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Ohne dass er etwas Böses getan hätte, wird Josef K. eines Morgens verhaftet. Mit diesem Anfang des Romans »Der Proceß«, aber auch mit anderen Erzählungen hat Franz Kafka mächtige Bilder für die Willkür einer anonymen und rätselhaften Justiz entwickelt. Bilder, die uns fassungslos nach Sinnhaftigkeit suchen lassen. Aber helfen uns Kafkas Erzählungen beim Verständnis von Macht, Justizapparat und Urteil? Geoffroy de Lagasnerie beleuchtet Kafkas Texte innerhalb der philosophischen Diskussion der letzten Jahre und entwickelt von hier aus eine eigene Position, die neben der literarischen Perspektive auch die soziologische berücksichtigt und Parallelen zu heutiger Polizeigewalt und Willkür herstellt. Lagasneries Essay ist eine inspirierende Lektüre von Kafkas Texten und eine scharfe Analyse unserer Gegenwart. Aufklärung im besten Sinne.
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Seitenzahl: 67
Geoffroy de Lagasnerie
Ohne dass er etwas Böses getan hätte, wird Josef K. eines Morgens verhaftet. Mit diesem Anfang des Romans »Der Proceß«, aber auch mit anderen Erzählungen hat Franz Kafka mächtige Bilder für die Willkür einer anonymen und rätselhaften Justiz entwickelt. Bilder, die uns fassungslos nach Sinnhaftigkeit suchen lassen. Aber helfen uns Kafkas Erzählungen beim Verständnis von Macht, Justizapparat und Urteil?
Geoffroy de Lagasnerie beleuchtet Kafkas Texte innerhalb der philosophischen Diskussion der letzten Jahre und entwickelt von hier aus eine eigene Position, die neben der literarischen Perspektive auch die soziologische berücksichtigt und Parallelen zu heutiger Polizeigewalt und Willkür herstellt.
Lagasneries Essay ist eine inspirierende Lektüre von Kafkas Texten und eine scharfe Analyse unserer Gegenwart. Aufklärung im besten Sinne.
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Geoffroy de Lagasnerie zählt zu den wichtigsten Intellektuellen Frankreichs. Er ist Professor für Philosophie und Soziologie an der École nationale supérieure d’arts de Paris-Cergy. Er ist Herausgber der Buchreihen »à venir« (Fayard) und »Nouvel avenir« (Flammarion) und unterhält einen Blog im Nachrichtenportal »Mediapart«.
Seine Bücher, hauptsächlich zur politischen, Sozial- und Rechtsphilosophie, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche. Zuletzt erschien »3 – Ein Leben außerhalb« (2023). 2016 erhielt er den Prix de l’Écrit Social. Geoffroy de Lagasnerie lebt in Paris.
Andrea Hemminger ist promovierte Philosophin. Sie übersetzt seit vielen Jahren philosophische und sozialwissenschaftliche Literatur aus dem Französischen, darunter Werke von Michel Foucault, Esther Duflo, Manon Garcia und Pierre Charbonnier. Sie lebt in Frankreich.
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Für D., natürlich
Weil zweifellos jeder von uns tief in seinem Innerenspürt, dass unsere Welt undurchsichtig ist, dass die Institutionen, die ihr Funktionieren organisieren und mit denen wir umgehen müssen, um unser Leben zu leben, mit verborgenen und mysteriösen Funktionen ausgestattet sind oder, was auf das Gleiche hinausläuft, weil ihre Erzählungen von dem, was sie sind und was sie tun, verlogen sind, suchen wir unablässig in der Literatur oder Theorie, in der Kunst oder Psychoanalyse nach Interpretationen, die uns die Wahrheit sagen könnten über das, was ist, und die uns zeigen könnten, was sich hinter der trügerischen Fassade des Scheins abspielt.
Lesen, schreiben, sehen, nachdenken … Welche Triebe können die schier unendliche Menge von Energie erklären, die diesen Tätigkeiten gewidmet wird, wenn nicht eine Art Suche: der Wunsch, in dem Chaos, in das wir eingetaucht sind und das wir Gegenwart nennen, klarer zu sehen. Wenn heute niemand mehr ein Buch liest, das zu zeigen versuchte, dass die Erde rund ist, dann weil die libido sciendi im Raum des Gefühls des Nicht-Wissens geboren wird: Wir ahnen, dass etwas nicht stimmt und uns entgeht, dass die spontanen Vorstellungen von dem, was ist, die tatsächlichen Bedeutungen nicht erschöpfen – und wir wollen wissen, warum.
Da die soziale Welt, wie Max Weber sagt, sowohl in ihrer Intensität als auch in ihrer Extensivität unendlich ist, kann eine unfassbare Vielzahl von Realitäten unsere Fragen auslösen. Und in der riesigen Menge an Interpretationen der Gesellschaft und dessen, was wir sind, die uns die Kultur bietet, erscheint das Werk von Franz Kafka als eines, das einen zentralen Platz einnimmt, um die Geheimnisse des Staates und der Administration zu erforschen, all dessen, was sich aus der Tatsache ergibt, dass wir in bürokratischen Staaten leben, die mit Strafsystemen ausgestattet sind – und sogar allgemeiner, unser Verhältnis zur Frage von Verfehlung, Urteil und Schuld.
Kafkas Werk zu einem Reservoir von Analysen zu machen, die zu denken erlauben, was wir sind, ist auf dem Feld der Theorie besonders ausgeprägt: Seit dem Zweiten Weltkrieg erscheint Kafka als eine Art obligatorische Durchgangsstation für alle Philosophen, die sich mit der Frage des Gesetzes oder der Gerechtigkeit befassen, so als könnte eine Theorie der Macht ihre Wahrheit umso besser begründen, je mehr sie sich auf eine Lektüre Kafkas stützen kann, um ihre Annahmen zu bestätigen. Dieses Charakteristikum geht jedoch weit über das Feld der Fachkommentatoren hinaus. Es sind weitestgehend auch die gewöhnlichen Lektüren, in denen Kafka spricht und aufhorchen lässt. Bei jedem seltsamen und unklaren Satz, so Adorno, neigt der Leser dazu, sich darüber zu wundern, dass er sich so leicht darin wiedererkennt: Was beschrieben wird, scheint Situationen widerzuspiegeln, die er selbst erlebt hat oder die er zu erleben befürchtet. Kafka zu lesen bedeutet, sich unablässig zu fragen: »Woher kenne ich das?« »Kafka«, so Adorno weiter, ist ein »déjà-vu in Permanenz«.[1]
Etwas jedoch macht sofort stutzig. Wie ist zu erklären, dass wir uns so leicht in Kafka wiedererkennen? Dass sein Werk zu einem Monument aufgebaut wird, das so viele Analy-sen enthält, die uns helfen, die Beschaffenheit der Mächte, denen wir unterworfen sind, und unsere Situation in diesen zu verstehen? Denn sobald man von seinen Erzählungen, Aufzeichnungen und Parabeln diejenigen liest, die sich mit den Themen Strafe, Schuld und Staat befassen, stellt man fest, dass sich die Welten, die sie beschreiben, in einem völligen Widerspruch zu unserer Welt und sogar zu fast allen bekannten Staatsformen befinden: Alles, was üblicherweise die Justizsysteme definiert, übrigens auch in monarchischen und autoritären Regimen, fehlt hier. Was sich bei Kafka »Justiz« nennt, hat nichts mit den institutionellen Dispositiven gemein, auf die sich dieser Begriff gewöhnlich bezieht, wie zum Beispiel die Tatsache, einem Gesetz unterworfen zu sein, dessen Verbote man kennt, einer bestimmten Tat angeklagt zu sein, die Möglichkeit zu haben, sich durch einen Anwalt in einem öffentlichen Verfahren unter dem Vorsitz eines Richters zu verteidigen und schließlich sein Urteil zu erfahren (auch wenn diese Systeme natürlich je nach Kontext und Zeit die Ausübung der Verteidigungsrechte oder die Unschuldsvermutung mehr oder weniger gut garantieren).
Diese Verschiedenheit des kafkaschen Universums von der realen Welt wird in zwei emblematischen Erzählungen besonders deutlich. In der Strafkolonie beschreibt einen Reisenden, der auf Einladung des neuen dort herrschenden Kommandanten in eine Kolonie reist, um einen Bericht über die Strafmethoden zu erstellen, auf die der frühere Kommandant zurückgriff. Ein Offizier, der an dem alten System festhält, erklärt ihm, wie es funktioniert, und schlägt ihm vor, der Hinrichtung eines Soldaten beizuwohnen, der wegen Ungehorsams verurteilt wurde. Der zum Tode verurteilte Soldat weiß jedoch nicht, was man ihm vorgeworfen hat und für welches Verbrechen er verurteilt wurde: Er kennt auch sein Urteil nicht und konnte sich nicht verteidigen. Seine Schuld ist für den Offizier »über jeden Zweifel erhaben«, so dass kein Gerichtsverfahren (sei es gerecht oder nicht) notwendig erscheint. Seine Tötung ist das Ergebnis einer besonders peniblen und blutigen Folter, deren Etappen in einem Gutteil der Novelle beschrieben werden und die mehrere Stunden dauert. Am Ende der Novelle verurteilt der Reisende diese Methoden ausdrücklich und fordert zum Bedauern des Offiziers gerechtere Verfahren und mildere Strafen.
Während sich diese Erzählung in einer Kolonie und damit in einem Gebiet zuträgt, das sich ausdrücklich in einer Art Extralegalität befindet, spielt sich Der Proceß eigentlich »in einem Rechtsstaat« ab.[2] Zudem präzisiert Kafka, dass die Zeit, in der die Handlung stattfindet, von keinen besonderen Umständen gekennzeichnet ist, die erklären könnten, dass die gewöhnliche Legalität ausgesetzt ist: Es gibt weder einen Ausnahmezustand (»alle Gesetze bestanden aufrecht«) noch einen Kriegszustand (»überall herrschte Friede«).[3] Und doch hat das System des Gerichtsverfahrens und der Repression, mit dem Josef K. konfrontiert ist, absolut nichts mit dem gemein, was wir von einem »Rechtsstaat« kennen. Als K. nach seiner Festnahme einen Anwalt aufsucht, um eine Strategie zu entwickeln, wie er sich gegen die gegen ihn