelt worden waren – mehr oder weniger von der Wiege an.
»Nein«, sagte ich ehrlich, »aber meine Mutter würde nicht erlauben, dass ich dieses Wort benutze.« Ich war auch nicht sicher, ob sie einen Homosexuellen an unserem Tisch erlauben würde, aber so war meine Mutter nun mal.
Der Junge sah mich eine Minute lang nachdenklich an. »Okay, wenn wir das Wort vom Tisch lassen, könntest du dann dafür sorgen, dass ich in der Mittagspause nicht in den Mülleimer gesteckt werde?«
Ich grinste ihn an. »Das krieg ich hin. Kann ich abschreiben, wenn du die Grammatikaufgabe fertig hast? Mit dem großen, bösen Wort hast du mein winziges Hirn durcheinander gebracht.«
Der Junge lachte und gab mir seinen Zettel, sodass ich ganz schnell abschrieb, bevor Mr. Rochester mich aufrufen konnte. Da sah ich seinen Namen: Oliver Campbell, was weder hispanisch noch indianisch war, aber afroamerikanisch sah er auch nicht wirklich aus.
An dem Tag saß ich in der Mittagspause bei ihm und ein paar meiner Freunde setzten sich zu uns. (Nicht Clayton – der hatte seine eigene Schlägertruppe, und das war eine Erleichterung.) Versteht mich nicht falsch, meine Kumpel schikanierten Oliver. Brian Halliday fragte ihn, ob es ihm einen Kick gab, bei uns Footballspielern zu sitzen, weil wir so muskulös waren. Oliver musste ihn nur von oben bis unten ansehen und sagen: »Ich bin vielleicht schwul, aber ich hab bessere Standards«, und schon grinste Brian und redete von Cheerleadern.
Sie gaben sich weiterhin Mühe, aber Oliver war hervorragend darin, die Augen zu verdrehen oder etwas zu sagen, dass genauso gut war, und dann gingen meine Kumpel aufeinander los und ließen ihn in Ruhe.
Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist es schon traurig. Ich dachte, ich würde mit ein paar ganz netten Jungs abhängen. Ich dachte, wir wären zwar verwöhnt und behütet, aber das war nicht wirklich unsere Schuld. Ich meine, ich war stolz, weil wir mit jemandem zusammensaßen, der neu und anders war, ohne ihn angespitzt in den Boden zu rammen. Das war es, worauf ich stolz war – wirklich erbärmlich, oder? Dass mein Freundeskreis Leute nicht allzu sehr mobbte? Aber es war etwas, woran ich mich festhalten konnte, wenn auch nur ein wenig. Ich brauchte all den Stolz, den ich finden konnte, denn ich wusste, dass das College wie eine große Dampfwalze näherkam, um mich in den verfickten Grund und Boden zu stampfen.
***
Seht mal, ich weiß, dass ich nicht der Hellste bin. Ich meine, gebt mir Zeit, ein paar Hinweise, ein Beispiel und in Stein geritzte Anweisungen und ich kann fast alles durchstehen.
Anders als Oliver. Er hat etwas Flinkes an sich.
Wenn er geht, streckt er die Ellbogen in fließenden, anmutigen, kleinen Bewegungen zur Seite heraus, und wenn er redet, huschen seine Hände um sein Gesicht und seine Schultern herum wie Fische. Er kann Witze erzählen, die zwar blöd, aber richtig lustig sind, und rattert den Witz und dann die Pointe herunter und bevor ich überrascht lachen kann, weil er mich immer überrascht, ist er schon beim nächsten Witz.
»Hey, Rusty, warum geht das Huhn gaaanz laaangsam über die Straße?«
»Warum?«
»Weil es nicht an Autos glaubt. Warum nimmt das Eichhörnchen auf der Straße die Beine in die Hand?«
»Haha … nicht an Autos glaubt … warte, warum?«
»Weil es sehr wohl an die Geister vergangener Hühner glaubt.«
»Warte, liegt das daran, dass die verdammten Dinger immer auf der Straße ge…«
»Was sagt der Werwolf in der Vollmondnacht zum Vampir?«
»Ich hab keine Ahnung.«
»Gleich wird es haarig. Was sagt der Vampir, als er den Poolsauger bekommt?«
»Haarig! Hah! Äh, ich weiß nicht …«
»Ick vill deine Schlamm saugen.«
Und so weiter. Wir konnten ein ganzes Mittagessen so verbringen, Oliver warf einzelne Sätze wie Feuerwerkskörper über die Schulter und wir tanzten in seinem Windschatten. Meistens wusste er, was die Hausaufgaben sein würden, bevor Mr. Rochester mit seinem üblichen Witz über seinen eigenen Namen fertig war.
»Wir sollen die Allegorie in Jane Eyre finden, oder?«
»Sehr gut, Oliver. Wie hast du das erraten?«
»Weil niemand einen Kerl St. John nennt, außer er oder sie will etwas über Heilige sagen – besonders wenn es der Kerl ist, der für einen Kerl mit dem Namen, der wie ein Stein klingt, fallengelassen wird.«
Die ganze Klasse lachte darüber, mich eingeschlossen, aber am nächsten Morgen musste ich mir etwas Zeit im Badezimmer nehmen, um über Gott nachzudenken, bevor ich fertig war, mir den Mund ausspülte und sagte: »Moment mal. Dieser St. John war nicht wirklich warm und Mr. Rochester war richtig hart und gut … War es das, was Oliver gemeint hat?«
Also, Oliver – verdammt schnell. Ich – verdammt langsam. Er hätte mich auslachen sollen, oder? Mich als dummen Sportler abschreiben und sich dann mit den Supernerds zusammentun sollen, die Anime schauten, oder mit den Mädchen, die Yaoi lasen. Aber das tat er nicht. Ich schätze, weil ich nett zu ihm gewesen war, obwohl ich es nicht hätte sein müssen, verbrachte er die zwölfte Klasse damit, sich für den Gefallen zu revanchieren.
Am Ende des Schuljahres, nachdem er mir geholfen hatte, für die SATs zu büffeln, während meine Footballfreunde sich irgendwo betrunken hatten, war ich wirklich verdammt dankbar.
Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich die SATs gründlich verbockt hatte. Meine Ergebnisse waren (das hatte Oliver gesagt und ich hatte einen weiteren Morgen im Badezimmer gebraucht, um es zu verstehen) toilettastisch! Ich hatte mich in Berkeley und Stanford beworben, weil meine Noten ziemlich gut waren und mein Alter mich dazu gezwungen hatte, aber erst als ich die zweite Hälfte der SAT-Ergebnisse sah, erkannte ich, was für ein dummer Muskelprotz ich war.
Es war mir so peinlich, dass ich Oliver einen ganzen Tag lang nicht in die Augen sehen konnte. Ich versetzte ihn beim Mittagessen und die meisten anderen Jungs wären verletzt und zickig gewesen und hätten sich bei ihren Freunden beschwert, was für ein arrogantes Arschloch ich war, aber nicht Oliver.
»Was zum Teufel ist los mit dir?«
Er hatte mich ausgerechnet in der Umkleide in die Enge getrieben, da ich als Wahlfach in der sechsten Stunde Sport hatte wie der dumme Sportler, der ich ja war.
»Was meinst du?« Ich wusste genau, was er meinte, aber nicht, was ich darauf sagen sollte.
»Du mailst am Wochenende nicht, du redest heute nicht mit mir ‒ komm schon, Rusty, ich dachte, wir wären Freunde.« Seine schwarzen Brauen waren über seinen Augen zusammengezogen und er machte einen formvollendeten Schmollmund. Er sah süß aus, wie ein kleines Kind, und ich wollte ihn umarmen und ihm sagen, dass alles in Ordnung war, und den Wutanfall wegmachen.
Stattdessen sah ich auf meine Zehen hinab und zog das Handtuch enger um meine Hüften. Ich hatte keine Angst davor, dass er mich abcheckte – ich war schon öfter nackt vor Mädchen gewesen und na ja, inzwischen war ich nicht mehr aufgeregt –, aber ich fühlte mich auch im Inneren nackt und das war neu.
»Nichts, ich … du weißt schon. Du …« Da ging mir ein Licht auf – eine Wahrheit, die ich ihm erzählen konnte, die bewirken würde, dass er seine Zeit nicht mit mir verschwendete. »Es gibt intelligente Leute, zu denen du dich setzen kannst.« Und dann sah ich auf und erwiderte seinen Blick und lächelte, denn ich war stolz darauf – ich klang zwar wie ein Arschloch, aber es bedeutete auch, dass er seine Zeit nicht mehr mit mir verschwenden würde.
Da passierte etwas Seltsames mit seinem Gesicht. Er kniff ein Auge zusammen und schürzte die Lippen und atmete durch die Zähne ein. Seine Vorderzähne waren etwas groß und seine Eckzähne ein wenig nach hinten verschoben – als hätte er vielleicht eine Zahnspange haben können, aber nicht so schlimm, dass er eine brauchte, also hatte er keine. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn und öffnete ihn wieder und dann verengte er misstrauisch die Augen.
»Hast du deine Ergebnisse nicht zurückbekommen?«
Oh Gott. Es war, als hätte er meine Gedanken gelesen. Ich sah wieder auf meine Zehen – ich habe richtig lange Zehen, passend zu, nun ja, ihr wisst schon. Will ja nicht angeben. »Ähm …«
»Wie schlimm?«, fragte er und seine Stimme war absurd sanft.
»Ich will nicht darüber reden«, sagte ich und schob meinen mittleren über meinen großen Zeh. In der Position konnte ich auch damit wackeln.
»Das ist ziemlich schlecht. Was hat dein Dad gesagt?« Wir wussten beide, dass mein Dad eine Vision hatte: ich an irgendeinem großen College mit der passenden Jacke, die mich als Sportler auszeichnete, oder so.
Und das war der Teil, bei dem sich mir auf dem feuchten Beton buchstäblich die Zehennägel aufrollten. »Er hat gesagt, wir können Beziehungen spielen lassen. Damit ich trotzdem nach Berkeley komme. Hat gemeint, dort müsste ich dann wirklich lernen, weil dieser nachlässige Mist nicht reichen würde.«
Ich war überrascht, als seine Springerstiefel in mein Blickfeld kamen und eine Hand mich unbeholfen an der Schulter berührte. »Das tut mir leid, Rusty.«
Ich schüttelte sie ab und fühlte mich danach noch schlimmer, und ignorierte das Kribbeln auf meinem Arm, wo Oliver mich berührt hatte. »Ich weiß gar nicht, warum es dir leid tut. Du bist nicht der Idiot, der seine ganze verdammte Zeit hineinstecken musste, um Lesen und Schreiben zu lernen. Du bist es, der nach Berkeley gehen sollte, stattdessen gehst du auf ein Junior College.«
Ich drehte mich zu meinem offenen Spind, zog mein Handtuch um meine Taille fest und begann, meine Hose, die Tennisschuhe und mein Tanktop herauszuholen, damit ich mich anziehen und Oliver nach Hause fahren konnte. Er wohnte etwas weiter von meiner Nachbarschaft entfernt – tatsächlich bin ich ziemlich sicher, dass er nur wegen der Leistungskurse auf meine Schule gewechselt hatte –, aber das Haus selbst war nagelneu. Es war klein und weiß gestrichen und rote und pinke Blumen wuchsen an dem weißen Zaun hinauf, der den Garten umschloss. Von meinem üblichen Platz im Auto, wenn ich ihn absetzte, konnte ich vier winzige Hunde sehen, die immer vor Freude ausflippten, wenn Oliver nach Hause kam, und allmählich konnte ich sie verstehen. Wie auch immer, normalerweise ließ ich Oliver vor dem Gartentor seines kleinen Hauses aussteigen und da ich ein Auto hatte, was bedeutete, dass er nicht den Bus nehmen musste, hatte ich kein Problem damit.
»Ja«, stimmte Oliver zu, immer noch in der Umkleide. »Berkeley wäre toll, ungelogen. Aber am Junior College hab ich die Möglichkeit, etwas Praktisches zu lernen, und ich bin verdammt dankbar. Rusty, es wird dich umbringen, wenn du dorthin gehst und nicht bereit bist. Sehen sie das denn nicht?«
Ich lehnte meine Stirn gegen den Spind und schluckte, versuchte, durch die Panik hindurch zu atmen. »Ich werde es schon schaffen«, log ich. »Du kennst mich. Mit etwas Zeit und einer Anleitung kann ich die verfickte Welt erobern.«
»Ja«, sagte er, aber er klang nicht optimistisch.
Eine Woche danach fragte er mich, ob ich in diesem Sommer für seinen Dad arbeiten wollte, Teilzeit oder Vollzeit, meine Entscheidung. Sein Dad war Bauunternehmer und ich würde richtig einfachen Kram machen – Bretter tragen, kehren, den Männern mit Nagelpistolen und Schraubenziehern, die Gerüste bauten oder Trockenbauwände schmirgelten, Wasser bringen. Es war nicht viel, aber, nun ja, bei dem anderen Job, den ich in Aussicht hatte, würde ich für meinen alten Herrn oder einen anderen alten Herrn (denn wir wurden getauscht wie Actionfiguren) in einem Büro sitzen und mit Papieren rascheln.
Und jetzt ratet mal, was sich besser anhörte?
Nicht, dass der alte Herr meine Meinung teilte.
»Rusty, dieser Job könnte dir wertvolle Kontakte bescheren, egal für welche Branche du dich entscheidest …« Dads Haare waren braun und grau geworden, aber ich hatte Fotos gesehen. Früher waren sie blond wie meine gewesen, sonnengebleicht und mit rotbraunen Untertönen. Außerdem hatte er immer ein Lächeln auf den Lippen gehabt, aber die waren jetzt viel dünner. Ich erinnerte mich nicht daran, ihn in letzter Zeit lächeln gesehen zu haben.
»Aber Dad, bei diesem Job braucht man keinen Anzug.«
»Na ja, vielleicht bist du alt genug, um tatsächlich an deine Zukunft zu denken anstatt an das nächste Mädchen oder den nächsten schönen Tag. Hast du mal daran gedacht?«
Ich hatte seit dem Mädchen, das lieber Schwanz als Abendessen haben wollte, keine Freundin mehr gehabt. Es schien einfach nicht die Mühe wert zu sein, ihnen zu erklären, dass sie sich nicht um meine Bedürfnisse kümmern mussten. Und es besorgt zu bekommen war nicht mehr so spaßig wie früher – andererseits war das Beste an weiblichen Freunden sowieso immer gewesen, dass man gemeinsam ins Kino gehen konnte. Aber na ja, Dad hatte seine Vision von mir, und anscheinend war es die eines Football-Sportstar-Superfickers.
»Dad«, sagte ich und versuchte, erwachsen zu klingen. »Weißt du, vielleicht ist dieses … dieses Ding, das du für meine Zukunft vorbereitet hast … vielleicht passt das nicht wirklich zu mir. Hast du mal daran gedacht? Ich meine, ein Collegeabschluss, das verstehe ich, aber vielleicht nicht gleich Berkeley – vielleicht ein Junior College und etwas Lebenserfahrung, meinst du nicht?«
»Russell, wir spielen hier keine Spielchen – das ist dein Leben. Du gehst auf ein gutes College, knüpfst Kontakte und gehst arbeiten. Warum glaubst du, dass sich das geändert hat?«
Ich öffnete den Mund, genau wie Oliver, und schloss ihn und öffnete ihn wieder. »Ich … ich meine, ich bin nicht gerade gut in der Schule – weißt du, es gibt viele technische und Berufscolleges für Leute, die nicht, du weißt schon …«
»Du studierst nicht am Western Career College«, bellte mein Dad und ich grinste und versuchte, das Lächeln von ihm zu bekommen, an das ich mich vage aus meiner Kindheit erinnerte.
»You can doit!«, sang ich die Werbung nach, doch anscheinend war es falsch, genau das zu singen, denn Dad verdrehte die Augen und ging davon.
Also versuchte ich es bei Mom.
In manchen Häusern wäre Mom ein sicherer Treffer, richtig? »Oh, Liebling, natürlich. Ich verstehe, dass du dich überwältigt fühlst und gerne sehen würdest, ob etwas weniger Intellektuelles vielleicht besser für deine Zukunft wäre.« Oder, ihr wisst schon, wenigstens etwas wie »Ja, geh raus und schwitz in der Sonne, du bist achtzehn, wen kümmert es?«, oder? Aber in meinem Haus war es nicht so. Mom war nicht der sichere Treffer; es war eher so, dass sie besser darin war, zu kalkulieren, was für sie heraussprang.
»Wofür wirst du dein Geld ausgeben?«, fragte sie und sah mich aus verengten braunen Augen an, als wollte sie den besten Winkel finden. Ich hatte ihre Augen bekommen, aber mit meinen stimmte etwas nicht. Sie waren breiter und nichts an mir sah aus, als hätte ich irgendetwas mit Winkeln zu tun. Bei mir ging es eher um definierte Muskeln und Ziegelmauern.
Ich blinzelte. »Ich weiß nicht. Kleidung, das Auto – ich meine, ihr zahlt ja für alles andere. Vielleicht spare ich es und sehe, was ich brauche.«
Sie nickte nachdenklich. Sie arbeitete Teilzeit von zu Hause. Sie hatte einen Abschluss in Finanzwesen und war bei einer Daytrading-Firma angestellt. »Das hört sich klug an«, sagte sie. »Und ich denke, sobald du einige Zeit lang körperliche Arbeit machst, verliert sie vielleicht ihren Charme.«
Als. Ob.
Bester Sommer meines Lebens. Oh mein Gott, gebt mir einfache Aufgaben und eine logische Abfolge und ich bin ein glücklicher Junge. Und wisst ihr, was ich nach etwa dem ersten Monat herausfand? Ich fand heraus, dass ich, sobald ich verstand, wo ich war und was ich tat, sobald ich mich an alles gewöhnt hatte, selbst denken konnte.
Als jemand an meinem dritten Tag einen Eimer voller Nägel mitten auf meinem Weg stehen ließ, ging ich darum herum. Am sechsten hob ich ihn hoch und stellte ihn zur Seite. In der zweiten Woche, die ich dort war, fand ich den Mann mit der Nagelpistole und stellte den Eimer neben ihn. In der dritten Woche sah ich nach, ob der Eimer voll genug war, und füllte ihn auf, wenn nötig. Dann fragte ich den Mann mit der Nagelpistole, ob er mir zeigen konnte, wie man sie benutzte, und bis zum zweiten Monat konnte ich den Kerl mit der Nagelpistole ablösen und dann, wenn er wieder zurückkam, um sein Ding zu machen, ging ich zu dem Kerl, der die Trockenbauwand schmirgelte und fragte ihn, was genau er eigentlich machte.
Sie hielten mich für ein verdammtes Genie. Es war toll. Nach der ersten Woche hatten sie mich Vollzeit angestellt.
Und Olivers Dad konnte nicht genug von mir bekommen. Ich liebte den Kerl! Als ich den Eimer mit Nägeln wegstellte, sagte er gute Arbeit. Als ich dann die Pistole benutzte, erklärte er, dass ich ein Naturtalent war, und fragte mich nach meiner Meinung und zeigte mir, wie man die Werkzeuge benutzte, und so weiter. Er war wunderbar. Ich meine, mein Dad hätte wahrscheinlich nicht viel von ihm gehalten. Er war ein kleiner Latino mit schwarzen Haaren, die schon eisengrau wurden, fleischigen Unterarmen und einer etwas breiteren Mitte. Er hatte einen buschigen Schnurrbart und verblasste Tattoos auf seiner wettergegerbten, braunen Haut, aber nicht ein Tag verging, an dem er mich nicht fragte, wie es mir ging, und mir – und allen anderen auf der Baustelle – sagte, was für eine gute Arbeit wir machten, oder unsere Meinung wissen wollte oder uns Bescheid sagte, wenn wir Tempo machen sollten und warum.
Oliver kam in seiner Mittagspause auf die Baustelle – er arbeitete in der Bibliothek und es schien ihm irrsinnig zu gefallen – und brachte uns Sandwiches und erzählte lustige Geschichten und stellte sicher, dass wir viel Wasser tranken. Ich wollte Limonade, aber Oliver, er sagte, dieser Mist wäre schlecht für mich.
»Mann, ich weiß, aber ich trinke schon mein ganzes Leben lang Wasser; ich will etwas, das schlecht für mich ist, ohne dass ich Kopfschmerzen davon bekomme.« Meine Mom ließ nicht zu, dass Estrella leckere Säfte in unsere Lunchpakete tat. Wir bekamen immer diesen Luxusmist, der wie Dreck schmeckte, aber gut für uns war.
Oliver musterte mich über seinen Trockenweizentoast mit Truthahn hinweg. »Na ja, wenn du davon keine Kopfschmerzen bekommst und dich gut fühlst, dann ist es gut für dich, oder?«
Da kam mir ein Gedanke: Wenn ich sein kleines, ovales Gesicht nur ansah, mit den leuchtenden schwarzen Augen, die mich anstarrten – das war gut für mich.
»Ja«, sagte ich und vergaß mein Essen. »Ja. Gut für mich.«
Ich weiß nicht mehr, was er danach sagte. Ich erinnere mich sehr wohl, dass ich ihn dazu überredete, nach der Arbeit zum Schwimmen zu mir zu kommen, daran erinnere ich mich, und nachdem er lachend zugestimmt hatte und wieder gegangen war, sah mich sein Dad mit zur Seite geneigtem Kopf an.
»Ich dachte, Oliver hätte gesagt, du wärst nicht diese Art Freund«, sagte er leise.
Ich sah ihn ausdruckslos an. »Welche Art Freund?«
Arturo Campbell, dessen Dad weiß und dessen Mom aus Venezuela war (das wusste ich, weil er es mir bei unserer ersten Begegnung erzählt hatte, was lustig war, denn ich bin überhaupt nicht neugierig), schüttelte den Kopf. »Junge, ich glaube, das wird die Eine-Million-Dollar-Frage für dich werden, weißt du?« Bevor ich uns beide jedoch mit dem Versuch, das zu verstehen, in Verlegenheit bringen konnte, obwohl wir beide wussten, dass ich dazu nicht fähig war, nahm er mir die Serviette und die Wasserflasche ab. »Morgen bringe ich dir Limonade. Nur eine. Ich denke, du hast eine lausige, kleine Limonade verdient.«
Also kam Oliver an diesem Nachmittag zu mir und schwamm, nass und geschmeidig wie ein Otter. Er bewegte sich mit denselben sparsamen Bewegungen, mit denen er ging und redete. Meine Mom sah ihn und lächelte zum Gruß, dann ging sie davon. Mein Vater ging ins Haus und wieder hinaus, ohne auf seine Anwesenheit zu reagieren. Meine Schwester war in der Neunten – sie wusste alles über Oliver. Während wir in dem kühlen Wasser unter der stickigen Hitze schwammen, kam sie heraus und fragte ihn, ob er gerne shoppen ging. Als er Nein sagte, prustete sie verächtlich.
»Wofür war das?«, fragte er und lächelte sein unschuldiges, weißes Lächeln zu ihr hoch. Sie stand am Rand und er war im Pool. Ich war auf der tieferen Seite, strampelte und hoffte, dass meine kleine Schwester nicht gemein zu ihm sein würde, damit ich mich nicht wie ein Dreijähriger aufführen und Mom rufen musste, um sie zu vertreiben.
»Das war dafür, dass du die falsche Sorte Schwuler bist. Gott, wofür haben wir denn Stereotypen?«
Ich kicherte, weil sie so clever war, und Oliver lachte so heftig, dass er mit seinen otterschnellen Händen Wasser verspritzte. »Na ja, vor allem, um sie den Leuten, die sie benutzen, selbst vor die Nase zu halten«, sagte er. »Aber in einem Buchladen würde ich schon shoppen gehen, wenn das zählt.«
Nicole zog ihr T-Shirt aus und ließ es auf die Bretter fallen. Sie trug einen einfachen blauen Badeanzug, weil sie etwas kurvig war und Mom sagte, dass es stilvoll war. Plötzlich hatte ich irgendwie Sehnsucht danach, sie in einem Bikini mit Paisleymuster zu sehen – nicht, weil ich ein kranker Lüstling war oder so, sondern weil Nicole viel zu interessant für den schlichten Badeanzug und die schmucklosen weißen T-Shirts war, die sie immer trug.
»Hmm …«, sagte sie und dachte intensiv nach, während sie vorsichtig die Stufen in den Pool ging. Es war heiß genug im Freien, dass die Kälte ein gewisser Schock war. »Wäre das so ein Ort, in dem es Cappuccino gibt und Gedichtlesungen und Musikabende?«
Olivers Grinsen wurde leicht verträumt. Wenn man hoch nach Placerville fährt, findet man solche hippen Lokale, aber hier? Nie im Leben. Von allem gibt es nur die große, öde Costco-Version. Schon Pottery Barn gilt als außergewöhnlich und einzigartig – Gott behüte, dass irgendetwas heraussticht. Ich habe schon immer gedacht, dass die Leute genau aus diesem Grund Football-Mannschaften und Basketball-Mannschaften und Marschkapellen so gerne haben: Steck sie in eine Uniform und sie sehen alle gleich aus. Ich glaube, in unserer Gemeinschaft ist das beruhigend.
Also brauchte es kein Genie, um herauszufinden, dass der kleine, braune Oliver begeistert von einem Ort wäre, der nicht von großen Muskelpaketklonen wie mir bevölkert wurde.
»Wenn wir hier in der Gegend so etwas bekommen, sagst du Bescheid, okay?«
Meine Schwester lachte und tauchte dann mit einem kleinen Schrei unter. Als sie ein paar Meter vor mir wieder auftauchte, sagte sie: »Ich glaube, das müssten wir uns selbst bauen, Süßer – und das bedeutet, dass wir doch zusammen shoppen gehen müssen.«
Oliver lachte und gab zu, dass sie sich vielleicht beim gemeinsamen Einkaufen anfreunden mussten. Ob sie es wusste oder nicht, plötzlich war meine kleine Schwester – die sich wie eine riesige Nervensäge benommen hatte, als meine Football-Kumpel bei uns gewesen waren – auf unserer Seite.
Dann kam Estrella mit Sandwiches und Snacks heraus und ich war überrascht. Das hatte sie nie getan, als meine anderen Freunde hier gewesen waren, obwohl es immer Kartoffelchips für uns gegeben hatte.
Ich kletterte aus dem Pool und trocknete meine Haare ab, bevor ich hinüberging, um das Angebot zu sichten. »Das ist fantastisch«, sagte ich zu ihr und meinte es auch so. Sie war immer richtig nett zu Nicole und mir gewesen, hatte unser Lieblingsessen gekocht, uns angelächelt, wenn wir in der Küche zu Abend aßen, oder nach unserem Tag gefragt. Als wir jünger gewesen waren, war sie das Kindermädchen gewesen, aber als wir keins mehr gebraucht hatten, hatte Mom sie als Dienstmädchen und Köchin behalten. Ich hatte immer gedacht, dass Mom sie auch liebte, aber das war noch so eine Sache, bei der ich mich geirrt hatte. Für Mom war sie einfach nur eine sehr kompetente Haushaltshilfe. Estrella war nur für Nicole und mich etwas Besonderes.
»Na ja, ich mag diesen Freund«, sagte sie lächelnd. Sie hatte kleine Zähne mit einer Lücke in der Mitte, ein rundes Gesicht und einen ebenso runden Körper. Sie war wahrscheinlich so alt wie meine Mom, aber sie wirkte irgendwie älter – vielleicht war es das Weiche. Ich wusste, dass sie zugehört hatte, als Oliver und ich in der Küche geredet und für unsere SATs gelernt hatten, und dass sie und Oliver manchmal Gespräche in schwindelerregendem Spanisch miteinander führten, die sich intim und real anfühlten. Mit Nicole oder mir hatte sie nie Spanisch geredet. Ich hatte das Gefühl, sie besser zu kennen, nachdem sie uns Sandwiches und heiße Schokolade gemacht hatte – die Snacks waren übrigens einer der Vorteile der SATs, Punkt.
»Ich weiß. Ich mag ihn auch. Seine Dad ist ziemlich cool. Ich wünschte, ich könnte immer für ihn arbeiten.«
Estrella sah mich nachdenklich an. »Ich glaube, dass würde deinem Vater nicht sehr gefallen«, sagte sie freundlich und ich zuckte mit den Schultern.
»Tja, vielleicht ändert er ja seine Meinung, wenn ich in Berkeley durchfalle.«
Sie seufzte und tätschelte meine Hand, die noch feucht vom Pool war. »Vielleicht solltest du dir etwas einfallen lassen, um das zu vermeiden?«
Ich zwinkerte, um sie zum Lächeln zu bringen. »Sie kennen mich doch – ich tu alles, um harter Arbeit zu entkommen.«
Estrella schüttelte den Kopf. »Du bist ein guter Junge, Rusty. Lad Oliver öfter hierher ein. Er ist auch ein guter Junge.«
Nicole und Estrella waren schlau – sie sahen die Grenzen, die gezogen wurden. Anders als meine Eltern.
Sie behandelten Oliver wie sie alle meine Freunde behandelten und bemerkten nicht eine Minute lang, dass der Feind, der geheime Plünderer, der all ihre Hoffnungen und Pläne für ihren kleinen Jungen umstoßen würde, in ihrem Swimming Pool war, mit leuchtenden braunen Augen zu mir hochlächelte und karierte Shorts trug, die gar nicht zum Schwimmen gemacht waren.
***
In jenem Sommer kam er oft zum Schwimmen zu uns. Ich erinnere mich an kleine Schnappschüsse in meinem Kopf: als er mit seinen dünnen, braunen Gliedern nassglänzend auf unserer weißen Betonveranda stand. Mir gefiel die Art, wie er seine Haare aus dem Gesicht warf, und wie er mit den Armen an den Seiten schwamm und dabei seinen langen, schlanken Körper wand. Wenn er auf der untersten Stufe des Pools im Wasser stand, sah er exotisch aus, wie ein Meermann oder so.
Ich begann, an ihn zu denken, von ihm zu träumen, in seinen karierten Nicht-Schwimmshorts, wie er größtenteils nackt auf der Veranda meiner Eltern stand.
Zuerst hatten die Träume nichts Außergewöhnliches an sich. Er lächelte mich einfach nur an, als hätte ich etwas Großartiges getan. Ich meine, ich bin kein komplettes Arschloch, aber großartig? Niemand hat mich jemals der Großartigkeit bezichtigt. Ich war gut genug im Football, um spielen zu können, aber nur, wenn ich mich völlig verausgabte. Ich war in Leistungskursen, weil ich ausgezeichnete Nachhilfelehrer hatte, aber die Intelligenz war ihre, auch wenn es mein Schweiß war, durch den sie hängen blieb. Aber wenigstens in meinen Träumen starrte Oliver zu mir hoch, als hätte ich gerade den Super Bowl gewonnen und in der Werbepause alle Hungersnöte der Welt beseitigt.
Als ich zum ersten Mal davon träumte, war ich beim Aufwachen den Tränen nahe. Ich wäre so gerne wieder eingeschlafen und hätte dasselbe nochmal geträumt.
Damals dachte ich nicht darüber nach und wenn ich doch daran dachte, versuchte ich, mich darauf zu konzentrieren, dass ich vielleicht aufhören sollte, darüber zu jammern, dass ich nicht nach Berkeley gehen wollte. Dass ich vielleicht zuerst versuchen sollte, jemand zu sein, zu dem man aufsehen konnte, wenn ich wollte, dass andere zu mir aufsahen.
Wenn ich nicht arbeitete oder im Pool war, las ich. Ich dachte, wenn ich ein paar von den Büchern las, die Oliver las, würde ich vielleicht etwas von seiner Flinkheit bekommen. Ich las Ein anderer Frieden und Der Schokoladenkrieg, aber alles, was ich wirklich daraus lernte, war, dass sehr starker Gruppenzwang einen richtig zerstörte. Ich nahm an, dass ich mich nicht mehr um diesen Mist sorgen musste. Meine Freunde waren alle schon weg.
Ich meine, wir schrieben immer noch SMS und gingen manchmal ins Kino, aber sie hatten alle dieselben Praktika und Jobs, die mein Dad auch für mich geplant hatte. Zwischen der Arbeit, den Büchern und dem Pool drehte sich meine Welt immer mehr und mehr um Oliver.
Für mich war es in Ordnung, nicht mehr denselben großen Freundeskreis zu haben. Da Oliver und ich so viel lasen, lachten wir allmählich über dieselben Witze. Zum Beispiel als er, Brian Halliday und ich uns den neuen Bourne-Film ansahen. Wir saßen da und sahen zu, wie sich Männer auf der Leinwand die Köpfe einschlugen, als es mich plötzlich packte. In diesen Filmen ging es um Spione, die nicht mehr Spione sein wollten. Sie wurden als jemand anderes wiedergeboren. Und dann, ding-dang-dumm, war ich wieder bei diesem Buch Schuld und Sühne, das Oliver mir gegeben hatte, und dann, heilige Scheiße und halleluja, erinnerte ich mich an Mr. Rochester und Jane Eyre.
»Oh Gott, oh Gott, oh Gott!«, zischte ich Oliver an. »Bourne? Verstehst du? Es ist, als wäre er wiedergebourne!«
Oliver zuckte zusammen, als hätte ich ihn an der Unterhose gezogen oder so, und dann drehte er sich mit einem Lächeln zu mir um, das so breit war, ich schwöre, es erhellte den Kinosaal. »Gott, Rusty, da hast du aber den Nagel auf den Kopf getroffen.«
Ich grinste und drehte mich dann zu Brian um, der gerade Popcorn in sich hineinstopfte. »Verstehst du?«, flüsterte ich. »Es ist sein Name, aber es bedeutet etwas. Es ist wie … wie eine Allegorie.«
Brian blinzelte mich an. »Sei still und schau den Film«, murmelte er. »Die Leute starren uns komisch an.«
Eine Minute lang war ich wirklich enttäuscht. Ich hatte das Gefühl, als würde ich zum ersten Mal die Sonne sehen, aber Oliver stieß mir den Ellbogen in die Seite und hielt grinsend den Daumen hoch. Einen verrückten, fürchterlichen Moment lang dachte ich daran, seine Hand zu nehmen und zu küssen, so verdammt dankbar war ich, wisst ihr?
Aber ich tat es nicht. Ich konzentrierte mich wieder auf den Film. Danach fragten Oliver und ich Brian, ob er mit uns ein Eis essen gehen wollte, aber er sagte Nein.
»Muss morgen früh raus«, sagte er und klang dabei wie mein Dad. »Wenn ich nicht pünktlich dort bin, kann ich mir was von deinem Dad anhören. Gott, Rusty, ich kann gar nicht glauben, dass der Mann dich hervorgebracht hat.«
Ja, Brian hatte das Praktikum im Büro meines Vaters bekommen und ich schätze, ich hätte das bei seinem Dad annehmen sollen. Nett. Dass sie uns tauschten wie die kleinen Spielfiguren, die wir sein sollten, erschien mir immer kaltblütiger.
»Sieh nicht mich an.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich arbeite auf dem Bau. Ich bin um neun dort und um fünf draußen und mein Boss kauft mir Limonade, wenn sein Sohn nicht hinsieht. Ich hab’s gut erwischt.«
»Tut er nicht.« Brian sah angemessen entsetzt aus. Ich lächelte ihn an. Ich liebte es, ihn anzugrinsen. Ich wollte den Arm um seinen Hals legen und seine Haare verstrubbeln, aber zwischen uns war es nie so gewesen.
»Tut er doch«, sagte ich, in der Annahme, dass es Mr. Campbell nicht zu sehr stören würde, wenn ich das verriet. »Aber nur einmal die Woche. Die restliche Zeit gibt’s Horchata.« Was ich nicht gerade gern hatte, aber er meinte es gut, also trank ich es trotzdem.
Oliver lächelte, sehr stolz auf sich selbst. »Ja. Mein Dad hört auf mich, weil er weiß, was gut für ihn ist.«
Ich sah zu Brian und versuchte, ihm zu vermitteln, wie großartig Olivers Dad war. »Tut er wirklich«, sagte ich ernst. »Ich meine, nicht in einer Million Jahre hätte ich gedacht, dass jemand wirklich … du weißt schon … zuhört, wie dieser Mann. Es ist toll, für ihn zu arbeiten. Ich wünschte, ich würde bei ihm wohnen.«
Brian grinste spöttisch. »Tja, also, wenn Oliver und du noch ein wenig vertrauter miteinander werdet, kannst du das vielleicht wirklich.«
Ich wich zurück. »Mann, welchen Stock hast du denn auf einmal im Arsch?«
»Nicht den, der dir bald im Arsch steckt.«
Ich sah ihn stotternd an. »Das ist so scheiße von dir«, sagte ich schließlich leise. »Warum musst du so sein? In der Schule warst du nicht so. In der Schule wart ihr immer richtig nett zu Oliver.«
»Na ja, da haben wir auch gedacht, er wäre dein Freund. Es ist etwas Anderes, wenn er dein Freund ist. Das weißt du, Rusty. Es ist … es ist so: Wir können mit denen abhängen, aber irgendwann muss genug sein.«
»Außerdem«, sagte Oliver leise neben mir, »waren sie auch in der Schule nicht nett. Du warst nur zu liebenswürdig, um es zu merken.«
»So magst du sie also? Lieb und nett?« Brians Tonfall war gemein und etwas in seinem Gesicht sah auch verletzt aus. Ich merkte, dass er das Gefühl hatte, mich zu verlieren. Und er war sauer auf Oliver, weil Oliver derjenige war, der mich am Ende bekommen würde.
»Ich …« Ich schloss den Mund und öffnete ihn wieder, und plötzlich wünschte ich mir, wieder ein Kind in der Grundschule zu sein, wo man einfach nur den Ball fangen musste, um Freunde zu bekommen. »Entschuldige«, sagte ich und drehte mich zu Oliver. »Entschuldige, dass ich zu dumm war, um zu merken, dass sie gemein waren. Du warst immer ein richtig guter Freund für mich. Ich hätte nicht zugelassen, dass irgendjemand gemein zu dir ist.«
Brian stieß einen höhnischen Laut aus – und ich hatte nie gewusst, was dieses Wort bedeutete, bis ich diesen Laut aus seinem Mund hörte.
»Gott, Rusty. Ich hoffe, du hast ein schönes Leben. Richte deiner Mom aus, dass es mir wegen deiner Abschiedsparty leid tut. Die werde ich wohl verpassen.«
»Du hast eine Abschiedsparty?«, fragte Oliver etwas munterer und ich wollte mich hinsetzen und heulen.
»Ich schätze, es war eine Überraschung«, sagte ich.
»Und ich schätze, du bist nicht eingeladen«, sagte Brian zu Oliver. »Was wunderbar ist. Rusty und seine Familie werden die ganze Zeit über allein sein und einander anstarren. Nach heute Abend bin ich ziemlich sicher, dass auch von den anderen niemand mehr etwas mit dir zu tun haben will.«
Und er drehte sich um und ging zu seinem Auto. Ich sah ihm nach und fühlte mich leer und dumm.
»Weißt du«, sagte ich in der warmen Nacht, »du bist wirklich die einzige Person, die ich gerne eingeladen hätte.«
Oliver hob die Hand und tätschelte meine Schulter. »Das ist in Ordnung. Ich komme trotzdem. Sag mir nur, wo und wann, und ich komme auf deine Party.«
Ich hatte vor, es meiner Mom zu sagen, aber sie sprach es zuerst an. Sie ist wie ein Ninja. Ich hatte trainiert und kam nach der Dusche gerade aus meinem Zimmer, um mir in der Küche noch etwas Essen zu holen. Ich schwöre, die Frau hörte die Dielen knarzen, als ich an ihrem Büro vorbeiging, denn ihre Stimme schoss heraus wie ein Pfeil und hielt mich zurück.
»Rusty, hast du dich mit deinen Freunden zerstritten?«
Ich drehte mich um, spähte in ihr Büro und sah ihren Hinterkopf. Mom hat blonde Haare, aber ich glaube, sie sind gefärbt, denn wenn sie ihren Termin beim Stylisten verpasst, werden die Wurzeln bräunlich grau. Aber das bekomme ich selten zu sehen, sie sind fast immer perfekt. Manche Jungs hatten Moms, die in der Öffentlichkeit joggen gingen oder manchmal Trainingshosen trugen oder ihre Haare eine Woche lang nicht wuschen, wenn sie campen gingen. Meine Mom schwitzt nur im Fitnessstudio, und da sie so eins besucht, das nur für Frauen ist, müssen wir sie beim Wort nehmen. Jeden Tag Stoffhose, Twinset und Perlen. Ich glaube, ich habe sie nicht ein einziges Mal in Jeans gesehen.
In diesem Moment drehte sie sich in ihrem Stuhl von dem Schreibtisch aus dunklem Holz weg und zu mir, während sie sich mit einer Bewegung, die wie Ballett aussah, die blonden Haare aus den Augen strich.
»Ja, Mom«, sagte ich, denn anscheinend gehörte es zu meiner Dummheit dazu, dass ich nicht gut lügen konnte. »Sie waren gemein zu Oliver.«
Mom blinzelte und zupfte ihren Sommerpullover zurecht. Dieser war pink. »Du meinst den kleinen, dunkelhaarigen Jungen?«
So klein war er nicht. Eins achtundsechzig, eins siebzig? Ja, ich war über einen Meter achtzig, aber Oliver war schon größer als ein Kind.
»Ja, genau den.«
»Was könnten sie denn gegen ihn haben? Ich meine, ich weiß, dass sein Vater im Baugewerbe ist, aber ich glaube nicht, dass irgendwelche von deinen Freunden so schlechte Manieren …«
»Er ist schwul, Mom …«
Mom ruckte mit dem Kopf zurück. »Das wusste ich nicht«, sagte sie. Sie hob nicht wirklich die Stimme, aber sie machte den Eindruck einer großen Welle im Meer: an der Oberfläche wie immer, während sich darunter eine gewaltige Woge ansammelte. »Warum ist er so oft hier?«
Ich schluckte. Ich erinnerte mich daran, dass ich so etwas vermutet hatte. Ich hatte gedacht, dass meine Freunde ganz in Ordnung waren, und ich hatte mich geirrt, aber ich hatte immer gewusst, dass meine Eltern schrecklich waren, und damit hatte ich recht gehabt.
»Er ist mein Freund. Er hat mit mir für die SATs gelernt. Und sein Vater hat mir einen Job gegeben.«
»Oh«, sagte sie mit verengten Augen. Gedanklich stellte sie irgendwelche Berechnungen an, das konnte ich sehen. »Du bist ihm etwas schuldig. Ich verstehe. Na, dann …« Ihre Stimme erstarb und ich konnte sehen, dass sie mit der vorgetäuschten Abschiedsparty rang. Und dann huschte ein seltsamer Ausdruck über ihr Gesicht. Ihre Augen wurden groß und glänzend und einen Moment lang gruben sich Falten in ihr Kinn. Sie nahm einen tiefen Atemzug und alles war wieder glatt. »Du solltest ihn zu deinem Abschiedsessen einladen«, sagte sie schlicht, als wäre es etwas, von dem ich schon immer gewusst hatte. »Es ist Dienstag in zwei Wochen. Wir gehen aus. Achte darauf, dass er sich angemessen kleidet.«
Später hörte ich, wie sie das Catering absagte und diskutierte, um ihre Anzahlung zurückzubekommen, und hatte ein schlechtes Gewissen. Vielleicht war das der Grund, warum ihre Augen geglänzt hatten. Sie würde bei diesem Deal Geld verlieren. Das war schlimm, aber ich würde nicht tun, was all meine schlechten Freunde wollten, und Oliver fallen lassen. Unter anderem, weil ich beinahe mit Schuld und Sühne fertig war und mit Oliver reden musste, um herauszufinden, ob dieser richtig dreckige Kerl ein Bösewicht war oder dieses Zeug nur tat, weil er das Gefühl hatte, dass er es tun musste.
Also kam Oliver mit uns. Er trug ein altes Jackett, Jeans und ein weißes Hemd und sah gut aus. Seine Handgelenke lugten aus den blauen Jackettärmeln heraus, als wäre er gewachsen, seit er es bekommen hatte. Ich glaube, es war kein guter Stoff. Aber das war in Ordnung. Wir standen das Abendessen durch, während Nicole mich neckte, dass ich ihr alles über die Professoren erzählen sollte und den Campus und die Orte, an denen man am besten abhängen konnte. Ich verdrehte die Augen und fragte sie, wie ich diese Dinge überhaupt herausfinden sollte.
»Du warst schon immer besser darin, die coolen Infos zu bekommen«, sagte ich zu ihr und es stimmte. Nicole ging tatsächlich gerne shoppen, allerdings am liebsten in altmodischen Musikläden und Antiquariaten und so. In ihrer Freizeit besuchte sie Gedichtlesungen und sie wusste, welche der Autoren in den Regalen tatsächlich aus unserer Ecke des Vorgebirges stammten. Bevor unsere Stadt sich explosionsartig ausgebreitet und Teil des Speckgürtels für Intel geworden war, war sie ein kleiner Künstlerort mit windigen Straßen und vielen Bäumen und großen leeren Flächen gewesen. Viele lokale Autoren schrieben darüber, wie böse die Industrie und wie seelenlos die Vororte waren, was mich überhaupt nicht fesseln konnte. Raskolnikow brachte wenigstens Leute um, versteht ihr?
Nicole seufzte und verdrehte die Augen. »Halt wenigstens nach Orten Ausschau, an denen Oliver gerne abhängen würde, okay?«
Ich grinste Oliver an. »Das ist einfach. Die Bibliothek.«
Oliver grinste zurück. »Ich glaube, die ist sogar auf dem Campusplan«, gab er zu.
Plötzlich kam mir ein Gedanke. (Was mich immer in Schwierigkeiten bringt, wisst ihr.) »Warte, Oliver. Wo hängst du wirklich gerne ab?« Ich erinnerte mich nicht daran, ihn jemals woanders als in meinem Haus gesehen zu haben – abgesehen von seinem eigenen Haus und der Bibliothek.
Da passierte etwas Seltsames mit Olivers Gesicht und in gewisser Weise erinnerte es mich an das Gesicht meiner Mom, als sie meine Party absagen hatte müssen. »Bei dir, Dummkopf.« Er sagte es mit einem Lächeln, und einen Moment lang dachte ich, er würde mich tadeln, aber irgendwie hielt er sich zurück. Dummkopf klang nicht wie eine Beleidigung, wenn er es sagte. Es klang wie Süßer oder Baby oder eins der anderen ekligen Wörter, bei denen Mädchen so gerne genannt wurden.
Aber weil es Dummkopf war, musste ich davon nicht würgen.
»Oh mein Gott!« Nicole verdrehte die Augen. »Das ist eklig. Männer sollten nie so miteinander reden. Nie. Ist mir egal, mit wem sie schlafen!«
»Nicole!«, zischte meine Mutter und meine Schwester wandte sich ihrem Huhn mit Spargel mit einer Sanftmütigkeit zu, die ich ihr nicht abkaufte. Und tatsächlich sah sie unter gesenkten Augenbrauen zu mir hinauf und ich streckte ihr die Zunge heraus. Ihre Schultern bebten und ihr Blick wurde zu einem Funkeln und dann sah sie auf den Platz neben mir, wo Oliver saß (als Linkshänder hatte er das Tischende bekommen) und ich sah, wie er die Zunge herausstreckte und schielte.