K - Tom McCarthy - E-Book

K E-Book

Tom McCarthy

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Beschreibung

Serge Karrefax erblickt im ländlichen England kurz vor der Jahrhundertwende das Licht der Welt – und mit seinem Schicksal verwoben gleichsam das Zeitalter der Technologie und Kommunikation. Als Funker im Ersten Weltkrieg fliegt er über Frankreich, hofft im Londoner Untergrund der Swinging Twenties mithilfe technologischen Fortschritts die Toten anzufunken, und hilft schließlich im gerade unabhängig gewordenen Ägypten ein Funknetz zu errichten – bis sein Leben in einer altägyptischen Grabkammer eine unerwartete Wendung nimmt.

Kommunikation, Krieg, Kokain, Krypta: K untersucht gnadenlos, unser Verlangen uns mitzuteilen, während Serge K. die Botschaft hinter allen Botschaften, das Signal hinter allen Signalen sucht. Dieses singulär originelle Buch selbst aber widersteht allen Versuchen, seinen Code zu knacken.

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Seitenzahl: 601

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Cover

Titel

Tom McCarthy

K

Roman

Aus dem Englischen von Bernhard Robben

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel C bei Jonathan Cape, London.Auf Deutsch erstmals erschienen bei Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.Die Verse auf Seite 230 ff. wurden mit freundlicher Genehmigung des Mattes Verlags, Heidelberg, folgendem Werk entnommen: A. E. Housman, Die »Shropshire-Lad«-Gedichte, XXVII, S. 21. Aus dem Englischen von Hans Wipperfürth.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5347.

© der deutschen Übersetzung Bernhard Robben, 2012© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023© 2010 by Tom McCarthy

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Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung: Athos Ferrari, Crumpled 2 (Detail), Acryl auf Leinwand, 100 x 67 cm, (c) Athos Ferrari/Saatchi Art

eISBN 978-3-518-77589-9

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Eva Stenram

Motto

»Wir müssen selbst hinab unter der Erde Lagerstatt, Das Lager zu richten – für wen?« Omar Khayyām

K

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

EINS Kappe

1

I

II

III

2

I

II

III

3

I

II

4

I

II

III

5

I

II

III

6

I

II

III

IV

V

Zwei Krieg

7

I

II

III

8

I

II

III

9

I

II

III

IV

Drei Kollision

10

I

II

III

Vier Kammer

11

I

II

III

12

I

II

III

Danksagung

Nachwort des Übersetzers

Informationen zum Buch

EINS

Kappe

1

I

Dr. Learmont, frisch zugelassener Arzt für die Bezirke West Masedown und New Eliry, schwankt und schaukelt auf dem Vordersitz eines Einspänners, der über den sanft abfallenden Weg auf das Haus Versoie zurollt. Sein Gesäß tut ihm weh: Der Sitz ist hart und nicht gepolstert. Sein Begleiter, Mr Dean vom Lieferdienst Hudson and Dean (Lydium und Umgebung seit 1868), scheint unter keinerlei Unannehmlichkeiten zu leiden. Der glasige Blick ist in eine unbestimmte Ferne gerichtet, die ledrigen Hände, Zügel um die Finger geflochten, schweben dicht über den Knien. Vom hinteren Kutschteil steigt das Klirren von Glasflaschen auf sowie ein mahlendes Geschabe von Kupferdraht an Kupferdraht, Laute, die zusammen mit dem Geräusch über Kies zockelnder, klappernder Pferdehufe unbeirrt in der stillen Septemberluft hängen. Hohe Koniferen, gerade und reglos wie Säulen, überragen das Gefährt. Höher noch und weiter fort schwirren schwarze Vögel lautlos unter konkavem Himmelsgewölbe.

Mit den Beinen umklammert der Arzt einen braunen Koffer nebst schwarzem Inhalationsapparat. In der Hand hält er einen gelben Zettel. Verwirrt studiert er ihn, so gut er kann. Gelegentlich schaut er auf, um durch den Koniferenvorhang zu blicken, der kurz die Sicht auf gemähten Rasen und einige Reihen Bäume mit weißen Früchten und grünrotem Laub freigibt, sie dann aber gleich wieder verbirgt. Um die Bäume ist Bewegung: Kleine Gliedmaßen recken sich, berühren und lösen sich voneinander in halb stetigem Rhythmus, so als übten sie Kraul- oder Brustschwimmen.

Der Einspänner fährt durch tief hängende Holzrauchschwaden, biegt dann ab und lässt die Koniferen hinter sich. Learmont kann jetzt erkennen, dass die Gliedmaßen Kindern gehören, vieren oder fünf, die in irgendein Spiel vertieft sind. Sie stehen in lockerem Kreis, heben die Arme und klatschen in die Hände. Die Lippen bewegen sich, nur dringt kein Laut hervor. Manchmal hallt ein meckerndes Lachen über die Obstwiese, doch lässt sich kaum sagen, von welchem Kind es kommt. Das Lachen klingt auch irgendwie nicht richtig, seltsam verzerrt und schief – fast als käme es von einem Bauchredner oder würde von irgendwoher eingespielt. Keines der Kinder scheint Learmonts Ankunft zu bemerken, ja, keines scheint sich der eigenen Präsenz außerhalb und jenseits des sich bewegenden Kreises bewusst zu sein, so als ginge ihr isoliertes Dasein ganz in der körperbetonten Choreographie vervielfachter, ineinander verschlungener Leiber auf.

Ohne an den Zügeln zu ziehen oder dem Pferd etwas zuzurufen, bringt Mr Dean den Einspänner zum Stehen. Daneben, rechter Hand, fließt ein schmaler, stiller Bach vor einer hohen Mauer, die, von der anderen Seite her, mit Farn und Glyzinien überwuchert ist. Zur Linken der Kutsche klammert sich ein verästeltes Gebüsch von Rosenstängeln und -zweigen an eine zweite Mauer. Dahinter kommt der Holzrauch hervor, ebenso ein alter Mann mit einem Rechen, der aus einer Tür in der Mauer tritt und eine Karre vor sich her über den Kies schiebt.

»Hallo!«, ruft Learmont ihm zu. »Hallo?«

Der alte Mann bleibt stehen, setzt die Schubkarre ab und schaut hinüber zu Learmont.

»Können Sie mir sagen, wo ich das Haupthaus finde? Den Eingang?«

Der alte Mann gestikuliert mit der freien Hand: Dort drüben. Dann umfasst er wieder die Griffe der Karre und schlurft an der Kutsche vorbei zur Obstwiese. Learmont lauscht den verklingenden Schritten nach. Schließlich dreht er sich zu Mr Dean um und sagt: »Schweigt wie ein Grab.«

Mr Dean zuckt die Achseln. Dr. Learmont steigt ab, betritt den Kies, schüttelt die Beine aus und blickt sich um. Der Alte schien hinter die überwucherte Gartenmauer gezeigt zu haben. In der findet sich ebenfalls eine schmale Tür.

»Warten Sie doch einfach hier«, schlägt er Mr Dean vor. »Ich gehe und suche …«, er hält den gelben Zettel hoch, um ihn erneut zu studieren, »diesen Mr Karrefax.«

Mr Dean nickt. Dr. Learmont nimmt seinen Koffer sowie den Inhalationsapparat und betritt die kleine Holzbrücke über den burggrabenähnlichen Bach. Dann taucht er mit dem Kopf unter den Glyzinien hindurch, denen es aber gelingt, ihn flüchtig zu streifen, ehe er durch die Türöffnung tritt.

Im Garten wachsen Margeriten, Iris, Tulpen und Anemonen kunterbunt durcheinander und dicht gedrängt auf beiden Seiten eines Pfads unebener Mosaikfliesen. Learmont folgt ihm bis zu einem von Hecken geformten Durchgang mit einem Spalierdach, überzogen von Giftbeeren und einem drahtigen, hellbraunen Gewächs, dessen Ranken sich zu Gebäuden schlängeln, bei denen es sich offenbar um Ställe handelt. Als Learmont dem Durchgang näher kommt, hört er ein leises Summen. Er bleibt stehen und lauscht. Es scheint aus den Stallungen zu dringen: ein pulsierendes, mechanisches Gebrumm. Learmont überlegt hineinzugehen und die Leute an den Maschinen nach dem Weg zu fragen, sagt sich dann aber, dass die Motoren vermutlich aus eigener Kraft laufen, weshalb er beschließt, dem Pfad weiter zu folgen, der nun nach rechts abbiegt und sich, nachdem Learmont erneut eine Tür in einer Mauer passiert hat, zu einem Irrgarten verzweigt, der sich über einen Rasen ausbreitet, ehe er an einer weiteren Mauer endet, durch die wiederum eine Tür führt. Learmont schreitet über den Rasen und öffnet diese dritte Tür, die ihn an den Rand jener Obstwiese bringt, die er schon bei der Ankunft bemerkt hat. Der breite, sanft abfallende Kiesweg, über den er mit Mr Dean gefahren ist, zieht sich auf der anderen Seite der Obstwiese entlang, halb verborgen hinter den Koniferen; der schmalere Weg, auf dem er nun steht, liegt rechtwinklig davon zwischen der Gartenaußenmauer und dem unteren Rand der Obstwiese. Die Kinder sind noch da, vertieft in ihre stumme Pantomime. Learmont lässt den Blick an ihnen vorbeiwandern. Die Reihen kleiner, weiße Früchte tragender Bäume weichen ungepflegtem Rasen, der nach gut fünfzig Metern in eine Weide übergeht, auf der vereinzelt Schafe grasen. Die Weide steigt an zu einem Hügelkamm, über den bis zu seinem Rand eine Telegraphenleitung verläuft, dann abfällt und sich dem Blick entzieht.

Learmont schaut noch einmal auf den Zettel, wendet sich nach links und folgt dem Weg entlang der äußeren Gartenmauer – bis er an seinem Ende schließlich auf das Haus stößt.

II

Er läutet die Glocke, tritt zurück und blickt am Gebäude hinauf. Die Fassade ist mit Efeu überwachsen. Noch einmal läutet er und legt ein Ohr an die Tür. Diesmal hat ihn jemand gehört: Schritte kommen näher. Ein Dienstmädchen öffnet. Sie sieht etwas aufgelöst aus, die Ärmel hochgerollt, Hände und Stirn feucht. Ein Mädchen von drei, vier Jahren steht im Hintergrund, ein Tuch in der Hand. Beide, Kind wie Dienstmädchen, schauen auf Learmonts Koffer und den Inhalationsapparat.

»Sie wollen was bringen?«, fragt das Dienstmädchen.

»Nun, na ja … gewissermaßen«, antwortet er und hält den Zettel hoch. »Ich soll hier …«

Ein Mann taucht aus dem Haus auf und drängt sich an Kind und Dienstmädchen vorbei.

»Zink und Selenzellen?«, blafft er.

»Sind im Einspänner«, erwidert Learmont. »Aber ich bin eigentlich gekommen, um …«

»Und die Säure? Die Kupferrollen?«, unterbricht ihn der Mann. Er ist von stattlicher Figur, hat eine dröhnende Stimme und dürfte um die vierzig, vierundvierzig sein. »Gekommen – um was?«

»Ich bin hier, um ein Kind zur Welt zu bringen.«

»Gekommen, um … ach so, ja! Bringen, natürlich! Ausgezeichnet! Sie können … Ja, warten Sie … Maureen zeigt Ihnen, wo … Sie sagten, die Kupferrollen sind in der Auffahrt?«

»Hinter dem …« Dr. Learmont will über die Gärten hinweg zeigen, kann sich aber nicht mehr erinnern, aus welcher Richtung er gekommen ist.

»Und ein Mann passt darauf auf? Könnten Sie uns vielleicht helfen …«

»Sir …«, sagt das Dienstmädchen.

»Ja, Maureen, was ist denn?«, fragt der Mann. Maureen ringt aufgebracht nach Luft. Sekundenlang starrt er sie an, dann schlägt er sich auf die Oberschenkel und sagt: »Aber nicht doch, natürlich: Führ den Arzt zu ihr. Ist alles so weit …?«

»Bestens, Sir«, informiert ihn Maureen. »Danke der Nachfrage.«

»Ausgezeichnet!«, dröhnt er. »Nun, also schön, machen Sie ruhig. Maureen sorgt dafür, dass Sie alles bekommen, was Sie … Das ist das Telegramm?«

Sein Blick klebt am gelben Zettel, die Augen blitzen vor Aufregung.

»Ich war ein wenig verwirrt …«, beginnt Learmont, doch der Mann schnappt sich den Zettel und beginnt laut zu lesen: »›… in den nächsten vierundzwanzig Stunden erwartet‹ …gut … ›Gravida seit gestern Abend in den Wehen …‹ Wunderbar! ›Gravida‹. Jeder Buchstabe kristallklar!«

»Wir waren uns hinsichtlich der Provenienz etwas unsicher …«

»Wie – Provenienz? Warten Sie, was ist das? ›Arzt verbangte, sobald …‹? ›Verbangte‹? Mist, verdammter, was soll denn das für ein Wort sein?«

»Sir, bitte!«, sagt Maureen.

»Sie hat schon Schlimmeres gehört«, blafft er zurück. »›Verbangte‹? Ich habe … Diese verfluchte Taste!«

»Grundgütiger!«, sagt Maureen, dreht sich zum Kind um und nimmt ihm das Tuch ab. Eine zweite Frau taucht im Flur auf und steuert, ein Tablett mit Keksen in den Händen und eine Katze im Schlepptau, auf die Obstwiese zu. »Geh mit Miss Hubbard«, sagt Maureen der Kleinen.

»… B … L …«, brummelt der Mann, dann blafft er wieder: »Provenienz?«

»Wir waren uns hinsichtlich der Herkunft des Telegramms etwas unsicher«, erklärt Learmont. »Es kommt jedenfalls nicht von der Post an der Straße in Lydium, scheint aber über dieselbe Leitung geschickt worden zu sein, die …«

»Miss Hubbard«, sagt der Mann, »warten Sie.«

Die zweite Frau bleibt stehen. »Ja, Mr Karrefax?«

»Ich kann die Kinder nicht reden hören, Miss Hubbard.«

»Sie spielen, Mr Karrefax.«

»Sind Sie sicher, dass sie sich nicht in Zeichensprache unterhalten?«

»Ich habe ihnen gesagt, dass sie das nicht dürfen. Ich …«

»Was? Ihnen gesagt? Das reicht nicht! Sie müssen sie zum Reden bringen. Immerzu!«

Das Mädchen streckt eine Hand nach dem Tablett aus. Still und gespannt verfolgt die Katze die Bemühungen des Kindes. Maureen fasst Learmont am Ärmel und zieht ihn ins Haus.

»Die Provenienz, mein guter Mann, hat gleich hier ihren Ursprung!«, posaunt Mr Karrefax, als der Arzt sich an ihm vorbeizwängt. »Ungeachtet der B und L! Enttäuschend, gewiss. Reparierbar. Das Kupfer! In der Auffahrt, sagten Sie?«

»Es wartet da ein Mann in einem …«

»Ausgezeichnet! Wenn ich sie nicht höre, Miss Hubbard, dann, fürchte ich, benutzen sie Zeichensprache.«

»Ich werde tun, was ich kann, Mr Karrefax«, sagt ihm Miss Hubbard.

»Immerzu!«, bellt er ihr hinterher. »Ich will sie immerzu reden hören!«

Er begleitet sie mit großen Schritten in Richtung Auffahrt. Das Kind folgt den Keksen, die Katze dem Kind. Maureen führt Dr. Learmont in die entgegengesetzte Richtung zur Treppe, über der ein aus Seide gewebter Wandteppich hängt, der denselben Treppenaufgang zeigt oder doch einen, der sehr ähnlich aussieht. Oben überqueren sie den Treppenabsatz und betreten ein Zimmer. Dort hängt ein zweiter Seidengobelin, diesmal eine orientalische Szene, in der Bauern mit Pferdeschwanzfrisur in Bäume mit den gleichen weißen Früchten hinauflangen, wie sie auf der Obstwiese wachsen. Im Schatten der Bäume, am Teppichrand, entwirren Bäuerinnen dunkle Knäuel. Unter dem Gobelin, im Zimmer selbst, liegt eine Frau in Rückenlage auf dem Bett. Ein straff gespanntes Laken presst sie auf die Matratze, doch klammert sich die Frau nicht daran fest. Vielmehr liegt sie friedlich da, auch wenn ihr dichtes, braunes Haar schweißnass ist. Ein zweites Dienstmädchen sitzt neben ihr auf einem Stuhl und hält ihre Hand. Die Frau im Bett lächelt Learmont unsicher an.

»Mrs Karrefax?«, fragt er.

Sie nickt. Dr. Learmont setzt den Behälter ab, legt den Koffer aufs Bett, öffnet ihn und fragt: »In welchen Abständen kommen die Wehen?«

»Drei Minuten«, antwortet sie mit einer sanften, leicht belegten Stimme, an der etwas ungewöhnlich ist, etwas, das über Müdigkeit hinausgeht und das Learmont nicht recht einzuordnen weiß: kein ausländischer Akzent, aber richtig einheimisch klingt sie auch nicht. Er misst den Blutdruck. Kaum öffnet er die Manschette, kommt eine weitere Wehe. Die Frau verzieht das Gesicht, macht den Mund auf, doch entweicht ihm kein Schrei, kein Stöhnen, nur ein leises, kaum wahrnehmbares Grollen. Die Wehe dauert zehn, fünfzehn Sekunden.

»Tut es sehr weh?«, fragt Learmont, sobald es vorbei ist.

»Als ob ich vergiftet worden wäre«, antwortet sie, wendet den Kopf ab und schaut zum Fenster hinaus in den Himmel.

»Haben Sie Schmerzmittel genommen?«

Sie gibt keine Antwort. Er wiederholt die Frage.

»Sie muss sehen, dass Sie mit ihr sprechen«, erklärt das Dienstmädchen am Bett.

»Wie?«

»Sie muss sehen, dass Sie die Lippen bewegen, Sir. Sie ist taub.«

Er beugt sich über das Bett und wedelt mit der Hand vor Mrs Karrefax’ Gesicht, bis sie sich zu ihm umdreht. Er wiederholt die Frage noch einmal. Sie scheint ihn zu verstehen, lächelt aber nur unbestimmt.

»Hin und wieder ein bisschen Laudanum, Sir«, erklärt das Dienstmädchen am Bett.

»Ich bevorzuge Chloroform«, sagt Learmont.

Mrs Karrefax’ Augen leuchten auf. Ihre sanfte, belegte, eigenartige Stimme fragt: »Chlorodyn?«

»Nein, Chloroform«, antwortet Learmont. Er spricht deutlich und mit Nachdruck, während er eine Gazemaske aus dem Koffer nimmt, sie mit dem Schlauch des Inhalationsapparates verbindet und Mrs Karrefax über das Gesicht streift. Sobald er das Ventil am Behälterhals öffnet, entweicht das Gas mit einem lang anhaltenden, ruhigen Zischen und sucht sich einen Weg durch den Segeltuchkorridor zu Nase und Mund. Die Muskeln in Mrs Karrefax’ Wangen erschlaffen; ihre Pupillen weiten sich. Nach einer halben Minute schließt Learmont das Ventil und zieht die Maske ab. Bald setzt eine weitere Wehe ein; wieder windet sich der Körper der Frau, doch zeigt sich auf ihrem Gesicht kaum noch Schmerz. Ein zweites Mal setzt er ihr die Maske auf, verabreicht erneut Chloroform und sieht, wie sich ihre Züge unter dem Knebel noch ein wenig mehr entspannen, die Pupillen noch etwas erweitern. Als er die Maske wieder abnimmt, murmelt sie: »… un fleuve … un serpent d’eau noir …«

»Wie bitte?«

»Ein samtener Vorhang«, antwortet sie. »Wie schwarzer Samt … der über eine Kamera fällt …«

»Das ist das Chloroform.«

»… eine Kamera«, sagt sie, »die ins Dunkel schaut … Da ist ein Fluss mit einer Wasserschlange, die auf mich zuschwimmt … Noch mehr.« Ihre Hand lässt die des Dienstmädchens los und deutet auf den Behälter.

»Ich will nicht, dass Sie das Bewusstsein verlieren«, sagt Dr. Learmont. »Ich lasse Sie …«

»Sophie!«, entfährt es Maureen. Learmont folgt ihrem Blick zur Tür, in der das Kind steht und ihnen zusieht. Maureen geht zu der Kleinen, stellt sich vor sie und versperrt ihr so den Blick ins Zimmer. »Du solltest nicht hier sein!«, schimpft sie, beruhigt sich aber gleich wieder, nimmt die Kleine auf den Arm und sagt: »Komm, wir gehen und helfen Frieda beim Geburtskuchen.« Während Learmont hört, wie sie mit schwerem Schritt die Treppe hinabgeht, erfasst Mrs Karrefax eine weitere Wehe. Er entnimmt seinem Koffer ein Fläschchen Karbolsäure und sagt dem am Bett sitzenden Dienstmädchen, es solle ihm Olivenöl holen.

»Olivenöl, Sir?«, wiederholt sie.

»Ja«, antwortet er und krempelt die Ärmel auf. »Jetzt dauert es nicht mehr lang.«

Doch es sollte noch lang dauern, den ganzen Nachmittag und länger. Zweimal verlässt er das Zimmer: einmal, um sich die Beine zu vertreten, wobei er durch die Flurfenster Mr Karrefax und Mr Dean sieht, wie sie Kupferrollen und Flaschenkisten durch den ummauerten Garten zu den Ställen tragen; ein zweites Mal, um einige Klappbrote zu essen, die das Dienstmädchen für ihn zubereitet hat. Er verabreicht noch mehr Chloroform und hört trotz des Zischens, wie Mr Deans Einspänner über den Kiesweg rumpelt und davonfährt. Die Wehen dauern an; Mrs Karrefax versinkt immer wieder in Halbschlaf. Die Dämmerung wird zum Abend, dann zur Nacht.

Die letzten Presswehen kommen um halb drei. Das Dienstmädchen hält Mrs Karrefax an den Schultern fest, und Mrs Karrefax klammert sich ans Bettlaken, als endlich der Kopf des Babys zwischen ihren Beinen auftaucht – genau genommen ist er nur undeutlich unter einem schimmernden Plasmafilm zu erkennen, einer Hautmembran. Learmont hat von diesem Phänomen gehört, es aber nie zuvor gesehen. Das Baby trägt eine Glückskappe. Die Fruchtblase umschließt den ganzen Kopf mit einer silbrigen Haube. Kaum ist das Kind draußen, entfernt Learmont die Kappe, krempelt sie vom Hals aufwärts nach oben und streift sie ab. Dann wäscht er den grünroten Schleim fort, der den restlichen Körper bedeckt, klemmt die Nabelschnur ab, durchtrennt sie, wickelt das Baby in ein Tuch und reicht den Kleinen der Mutter.

»Ein Junge«, sagt er. »Jetzt müssen wir uns noch um die Nachgeburt kümmern.«

Er zieht Epithemalodine auf eine Spritze auf, nimmt dann der Mutter das Baby ab und legt es in die Hände des Dienstmädchens. Das Baby beginnt zu weinen.

»Das hier wird ein bisschen wehtun«, sagt Learmont und pocht die Luftblasen fort, legt der Mutter wieder die Gazemaske an, dreht erneut das Chloroform auf und spritzt ihr dann das Epithemalodine in die Vaginallippen. Sie zuckt zusammen, krümmt sich, entspannt sich aber gleich wieder. Kurz darauf kommt die Nachgeburt. Learmont dreht das Ventil zu, blickt der Frau ins vermummte Gesicht und sagt: »Ich entsorg das hier – falls Sie es nicht vergraben möchten. Einige Leute wollen das. Manche braten es sogar, um es dann zu essen. Und die Kappe soll so etwas wie ein Glücksbringer sein …«

Sie aber unterbricht ihn mit einer Handbewegung und deutet auf den Behälter.

»Schaden kann’s nicht«, sagt er. »Wir geben Ihnen noch ein paar Minuten.« Wieder dreht er das Ventil auf. Mrs Karrefax‘ Blick wird sanfter, die Augen weiten sich. Das Baby weint nicht mehr. Bis auf das Zischen des Chloroforms ist es still im Zimmer, dann hört er, sehr leise, jenes gelegentliche, mechanische Summen, das er schon einmal vernommen hat, hört es von draußen, von den Ställen herüberwehen.

III

Im Morgengrauen frühstückt er Räucherhering, Eier und Brot. Als er fertig ist, sagt ihm Maureen, dass Mr Karrefax ihn zu sehen wünsche.

»Wo ist er?«, fragt Learmont.

Sie schnaubt indigniert und antwortet: »In seiner Werkstatt natürlich. Sie finden ihn, wenn Sie links ums Haus und durch die Tür in der Gartenmauer gehen.«

Tau bedeckt das Gras, und Nebelschlangen winden sich um die Baumstämme der Obstwiese, auf der gestern die Kinder spielten. Wie empfohlen geht Learmont ums Haus, kehrt der Obstwiese den Rücken, hält auf einen Teil des Grundstücks zu, den er bei seiner Ankunft nicht passiert hat, und läuft an einer Art eingefasstem Park entlang. In der hohen Mauer ist ein Tor, von Säulen flankiert, auf denen Obelisken thronen. Jenseits dieser Mauer ragen Kastanienbäume mit großen, gelben Blättern auf. Der Park bleibt hinter ihm zurück, als ihn die efeubewachsene Hausmauer um eine weitere Ecke und über einen gepflegten, von niedrigen Mauern umfassten Rasen führt, dann weiter durch eine Hecke auf einen kleineren, ungemähten Rasen, dessen jenseitigen Rand Linden säumen. Als er darauf zugeht, vernimmt er ein leises Summen, das nicht mit dem Summen aus dem Schuppen identisch ist: Dies hier klingt weniger unruhig, weniger elektrisch. Er begreift den Grund dafür, als er die andere Rasenseite erreicht hat: Bienenkörbe unter den Linden. Er geht daran vorbei durch eine zweite Hecke und gelangt in einen Gartenteil mit rechteckig eingefasstem Teich, dessen spiegelglattes Wasser erbsengrüner Schlick bedeckt. Am Ende dieses Geländes führt eine Tür zurück in den ummauerten Garten, durch den er gestern gekommen ist. Learmont rüttelt an der Tür, aber sie ist verschlossen. Von der anderen Seite hört er ein metallisches Knipsen herüberdringen.

»Mr Karrefax?«, ruft er.

Das Geknipse verstummt, und Mr Karrefax’ Stimme dröhnt über die Mauer: »Was? Wer ist da?«

»Der Arzt«, ruft Learmont zurück. »Das Baby ist gesund und munter.«

»Gesund und – was? Tut mir leid, ich habe den Schlüssel zu dieser Tür verbummelt. Sie müssen andersherum gehen. Folgen Sie der Mauer.«

Ihm ist nicht klar, wie er das bewerkstelligen soll; Efeu überwuchert die Ziegel, und Büsche springen wie Strebepfeiler vor, weshalb sich kaum sagen lässt, wohin die Mauer führt. Learmont entscheidet sich für einen Umweg und biegt in die lange Kastanienallee ein, hinter der eine Apfelwiese liegt. Die Allee führt zu einer Reihe kleiner Häuser, doch ehe er sie erreicht, findet er zur Mauer zurück, die aus verschlungenen Heckenknäueln auftaucht, um gleich darauf zu dem schmalen, burggrabenähnlichen Bach abzubiegen, über den er gestern gekommen ist, und die dann wieder über die Holzbrücke führt, sodass er, kaum dass er sie überquert hat, erneut vor derselben kleinen Tür steht. Er ist an seinem ursprünglichen Ausgangspunkt angekommen. Aufs Neue zieht er den Kopf ein, öffnet die Tür, tritt an den Glyzinien vorbei auf die unebenen Mosaikfliesen und folgt dem Pfad zwischen den dicht gedrängt wachsenden Tulpen und Margeriten.

Das Purpur der Irisblüten kommt ihm kräftiger, intensiver als gestern vor. Und der von Hecken und Dachspalier geformte Durchgang wirkt beengter, stärker verwoben. Die drahtigen, hellbraunen Ranken, die von den Giftbeeren abzweigen und zu den Ställen hinüberführen, scheinen sich vermehrt zu haben. Als er unter ihnen langgeht, sieht er, dass es keine Ranken sind, sondern Kupferlitzen, von denen seit gestern noch einige mehr verlegt wurden. Die Rollen, die mit ihm in der Kutsche von Hudson and Dean ankamen, ergießen sich aufgedröselt aus der Werkstatttür. Mr Karrefax steht mit einer Metallschere darübergebeugt und misst ein Stück ab.

»Halten Sie mal«, sagt er zu Learmont und reicht ihm ein Ende.

Dr. Learmont tut wie geheißen. Mr Karrefax vermisst die Entfernung von der Werkstatt zu einem Punkt auf dem Spalier, wobei er laut die Schritte zählt.

»Dreieinhalb Meter. Merken Sie sich das. Sind Sie hungrig?«

»Ich hatte Eier und Räucherhering und …«

»Räucherhering und – was? Essen Sie doch mit mir ein Stück Geburtskuchen. Und dazu genehmigen wir uns einen kräftigen Schluck, einen Malzwhisky, prächtiger Tropfen!«

Er geht mit Learmont in einen der Ställe. Werkbänke stehen unter Regalen mit reihenweise Instrumenten: Morsetasten, Telephonhörer, große Phonographen, aus denen Papierstreifen hängen, Wachszylinder, Flaschen, Gegenstände und Apparate, deren Namen und Funktion Learmont nur erraten kann. Zwischen Metallspänen auf einem Werktisch stehen ein Krug mit dunkelbrauner Flüssigkeit, zwei Becher und etwas Käsekuchen. Mr Karrefax wischt sich die schmutzigen Hände an einem Tuch, das kaum sauberer aussieht, teilt mit einem Messer zwei Kuchenstücke ab, reicht eines dem Arzt und gießt Whisky in die beiden Becher.

»Frühstück, Mittagessen, Abendessen – wer weiß? Hab die ganze Nacht nicht geschlafen«, erzählt er Learmont. »Auf Ihr Wohl, Doktor.«

Der Whisky belebt, der Käsekuchen ist schwer und herb im Geschmack. Einen Moment lang essen und trinken die beiden Männer stillschweigend.

»Ich hab’s repariert«, sagt Mr Karrefax nach einer Weile.

»Was denn?«, fragt Learmont.

»Den B-und-L-Bapsus – Lapsus, meine ich. Wäre gar nicht erst passiert, wenn ich das Kabel von hier zur öffentlichen Leitung in einem Stück verlegt hätte.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie verstehe«, erwidert Learmont.

»Aha!«, trompetet Mr Karrefax, legt Learmont mit festem Griff eine Hand auf den Rücken und dirigiert ihn zur Werkstatttür. »Sehen Sie!«, sagt er und zeigt auf die Kupferstränge, die sich über ihren Köpfen unter die Ranken der Giftbeere auf dem Spalier einfädeln. »Was glauben Sie, wo die enden?«

Learmonts Blick folgt dem Spalier zur Mauer und zur geschlossenen Tür, hinter der er noch vor fünf Minuten gestanden hat. Zwischen dem wuchernden Gemenge aus Efeu und Gebüsch steht eine Art metallener Wetterhahn, um dessen Fuß sich die Kabel wie Schlangen winden.

»Da hören sie auf?«

»Aha!«, trompetet Karrefax erneut. »Ja – und nein! Die Kabel enden, aber das Signal springt weiter! Im Augenblick anderthalb Meter. Mit dem Kupferdraht kann ich auf drei, vielleicht sogar viereinhalb Meter verlängern. Dieser Italiener, der sich gerade mit all seinen Türmen, Masten und Drachen auf der Salisbury Plain herumtreibt … Hat die Post hinter sich, verstehen Sie? Reichlich Förderung. Immer der beste Weg! Ein Sponsor – Kopfnicken hier, Augenzwinkern da: bestimmt ein Freimaurer. Wenn das Kind kommt, wird es wohl nach ihm benannt. Junge oder Mädchen?«

»Das Neugeborene? Ein Junge.«

»Prächtig! Prächtig! Nehmen Sie noch vom Whisky und vom Kuchen. Problemlos gelaufen? Das Mädchen musste regelrecht rausgezogen werden. Hätten wir kein Spielzeug am Fußende vom Bett aufgestellt, wäre die Kleine nie gekommen.«

»Dauerte eine Weile, aber letzten Endes war es eine ruhige Geburt. Auf dem Kopf hatte er eine Kappe, die Fruchtblase.«

»Die was? Rotznase?«

»Eine Haube, ein Schleier um den Kopf, fast wie ein Netz. Soll Glück bringen – vor allem für Matrosen.«

»Matrosen? Ich sag Ihnen, Doktor, wenn dieses verdammte Ding erst funktioniert, brauchen die kein Glück mehr. Dann gibt es rund um die Welt ein Netz, über das sie Signale verschicken können. Sind Sie mit der Lieferkutsche gekommen?«

»Ja. Die Frau im Telegraphenbüro hat beide Meldungen aufgenommen und wusste deshalb, dass Hudson and Dean einen Mann herschickt.«

»Ausgezeichnet! Dann muss Sie nur noch jemand zurückfahren.«

»Bis Lydium ist es nicht weit. Ich kann auch laufen und nehme dann den Zug.«

»Sie brauchen nicht zu laufen!«, trompetet Mr Karrefax. »Ich telegraphiere nach einer Kutsche.«

»Ach, das ist nicht nötig«, sagt Dr. Learmont. »Die frische Luft wird meinem Kopf guttun.«

»Wird Ihrem Kopf – was? Kommt gar nicht in Frage! Gehen Sie zurück ins Haus. Ruhen Sie sich aus, während ich die Order über die Mauer springen lasse.«

Dr. Learmont gehorcht. Er ist zu müde, um zu widersprechen, also geht er zurück, vorbei an Iris und Margeriten, über den schmalen Bach und die Kastanienallee entlang. Hoch über ihm schwirren immer noch die schwarzen Vögel; Learmont könnte nicht sagen, ob es mehr geworden sind oder ob es seine Müdigkeit ist, die ihn die Himmelskuppel in langsam kreisende Punkte aufbrechen lässt. Im Haus packt er seine Utensilien in den Koffer. Er kann die Fläschchen mit dem Epithemalodine und den Kodein-Pillen nicht finden, aber das ist nicht weiter wichtig: In seiner Praxis hat er davon genug.

Das Baby wird gestillt; die Mutter sitzt aufrecht im Bett, ruhig und zufrieden; das Dienstmädchen am Bett kämmt ihr das Haar, dröselt die Strähnen auf wie die Chinesinnen, die auf dem Seidenteppich über ihr an den seltsam dunklen Knäueln zupfen. Am Fuß des Bettes steht Maureen, in ihren Armen das Mädchen, das stumm ihrem Bruder zusieht. Sie sind alle ganz still: Im Zimmer ist es leise bis auf die schmatzenden Lippen des saugenden Babys und das Summen der Kupferdrähte, das vom Garten herüberdringt.

2

I

»Am Anfang«, sagt Simeon Karrefax, der auf einem kleinen erhöhten Podest in Klassenzimmer Eins steht, »am Anfang, meine Damen und Herren, war das Wort.«

Sein Publikum, die schnatternde Elternschar angehender Zöglinge der Versoie-Tagesschule für Gehörlose, zwängt sich auf die Kinderstühle des Klassenzimmers. An der Wand hinter ihnen steht Miss Hubbard; ihr Blick wandert unruhig zwischen Karrefax und einer Kiste voll kleiner Bleirohre zu ihren Füßen hin und her.

»Und das Wort war bei Gott«, fährt Karrefax fort, »und das Wort war Gott, was nichts anderes heißt als: Die Sprache ist göttlich. Sie selbst hauchte die Erde ins Sein – hauchte, atmete ihr Leben ein, damit sie wiederum atmen und sprechen möge. Was, frage ich Sie, ist das Auf und Ab der Berge und Täler, die immerwährende Dünung des Meeres anderes als ihr Atem? Was sind die Winde, die sie umwirbeln und umwehen, mal in der einen, dann in der anderen Richtung? Was die Dampfstrahlen, die aus Geysiren schießen, die Fontänen, die den Blaslöchern der Wale entströmen? Und welcher Mensch, der je neben einem brausenden Wasserfall stand, in einem Wald innehielt und das Geflüster der Blätter vernahm, das Zirpen und Lärmen der Vögel, wird leugnen, dass er die Erde reden hörte?«

Sein konzentrierter Blick wandert durch das Zimmer. Fällt er auf einen Vater, eine Mutter, schlagen sie die Augen nieder oder schauen wie gebannt auf die Weißwandtafel hinter Karrefax. Auf ihr zeigt ein mit schwarzer Kreide auf wattehinterlegtem Glas gezeichnetes Diagramm Scheiben, Scharniere, Rohre und Hebel in einer komplizierten Anordnung, die an ein Bewässerungssystem denken lässt oder an die Mechanik eines Krans.

»Und wir, meine Damen und Herren, bewegen wir uns nicht nach demselben keuchenden, strömenden Rhythmus? Ist unser Geist, unser Esprit nicht passend benannt? Suspirio – atmend leben wir, sprechend nehmen wir Teil am Erhabenen. In unseren Gesprächen, im Zuhören und Antworten, formen wir unsere Bindungen: Freundschaften, Feindschaften, Liebschaften. Durch unsere Teilnahme am Reich der Rede lernen wir Moral und Respekt vor dem Gesetz, lernen, den Schmerz der anderen zu verstehen sowie unsere Gaben durch die großen Werke der Kunst und Wissenschaften zu erweitern und zu festigen, durch Poesie und Vernunft, Argumente und Diskurse. Rede ist Maß und Methode unseres Gedeihens. Sie ist Strom und Währung unserer Begegnungen in der Welt und all der funkelnden Wunder ihrer Institutionen, ihres Handels und Wandels.«

Er hält inne, und die Eltern werden sich des eigenen Atems bewusst, der in der Stille des Klassenzimmers plötzlich so laut und mühsam klingt. Karrefax reckt Kopf und Schultern und fährt fort: »Meine Damen und Herren, mit Stolz nenne ich mich einen Oralisten und zähle Deschamps, Heinicke, Gérando und den großen Alexander Bell zu meinen intellektuellen Wegbereitern. Der menschliche Körper«, erklärt er, dreht sich halb um und klopft mit den Knöcheln an die Weißwandtafel, »ist ein Mechanismus. Wenn sein Maschinenraum, der Thorax, ein knochenumgürtetes Gewölbe für Herz und Lunge, dessen Boden und Wände ständig in Bewegung sind – wenn also diese Kammer genügend Druck abgibt, sodass die Klapptür oben in seiner Decke aufgezwängt und Atem durch die Luftröhre nach draußen gepresst wird, entsteht ein Geräusch. So einfach ist das. Kinder!« Er dreht sich zu einer Reihe von drei Jungen und einem Mädchen um, die bislang stumm neben dem Podium gesessen haben, kehrt die Innenfläche der rechten Hand nach oben und hebt sie energisch an. »Auf!«

Die Kinder erheben sich von ihren Stühlen. Wie ein Dirigent hebt Karrefax beide Hände, stößt sie dann vor und hält sie vibrierend in der Luft – und im Chor geben alle vier Kinder einen einzigen Laut von sich: »Haaaaaaaaa.«

Es ist anhaltender Ton, in die Länge gezogen und bar jeder Harmonie oder Modulation. Nach wenigen Sekunden regen sich einige der Elternkandidaten unruhig auf ihren zu kleinen Stühlen, ändern die Haltung. Wie in Trance oder von Geistern besessen starren die Kinder mit leerem Blick geradeaus; ihre Schultern waren durchgedrückt, als sie zu diesem langen Brummen ansetzten, im Verklingen nun geben sie nach und sacken langsam in sich zusammen. Karrefax zieht die Hände zurück, dann stößt er sie noch einmal vibrierend vor, und die Kinder stöhnen aufs Neue.

»Haaaaaaaaa.«

Beim zweiten Mal wirkt der Ton wie eine Antwort, eine matte, nichtssagende Replik auf eine hohle Frage. Karrefax’ Hände ziehen den Klang so weit wie möglich in die Länge, bis die Stimmen der Kinder vor Anstrengung zittern. Schließlich aber geraten sie ins Stocken, und das Geräusch geht in ein Seufzen über, als die unartikulierten Geister, die in ihre Körper gefahren sind, aufgeben und wieder von ihnen lassen.

»Kinder«, sagt Karrefax und dreht die Hände, sodass die Innenflächen auf die Podiumsdielen weisen, »setzt euch!«

Die Kinder sitzen wieder auf ihren Stühlen. Karrefax zeigt auf sie und erklärt: »Als diese vier Kinder an meine Schule kamen, hielt man sie nicht nur für taub, sondern auch für stumm. Was? Jawohl, stumm: zweifach behindert. Doch ach, wie falsch war diese Diagnose! Hält man Sie, werter Herr, etwa für stumm, nur weil es Ihnen an der Fertigkeit mangelt, sich auf Mandarin unterhalten zu können? Oder Sie, Madam, weil Sie kein Estnisch sprechen und darüber hinaus nicht einmal wissen, dass es Quechua gibt, die Sprache entlegener, in den Andenkordilleren lebender Inkavölker?«

Er nimmt zwei Elternkandidaten in den Blick, die daraufhin eine etwas erschrockene Miene ziehen und den Kopf schütteln.

»Natürlich nicht! Kein mit Lunge, Kehle und Mund geborener Mensch ist unfähig, diese oder irgendeine andere Sprache zu erlernen! Doch wie wollten wir eine Sprache sprechen, der wir nie ausgesetzt waren, die wir nie erprobt, nie versucht haben? Genauso verhält es sich mit unserer Muttersprache und tauben Kindern. Sprache ist uns nicht angeboren, sie muss errungen, erkämpft werden. Der Leibesmotor gehört in Gang gebracht, die Maschinenteile müssen richtig angeordnet und exakt aufeinander abgestimmt sein. Miss Hubbard.«

Errötend beugt Miss Hubbard sich zu ihrer Kiste hinab, holt einige kurze Bleirohre heraus und beginnt, sie im Zimmer zu verteilen.

»Meine Herren und Damen«, weist Karrefax die Eltern an, »pressen Sie die Lippen fest zusammen und blasen Sie Luft hindurch.«

Die Eltern schauen einander an.

»Machen Sie schon!«, befiehlt Karrefax. »Pressen Sie die Lippen zusammen, so – hmmmmm –, und jetzt pusten Sie!«

Halb hebt er vor ihnen wieder die Hände, während die Eltern nach und nach die Lippen spitzen, tief Luft holen und sie dann wieder aus sich herauspressen wie kleine Kinder, die am Tisch Furzlaute zu machen suchen. Geräusche breiten sich im Zimmer aus, und die Gesichter der Eltern werden rot vor Anstrengung oder Verlegenheit, vielleicht auch vor beidem.

»Ein keineswegs angenehmes Geräusch, wie Sie mir gewiss alle bestätigen werden«, erklärt Karrefax über das tonlose Gebrumm hinweg. »Eine Fliege, gefangen im Glas, klingt auch nicht besser. Und nun nehmen wir das Rohr, das Sie mittlerweile alle in der Hand halten, und brummen erneut, pressen das Rohr dabei aber fest an die Lippen. Nun los!«

Die Eltern gehorchen. Als sie das Rohr an den Mund drücken, wird aus dem tonlosen Brummen ein klarer, heller Trompetenton.

»Wunderbar!«, poltert Karrefax. »Jetzt pressen Sie Ihre Lippen noch stärker zusammen.« Die Eltern tun wie geheißen, und es erklingt ein höherer Ton. »Prächtig! Nun lockern Sie, Sir, und Sie, Madam, die Lippen ein wenig, während die übrigen sie weiter fest zusammenpressen.« Die Eltern befolgen seine Anweisungen, und der hohe Ton wird nun von einem tiefen ergänzt. »Ausgezeichnet«, dröhnt Karrefax. »Wir haben hier ja ein richtiges Bläserensemble, nicht mehr und nicht weniger! Was für Symphonien wir komponieren könnten! Miss Hubbard!«

Miss Hubbard geht durchs Klassenzimmer und sammelt die Instrumente wieder ein.

»Würden wir eine der besten Opernsängerinnen aufsuchen«, fährt Karrefax fort, »uns hinter dem Vorhang oder in der Kulisse des Opernhauses verstecken und während einer ihrer schönsten Arien mit einem Schwert in der Hand auf die Bühne stürzen, um sie mitten im Gesang mit einem scharfen, gut gezielten Schlag zu enthaupten – prächtig! Jawohl, und dann? Also, würden wir das tun, gäbe der kopflose Hals, aus dem noch ihr Atem dringt, ein ebensolches Geräusch von sich, wie ihn Ihre um das Bleirohr beraubte Lippen produzierten. Nun, in derselben Weise sind taube Kinder … taube Kinder sind genau wie diese kopflose Opernsängerin, da sie, da sie …«

Es kommt zu einer Pause, in der er nach den nächsten Worten sucht; mit lautem Poltern fällt Miss Hubbard ein Bleirohr zu Boden. Die Eltern künftiger Schulkinder drehen sich nach ihr um. Mit einem Knicks hebt sie das Rohr auf, während Karrefax sich räuspert und fortfährt: »Unsere Aufgabe hier besteht darin, dem tauben Kind zu einer funktionierenden Luftröhre, einer bespielbaren Flöte mit all ihren Grifflöchern zu verhelfen, dem Kehlkopf mit seinen Klappenventilen, dem das Timbre modulierenden Rachen, dem beingestützten Gaumen, der, wird kein Druck auf ihn ausgeübt, wie ein Schleier vor dem Nasenloch hängt – und so weiter. Wie Singen ist Sprechen mechanisches Ergebnis gewisser Einstellungen der Vokalorgane. Wenn wir tauben Kindern die korrekten Einstellungen ihrer Organe erklären, dann werden sie sprechen. Timothy, Samuel und Felicity …«, er zeigt auf drei seiner vier Schützlinge, öffnet die Hand und hebt sie resolut zur Zimmerdecke – »auf!«

Die beiden Jungen und das Mädchen erheben sich ein weiteres Mal. Karrefax dirigiert jetzt nur mit einer Hand, zeichnet präzise Figuren in die Luft, gibt Positionen vor und wiederholt eine Sequenz, die ihren Widerhall in den verschlungenen, von den Kindern im Einklang vorgebrachten Lautfolgen findet: »Ah ää oo üü ee, ah ää oo üü ee, ah ää oo üü ee …«

Mehrmals lässt er die Kinder diese Vokalreihe durchlaufen, dann bringt er sie mit einer enthauptenden Handbewegung zum Schweigen.

»Mit einem bloßen Anheben und Senken des Palatums erhalten wir bereits die Grundlage für eine Vielzahl von Wörtern. Timothy.« Er wählt den Jungen mit Sommersprossen aus, zwackt sich mit den Fingern ins eigene Ohr und entlockt dem Jungen die Äußerung: »Oo-ah.«

»Prächtig! Guter Junge!«, trompetet er, greift nach der Kreide und schreibt, ehe er auf das Mädchen zeigt, »Ära« an die Tafel. »Felicity.«

Felicity spricht die Buchstabenfolge »Ää-rah« aus und stößt die zweite Silbe mit großem Nachdruck hervor.

»Ebenso prächtig!«, dröhnt Karrefax. Er dreht sich zur Tafel um, wischt »Ära« fort und schreibt stattdessen »Erie« an. »Samuel.«

Der rundliche, blonde Samuel liest das Wort laut vor. Wieder wird rie, die zweite Silbe, besonders kraftvoll betont. Karrefax nickt dem Jungen zufrieden zu, wendet sich dann an sein Publikum und sagt:

»Ohr, Ära, Erie: Bereits eine minimale Beherrschung des Vokalapparates ermöglicht es uns, Organe des Körpers zu bezeichnen, Zeitbereiche abzugrenzen und nicht nur den südlichsten der Großen Seen Nordamerikas, sondern mit dem identisch ausgesprochenen englischen Wort eeri auch jene Aura des Geheimnisvollen zu benennen, die unsere Träume umwölkt. Wie prächtig werden unsere verbalen Fähigkeiten da erst erblühen, wenn wir die Zunge ins Spiel bringen, die an die Gaumendecke schnellt wie Michelangelos Pinsel an den noch feuchten Gips der Sixtinischen Kapelle, oder die Lippen, die unsere in Kehle und Mund geformten Meisterwerke rahmen – wodurch sie uns so anziehend scheinen wie Tempel in den Augen von Pilgern. Tut Romeo denn nicht recht daran, bei seiner ersten Begegnung mit Julia die Hand auszuschlagen? Unsere Lippen kommunizieren, nicht die Hände. Sehen Sie, wie dieses gänzlich taube Kind die meinen liest – und hören Sie, wie dies vermeintlich stumme Kind die gesamte Bandbreite seines Vokalapparates nutzt, um mir zu antworten.« Er wendet sich Felicity zu, mustert sie mit aufmerksamem Blick und sagt dann langsam und deutlich: »In welcher Gegend Englands wurdest du geboren, Felicity?«

Nach kurzer Pause antwortet Felicity: »In Talesbury, Mr Karrefax.« Sie betont das T und B in »Talesbury« mit äußerster Präzision, doch dehnt und streckt sie die Vokale, als blieben sie an den Konsonanten hängen. F und X in »Karrefax« zischen wie ein angestochener Fußball.

»Prächtig! Und jetzt frag Timothy, wie viele Brüder er hat.«

Felicity dreht sich zu dem sommersprossigen Jungen um und fragt langsam und gewissenhaft: »Timothy, wie viele Brüder hast du?«

Einen Moment später antwortet Timothy: »Ich habe zwei Brüder.« Seine Stimme ist etwas tiefer als ihre; das Z klingt eher nach einem Summ- als einem Zischlaut. Als er zu sprechen beginnt, zucken die seitlich herabhängenden Hände leicht, dann klammern sie sich an den Stoff seiner Shorts, als zwängen sie sich mit Gewalt zur Ruhe.

»Prächtig! Und jetzt sagt mir beide, Felicity und Timothy: Welches Gedicht habt ihr zuletzt auswendig gelernt?«

Die Kinder erwidern zusammen, wenn auch leicht versetzt: »Der Schäferkalender.«

»Sagt unseren Freunden hier die ersten beiden Strophen auf«, weist Karrefax sie an. Die Kinder kehren sich voneinander ab, Karrefax ermuntert Felicity mit einem Kopfnicken, und sie deklamiert:

Cuddie, Dein schweres Haupt heb nun,

Und lass uns sinnen, mit welch Entzücken

Wir Phöbus’ lange Himmelsjagd vertun.

Einst wolltest Du die Schäferjungen führn

Im edlen Wettstreit, im Reime-, Rätselspiel …

Sie spricht langsam und formuliert mit Sorgfalt; wieder bleiben die Worte hängen, sie dehnen und ziehen sich, sie zischen. Die Eltern angehender Schulkinder beugen sich auf den zu kleinen Stühlen vor und versuchen angestrengt, die Bedeutung des Gesagten zu erfassen. Dadurch entsteht der seltsame Eindruck, das Gedicht würde von einem anderen Sprecher vorgetragen, der sich außerhalb des Blickfeldes verbirgt – irgendwo seitlich vom Podium, vielleicht auch darunter. Einige Eltern blicken verwirrt im Zimmer umher. Als Felicity aufhört, nickt Karrefax dem Jungen zu, und Timothy beginnt:

Piers, so eifrig spielte ich die Hirtenflöte einst,

Dass sie nun ganz abgenutzt und tonlos scheint.

Verausgabt hat sich meine Muse,

Im Austausch für nur wenig Gutes,

Solch Kurzweil macht die Grille matt

Und blass, wo doch der Winter naht …

Wie zuvor bei Felicity scheinen seine Worte nicht aus ihm selbst zu kommen, sondern ihn gleichsam zu durchdringen – als ob sein Mund, wenn er sich nur korrekt formte und diese Haltung lang genug einnähme, einen Ton empfinge, der von woanders ausgesandt wurde, aus Erie, einer anderen Ära, für ein anderes Ohr.

II

Nebenan, im Klassenzimmer Zwei, genießt Simeons Sohn Serge den stillen Morgen und spielt mit Holzklötzchen. Er sitzt auf dem Boden, den anders als die nackten Holzdielen im Klassenzimmer Eins ein Teppich bedeckt. Durch das Erkerfenster fällt in langem Strahl das Licht der frühen Sonne, überspringt die gemütliche, ins Halbrund des Fensters eingelassene Sitzbank und landet gemach auf kringeligen Teppichfasern, steigt wieder auf und schwebt über Flaschen und Gläser, in denen etikettiertes Spielzeug – Pferde, Autos, Clowns und Akrobaten – aufbewahrt wird. Von einem niedrigen Tisch breiten sich weitere, an keinem Spielzeug haftende Etiketten aus, streuen Wortfetzen über den Boden.

Die hölzernen Klötzchen sind mit geometrischen Figuren bemalt wie Würfel mit Zahlen: Quadrate, Dreiecke, Kreise, aber auch andere, komplexere Formen. Auf einer Seite jedes Klötzchens (bei einem Würfel zeigte sie die Zahl Sechs) sind mehrere dieser geometrischen Figuren zu einem Bild vereint – ein Radfahrer, ein Haus, ein Nilpferd oder auch ein Zauberer, der ein Kaninchen aus dem Hut zieht. Serge hat den Zauberer über den Radfahrer gestapelt, darüber einen Metzger, in der einen Hand ein Messer, in der anderen eine Wurstkette, die er, wie der Zauberer sein Kaninchen, gleichsam zur Inspektion hochhält. Alle Abbildungen erscheinen im Profil, flach; die aus Rechtecken und Segmenten bestehende Landschaft, durch die der Radfahrer rollt, ist so platt wie die runden Reifen, über denen sein trapezförmiger Körper sitzt – als wäre er selbst in seiner gemalten Klötzchenwelt nur ein ausgeschnittener Pappkamerad vor einem Bühnenbild. Serge betrachtet die Kombination eine Weile nachdenklich, hält dann Radfahrer und Zauberer fest, zieht den Metzger heraus und ersetzt ihn durch das große, runde Nilpferd, das sich, wiederum im Profil, in einem elliptischen Schlammloch suhlt. Serge stützt diese neue vertikale Reihe, mustert sie gedankenverloren und löst, da er mit ihr zufrieden ist, die Hände vom Stapel. Kaum hat er das getan, beginnt die Säule zu wackeln, das vereinte Gewicht von Nilpferd, Schlamm, Kaninchen und Zauberer sind für den solcherart beladenen Radfahrer zu viel, der außerdem durch den weichen, unebenen Grund unter seinen Reifen benachteiligt ist. Als die Klötzchen purzeln, blitzen in rascher Folge Rhomben, Trapeze und Deltoide auf, um sich dann über den ganzen Teppich zu verteilen.

Serge blickt zum Fenster, dann auf die Weißwandtafel, auf der weitere geometrische Figuren zu sehen sind: Reihen runder Formen, durch die sich Linien ziehen. Die Formen ändern sich leicht mit jeder Wiederholung, die Kurven werden schmaler oder enger, die Linien krümmen und biegen sich in ihrem Verlauf über das Glas. Serge senkt erneut den Blick und richtet die Aufmerksamkeit auf einen Spielzeugsoldaten, der bis zu diesem Moment neben seinem Oberschenkel gelegen hat. Er greift danach und hält ihn sich ans Gesicht. Der in eine unbestimmte Ferne gerichtete Blick des Soldaten wirkt neutral, der Mund zeigt einen ruhigen, stillen Ausdruck und lässt nur die kleinste Andeutung eines Lächelns erkennen. Serge legt den Soldaten mit der Vorderseite nach oben auf den Teppich und streicht einige Fasern beiseite, um eine Kuhle zu schaffen, in die er rücklings die Figur schmiegt. Dicke Fasern umschlängeln und umschließen den Soldaten von allen Seiten. Serge nimmt ein Holzklötzchen, hält es über die Figur, hebt die Hand und hämmert es dem Soldaten dann mit aller Kraft ins Gesicht. Als das vergleichsweise große Klötzchen die Figur trifft, zucken Beine und Füße nach oben. Serge hebt den Würfel an und lässt ihn erneut auf das Gesicht des Soldaten niederkrachen, wieder und wieder. Nachdem er lang genug gehämmert hat, greift er nach dem Soldaten, um den Schaden zu begutachten. Die Augen schauen ungerührt, der Blick immer noch vage und in eine unbestimmte Ferne gerichtet, doch der Mund hat sich verformt, der Gips ist eingedellt, einige Stücke sind abgesplittert. Serge kratzt mit dem Daumen an der zermalmten Stelle und pult weitere Gipsflocken ab. Dann sagt er zu niemand Bestimmtem, denn er ist ja allein: »Bodner.«

Behutsam legt er den Soldaten auf den Teppich zurück und lehnt ihn in sitzender Haltung an den Holzklotz, mit dem er gerade erst malträtiert wurde. Serge langt nach einem zweiten Klotz, als er vom überstürzten Auftritt der Hauskatze abgelenkt wird, der dicht auf dem Schwanz seine ältere Schwester Sophie folgt. Halb läuft, halb hüpft Sophie ins Zimmer und reckt dabei die geballten Fäuste. Dann stellt sie sich zwischen Katze und Tür, streckt die Hände nach dem Tier aus und singt: »Spitalfield, ach, Spitalfield!«

Die Katze verzieht sich unter das Fenstersofa. Sophie bückt sich, kriecht ihr nach und öffnet die Hände, um ihr die darin warm geborgenen, kleinen, weißen Larvenknäuel zu zeigen.

»Probier doch mal, Spitalfield«, schnurrt sie und hält der Katze die Knäuel verlockend nah unter die Nase. Die Katze wendet den Kopf ab, duckt sich unter den Händen durch, bricht aus der Deckung und flitzt aus dem Zimmer. Sophie seufzt, legt die Larven auf ein Sofakissen und dreht sich zu Serge um. Dann greift sie sich drei, vier Klötzchen vom Teppich, breitet sie vor sich aus, kniet sich dahinter, hebt den Rock, bedeckt die Bilder und sagt: »Wenn du weißt, wo was liegt, gebe ich dir mein Taschengeld. Wenn nicht, bist du mir was schuldig.«

Doch Serge hat keine Lust auf dieses Spiel, fasst ihr zwischen die Beine und drückt die Finger in den gefältelten Stoff. Sie packt ihn am Handgelenk und zieht die Finger wieder vor. »Verloren!«, krakeelt sie. »Runter mit der Hose!«

»Nein!«, faucht Serge, aber Sophie ist stärker. Sie schlingt den Arm um ihn, hievt ihn auf die Füße und reißt ihm, noch immer kniend, die Hose bis zu den Knien herunter. Er windet sich, als sie ihm auch noch die Unterhose auszieht.

»Aha!«, triumphiert sie. »Und jetzt telegraphieren wir der Admiralität.« Sie hält ihn fest und beginnt, mit dem Zeigefinger an seinen kleinen Penis zu tippen. »›Werter Herr, bitte schickt Verstärkung‹, poch-poch-poch. ›Feind zahlenmäßig deutlich überlegen‹, poch-poch. ›Halten aus, fürchten ohne Entsatz aber baldige Kapitulation‹, poch-poch-poch.«

»Hör auf!«, schreit Serge.

»Warum? Ich habe gesehen, wie Miss Hubbard es getan hat. Mit dem Mann aus Lydium. ›Werter Herr aus Lydium‹, poch-poch, ›bitte schickt mehr Kohlestifte und Schwämme für unsere Klasse‹, tipp-tipp. ›Wetter gut, aber für morgen ist Regen angesagt‹, tippe-di-tipp. Siehst du? Jetzt lachst du.«

»Nein, tu ich nicht!«, schreit Serge und versucht, sich ihr zu entziehen. Schließlich kann er sich losreißen. Sophie greift halbherzig nach ihm, doch er stößt ihre Hände fort. Kaum ist er in sicherer Entfernung, zieht er sich Unterhose und Hose hoch, sammelt die Holzklötzchen ein und verdrückt sich durch die Tür, durch die gerade erst die Katze geflohen ist.

Sophie sieht ihm nach, zuckt dann die Achseln, setzt sich, legt den Kopf schief und sieht zur Weißwandtafel. Während ihr Blick den Reihen runder, linierter Figuren folgt, formt sie mit dem Mund die angezeigte Stellung und hält sie mehrere Sekunden, ehe sie zur nächsten Position wechselt: Der Kiefer senkt und hebt sich, Wangen spannen sich und erschlaffen, werden prall und schwellen zu graviden Wölbungen an, während die Lippen sich wie vor Entsetzen verziehen oder zu lautlosen Küssen spitzen.

III

Draußen im warmen Sonnenlicht wackelt Serge mit den Holzklötzchen im Arm zu seinem Leiterwagen. Es ist ein kleiner Holzwagen mit einer großen Lenkstange. Serge neigt sich darüber, öffnet die linke Armbeuge und lässt die Klötzchen fallen. Dann nimmt er die Lenkstange in beide Hände und beginnt, den Wagen über den Kiesweg zu ziehen. Rechts sieht er Frauen zwischen Maulbeerbäumen die Leitern rauf- und runterklettern oder Körbe zu den Spinnereihäusern hin- und wieder zurücktragen. Eine der Frauen bleibt stehen und winkt ihm zu, aber er beachtet sie nicht und geht weiter. Linker Hand ist die Mauer zwischen der Maulbeerwiese und dem Irrgarten; als er zur Tür kommt, lenkt er den Wagen auf die andere Seite und schiebt ihn jenen Korridor entlang, den Pflastersteine im Rasen anzeigen. Als der Weg sich gabelt, sich rechtwinklig in zwei Richtungen teilt, entscheidet er sich für einen Abzweig und folgt ihm, bis er nach mehreren rechtwinkligen Kehren und zwei weiteren Gabelungen in einer Sackgasse landet. Also geht er zum letzten Abzweig zurück und folgt der anderen Richtung, bis auch dieser Weg endet, woraufhin er zur zweitletzten Gabelung zurückkehrt und es mit einem neuen Abzweig probiert. Dabei wäre es gar nicht nötig, sich an den gefliesten Weg zu halten – das Labyrinth hat keine Mauern und ist so zweidimensional wie die Figuren auf den Holzklötzen; außerdem ist das Gras kurz und würde seinen Wagen nicht behindern, doch arbeitet sich Serge stetig auf den abrupt abbiegenden Wegen vor, wie gefangen von ihrem Muster, bis sie ihn schließlich wieder freigeben und vor dieselbe Tür auf den Weg zurückführen.

Erneut winkt ihm die Frau zu; erneut ignoriert er sie und schiebt den Wagen am Haupteingang des Hauses vorbei, biegt auf den unteren Rasen, überquert ihn und betritt durch eine Lücke in der Hecke den Lindengarten. Dort stellt er den Wagen am Rand ab, läuft in die Gartenmitte und bleibt stehen. Die Linden blühen, kleine weißgelbe Blüten wippen an den Enden der Zweige. Die Bienen sind fleißig: Serge kann das Gewimmel vor den Einfluglöchern ihrer Körbe am anderen Gartenende sehen. Er legt den Kopf schief, erst auf die eine, dann auf die andere Seite; schließlich dreht er sich langsam im Kreis genau dort, wo er steht. Das Summen der Bienen schwillt an, dann wird es schwächer, ändert die Tonhöhe, während seine Ohren im Wind rotieren. Bäume, Gras und Hecke verschwimmen, und die Bienen scheinen sich neu zu gruppieren, scheinen von anderer Stelle in seinem Kopf zu summen, Tonhöhe und -stärke werden nicht von außen, sondern aus seinem Innern heraus variiert. Er dreht sich mehrmals um sich selbst und genießt die akustische Wirkung, ihre Wiederholung.

Schließlich kehrt er zu seinem Wagen zurück, wendet ihn, schiebt ihn über den unteren Rasen und biegt, nachdem er die Hausecke umfahren hat, vom Weg ab. Eine Schneise ist ins längere Gras gemäht worden, die zu einem großen Eisentor in der hohen Steinmauer führt. Das Tor steht offen. Serge folgt der Schneise, geht an den mit Obelisken gekrönten Torsäulen vorbei und betritt den Krypta-Park.

Hier ist es dunkler. Hohe Hecken schließen ihn ein; die Obelisken verschatten den Boden. Bäume und Büsche wachsen wild durcheinander und versperren die meisten Sichtachsen. Serge drängt beharrlich voran und folgt der gemähten Schneise, bis sie sich neben einer leeren Bank plötzlich verbreitert. Er läuft weiter, doch wird das Vorwärtskommen nun schwieriger: Grashalme wickeln sich um die Wagenräder; die Klötzchen rutschen und poltern über die Ladefläche. Als Serge sich an einem Baumstumpf ausruht, blickt er auf und entdeckt seine Mutter. Sie sitzt auf einer zweiten Bank, mit dem Rücken an die Krypta gelehnt. Neben ihr sieht er eine Teekanne, ein Glas Honig und eine kleine Phiole.

Serge schiebt den Wagen zur Bank, bleibt stehen und schmiegt sich an die Beine seiner Mutter, die etwas, wenn auch nur wenig nachgeben. Er sieht ihr ins Gesicht: Sie starrt auf eine Stelle irgendwo hinter den Büschen und Bäumen. Er klettert auf die Bank und rüttelt an ihren Schultern. Sie senkt den Blick, und ihre Augen sind wie Honig, warm und trüb. Sie lächelt durch ihn hindurch in Richtung Boden oder auf irgendwas darunter. Serge tunkt einen Finger ins Honigglas, zieht ihn wieder heraus, steckt ihn sich in den Mund, dreht den Finger und schmiert sich Honig an die Innenseite der Wangen. Zwischen Glas und Phiole ist auf der Bank ein klebriger Fleck, auf dem eine Wespe gelandet ist. Mit nadelscharfen Mandibeln saugt sie den Sirup auf. Die Beine sind durch die Oberfläche gebrochen, und sie versucht, sich aus dem Honig zu befreien, strampelt, steckt aber schon zu tief drin; die Mandibeln hören derweil nicht auf zu saugen. Serge beobachtet die Wespe eine Zeit lang, dann nimmt er die Phiole, presst sie auf den Wespenleib und zertrennt das Tier mit der Fläschchenkante dort, wo der Brustkorb in den Unterleib übergeht. Die Beine strampeln weiter, und die Mandibeln saugen noch, obwohl die Körperteile nicht mehr verbunden sind. Der Brustkorb bebt, wird steif und regt sich nicht mehr. Serge greift nach der Lenkstange und zieht wieder los.

Lichtflecken betüpfeln seine Schultern, als er unter knospenden Kastanien dahintrottet. Schließlich kommt er an den Fluss, der den Krypta-Park an der dem Haus fernsten Seite säumt. Am anderen Flussufer sieht er auf dem Arcady Field Schafe weiden, die kleiner scheinen, je höher das Land zum Telegraph Hill ansteigt. Serge sammelt die Klötzchen ein, hält sie wieder in der linken Armbeuge und nähert sich dem Fluss. Dicht am Wasser geht er in die Hocke und sieht das Spiegelbild des ansteigenden Telegraph Hill und den strahlenden Himmel darüber. Er beugt sich vor und erhascht einen Blick auf die eigene Stirn, auf seine Augen, seine Nase, den Mund. Dann nimmt er ein Klötzchen vom linken Arm und platziert es behutsam auf der Wasseroberfläche. Das Klötzchen schwimmt. Er stippt es mit dem Finger an, und es sinkt, dann flutscht es wieder nach oben. Ein Fußballspieler im Profil ist zu sehen. Er stupst das Klötzchen seitlich an, damit es sich im Wasser dreht; es sinkt und wirbelt wieder hoch; als es sich beruhigt, zeigt die Oberseite ein einsames Dreieck. Serge lässt ein zweites Klötzchen schwimmen, dann ein drittes. Wenn er sie anstupst, treiben sie weiter vom Ufer fort. Er beugt sich vor, streckt sich, bis sich sein ganzer Oberkörper im Wasser spiegelt, sogar die Knie; der blaue Himmel kreiselt über ihm wie ein sich drehender Deckel …

Und dann ist er drin, dreht sich und wirbelt herum wie die Klötzchen, während ihm Wasser in die Nase dringt und in der Kehle brennt. Die Hände wühlen in schleimigem Schlamm, und er treibt wieder nach oben, das Gesicht an der Luft, die Beine unten. Er schnappt nach den Klötzchen, doch die stieben davon und versinken unter platschenden Händen. Er will atmen, aber der Durchzug ist versperrt; er gibt nur eine Art langgezogenes Keuchen von sich, das in ein Prusten übergeht, dann schluckt er, und der Kopf versinkt erneut. Unter Wasser öffnet er die Augen. Es ist hell und zugleich trüb, so wie Honig. Farnwedel schlängeln sich und tanzen in lichtdurchfluteter Dunkelheit, dazwischen schweben Schlammpartikel, zu Blütenbaldachinen aufgewühlt. Das Wasser ist in ihm, und es ist nicht mehr eklig, nur kalt. Er sinkt nicht länger; im Gegenteil, er wird emporgezogen, gehalten von starken Armen, die ihn umschlingen, ihn an sich drücken …

Dann spürt er ein Gewicht, etwas presst ihm die Brust zusammen, und Wasser schießt aus seinem Mund, um im hohen Bogen ins schlammige Gras zu spritzen. Er liegt am Ufer, und Maureen kniet über ihm und pumpt. Er gibt Wasser von sich, keucht, hustet, erbricht noch mehr und keucht erneut; als er wieder Luft bekommt, liegt er einfach nur still da und atmet. Zwischen ihm und dem Himmel hängt Maureens Gesicht; es starrt ihn an; sie schluchzt. Er starrt verwirrt zurück: Aus diesem Blickwinkel sehen Mund und Augen komisch aus, so rot und dick. Sie schließt die Augen und schreit auf, dann reißt sie ihn in die Arme und drückt ihn an die Brust, sodass er wieder kaum noch Luft bekommt. Er entzieht sich ihrem Griff, rappelt sich auf und geht zurück zum Leiterwagen – doch sie hebt ihn hoch, ehe er ihn erreichen kann, klemmt ihn sich zwischen Arm und Hüfte und läuft mit großen Schritten durch den Krypta-Park zurück zum Tor.

»Unfähig!«, schluchzt Maureen, als sie an der Krypta vorbeikommen. Auf der Bank davor stehen noch Teekanne, Phiole und Honigglas. »Unfähig und arrogant! Können nicht mal auf das aufpassen, was sie zum Glück noch haben …«

Sie bleibt zwischen den von Obelisken gekrönten Säulen des Eisentores stehen, stellt den Jungen auf dem Rasen ab, hält ihn an den Schultern fest und küsst ihn auf beide Wangen. Serge windet sich und versucht, ihr zu entwischen, aber sie hält ihn gefangen.

»Ich lass dich nie wieder aus den Augen, bis du …«, beginnt sie, verstummt dann aber, küsst ihn noch einmal, zieht ihn wieder in die Arme und geht dann entschlossen zum Haus. Frauen sehen von der Maulbeerwiese herüber. Hinter den Frauen treiben Bilder und geometrische Figuren flach und unbemerkt auf dem Wasser dahin, das sich um die Mauern des Krypta-Parks wälzt und stumm seinem Lauf folgt.

3

I

Unter dem mittleren Treppenaufgang des Haupthauses, jenem, über dem der Wandteppich mit dem Bild eines Treppenhauses hängt, sieht man ein Photo von Jacques Surin. Es ist eine frühe Daguerreotypie – eine der allerersten. Wenn Besucher danach fragen, sei es aus Höflichkeit oder aus echtem Interesse, wird ihnen eine Geschichte aufgetischt, die Versoies Bewohner schon so oft gehört haben, dass sie in ihren Ohren längst wie eine biblische Erzählung klingt, eine vom Exodus oder den Plagen, in der eine lange Reihe von »er zeugte den« und »jener zeugte jenen« vorkommt.

Sie geht etwa folgendermaßen: Als Surin im November 1796 von seinem kurz zuvor verstorbenen Vetter – dem Baron de Saint-Surin, der in Niedersachsen lebte und den er nie persönlich kennenlernte, der aber wie er selbst réfugié in zweiter Generation war – einen Chrysopras-Ring erhielt, eine runde Dose aus Meißner Porzellan, eine goldene Medaille von Prinz Heinrich von Preußen und einen erklecklichen Geldbetrag, brach er seine Zelte in London ab und erwarb in West Masedown ein großes Stück Land, dem er den Namen Versoie gab. Dorthin brachte er seine ganze zugleich menschliche, animalische, pflanzliche und mechanische Entourage: Seidenspinner und Färber, die für ihn in Shoreditch gearbeitet hatten, Kanarienvögel, deren Gezwitscher den Lärm der Maschinen übertönt, seine Nachbarn aber nichtsdestoweniger verärgert hatte, Raupen und Maulbeerbäume, die rein und unverfälscht von hundertneun Jahre zuvor aus La Rochelle geschmuggelten Larven und Setzlingen abstammten, sowie einen Webstuhl, dessen Ab- und Aufbau eine Herausforderung darstellte, die nicht minder respektgebietend als jene war, denen sich die Architekten von Akropolen und Mausoleen gegenübergesehen hatten. Zur Unterbringung all dessen ließ Surin – der sich trotz der Tatsache, dass seine sämtlichen Nachfahren wie auch wiederum deren Nachfahren weiblichen Geschlechts waren, gern als einen modernen Noah präsentierte – in der Südwestecke des neu erworbenen Gutes einen Komplex von Häusern und Werkstätten errichten, die durch Türen, Korridore und Höfe untereinander verbunden waren. Aus dem Garten hüpft nun Surins vielfacher, quecksilbrige sieben Jahre alter Urenkel Serge ins äußerste dieser Gebäude, die Brutkammer.