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- Nominiert für die Shortlist des Internationalen Literaturpreises - Haus der Kulturen der Welt - São Paulo in den siebziger Jahren. K., Besitzer eines Geschäfts für Herrenmode, erhält einen Anruf aus dem Labor, in dem seine Tochter als Chemikerin arbeitet: sie sei seit vierzehn Tagen dort nicht mehr erschienen. Er fragt ihre Freunde, Bekannte, geht mit ihrem Foto zur Polizei - bis er schließlich auf Umwegen erfährt, dass sie seit Jahren ein Doppelleben führte und mit ihrem Mann verdeckt politisch arbeitete. Für K. ist das aus mehreren Gründen schockierend: Er glaubte seine Tochter, sein Lieblingskind, genau zu kennen und hielt sie für völlig unpolitisch. Und er begreift nicht, warum gerade er, der Mitte der dreißiger Jahre in Polen selber Mitglied einer jüdischen Widerstandsgruppe und nach einer Haftstrafe nach Brasilien geflohen war, auffällige Indizien im Verhalten seiner Tochter komplett falsch eingeschätzt hatte. Er hätte es wissen müssen und sie retten können. Sein Leben besteht danach aus einer doppelten Suche: Er will herausfinden, wer seine Tochter wirklich war, und, am wichtigsten: ob sie noch lebt. Diese Suche provoziert Erinnerungen an seine eigene Jugend, wichtige Phasen seines Lebens, die er vorher immer verdrängt hatte. So verschränkt sich brasilianische überraschend mit europäischer Geschichte.
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Seitenzahl: 224
Ihren Freundinnen, die sie verloren haben.Urplötzlich.Eine Welt der Zuneigung ist zusammengebrochen.
© 2011 by Bernardo Kucinski
© 2013 für die deutsche Übersetzungby : TRANSIT Buchverlagwww.transit-verlag.de
Originaltitel: K.
Editora Expressão Popular, 2012
Obra publicada com o apoio do Ministério da Cultura do Brasil / Fundação Biblioteca Nacional.
Die Veröffentlichung wurde gefördert durch dasKultusministerium von Brasilien / Fundação Biblioteca Nacional.
Umschlaggestaltung, unter Verwendung eines Fotos von Ana Rosa Kucinski, und Layout:Gudrun FröbaISBN 978-3-88747-295 -5ISBN 978-3-88747-298-6 ebook
Bernardo Kucinski
K.
oder
Die verschwundene Tochter
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Sarita Brandt
ROMAN :TRANSIT
Ich erzähle Ihnen genau, was ich weiß und Sie nicht wissen;aber hauptsächlich möchte ich das erzählen, wovon ich nicht weiß, ob ich’s weiß, und was Sie vielleicht wissen.
João Guimarães Rosa, Grande Sertão: Veredas
Es ist nicht der Schmerz, schon nicht mehr glauben zu können, Der auf mir lastet, und auch nicht der, nicht zu wissen, Sondern nur der vollkommene Horror,
Das Mysterium von Angesicht zu Angesicht geschaut zu haben, Es geschaut und verstanden zu haben in all Seiner Unendlichkeit als Mysterium.
Fernando Pessoa, O mistério do mundo
Ich zünde an die Geschichteund lösche mich aus.Am Ende dieser Schriften werde icherneut ein Schatten sein ohne Stimme.
Mia Couto, Terra Sonâmbula
Inhalt
Briefe an die unbekannte Adressatin
Vom Strudel des Systems erfasst
Die Zelle fliegt auf
Die Informanten
Die erste Brille
Die heimliche Eheschließung
Brief an eine Freundin
Aneignung von Büchern
Jacobo tritt in Erscheinung
Der Hund
Der Tag, an dem die Erde stillstand
Die Öffnung
Der Grabstein
Die Hilfsbedürftigen
Unantastbarkeit – ein Widersinn
Zwei Berichte
Baixada Fluminense – ein Alptraum
Mit-Leidenschaft
Erinnerungsinventar
Die Therapie
Das Ende der Literatur
Das Handbuch des Militärlebens
Die Erpresser
Die Sitzung des Institutsrats
Die Straßennamen
Überlebende – eine Reflexion
Nachricht für den Companheiro Klemente
In Barro Branco
Postskriptum
Dank
Anhang
Alles in diesem Buch ist erfunden, doch fast alles ist geschehen.
Briefe an die unbekannte Adressatin
Von Zeit zu Zeit stellt mir die Post unter meiner alten Adresse ein Schreiben der Bank zu, das für sie bestimmt ist; immer das verlockende Angebot eines Produkts oder einer Finanzdienstleistung. Das letzte enthielt eine neue Kreditkarte, gültig auf allen Kontinenten, ideal zum Buchen von Hotelzimmern und Flügen; all das, worauf sie heute ein Anrecht hätte, wäre ihr Leben nicht unterbrochen worden. Einfach unterschreiben und in dem frankierten Umschlag zurücksenden, hieß es im letzten Brief.
Der Anblick ihres Namens auf dem Kuvert löst stets tiefe Betroffenheit in mir aus: Wie ist es möglich, immer wieder Briefe an einen Menschen zu verschicken, den es seit mehr als drei Jahrzehnten nicht mehr gibt? Ich weiß, dass es sich nicht um böse Absicht handelt. Die Post und die Bank wissen nicht, dass es die Adressatin nicht mehr gibt; der Absender verbirgt sich nicht, im Gegenteil, er stellt sich stolz unter einem ansprechenden Logo dar. Sie, die Bank, ist der Inbegriff des Systems, einer in Marmor gehauenen falschen Solidität; die Bank, die Kundengeschäfte nicht mit Gesichtern und Menschen betreibt, sondern mit Computerlisten.
Die Adressatin wird das Angebot niemals wahrnehmen, auch wenn keine Jahresgebühr anfällt, auch wenn sie Meilen sammeln und Zugang zu den VIP-Lounges der Flughäfen haben kann, all das, was sie haben könnte, aber nicht haben wird, all das, was es, als es sie gab, kaum gab und das ihr nun, da es sie nicht mehr gibt, angeboten wird; das Verlustinventar eines Lebensverlustes.
Als ob die Briefe die versteckte Absicht hegten, zu verhindern, dass ihr Andenken in unseren Gedanken zur Ruhe kommt; als ob man uns aufgrund der Vernichtung ihres toten Körpers nicht nur die therapeutische Wirkung der Trauer verwehrt hätte, der Briefträger vielmehr ein Dybbuk wäre, dessen Seele keine Ruhe findet und der uns der Schuld und Unterlassung bezichtigt. Als ob man über den unnötigen Tod hinaus unser nötiges Leben zerstören wollte, dieses Leben, das fortbesteht und das uns von Kindern und Enkeln abverlangt wird.
Wieso an meine alte Adresse? Ich malte mir aus, dass sie in einem dieser unsicheren Momente, in denen es um Flucht, Verstellung, abruptes Abbiegen an Straßenecken ging, der Bank meine Anschrift gegeben hatte, um nicht andere, zutreffende, wenn auch geheime, preiszugeben; ich fragte mich, in welchem Stadium der heraufziehenden Tragödie dies wohl geschehen war, welche Adresse oder Adressen, im Plural, sie damals hatte, denn wie ich später erfuhr, waren es viele, in der Annahme, somit das Schicksal überlisten zu können.
Es handelte sich in der Tat nie um ein Heim, einen Ort, wo man Kinder großzog und Freunde empfing; es waren Antiheime, Katakomben, in denen man sich verstecken konnte, monatelang, wie die Christen in Rom, oder aber nur wochen- oder tagelang, bis einer geschnappt wurde und die Flucht, die hektische Suche nach einem neuen Versteck von vorne begann.
Möglicherweise war das der Grund, weshalb sie nicht ihre damalige Geheimadresse angegeben hatte, sondern die Adresse des Hauses, in dem ich, meine Frau und meine Kinder dreiunddreißig Jahre lang gelebt haben; die Adresse, unter der heute mein ältester Sohn und mein Enkel wohnen, unter der ich mein Büro habe, meine Frau ihren Gemüsegarten hat und ihr Atelier und mein Enkel seine zwei kleinen Hunde und sein Spielzeug.
Erst dann begriff ich, dass, hätte ich das Haus verkauft, wie ich es so oft beabsichtigt hatte, mir die Bezugspunkte der Hälfte meines Lebens verloren gegangen wären. Erst dann habe ich meinen ältesten Sohn verstanden, der nein gesagt hat, dieses Haus darf niemals verkauft werden. Für ihn ist dieses Haus der Ort, der die Gesamtheit seiner Erinnerungen birgt.
Doch es war anders gekommen. Dieses Haus hatte sie nie kennen gelernt. Ich rechnete zurück und kam zu dem Schluss, dass sie bereits sechs Jahre lang verschwunden war, als wir diese verwohnte Behausung von portugiesischen Einwanderern gekauft haben. Nein, sie war nie in unserem Haus gewesen. Sie ist nie die steilen Treppenstufen des Vorgartens hinauf gestiegen. Hat nie meine Kinder kennen gelernt. Konnte nie die Tante ihrer Nichten und Neffen sein. Vor allem diese Auswirkung all dessen, was geschehen ist, hat mich immer besonders schmerzhaft berührt.
Wenn dies nicht ihre Anschrift war, wer hat sie dann dem Regime in die Hände gespielt? Schleierhaft. Wieso klebte ihr Name an meiner Adresse in diesem nebulösen Internet, in dem niemals etwas gelöscht wird? Das Wahrscheinlichste ist, dass ich selbst Name und Anschrift zusammengebracht habe; ob es geschah, als ich die Vermisstenanzeige aufgab? Als ich den Anwalt beauftragte, sich um ihren Nachlass zu kümmern? Oder als ich die Universität aufforderte, diese erbärmliche Entlassung wegen versäumter Pflichterfüllung rückgängig zu machen? Ich werde nie herausfinden, wann es passiert ist. Ich weiß nur, dass die Briefe an die abwesende Adressatin weiterhin eintreffen werden.
Der Briefträger wird nie erfahren, dass die Empfängerin nicht existiert; dass sie von der Militärdiktatur entführt, gefoltert und ermordet wurde. Ebensowenig wie es im Vorfeld derjenige, der die Briefe sortiert, und all seine Kollegen erfahren werden. Als wolle er Authentizität bezeugen, wird der Name auf dem frankierten und abgestempelten Umschlag das graphische Zeichen nicht eines Versehens oder Computerfehlers sein, sondern das einer landesweiten Alzheimererkrankung. Ja, das Fortbestehen ihres Namens im Verzeichnis der Lebenden wird paradoxerweise aus dem kollektiven Vergessen des Verzeichnisses der Toten resultieren.
São Paulo, den 31. Dezember 2010
Vom Strudel des Systems erfasst
Die Tragödie hatte bereits unaufhaltsam ihren Lauf genommen, als K. an jenem Sonntagmorgen zum ersten Mal diese Angst verspürte, die ihn bald nicht mehr loslassen sollte. Seit zehn Tagen hatte seine Tochter nicht mehr angerufen. Später sollte er die Schuld der Vernachlässigung von Familienritualen zuschreiben, die einzuhalten erst recht notwendig war in schweren Zeiten: einmal am Tag telefonieren, das sonntägliche Mittagessen. Die Tochter kam mit seiner zweiten Frau nicht zurecht.
Und wie konnte einer wie er, gezeichnet von den politischen Umständen, die Augen verschließen vor dem Aufruhr der neuen Zeit? Wer weiß, vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn er, anstatt sich mit seinen jiddischen Schriftstellern zu befassen, mit dieser toten Sprache, die nur noch von wenigen Greisen gesprochen wird, dem, was damals im Land geschah, mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte? Wer weiß? Wozu war das Jiddische gut? Zu gar nichts. Eine Kadaversprache, das war es, was sie in ihrem allwöchentlichen Literaturkreis beklagten, anstatt sich um die Lebenden zu kümmern.
Den Sonntag verband er mit seiner Tochter seit der Zeit, als er ihr immer kleine Geschenke vom Straßenmarkt mitgebracht hatte. Plötzlich fielen ihm einige Gerüchte vom Tag zuvor im Stadtviertel Bom Retiro ein; zwei Medizinstudenten seien verschwunden, einer stamme aus einer reichen Familie, erzählte man. Das habe mit Politik zu tun, hieß es, mit der Diktatur, wäre kein Fall von Antisemitismus. Es seien auch andere, Nichtjuden, verschwunden, deshalb habe die Gemeinde beschlossen, sich nicht einzumischen. So das Gerücht, vielleicht stimmte es ja gar nicht; denn die Namen der jungen Männer wurden nicht erwähnt.
Es war das Gemunkel, das ihn unruhig stimmte, nicht der Sonntag. Den ganzen Tag über wählte er eine Telefonnummer, die seine Tochter ihm gegeben hatte, für den Notfall, einsam verhallte das Klingeln. Ohne eine Antwort, nicht einmal zu später Nachtstunde, wenn sie zurück sein müsste, selbst wenn sie ins Kino gegangen wäre, was sie so gern tat, beschloss er, sie am nächsten Tag in der Universität zu besuchen.
In dieser Nacht träumte er, er wäre noch klein und die Kosaken stürmten die Schuhmacherei seines Vaters, damit er ihnen Stiefelgamaschen nähte. Erschrocken fuhr er hoch, es war noch früh. Die Kosaken, erinnerte er sich, waren ausgerechnet an Tisha B’Av gekommen, diesem Trauertag für das jüdische Volk, der die Zerstörung des ersten und des zweiten Tempels und auch die Vertreibung aus Spanien beklagt.
Ohne zu wissen, was ihm bevorstand, wenngleich von einer Ahnung erfüllt, und ohne seine Frau zu wecken, fuhr er den Austin aus der Garage und machte sich auf den Weg in Richtung Universitätscampus, ein fern gelegenes, flaches Gelände gegenüber dem dichten Gestrüpp der Hochhäuser. Er fuhr langsam, ließ sich Zeit, um das Stadtzentrum zu durchqueren, so, als wolle er niemals ankommen; seine Gefühle schwankten zwischen der Überzeugung, sie ganz normal an ihrem Arbeitsplatz anzutreffen und dem Gegenteil davon. Schließlich erreichte er den Gebäudekomplex der Chemischen Fakultät, wo er ein einziges Mal gewesen war, vor Jahren, als seine Tochter ihre Dissertation verteidigt hatte, ihr gegenüber eine Gruppe von Professoren mit strenger Miene, die ihr Studium zum Teil noch in Deutschland absolviert hatten.
Sie ist heute nicht gekommen, sagten ihre Freundinnen. Sie schienen unschlüssig, warfen sich verstohlene Blicke zu. Dann, als hätten sie Angst vor der Hellhörigkeit der Wände, führten sie K. in den Garten, um mit ihm zu reden. Dort eröffneten sie ihm, dass sie seit elf Tagen nicht mehr erschienen sei. Doch, ganz sicher, seit elf Tagen, wenn man das Wochenende mitzählt. Sie, die nicht ein einziges Mal ihren Unterricht versäumt hat. Sie sprachen leise, ohne die Sätze zu beenden, als verberge jedes einzelne Wort tausend andere, die auszusprechen verboten war.
Unzufrieden, aufgewühlt, wollte K. noch weitere Meinungen einholen – wer weiß, vielleicht hatten ja ihre Vorgesetzten irgendwelche Informationen? Wenn sie einen Unfall erlitten hätte und im Krankenhaus läge, hätte man doch sicher die Universität verständigt. Die Freundinnen zeigten sich besorgt. Bitte, tun Sie es nicht. Erst einmal nicht. Um ihn davon abzubringen, versuchten sie zu beschwichtigen, vielleicht war sie ja verreist, hatte sich aus reiner Vorsicht für ein paar Tage zurückgezogen? Unbekannte haben nach ihr gefragt, wissen Sie. Auf dem Campus sind suspekte Gestalten aufgetaucht. Sie notieren sich die Autokennzeichen. Sie sind im Rektorat. Was heißt sie? Die Mädchen blieben die Antwort schuldig.
Dazu überredet, die Dienststellen der Universität zu meiden, verließ K. verzweifelt den Campus und fuhr zur Rua Padre Chico, wo er eine Hausnummer suchte, die seine Tochter ihm vor Zeiten gegeben hatte mit der Anweisung, sie unter dieser Adresse nur im äußersten Notfall aufzusuchen und nur, wenn sie nicht ans Telefon ginge. Wie absurd, dass er nicht nachgefragt hatte, was »nur im äußersten Notfall« und »nur wenn sie nicht ans Telefon ginge« zu bedeuten habe. Wo hatte er nur seinen Kopf gehabt, großer Gott?
Es handelte sich um ein zweistöckiges, der Straße zugewandtes Reihenhäuschen, eingezwängt zwischen zehn anderen der gleichen Bauart. Eingestaubtes Werbematerial und Zeitungen vor der Haustür zeugten von einer längeren Abwesenheit der Bewohner. Niemand meldete sich auf sein drängendes Klingeln.
Nun war das Unglück also geschehen. Was tun? Seine beiden Söhne in der Ferne, im Ausland. Seine zweite Frau völlig unfähig. Die Freundinnen an der Universität in Panik. Der alte Herr fühlte sich niedergeschlagen. Sein Körper schien ihm schwach, leer, als würde er zusammenbrechen. Seine Gedanken in hellem Aufruhr. Auf einmal ergab nichts mehr Sinn. Eine einzige Tatsache drängte sich in den Vordergrund, machte alles, was nicht damit zusammenhing, nichtig, ließ alles andere obsolet erscheinen: die konkrete Tatsache, dass seine geliebte Tochter seit elf oder mehr Tagen verschwunden war. Er fühlte sich sehr allein.
Er stellte Hypothesen auf. Vielleicht ein Unfall oder eine schwere Krankheit, über die sie nicht hatte sprechen wollen. Die schlimmste von allen wäre die Verhaftung durch die Geheimdienste. Der Staat hat weder Gesicht noch Gefühle, er ist undurchsichtig und pervers. Sein einziger Sehschlitz ist die Korruption. Doch manchmal wird selbst dieser aus übergeordneten Gründen geschlossen. Dann verdoppelt der Staat seine Bösartigkeit – aufgrund seiner Grausamkeit und seiner Unerreichbarkeit. Das kannte er sehr wohl.
K. erinnerte sich an Szenen aus der jüngsten Vergangenheit, an die Nervosität seiner Tochter, ihre Vorwände, diese Eigenart, schnell mal vorbeizuschauen und schon wieder auf dem Sprung zu sein, diese Adresse für den äußersten Notfall und das Verbot, sie an jemanden weiterzugeben. Verwirrt stellte er fest, welch enormer Selbsttäuschung er erlegen war, hinters Licht geführt von der eigenen Tochter, die vielleicht in die gefährlichsten Abenteuer verwickelt war, von denen er in seiner Zerstreutheit nichts ahnte, abgelenkt durch seine Leidenschaft für die jiddische Sprache, leichtfertig verzaubert von den literarischen Treffen.
Ach, und die Fehlentscheidung, mit dieser deutschen Jüdin die Ehe einzugehen, nur weil sie Kartoffeln kochen konnte. Seine verdammten Freunde, die ihm eingeredet hatten, zum zweiten Mal zu heiraten. Jawohl, verdammt sollten sie sein, alle miteinander. Er, der niemals fluchte, der die Menschen akzeptierte und so nahm, wie sie waren, hatte sich nicht mehr in der Gewalt und ließ eine Schimpfkanonade los. Er ahnte das Schlimmste.
Sein Freund, der Schriftsteller und Anwalt, empfahl ihm am Telefon, sich an die Vermisstenstelle der Polizei zu wenden, wenn es auch zu nichts führen würde, er müsse seiner formellen Pflicht als Vater nachkommen. Er diktierte ihm die Adresse der Polizeidienststelle in der Rua Brigadeiro Tobias. K. sprach ihn auf das Verschwinden von zwei jüdischen Medizinstudenten an. Ja. Es stimmte. Eine der Familien hatte bereits Kontakt zu ihm aufgenommen. Und was würde er unternehmen? Nichts. Bei politisch motivierten Verhaftungen war es den Gerichten untersagt, Habeas-Corpus-Gesuche anzunehmen. Da gibt es nichts, was ein Rechtsanwalt tun kann. Nichts. Das ist die Sachlage.
Auf der Polizeiwache stellten sie dem Alten nur wenige Fragen. Bei den meisten vermissten Personen handele es sich um Jugendliche, die vor betrunkenen Eltern und prügelnden Stiefvätern flohen. K. erklärte, dass seine Tochter Dozentin an der Universität war, einen Doktorgrad besaß, finanziell unabhängig war und allein lebte. Sie hatte ihr eigenes Auto; könnte es vielleicht etwas Politisches sein?
Er wollte dem Polizeikommissar gegenüber nicht zu sehr ins Detail gehen, die Frage nur im Raum stehen lassen. Deshalb gab er ihm auch nicht die Adresse der Rua Padre Chico, nannte seine eigene Anschrift als die ihre und die Anschrift seines Ladens als die seine. Unmerklich kehrte K. zu vergessenen Gewohnheiten aus seiner konspirativen Jugendzeit in Polen zurück. Der diensthabende Kommissar war nicht angetan von dem Gespräch. Jede Einmischung in politische Fälle war ihm untersagt. Doch aus Mitleid nahm er die Anzeige entgegen. K. solle abwarten und nichts von Politik verlauten lassen.
Nach ihr suchen? Nein, die Polizei hatte alle Hände voll zu tun; eine Hochschuldozentin, über dreißig, erwachsen und für sich selber verantwortlich. Er möge abwarten, ein Rundschreiben mit Lichtbild ginge an sämtliche Polizeidienststellen. Falls er innerhalb von fünf Tagen keine Nachricht erhielte, könne er es bei der Gerichtsmedizin versuchen, wo die nicht identifizierten Leichen der Opfer von Verkehrsunfällen und anderen Unfällen eingeliefert wurden. Es klang verlegen.
So nahm das Schicksal des alten Vaters, dessen Verzweiflung von Tag zu Tag zunahm, der kaum noch Schlaf fand, seinen Lauf. Am zwanzigsten Tag, nachdem er ein zweites Mal erfolglos auf dem Campus und in der Padre Chico gewesen war, wandte er sich an seine Freunde vom Literaturkreis; an dieselben, die er, als seine Nerven blank lagen, verflucht hatte. Wer weiß, vielleicht kannten sie ja jemanden, der wiederum jemanden kannte – bei der Polizei, beim Heer, beim Geheimdienst oder wo auch immer in diesem System, das Menschen verschlang, ohne Spuren zu hinterlassen. Mit Ausnahme des Rechtsanwalts waren es arme Schlucker, die keine einflussreichen Leute kannten. Der Anwalt erwähnte vage einen Vorsteher der Gemeinde in Rio de Janeiro, der Zugang zu den Generälen hatte. Er würde versuchen, mehr in Erfahrung zu bringen.
K. zählte die Tage seit dem Verschwinden seiner Tochter und stellte Berechnungen an, auch ein Überbleibsel aus seiner Jugendzeit. Und es verging kein Tag, an dem er nicht versucht hätte, etwas für seine Tochter zu tun. Er konnte schon gar nichts anderes mehr tun. Um schlafen zu können, schluckte er Schlaftabletten. Nachdem fünfundzwanzig Tage vergangen waren, nahm er all seinen Mut zusammen und stattete dem Institut für Rechtsmedizin einen Besuch ab.
Er erzählte von dem unerklärlichen Verschwinden seiner Tochter, ohne das Wort Politik in den Mund zu nehmen. Er zeigte das Foto, auf dem sie mit feierlicher Miene ihr Diplom entgegennahm. Danach zeigte er ein zweites, auf dem sie anders aussah, abgemagert, mit leidendem Blick. Nein, die Angestellten brachten dieses Gesicht nicht in Verbindung mit den wenigen Frauenleichen, die in letzter Zeit eingeliefert worden waren, alles Schwarze oder Farbige. Fast alles Elendsfiguren. Um ehrlich zu sein, es ist bestimmt schon über ein Jahr her, dass ein nicht identifizierter weißer Frauenkörper in die Rechtsmedizin überführt wurde. Erleichtert verließ K. das Institut; die Hoffnung, dass sie noch am Leben war, blieb bestehen. Aber die Fotografien der Elenden und Unbekannten in dem Album deprimierten ihn. Nicht einmal zur Zeit des Krieges in Polen war er auf so übel zugerichtete Gesichter und vor Schreck geweitete Augen gestoßen.
Beharrlich begann er nun, Kunden, die in den Laden kamen, um ihre Raten abzuzahlen, Nachbarn aus seiner Straße und sogar Unbekannte anzusprechen. Ihnen allen erzählte er die Geschichte seiner Tochter. Und ihr VW Käfer ist auch verschwunden – unterstrich er. Die meisten hörten schweigend bis zum Ende zu, dann klopften sie ihm allenfalls auf den gebeugten Rücken und sagten: Es tut mir sehr leid. Einige wenige unterbrachen ihn schon am Anfang, gaben vor, einen Arzttermin zu haben oder Ähnliches – als ob bloßes Zuhören sie bereits in Gefahr brächte.
Am dreißigsten Tag nach dem Verschwinden seiner Tochter las K. in der Zeitung O Estado de São Paulo eine Nachricht, in der es, wenn auch auf indirekte Weise, um das Verschwinden politischer Oppositioneller ging. Der Erzbischof hatte ein Treffen »mit Familienangehörigen verschwundener politischer Oppositioneller« einberufen.
Genau so stand es da: »mit Familienangehörigen verschwundener politischer Oppositioneller«.
K. hatte noch nie ein katholisches Gotteshaus betreten, so fremd kamen ihm das stille Halbdunkel der Kirchen und die Heiligenbilder vor, auf die er hinter Türbögen einen Blick erhaschte. Dem Katholizismus begegnete er mit einer atavistischen Abscheu, zu der sich die Verachtung sämtlicher religiöser Praktiken, einschließlich der seines eigenen Volkes, gesellten. Im Grunde waren es nicht die Menschen und ihr Glaube, die er nicht mochte, es waren die Geistlichen, egal ob Pastor, Rabbiner oder Bischof; für ihn waren es Heuchler. Aber an jenem Nachmittag zählte nichts von alldem. Eine wichtige Persönlichkeit, ein Erzbischof, würde über die seltsamen Fälle verschwundener Menschen sprechen.
Als er den großen Saal des Erzbischöflichen Palais’ betrat, spürte K., wie sehr das Verschwinden seiner Tochter ihn bereits verändert hatte. Er betrachtete wohlwollend die barocke Statue der Jungfrau Maria im Eingang und die Figuren von anderen, ihm nicht bekannten Heiligen, die in den Nischen standen. Als er ankam, hatte das Gespräch bereits begonnen. Mindestens sechzig der zahlreichen Stühle im Saal waren besetzt. Vier ernst dreinblickende Herren, die wie Rechtsanwälte aussahen, koordinierten das Ganze und saßen dem Publikum im Halbkreis frontal gegenüber; eine Nonne mit einem großen Heft vor sich führte Protokoll.
Es sprach eine sehr alte Dame, die die neunzig womöglich schon überschritten hatte, zart, klein, die Brille auf der Nasenspitze, das Haar schlohweiß; ihr Mann war am Grenzübergang Uruguaiana aus dem Exil zurückgekehrt, hatte den vorher verabredeten Treffpunkt auf der brasilianischen Seite der Grenze erreicht und war einfach verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen, als habe er sich in Rauch aufgelöst oder als hätten Engel ihn in den Himmel entführt. Einer der Söhne versuchte, seine Schritte zurückzuverfolgen, suchte ihn in sämtlichen Krankenhäusern sowie auf den Polizeiwachen und Busbahnhöfen von Uruguaiana, doch nichts, nicht das geringste Zeichen. Der Sohn, der an ihrer Seite saß, bestätigte die Ausführungen.
Danach ergriff eine andere, so um die fünfzig Jahre alte Dame das Wort und stellte sich als die Ehefrau eines ehemaligen Parlamentariers vor. Zwei Polizeibeamte seien bei ihr zu Hause erschienen und hätten ihren Mann gebeten, mit ihnen aufs Revier zu kommen, um ein paar Fragen zu klären. Sorglos begleitete er sie, denn obwohl die Militärs ihn seines Mandats enthoben hatten, führte er ein normales Leben und arbeitete in seiner Anwaltskanzlei. Seitdem, also seit acht Monaten, war er nicht wieder gesehen worden. Auf dem Polizeirevier sagte man, er sei lediglich eine Viertelstunde dort gewesen und dann entlassen worden. Aber wie konnte das sein? Wie konnte er denn so sang- und klanglos verschwinden? Diese Dame, elegant gekleidet, war in Begleitung von vier Söhnen erschienen.
Weitere Berichte über ähnliche Fälle folgten. Alle wollten reden. Und sie wollten zuhören. Sie wollten verstehen. Vielleicht ergab sich ja aus der Gesamtheit der Fälle eine Erklärung, eine Logik, vor allem aber eine Lösung, eine Möglichkeit, dem Alptraum ein Ende zu bereiten. Eine junge Frau von knapp zwanzig Jahren bat darum, im Namen einer Gruppe, die sich um sie geschart hatte, sprechen zu dürfen: »die Familienangehörigen der verschwundenen Guerrillakämpfer des Araguaia«, sagte sie. K. hörte zum ersten Mal, dass jemand die Araguaia-Region erwähnte; er erfuhr, dass viele junge Männer und sogar einige Frauen mitten in den Wäldern des Amazonas von den Streitkräften festgenommen und an Ort und Stelle exekutiert worden waren.
Was diese Gruppe bei dem Treffen offenbarte, war unbeschreiblich. Das Heer gab vor, es sei nichts dergleichen geschehen, obwohl einer – ein einziger – der Gefangenen entkommen war und alles bezeugt hatte. Die Familien wollten ihre Toten begraben – sie wussten, dass sie nicht mehr am Leben waren, es seien mehr als fünfzig, berichteten sie. Sie wussten sogar, wo in etwa die Region lag, in der sie hingerichtet worden waren, doch die Militärs bestanden darauf, es seien keine Leichen zu übergeben.
Ein junger Mann traf sich mit seiner Frau im Conjunto Nacional zu einem gemeinsamen Mittagessen. Dies war das letzte Mal, dass die beiden gesehen wurden. Während sie sprach, zeigte die Mutter des jungen Mannes ihren Stuhlnachbarn die Fotos ihres Sohnes, ihrer Schwiegertochter und ihres kleinen Enkels. Ein Herr stand auf und sagte, er sei eigens aus Goiânia zu diesem Treffen angereist. Seine beiden Söhne, der eine einundzwanzig und der andere erst sechzehn Jahre alt, hatte man verschwinden lassen. Dieser Herr stotterte, schien an einer katatonischen Störung zu leiden. Er war der erste, der die Wendung »hatte man verschwinden lassen« gebrauchte. Auch er hatte Fotos seiner Söhne dabei. Nachdem er zu Ende gesprochen hatte, fasste K. Mut und erzählte seine Geschichte.
Es war bereits dunkle Nacht und die Berichte setzten sich fort. Die Szenarien, die Einzelheiten und Umstände waren unterschiedlich, doch die insgesamt zweiundzwanzig während des Treffens geschilderten Fälle verband ein und dasselbe erschreckende Merkmal: die Menschen verschwanden, ohne Spuren zu hinterlassen. Es war, als ob sie sich in Luft aufgelöst hätten. Dasselbe galt auch für die jungen Leute am Araguaia, obwohl man in ihrem Fall bereits wusste, dass sie tot waren. Die Nonne machte Notizen zu jedem einzelnen Fall. Sie sammelte auch die Fotos ein, die die Angehörigen mitgebracht hatten.
Entsetzt hörte K. zu. Sogar die Nazis, die ihre Opfer zu Asche verbrannt hatten, führten Buch über die Toten. Jeder Einzelne hatte eine eintätowierte Nummer auf dem Arm. Jeder Todesfall wurde registriert. Es stimmte, dass in den ersten Tagen des Überfalls auf Polen und danach Menschen abgeschlachtet wurden. Sie stellten sämtliche Juden eines Dorfes aufgereiht an den Rand eines Massengrabs, erschossen sie, schütteten Kalk darüber, danach Erde – das war’s. Aber die goyim eines jeden Ortes wussten, dass man ihre jüdischen Mitbürger in diesem Loch verscharrt hatte, sie wussten, wie viele es waren und um wen es sich im Einzelnen handelte. Es gab nicht diese tödliche Ungewissheit. Es waren Menschen, die einer Massenexekution zum Opfer gefallen und nicht Menschen, die vom Strudel des Systems erfasst worden waren.
Die Zelle fliegt auf
Draußen geht das Leben unbeirrt weiter: Frauen erledigen Einkäufe, Fabrikarbeiter gehen zur Arbeit, Kinder spielen, Bettler bitten um Almosen, Verliebte halten Händchen. Dort drinnen, in der kleinen Zweizimmerwohnung, gerät das Paar in Panik. Den beiden zittern die Hände, sie wissen nicht mehr, wohin damit. Das Gespräch ist von Schrecken geprägt, die Augen vermeiden den Blickkontakt. Sie schwitzen, der Geruch von Unglück liegt in der Luft. Das Auffliegen der Untergrundzelle an jenem Morgen lässt sich nur durch Verrat erklären. Es gibt einen Informanten unter ihnen, einen Verräter oder eingeschleusten Agenten, jemand, der von den wenigen, die übrig geblieben sind, ihnen beiden sehr nahe steht.
Es sind nicht mehr als zwei Stunden vergangen. Die Instruktionen sind klar und kategorisch: Fliegt eine Zelle auf, muss die schlimmste aller Möglichkeiten als wahrscheinlich angenommen werden, der Companheiro wird der Folter nicht widerstehen und irgendwelche Informationen preisgeben. Es gibt weder Zeit noch Ruhe für eine präzise Auflistung dessen, was der andere gewusst oder nicht gewusst hat. In diesem Fall, so lauten auch hier die Instruktionen, vom schlimmsten aller Fälle ausgehen – der andere hat über alles Bescheid gewusst.
Wie gut, dass er doppelt vorsichtig gewesen war. Oder hatte er schon einen Verdacht verspürt? Er hatte sich eine Stunde früher am Ende des Platzes an einer Stelle postiert, von der aus er beobachten konnte, ohne beobachtet zu werden. Er hatte mit angesehen, wie die Agenten, einer nach dem anderen, aufgetaucht waren und sich an den vier Ecken, im Zentrum und an den Seiten aufstellten. Es waren mindestens zehn.
Dann sah er, wie die Kontaktperson sich mit gesenktem Kopf, unsicherem Schritt und nervösen Bewegungen näherte. Er sah, wie er sich, wie vorab vereinbart, auf einer bestimmten Parkbank niederließ und die fünf Minuten abwartete, nie länger als fünf Minuten, so schreiben es die Sicherheitsregeln vor.
Er selbst wartete keine fünf Minuten. Was er gesehen hatte, war ausreichend. Eine Falle. Alles sprach dafür, dass der Verbindungsmann selbst sich als Köder entpuppte. Aber der Verräter konnte ein anderer sein. Er selbst war der Koordinator dieses Stadtgebiets. Das Regionalkommando war auch im Bilde über die Kontaktaufnahme zu der Untergrundzelle.