Kalte Schüsse - Petra Ivanov - E-Book

Kalte Schüsse E-Book

Petra Ivanov

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  • Herausgeber: Unionsverlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Kurz nach Weihnachten wird eine Kickboxerin in ihrem Badezimmer tot gefunden, wenig später wird die Leiche einer älteren Frau entdeckt, beide mit einem Deformationsgeschoss getötet. Und doch suchen die Ermittler Staatsanwältin Regina Flint und Kriminalpolizist Bruno Cavalli zunächst vergeblich nach weiteren Gemeinsamkeiten zwischen den Mordfällen. Einzig Lukasch, ein ukrainischer Bekannter der Kickboxerin, zieht mit seinem Schweigen Verdacht auf sich. Führt die Spur in den Osten? Als man den »Adler« auf offener Straße erschießt, wird klar: Der Täter schreckt vor nichts zurück. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.

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Seitenzahl: 533

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Über dieses Buch

Kurz nach Weihnachten wird eine Kickboxerin in ihrem Badezimmer tot aufgefunden, wenig später wird die Leiche einer älteren Frau entdeckt. Staatsanwältin Regina Flint und Kriminalpolizist Bruno Cavalli suchen zunächst vergeblich nach weiteren Gemeinsamkeiten zwischen den Mordfällen. Führt die Spur in den Osten?

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Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst Kriminalromane, Thriller, Liebesromane, Jugendbücher, Kurzgeschichten und Kolumnen.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Petra Ivanov

Kalte Schüsse

Flint und Cavalli ermitteln gegen die russische Mafia

Kriminalroman

Ein Fall für Flint und Cavalli (3)

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die Erstausgabe erschien 2007 im Appenzeller Verlag, Schwellbrunn.

© by Petra Ivanov 2007

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Marilyn Nieves

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-30636-3

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 26.06.2024, 07:46h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

KALTE SCHÜSSE

1 – Regina Flint umfasste den Griff der P228. Das …2 – Marko Simonovic wickelte die Lichterkette um einen Kunststoffast …3 – Cavalli holte Regina um Punkt sieben Uhr in …4 – Am Donnerstag begann Reginas Arbeitstag mit einem lauten …5 – Wieder riss ein Klingelton Cavalli aus bleiernem Schlaf …6 – Pilecki spürte im Halbschlaf ein sanftes Hauchen am …7 – Als Regina am Dienstagmorgen mit brennenden Augen die …8 – Der Freitagmorgen brachte endlich die ersehnten Laborresultate …9 – Reginas Unsicherheit wich einer Entschlossenheit, ihre Fälle so …10 – Der Samstag hatte grau begonnen, am frühen Nachmittag …11 – Die blasse Februarsonne vermochte Regina nicht zu wärmen …12 – Katja saß bereits am Tisch, als Pilecki die …13 – Pilecki gab sich keine Mühe, leise zu sein …14 – Marlene Flint drückte Regina eine Schüssel Fruchtsalat in …15 – Die Hausdurchsuchung wurde abgebrochen«, verkündete Cavalli am nächsten …16 – Das Unispital erinnerte Regina an eine alte Dame …WorterklärungenAbkürzungen

Mehr über dieses Buch

Über Petra Ivanov

Petra Ivanov: »Meine Figuren sind lebendig. Wenn ich nicht schreibe, verliere ich den Kontakt zu ihnen.«

Petra Ivanov: »Mein Weltbild hat sich zum Besseren verändert, seit ich Krimis schreibe.«

Mitra Devi: Ein ganz und gar subjektives Porträt von Petra Ivanov

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Für Volodja

»Ein Butterbrot fällt fast immer auf die Butterseite.«

Russisches Sprichwort, Moskau 1992

1

Regina Flint umfasste den Griff der P228. Das Metall fühlte sich kalt an. Nebelfetzen krochen in die Ärmel ihrer Jacke. Sie fröstelte. Konzentriert baute sie ihr Gleichgewicht von unten auf. Erst dann nahm sie die linke Hand zu Hilfe, um die rechte zu stützen.

Ein eisiger Luftzug streifte ihr Haar und wehte ihr eine helle Strähne ins Gesicht. Sie blies sie weg und hob die Pistole. Während sie mit dem Finger den Abzug suchte, atmete sie langsam aus.

Es begann zu schneien. Feine Flocken, kaum von Regen zu unterscheiden, tauchten aus der Dunkelheit in den Kegel des Flutlichts ein. Dort führten sie einen hektischen Tanz auf und verschwanden anschließend wieder im Nichts.

Regina fixierte das Korn und fasste den Druckpunkt. Vorsichtig zog sie den Abzug. Als ein lauter Knall den Dezemberabend erfüllte, zuckte sie unweigerlich zusammen.

»Gut gemacht!«, sagte Tobias Fahrni. Mit seinen geröteten Wangen sah der Polizist aus wie ein Junge, der sich im Schnee vergnügte.

»Ich habe schon wieder abgerissen«, sagte Regina.

»Das kommt noch. Versuch den Druckpunkt ganz langsam zu fassen und dann schön durchzuziehen. Willst du es noch einmal mit Flobertpatronen probieren?« Das Schießen mit Kleinkalibermunition war sanfter, die Sportpistole leichter als die P228.

Regina nahm das leere Magazin heraus und reichte Fahrni seine SIG-Sauer. »Das reicht für heute, danke. Ich hole Cavalli vor der Feier am Bahnhof ab.« Bruno Cavalli war Fahrnis Vorgesetzter beim Kapitalverbrechen II, kurz KV.

»Er könnte dir das Schießen viel besser beibringen«, sagte Fahrni zum wiederholten Mal. »Ich bin wirklich nicht besonders gut.«

»Ich möchte nicht, dass er davon erfährt! Du hast es versprochen.«

»Ich verrate nichts! Ich verstehe einfach nicht, warum du es ausgerechnet von mir lernen willst.«

Regina wusste genau, warum. Cavalli war zu gut. Vermutlich würde er mit geschlossenen Augen ins Schwarze treffen und damit die Latte zu hoch legen. Zudem setzte er Regina seit Jahren unter Druck, sich endlich eine Waffe anzuschaffen. Er war der Meinung, als Bezirksanwältin sei sie besonderen Gefahren ausgesetzt. Regina hatte sich geweigert, teils aus Abneigung gegenüber Schusswaffen, teils aus Trotz gegenüber Cavalli. Schließlich hatte sie sich jedoch eingestehen müssen, dass Schießkenntnisse ihr Sicherheit verliehen.

»Weil ich dich mag«, erklärte Regina.

Fahrni sah zweifelnd zu ihr hoch, während er Patronenhülsen einsammelte. »Was schenkst du Juri und Irina?«

Regina seufzte. »Wenn ich das wüsste. Ich werde mich am Hauptbahnhof umsehen. Auf dem Weihnachtsmarkt finde ich bestimmt etwas.« Der bevorstehende Hochzeitsapéro des Kriminalpolizisten Juri Pilecki schlug ihr aufs Gemüt. Vor zwei Jahren hatte sie im Zusammenhang mit einem Mordfall eine Razzia in einem Nachtlokal angeordnet. Gemeinsam mit anderen Frauen war Irina Kyrytschuk dem Migrationsamt vorgeführt worden, weil sie ohne Bewilligung als Tänzerin gearbeitet hatte. Regina hatte zwar von der Beziehung zwischen Pilecki und der Ukrainerin gewusst, sie war aber davon ausgegangen, dass sich Kyrytschuk legal in der Schweiz aufhielt. Während der Einvernahme hatte sich Kyrytschuk über die Schweizer Justiz geärgert, die zwar an ihrer Aussage im Zusammenhang mit einem Mordfall interessiert war, ihr im Gegenzug aber keine Arbeitsbewilligung ausstellte.

»Warum hat sie mich überhaupt eingeladen? Irina mag mich nicht.«

»Vermutlich, damit sie die erste Begegnung mit dir hinter sich bringen kann. Früher oder später werdet ihr euch über den Weg laufen. Besser früher, denke ich.« Fahrni war aufgestanden und warf die Hülsen in einen Eimer. Er löschte die Flutlichter und fügte hinzu: »Sie wird es nicht einfach haben.«

Regina folgte ihm zum Parkplatz. An der Windschutzscheibe seines Opels klebte Schnee. Fahrni ballte die Masse zu einem schweren Klumpen und zielte auf eine Straßenlaterne.

»Freust du dich auf deine neue Stelle?«, fragte er und sah dem Schneeball, der sein Ziel weit verfehlte, enttäuscht nach.

»Und wie. Ich war lange bei der Bezirksanwaltschaft. Es wird Zeit für etwas Neues. Allerdings nehme ich alle meine pendenten Fälle mit, so ganz neu wird es also nicht.«

»Aber du darfst dich Staatsanwältin nennen!« Aus Fahrnis Mund klang die Berufsbezeichnung wie ein Adelstitel.

Regina lachte. »Ja, aber das könnte ich auf der BAZ auch.« Die Reform der Zürcher Untersuchungsbehörden sah vor, die Bezeichnung Bezirksanwalt demnächst abzuschaffen. Regina wechselte zur Staatsanwaltschaft IV für Gewaltdelikte. Als sie sich beworben hatte, hatte sie sich keine großen Chancen ausgerechnet. Stellen bei der STA IV waren begehrt, da die Fälle interessant und komplex waren. Das Anforderungsprofil war hoch. Doch Regina gehörte bereits nach der ersten Vorstellungsrunde zu den Favoritinnen. Als sie schließlich die Zusage erhielt, konnte sie ihr Glück kaum fassen.

Vor ihnen tauchte der Bahnhof auf. Fahrni hielt an der Bushaltestelle und vergewisserte sich, dass Regina wirklich die S-Bahn nehmen wollte. Sie versicherte ihm, dass sie schneller am Hauptbahnhof wäre, und stapfte durch den Schneematsch.

Neben dem gigantischen Swarovski-Weihnachtsbaum sahen die Stände wie Zwerghütten aus. Regina reihte sich in den Strom der Besucher ein und wurde in den schmalen Durchgang geschwemmt. Eine halbe Stunde später tauchte sie ohne Geschenk am anderen Ende der Bahnhofshalle wieder auf. Sie sah auf die Uhr. Noch dreißig Minuten, bis Cavallis Zug ankam.

Ein Stand mit Matrioschkas zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der Verkäuferin entging Reginas Blick nicht, und sie streckte ihr eine blaue Puppe entgegen.

»Eine Spezialanfertigung. Dieses tiefe Blau finden Sie sonst nirgendwo.«

Regina musterte das großzügige Lachen auf dem Holzgesicht.

Die Verkäuferin legte Regina die Matrioschka in die Hand. »Sie kostet nur vierzig Franken.«

Sie war schwer. Im Gegensatz zu ihren filigran verzierten Artgenossinnen war sie grob, wie Schweizer Holzspielzeug. Es wurde ihr bewusst, dass sie auch für Irinas Tochter Katja ein Geschenk brauchte. Kurz entschlossen kaufte sie die Matrioschka.

Die Verkäuferin lobte ihre Wahl und holte Seidenpapier hervor. »Im Rossija erhalten Sie übrigens das ganze Jahr hindurch Matrioschkas. Kennen Sie den Laden?« Als Regina verneinte, erklärte sie: »Er liegt im Seefeld, Tramhaltestelle Höschgasse. Wenn Sie sich auf dieser Liste mit Name und Adresse eintragen, halten wir Sie über unsere Produkte auf dem Laufenden.«

»Nein, danke.«

»Dann frohe Weihnachten.« Die Verkäuferin reichte Regina die Plastiktüte.

»Danke, das wünsche« Ein heftiger Stoß in die Rippen verschlug Regina die Sprache. Sie stolperte und verlor das Gleichgewicht. Im selben Augenblick wurde ihr die Tüte entrissen.

»Was soll das!«

Ein Passant griff ihr unter die Arme. »Alles in Ordnung? Haben Sie sich wehgetan?«

Regina stand auf und sah, wie ein Polizist in Zivil dem Dieb hinterherspurtete.

»Es geht schon, danke.«

Der Passant deutete auf ihre Handtasche. »Wenigstens hat er die nicht erwischt.«

Die Verkäuferin baute sich hinter ihrer Ware auf, als könnte sie so weitere Diebe abschrecken.

Regina wandte sich genervt dem Stand zu. »Haben Sie noch eine ähnliche Matrioschka?«

Mitleidig schüttelte die Verkäuferin den Kopf. »Das war die letzte, aber ich …« Sie fixierte etwas hinter Regina, und ein Lachen hellte ihr breites Gesicht auf.

Regina drehte sich um. Der Polizist kam mit der Plastiktüte in der Hand zurück.

»Der Kerl ist über alle Berge, aber die Tüte habe ich erwischt.« Er streckte sie Regina hin.

»Vielen Dank!«, sagte sie. »Es ging so schnell.«

»Diese Diebe sind geübt. Sie tauchen aus dem Nichts auf und sind im Nu wieder weg. Da haben Sie gar keine Chance.«

»Und erwischt werden sie nie.« Regina reichte ihm die Hand. »Regina Flint. Ich bin – war – bei der BAZ.«

»Dann kennen Sie sich ja bestens aus. Marko Simonovic.« Er musterte sie mit ernsten, tief liegenden Augen. »Die Diebe werden immer dreister. Es ist ihnen egal, ob sie Spuren hinterlassen. Sie kommen in die Schweiz, gehen zwei, drei Wochen ihren Geschäften nach und verschwinden wieder nach Rumänien, Georgien, wo immer sie herkommen.«

Regina hatte den Eindruck, dass der Polizist sich persönlich für die Taten der Kriminaltouristen verantwortlich fühle. »Diesem Dieb haben Sie einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nochmals vielen Dank!«

»Passen Sie auf Ihre Handtasche auf!« Simonovic richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Menschenmenge in der Bahnhofshalle.

Regina sah auf die Uhr. Cavallis Zug würde bald eintreffen. Rasch kaufte sie im Shopville eine Flasche Champagner und eine Glückwunschkarte für das Hochzeitspaar und kritzelte »Gutschein« unter das Bild der zwei Champagnergläser. Wofür? Einen Opernbesuch? Ein romantisches Essen? Mit Karte und Kugelschreiber in der Hand bahnte sie sich einen Weg durch das Gedränge.

Sie sah Cavalli schon von Weitem. Er stand mit einer Sporttasche über der Schulter etwas abseits und wartete. Die Ruhe, die er ausstrahlte, hob ihn von der hektischen Umgebung ab. Winkend lief Regina auf ihn zu.

»Cava! Entschuldige, ich bin spät dran. Ich fand kein Geschenk, und dann wurde mir noch meine Tüte aus der Hand gerissen, und bis ich durch das Getümmel …« Sie verstummte, als sie Cavallis Lächeln sah.

»Darf ich auch etwas sagen?«, fragte er mit einem Augenzwinkern.

»Was?«

»Hallo.«

Regina lachte und drückte ihm den Kugelschreiber in die Hand. »Hallo! Schreib etwas!«

Während er überlegte, holte sie ihren Taschenspiegel hervor und überprüfte ihren Lippenstift. Cavalli beobachtete sie aus dem Augenwinkel.

»Bitte sehr«, sagte er und gab ihr den Kugelschreiber zurück.

»Das ging aber schnell. Gutschein für eine Nacht in St. Moritz«, las Regina laut. »St. Moritz? Was ist in St. Moritz?«

Cavalli zuckte mit den Schultern. »Es wird dort wohl ein Hotel geben. Osteuropäer mögen doch St. Moritz.«

»Pilecki? In St. Moritz?« Regina stellte sich den Polizisten in seiner verbeulten Lederjacke vor. »Hättest du nicht wenigstens ›Übernachtung‹ statt ›Nacht‹ schreiben können?«

»Sie sind frisch verheiratet! Gibt es für ein Hochzeitspaar etwas Wichtigeres als die Nacht?« Cavalli hob seine Tasche auf. »Gehen wir.«

»Wenn man daran denkt, was Irina beruflich in der Schweiz gemacht hat, finde ich die Wortwahl ziemlich ungünstig.«

»Vielleicht hätte sie ihre berufliche Laufbahn sorgfältiger planen müssen.«

Sie waren kaum fünf Minuten zusammen, und bereits bahnte sich ein Streit an. Dafür hatte Regina keine Nerven. »Was macht die Bundeskopieranstalt?«, fragte sie mit gespielter Leichtigkeit. Cavalli hatte die vergangenen drei Wochen beim Bundeskriminalamt BKA am Täterprofil eines Mörders mitgearbeitet.

»Sie generiert Papier. Ich muss kurz im Büro vorbeischauen. Kommst du mit oder treffen wir uns am Fest? Mein Wagen steht auf dem Kasernenareal.«

Regina ging mit. Alleine wollte sie auf keinen Fall am Hochzeitsapéro auftauchen. Sie folgten der Sihl zur Kaserne. Plötzlich drehte sie sich um.

»Was ist?«, fragte Cavalli.

»Ich hatte das Gefühl, Schritte zu hören, aber da ist niemand.« Sie erzählte ausführlich vom Dieb, der ihr die Plastiktüte entrissen hatte.

»Damit muss man auf dem Weihnachtsmarkt leider rechnen. Der Polizist muss schnell gewesen sein. Wer war es?«

»Marko Simonovic. Kennst du ihn?«

»Nicht persönlich. Aber als erster Jugo«, Cavalli zeichnete mit Zeige- und Mittelfinger Anführungs- und Schlusszeichen in die Luft, »bei der Kapo ist er den meisten ein Begriff.« Er zeigte dem neuen Portier am Eingang des Kripogebäudes seinen Polizeiausweis und steuerte auf die Treppe zu.

Regina protestierte und deutete auf den Lift. Das KV lag im fünften Stock.

Sie schritten den Flur entlang; das blaue Linoleum quietschte unter ihren feuchten Schuhsohlen. Vereinzelt brannte noch Licht in den Büros.

»Hast du deinen letzten Arbeitstag schon hinter dir?«, fragte Cavalli.

»Erst übermorgen. Dann habe ich zwischen Weihnachten und Neujahr eine Woche frei, bevor ich meine neue Stelle antrete. Da wir schon beim Thema sind: Hast du über die Feiertage etwas vor?«

Regina zog ihren Mantel aus und stellte sich ans Fenster. Cavalli sah die Notizen auf seinem Schreibtisch durch.

»Arbeiten«, murmelte er und deutete auf sein Postfach, das unter der eingegangenen Post nicht mehr zu sehen war. »Warum?«

»Nur so.«

»Was hast du vor?«

»Am liebsten würde ich wegfahren.«

Auf der Zeughausstraße zeichneten Scheinwerfer gelbe Streifen auf die nasse Straße.

Cavalli sah auf. »Warum? Bist du an Weihnachten bei deiner Familie eingeladen?«

Regina lachte. Er kannte sie einfach zu gut. Heiligabend bei Flints war ein Grund, ins nächste Flugzeug zu steigen. »Genau.«

Cavalli schüttelte amüsiert den Kopf. »Chris ist über die Feiertage zu Hause.«

Sein siebzehnjähriger Sohn wohnte seit vergangenem Sommer bei ihm.

»Ich dachte, er verbringt sie bei Constanze?«

»War so geplant.« Der amüsierte Gesichtsausdruck verschwand, als Cavalli an seine Exfrau dachte. »Aber sie hat einen neuen Freund, der sie seiner Familie vorstellen möchte. Und Chris ist dabei nicht erwünscht.«

Obwohl Regina die kühle Deutsche nicht mochte, hatte sie ein gewisses Verständnis dafür, dass sie ihren Sohn in dieser Situation nicht dabei haben wollte. Christopher war ein verschlossener, unzugänglicher Jugendlicher. Seit er seine Lehre abgebrochen hatte, war er orientierungslos. Im vergangenen Sommer hatte er zahlreiche Einbrüche begangen und war mit zwei Kilogramm Haschisch erwischt worden. Seither arbeitete er in einer Pizzeria, um der jugendstrafrechtlichen Maßnahme zu entgehen.

»Aber jetzt ist er noch bei ihr?«

»Ja. Bis morgen Abend.« Der Gedanke an Christophers Rückkehr in seine enge Wohnung bedrückte Cavalli. Er wechselte das Thema. »Bist du nervös?« Er brauchte nicht mehr hinzuzufügen, Regina konnte seinen Gedankensprüngen fast immer folgen.

»Ich habe mir fest vorgenommen, meine Unsicherheit auf der BAZ zurückzulassen«, sagte sie. »Ich werde am 3. Januar selbstsicher und locker ein neues Arbeitsleben beginnen!«

Cavalli stellte sich neben sie ans Fenster. »Solange du nicht wie Constanze wirst.« Das Selbstvertrauen seiner Exfrau grenzte an Überheblichkeit, und sie ließ keine Gelegenheit aus, Cavalli seine Unzulänglichkeiten unter die Nase zu reiben. Er betrachtete Reginas schmale Silhouette und ihre feingliedrigen Finger, die über die Hochzeitskarte strichen. Wie so oft verspürte er den Wunsch, sich hinter sie zu stellen und ihr Rückendeckung zu geben. Bloß der Preis war ihm zu hoch. Sie wollte mehr, als er geben konnte. Außerdem täuschte ihr Äußeres. Wenn es sein musste, konnte sie kompromisslos sein. Gedankenversunken spielte er mit ihrem Haar.

»Lass das!« Sie machte einen Schritt zur Seite.

Cavalli ließ seine Hand fallen. »Du wirst Landolt mögen.«

Max Landolt, Leitender Staatsanwalt der STA IV, hatte die polizeilichen Weiterbildungen im Rahmen der Justizreform durchgeführt, bei denen Cavalli ihn kennengelernt hatte. Ab Jahresbeginn würde die Staatsanwaltschaft mehr Kompetenzen an die Polizei delegieren. So durften Polizisten in zahlreichen Fällen sogenannte delegierte Einvernahmen durchführen. Sie mussten dabei aber sämtliche Verfahrensrechte der Beteiligten wahren. Cavalli fragte sich, ob die neuen Kompetenzen im Alltag tatsächlich zu einer besseren Aufgabenverteilung führen würden, denn erste Einvernahmen waren heikel. Fehler konnten dazu führen, dass Aussagen nicht verwertbar waren.

»Ist Landolt wirklich so freundlich, wie er aussieht?«, fragte Regina. Sie kannte ihn nur vom Vorstellungsgespräch.

»Ja. Und sehr geduldig. Ich bin so weit, gehen wir?«

Inzwischen war der Regen auch in Zürich in Schnee übergegangen. Doch die Spuren, die Cavalli und Regina in der nassen, weißen Schicht hinterließen, wurden sofort dunkel. Regina war froh, als sie die Bäckeranlage erreichten. Das Quartierzentrum war hell erleuchtet, aus dem oberen Stockwerk erklangen Gelächter und Musik.

Regina trug ihre Geschenke wie ein Schutzschild vor der Brust, als sie die Betontreppe hochstieg. Der Raum war zum Bersten voll, was sie nicht erstaunte. Pilecki war beliebt. Über die Hälfte der Anwesenden waren Polizisten, die andere Hälfte vermutlich Familienangehörige von Polizisten. Regina erkannte auch einige Fahnder der Stadtpolizei. Ihr Blick fiel auf Irina, die souverän zwischen den ihr unbekannten Gästen auf sie zukam. Unterwegs wechselte sie in fließendem Deutsch ein paar Worte mit einem Kriminaltechniker. Mehr als ein Augenpaar folgte ihr.

»Regina! Schön, dass du gekommen bist.« Irina streckte ihr die Hand entgegen. »Es ist doch in Ordnung, wenn ich dich duze? Schließlich haben wir dieses Mal nicht beruflich miteinander zu tun.«

Regina spürte, wie ihr Gesicht glühte. Irina musterte sie scharf. Ihr dunkles Haar und ihre klare, weiße Haut verliehen ihr Ähnlichkeit mit einer Porzellanpuppe. Nur dass sie alles andere als zerbrechlich wirkte. Ungewollt schielte Regina zu Cavalli, doch Irinas Schönheit schien ihn nicht zu beeindrucken. Sein Gesichtsausdruck war verschlossen, er sah steif und abweisend aus. Regina wusste, dass er sich in Gegenwart von Prostituierten unwohl fühlte, aber er hatte ihr nie erklärt warum.

»Natürlich.« Regina streckte Irina die Champagnerflasche entgegen. »Wir haben euch etwas mitgebracht.«

Irinas Blick verengte sich und wurde hart. Plötzlich stieg eine Erinnerung in Regina hoch. Als sie vor zwei Jahren im Laufe der Ermittlungen mit Cavalli das Nachtlokal aufgesucht hatte, in dem Irina tanzte, hatte Pilecki ihr ein Glas Champagner geholt und ans Podest gebracht. Reginas Kopfhaut begann zu kribbeln, als ihr klar wurde, dass diese bis jetzt vergessene Erinnerung vermutlich der Grund war, warum sie Irina Champagner gekauft hatte.

»Herzliche Gratulation«, hörte sie Cavalli neben sich sagen. Sie entnahm seinem Tonfall, dass ihm der Zusammenhang nicht entgangen war. Hatte er sie absichtlich nicht darauf hingewiesen?

»Regina?« Cavalli legte eine Hand auf ihren Rücken. »Die Karte.«

Automatisch zog Regina die Karte hervor und reichte sie Irina.

»Vielen Dank.« Irina öffnete den Umschlag nicht. »Ich warte damit auf Juri.«

Regina hätte Cavalli für seine sorglose Wortwahl beim Gutschein eine Ohrfeige versetzen können. Plötzlich fragte sie sich, ob er absichtlich eine zweideutige Botschaft platziert hatte.

»Häuptling!«, erklang eine glückliche Stimme. »Du hast den Weg zurück in die Provinz gefunden.« Regina drehte sich erleichtert zu Pilecki um, der Cavalli auf die Schulter klopfte. Der Polizist wirkte ungewöhnlich elegant. Regina konnte sich nicht erinnern, ihn jemals in etwas anderem als in alten Jeans gesehen zu haben.

»Sieh dich mal an! Du hast sogar deine Haare gewaschen!«, begrüßte ihn Cavalli.

»Und die Fingernägel geschnitten«, grinste Pilecki. »Frauen stehen auf so etwas.« Er strahlte Irina an.

Irinas Gesichtszüge wurden weich, und sie küsste ihn auf die Nase. Pilecki strich ihr sanft über die Wange, die Welt um ihn herum existierte nicht mehr.

Regina spürte Cavallis Hand, die noch immer auf ihrem Rücken lag. Sie dachte daran, wie oft diese Hand sie gestreichelt hatte. Drei Jahre lang hatte sie fast jede Nacht neben diesem Mann geschlafen, aber die Hingabe, die Pilecki mit einer kleinen Bewegung auszudrücken vermochte, hatte sie nie erlebt. Stets hatte Cavalli etwas zurückgehalten. Regina beneidete Irina; gleichzeitig schämte sie sich für diesen Neid.

»Gehst du immer noch ins Yoga?«, holte Pileckis Stimme sie wieder in die Gegenwart zurück.

»Ja, jeden Montagabend«, sagte Regina. »Warum?«

Irina versuchte wortlos, ihrem Mann etwas zu sagen. Er ignorierte sie, absichtlich, wie es Regina schien. »Nimmst du Irina nächstes Mal mit?«

»Klar«, sagte Regina ohne Begeisterung. Sie vermied es, Irina anzusehen. »Übrigens, wo ist Katja? Wir haben ihr auch etwas mitgebracht.« Sie suchte den Raum ab, doch das Mädchen war nirgends zu sehen.

Irinas Blick schweifte ebenfalls über die Anwesenden, und ein besorgter Ausdruck trübte das klare Grau der Iris. Sie löste sich von Pilecki.

»Fahrni passt schon auf, keine Sorge«, sagte Pilecki.

»Sie kennt ihn nicht. Fremde Menschen verunsichern sie.« Irina stand auf Zehenspitzen, um besser sehen zu können. »Vielleicht findet sie uns nicht mehr.«

Pilecki drückte ihren Arm. »Vor Fahrni hat kein Kind Angst. Aber wenn es dich beruhigt, gehe ich nachschauen. Sie sind bestimmt am Buffet.«

Irina nickte dankbar.

Die Lücke, die Pilecki hinterließ, wurde von einem kräftigen Mann mit Glatze gefüllt. Die Frau, die an seinem Arm hing, erinnerte Regina an die Models am Genfer Autosalon.

»Du musst Irina sein«, sagte er mit starkem Akzent. »Wadim Tatarenkow.« Er reichte ihr eine große Hand und stellte auf Russisch seine Partnerin vor. »Das ist Sweta.« Das Lächeln der Russin wirkte aufgesetzt. »Juri hat viel von dir erzählt«, fuhr Tatarenkow fort. »Aber du übertriffst die Schilderungen bei Weitem.«

Irina war nicht beeindruckt. »Aus Moskau?«, kommentierte sie seinen Dialekt.

»Ich kann nichts dafür!«, sagte Tatarenkow mit einem Lachen.

Als sich Irina und Sweta in ein Gespräch vertieften, gab Regina Cavalli, der immer noch schweigend neben ihr ausharrte, ein Zeichen. Zusammen bahnten sie sich einen Weg zum Buffet.

Katja war tatsächlich dort. Fahrni befand sich vor ihr in der Hocke und hielt ihren Teller, der mit einem Dutzend verschiedener Speisen beladen war. Das Mädchen musterte sie scheu und schob mit der Gabel eine Kugel Mozzarella hin und her. Sein dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, einzelne Strähnen hatten sich gelöst. Die Spitzen lagen in der Salatsauce. Pilecki stand neben den beiden und betrachtete die riesige Portion. Er zog die Haarsträhne aus dem Teller und klemmte sie mit einem humorvollen Kommentar hinter Katjas Ohr.

»Was sprecht ihr?«, fragte Regina. »Russisch, Tschechisch oder Ukrainisch?«

»Kommt drauf an«, sagte Pilecki. »Irina kann fließend Russisch und Deutsch, versteht natürlich etwas Tschechisch. Katja versteht zwar Russisch, doch sie spricht nur Ukrainisch. Und mein Russisch ist ziemlich rostig. Ich versuche, ganz auf Ukrainisch umzustellen. Vermutlich wird das irgendwann unsere Familiensprache, damit Katja es nicht verlernt.«

Er wandte sich an Katja, die Fahrni bestaunte, weil er gleichzeitig zwei Tomaten in den Mund geschoben hatte, und sagte ihr etwas. Das Mädchen hörte Pilecki zu und sah anschließend zögernd zu Regina.

»Ich habe ihr gesagt, dass du ein Geschenk für sie hast.«

Regina zog die Matrioschka, die in buntes Weihnachtspapier eingepackt war, aus der Tüte.

Katja löste das Papier sorgfältig, damit es nicht zerriss. Sie reichte es Pilecki und machte sich am Seidenpapier zu schaffen. Als die Holzpuppe zum Vorschein kam, zog sie eine enttäuschte Grimasse.

»Sie denkt, bei uns gibt es nur Barbiepuppen. Aber Irina wird es freuen. Sie kann Barbies nicht ausstehen.« Pilecki strich Katja über den Kopf, und sie murmelte etwas. »Danke«, übersetzte er.

»Irina findet Barbies wohl sexistisch«, sagte Cavalli ironisch.

Pileckis Lachen erlosch, und er wandte sich an Regina. »Schön, dass du an Katja gedacht hast.«

»Wenn du nicht aufpasst, wirst du deinen besten – oder einzigen? – Freund bei der Kapo verlieren«, warnte Regina. Sie sah dem Streifenwagen nach, der die Hohlstraße hinunterdonnerte. Pileckis Freunde beim Korps hatten ihm die Fahrt ins Berner Oberland organisiert, wo er mit Irina und Katja eine Woche Ferien verbringen wollte.

»Ich hoffe, er weiß, worauf er sich einlässt«, sagte Cavalli und drehte sich zu Regina um. »Fahren wir?«

Regina stieg in seinen Volvo ein. Sie war müde und hatte zu viel gegessen. »Auf die Liebe.«

»Was?« Cavalli drehte die Heizung auf.

»Er hat sich auf die Liebe eingelassen. Ist dir aufgefallen, dass er den ganzen Abend nicht geraucht hat?« Pilecki hatte bis vor Kurzem noch zwei Päckchen Zigaretten am Tag geraucht.

»Ich zweifle nicht daran, dass er verliebt ist. Aber sie? Was will sie von ihm?«

Regina hatte keine Lust, die Diskussion weiterzuführen. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Scheibe. Draußen zog die Stadt an ihr vorbei.

Katja klemmte die Matrioschka unter ihren Arm und versuchte, den Oberkörper zu lösen. Sie drehte ihn hin und her, doch er klemmte. Drei Schichten hatte sie weggeschält, und sie war neugierig, wie viele noch zum Vorschein kämen.

Jasmin Meyer raste bei Rot über eine Kreuzung und lenkte den Wagen auf die Gegenfahrbahn. Geschickt wich sie einem Lieferwagen aus, der zu spät zur Seite gefahren war.

»Bambi! Wir wollen lebend ans Ziel kommen!«, sagte Pilecki.

Die Polizistin schaltete in einen niedrigeren Gang, drosselte das Tempo aber nicht. Selten hatte die gelernte Automechanikerin Gelegenheit, richtig Gas zu geben. Der Funk knisterte, und die Einsatzzentrale meldete einen Notruf. Meyer hörte zu. »Keine Sorge, ich habe noch nie einen Unfall gebaut.« Sie schaltete das Blaulicht ein.

»Das geht zu weit!« Pilecki lehnte sich nach vorne, um das Blaulicht wieder auszuschalten. »Du weißt genau, dass das keine Dienstfahrt ist. Ich will keinen Ärger!«

Bevor Meyer reagieren konnte, schoss ein Velofahrer aus einer Seitenstraße heraus. Er schien weder das Blaulicht noch die Polizeisirene bemerkt zu haben. Schwankend rollte er auf den Mittelstreifen zu.

Meyer trat heftig aufs Bremspedal und riss das Steuer nach rechts. Die Hinterräder des Streifenwagens gerieten auf der nassen Fahrbahn ins Schleudern, und Katja schrie auf. Die Matrioschka flog ihr aus den Händen und prallte ans Armaturenbrett. Meyer löste die Bremse, wich aufs Trottoir aus und lenkte den Streifenwagen gekonnt an einem Abfallcontainer vorbei. Fünfzig Meter weiter vorne rollte sie wieder auf die Straße zurück.

»Tut mir leid, ich wollte Katja nicht erschrecken«, sagte sie und beschleunigte wieder.

Irina sammelte mit zusammengebissenen Zähnen Matrioschkateile ein, die im ganzen Auto verteilt lagen.

2

Marko Simonovic wickelte die Lichterkette um einen Kunststoffast. Er drehte das Kabel so, dass die kleinen Glühbirnen gut sichtbar waren.

»Sie sind nicht gleichmäßig verteilt!« Marina Simonovic schnalzte mit der Zunge und stemmte beide Hände auf ihre breiten Hüften. »Bojan«, fragte sie ihren jüngeren Sohn. »Was meinst du? Hat es unten nicht zu viele Kerzen?«

»Das ist doch egal.« Bojan schenkte seine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher.

Marko seufzte laut.

»Und du hörst mit diesem Geschnaube auf! Früher hast du darauf bestanden, an Heiligabend den Weihnachtsbaum zu schmücken. Ich sehe nicht, warum das nun plötzlich anders sein soll.«

Marko machte seine Mutter nicht darauf aufmerksam, dass das vor über zwanzig Jahren gewesen war. Damals, als sie in die Schweiz gezogen waren, war ihm viel daran gelegen, so wie alle andern zu sein. Er hatte nicht begriffen, warum seine Klassenkameraden Weihnachten zwei Wochen früher feierten als er. Doch mit den Jahren wuchs sein Selbstvertrauen und damit sein Interesse an seinem eigenen Glauben. Mit neunzehn war er der serbisch-orthodoxen Kirchgemeinde in Zürich beigetreten. Die Geburt Jesu feierte er am siebten Januar in der Kirchgemeinde Heilige Dreifaltigkeit.

»Ich brauche etwas frische Luft. Ich mache einen kurzen Spaziergang.«

»Jetzt?«, rief seine Mutter. Sie wandte sich an ihren Mann, der schwer atmend in seinem Polstersessel döste. »Milos, sag deinem Sohn, dass es nicht ohne seine Hilfe geht.«

Der schlafende Mann regte sich nicht.

»Ich bin nur kurz weg.« Marko legte eine Hand beruhigend auf die Schulter seiner Mutter. »Wir haben noch genug Zeit.«

Marina zeigte auf die Unordnung im Wohnzimmer, den halbgeschmückten Weihnachtsbaum und die Einkaufstaschen im Flur. »Genug Zeit? Der Fisch müsste längst im Ofen sein, das Tischtuch ist noch nicht gebügelt, der …«

»Schon gut, schon gut. Womit soll ich beginnen?«

Dankbar deutete Marina in die Küche.

Marko holte die Einkäufe aus dem Flur und forderte seinen jüngeren Bruder auf, ihm zu helfen.

Bojan riss die Augen auf. »Ich? Ich bin in der Küche nutzlos. Ich bin dir nur im Weg.«

»Fische säubern ist keine Hexerei!« Als Marko sah, wie seine Mutter die Hände rang, verstummte er. Er holte ein Küchenmesser und setzte sich an den Tisch.

Regina stand ratlos vor dem leeren Kühlschrank. Vor lauter Weihnachtsgeschenken hatte sie vergessen, sich um Lebensmittel zu kümmern. Bis zum Nachtessen bei ihren Eltern würde sie nicht durchhalten. Sie stöberte in der Vorratskammer, fand aber nichts, das sich einfach zubereiten ließ. Sie holte die Pralinen, die sie von ihren Arbeitskollegen auf der BAZ zum Abschied erhalten hatte, und machte es sich auf dem Sofa bequem. Wäre dieser Abend doch bloß vorbei, dachte sie. Sie kannte den Film, der sich abspielen würde: Rosé und Smalltalk zum Empfang; ihre Mutter, die mit dem Gesicht einer Märtyrerin immer wieder in die Küche verschwand, aber keine Hilfe annahm; Chantals Jungen, die zum Weihnachtsbaum schlichen und unauffällig an den Päckchen rüttelten; ihr Vater, der schweigend zusah, wie unerfüllte Erwartungen die Stimmung trübten. Anschließend das Filet im Teig, das aus unausgesprochenen Vorwürfen bestehende Tischgespräch und zum Schluss die gespielte Freude beim Öffnen der Päckchen.

Das Telefon riss Regina aus ihren Gedanken, und sie sah, dass die halbe Schachtel Pralinen verschwunden war. Mit einem schlechten Gewissen legte sie sie beiseite und griff zum Hörer. Ihre Zunge fühlte sich klebrig an.

»Flint.«

»Guten Appetit«, sagte Cavalli. »Und frohe Weihnachten.«

»Höre ich da einen neidischen Unterton?«

»Du weißt, dass ich Schokolade nicht mag.«

»Woher weißt du, dass ich Schokolade esse?«

»Ich kenne deine Vorratskammer: Teigwaren, Joghurt, Darvidas und Schokolade. Und ich weiß, was dir heute Abend bevorsteht. Ergo – Schokolade.«

»Du hast mich durchschaut. Aber wenn ich nicht aufhöre, kriege ich heute Abend keinen Bissen herunter. Was gibt es bei euch? Zur Abwechslung mal Maiskolben statt Polenta?« Cavalli konnte zwar besser kochen als sie, doch er empfand es als Zeitverschwendung.

»Mach dich nicht darüber lustig. Die erste Frau wurde aus einem Maiskolben erschaffen!« Cavallis Vorfahren waren Cherokee-Indianer, er selbst hatte zehn Jahre in einem Reservat gelebt.

Regina lachte. »Das erklärt einiges. Wie geht es Chris? Hatte er es gut bei Constanze?«

Cavalli zögerte. »Hatte ist nicht ganz das richtige Wort.«

»Sondern?«

»Constanze hat sich mit ihrem Freund gestritten. Sie fährt nicht zu ihm über Weihnachten.«

»Das heißt, Chris bleibt über die Feiertage bei ihr?«

»Genau.«

»Und du bist frei.«

»Richtig. Und«, er dehnte die Silben aus, »wenn du heute Abend Verstärkung brauchst, stehe ich zu deinen Diensten.«

»Du willst mich zu meinen Eltern begleiten?«

»Oder dir zur Flucht verhelfen, deine Mutter verhaften, sie einer Gehirnwäsche unterziehen, ablenken, vergiften, überstimmen …«

»Welche Kombination darf ich wählen?«

Alles war rechtzeitig fertig. Der Weihnachtsbaum stand leicht schief, weil eine Seite überladen war, aber niemand störte sich daran. Marina stellte die dampfenden Teigwaren neben den Fisch und setzte sich an den Tisch.

»Mmm, das riecht himmlisch«, sagte ihre Nichte Ankica.

Marina strahlte. Sie kochte jedes Jahr ein traditionelles serbisches Heiligabendessen, achtete Marko zuliebe sogar darauf, alles nur mit pflanzlichem Öl zuzubereiten, wie es sich für ein Fastenmenü gehörte. Stolz füllte sie die Teller bis zum Rand, kaum war eine Schüssel leer, holte sie aus der Küche die nächste.

»Marko, feierst du wieder in Heilige Dreifaltigkeit oder mit dem Segen des Bischofs?«, fragte Marinas Bruder.

Unter Konstantin Djokic, Bischof der serbisch-orthodoxen Diözese für Mitteleuropa, hatten sich die orthodoxen Serben in Zürich gespalten. Der traditionalistische Djokic beharrte auf dem Standpunkt, dass das Kirchenrecht über dem Zivilrecht steht. Nur in Zürich wollte man dies nicht nachvollziehen.

»Ich verzichte auf den Segen des Bischofs«, sagte Marko.

Marina schnalzte mit der Zunge. Dann sah sie ihn liebevoll an. »Marko ist bei der Polizei aufgestiegen! Er ist jetzt bei der Bahnpolizei.«

»Immer noch bei der Kantonspolizei«, sagte Marko. »Aber beim Kriminaldienst am Hauptbahnhof.«

»Bulle ist Bulle, egal wo«, sagte Bojan.

»Wenigstens arbeitet dein Bruder«, stieß sein Vater hervor. Sein Atem pfiff leise, und er wartete, bis er wieder genug Sauerstoff hatte. »Das täte dir auch gut! Marko ist ein guter Junge.«

»Es ist noch nicht lange her, da hast du gesagt, kein Sohn von dir werde bei der Schweizer Polizei arbeiten«, sagte Bojan.

»Er ist ein guter Junge.«

Marko stand auf, um in der Küche eine weitere Schüssel Nudeln zu holen. Er öffnete das Fenster und sog die frische Luft ein. Einige Kinder versuchten, eine große Schneekugel zu rollen. Sie hinterließ eine braune Spur auf der weißen Grasfläche. Die Kinderstimmen erinnerten Marko an seine eigenen Abenteuer auf der Spielwiese. Er war in dieser Siedlung groß geworden, hatte seine erste Zigarette im Spielhäuschen geraucht und im Kellerabteil zum ersten Mal ein Mädchen geküsst. Ihre Gesichtszüge waren zart aber deutlich gezeichnet gewesen, Nase und Augenbrauen schmal, ihr Kinn sanft gerundet. Sie hatte zerbrechlich gewirkt, ihn aber mit einem harten Blick überrascht, wenn ihr etwas missfiel. Marko versuchte zu begreifen, warum diese Erinnerung so deutlich war, und dann sah er es: Regina Flint. Die Staatsanwältin, Opfer eines Taschendiebstahls am Weihnachtsmarkt. Die Ähnlichkeit war frappant. Er hatte es im Dienst nicht bemerkt.

»Marko?« Marinas Stimme durchdrang seine Gedanken.

Marko schloss das Fenster und gesellte sich wieder zu seiner Familie.

»Und sie hat wirklich nichts dagegen?«, fragte Cavalli. Die spontane Einladung erschien ihm merkwürdig. Sie passte ganz und gar nicht zu Reginas Mutter.

»Nein. Sie freut sich.« Kaum waren die Worte ausgesprochen, merkte Regina, dass sie übertrieben hatte.

Cavallis Augenbraue schoss in die Höhe, und er sah zweifelnd zu ihr herüber. Marlene Flint hatte ihn nie gemocht. Damals nicht, als er mit ihrer Tochter zusammenlebte, und nach der Trennung schon gar nicht mehr.

Regina blieb vor dem Gartentor stehen und wappnete sich. Die Tanne neben dem Briefkasten war mit einer Lichterkette geschmückt, zuoberst leuchtete ein Stern. Er war neu. Den Drahtschmuck am Türkranz hingegen kannte Regina, wie auch den gläsernen Kerzenhalter neben der Türmatte. Sie bückte sich, um nachzusehen, ob der feine Sprung am Fuß des Halters auf magische Weise verschwunden war. Er war noch da, eine Erinnerung an ein ungeschicktes Bremsmanöver vor sechsundzwanzig Jahren, als man mit dem Schlitten noch bis vor die Haustür fahren konnte. Jetzt war der ganze Hang überbaut, die Einfamilienhaussiedlung erstreckte sich bis zur Hauptstraße. Uitikon war ein typischer Vorort von Zürich geworden.

Cavalli hakte nicht nach. Er hatte keine Ahnung, was Regina ihrer Mutter erzählt hatte, aber bestimmt nicht die Wahrheit. Marlenes Gesichtsausdruck, als sie die Tür öffnete, bestätigte seine Vermutung.

»Regina«, begrüßte sie ihre Tochter kühl. »Und … Bruno. Welch eine Überraschung!«

Regina lächelte dünn. »Frohe Weihnachten.«

Sie folgten ihr ins Haus. Reginas Vater kniete vor dem Cheminée und legte ein Holzscheit ins Feuer. Als er Regina sah, stand er erfreut auf. Er wischte sich die Hände an einem dafür vorgesehenen Handtuch ab und umarmte sie.

»Bruno, schon lange nicht mehr gesehen. Ich wusste gar nicht …« Er sah seine Frau fragend an.

»Regina hat angekündigt, dass sie ihren neuen Freund mitbringen möchte.«

Regina korrigierte sie nicht. Zwar hatte sie nicht von »ihrem neuen Freund«, sondern von »einem Freund« gesprochen, aber ihre Mutter hörte das, was sie hören wollte.

Cavalli lächelte charmant. »Walter, du siehst immer noch blendend aus.«

Walter Flint strich sein schütteres Haar nach hinten und senkte den Kopf leicht. Während er nach Worten suchte, ging die Tür auf, und Reginas Schwester Chantal trat mit ihrer Familie ein. Regina nutzte den entstehenden Lärm, um Richtung Sitzgruppe davonzuschleichen. Sie setzte sich auf die Kante.

»Schön zu wissen, dass ich dein neuer Freund bin«, flüsterte ihr Cavalli belustigt ins Ohr.

Regina war nicht zum Spaßen aufgelegt. »Das habe ich nie behauptet!«

Cavalli fuhr ihr mit den Fingerspitzen übers Bein. »Schade.« Er zog seine Hand zurück, als Chantal auf sie zukam.

Die Schwestern glichen sich in keiner Weise. Obwohl Chantal drei Jahre jünger war als Regina, sah sie wie die Ältere aus. Ihre pummelige Figur und die konservative Kleidung ließen sie mütterlich erscheinen. Doch sie beherrschte genau wie Regina die Fähigkeit, eine Maske künstlicher Fröhlichkeit zur Schau zu tragen, wenn es die Situation erforderte.

»Regina! Ich wusste gar nicht, dass ihr …«, sie suchte mit einem verstohlenen Seitenblick zu Cavalli nach den richtigen Worten.

»Wieder ein Liebespaar seid?«, sagte Cavalli.

Chantal errötete. »Entschuldige, ich habe dich noch gar nicht richtig begrüßt. Ich bin etwas überrascht.« Sie zögerte und überlegte, ob ein Begrüßungskuss angebracht war.

Cavalli nahm ihr die Entscheidung ab. Er stand auf und umarmte sie.

Das Gespräch am Tisch verlief harzig. Nur Chantals Mann Arnold schien sich wohl zu fühlen. Ab und zu tupfte er sich den Schweiß von seiner hohen Stirn, eine Reaktion auf die Kerzen und den Wein.

»Du bist jetzt Staatsanwältin, nicht?«, sagte er zu Regina.

»Ab 1. Januar«, sagte Regina.

»Ändert die Bezeichnung nur auf dem Papier, oder hast du neue Aufgaben?«, fragte Arnold weiter.

Marlene schenkte Wein nach. »Sprechen wir über etwas Angenehmeres. Gewalt und Verbrechen sollte man an Heiligabend ausklammern.«

»Regina ist befördert worden. Sie beginnt nach den Feiertagen auf der STA IV, die auf Gewaltdelikte spezialisiert ist«, sagte Cavalli.

»Alle Bezirksanwälte sind ›befördert‹ worden.« Marlene erhob sich. »Ich hole das zweite Filet aus dem Ofen.«

»Nein«, sagte Cavalli. »Alle Bezirksanwälte nennen sich neu Staatsanwälte, aber Regina ist zusätzlich befördert worden. Um auf der STA IV zu arbeiten, braucht es jahrelange Erfahrung.«

Regina lachte verlegen. »Ich weiß nicht, ob man das wirklich ›befördert‹ nennen kann. Ich bin zwar eine Lohnstufe höher eingeteilt, dafür ist der Erfahrungsanteil heruntergesetzt worden.«

Marlene verschwand in der Küche.

»Jagst du immer noch Mörder?«, fragte Chantals jüngerer Sohn Lukas.

»Klar. Aber nicht nur.« Als Regina Arnolds interessierten Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Die STA IV untersucht auch Hibo-Fälle, also Hilfe für bedrohte Opfer …«

»Häusliche Gewalt«, erklärte Cavalli.

»Genau. Dann alles, was mit qualifiziertem Kinderschutz zu tun hat, sowie medizinische Kunstfehler und den Schusswaffengebrauch der Polizei.«

»Wenn Bruno mit seiner Pistole schießt, dann verhaftest du ihn?« Lukas war fasziniert.

Cavalli ließ die Gabel fallen und streckte die Hände in die Höhe. »Ich werde mich hüten, meine Pistole zu gebrauchen!«

Lukas lachte.

Regina entspannte sich. »Es gibt nur eine Untersuchung, wenn der Polizist jemanden verletzt.«

Das Gespräch versiegte, als Marlene mit dem Filet zurückkehrte. »Ich weiß nicht, wie man sich Tag für Tag mit Verbrechern beschäftigen kann. Das ist doch ungesund. Nicht wahr, Walter?«

Reginas Vater schob das Gemüse auf seinem Teller hin und her.

»Das ist kein Grund, die Augen davor zu verschließen«, sagte Cavalli. »Tatsache ist, dass die Zahl der schweren Gewaltdelikte steigt.«

»Woran liegt das deiner Meinung nach?«, fragte Walter.

»Schwer zu sagen. Unter anderem sicher an der Liberalisierung des Gastgewerbegesetzes. Das bringt natürlich auch negative Begleiterscheinungen mit sich. Und viele Gewaltdelikte weisen einen Bezug zu Drogen und zum Rotlichtmilieu auf. Dazu kommt der Kriminalitätstourismus, die mangelnde Integration junger Migranten …«

»Chantal, du bist heute so schweigsam. Was habt ihr an Silvester vor?«, fragte Marlene.

Chantal, tief in Gedanken versunken, schaute erschrocken auf.

»Aber man kann etwas gegen diese negative Entwicklung unternehmen«, sagte Cavalli. »Indem man beispielsweise die Kleinkriminalität, die als Nährboden für Gewalttaten dient, konsequent bekämpft. Nicht wahr, Regina?«

Sie nickte.

»Über fünfzig Prozent der Personen, die eines Gewaltdelikts verdächtigt werden, sind in der Kriminalstatistik bereits vorher erfasst worden, haben also einen Hintergrund als Kleinkriminelle. Hinzu kommen jene Gewalttäter, welche …«

»Zählst du deinen Sohn auch zu diesen Kleinkriminellen?«, fragte Marlene, während sie mit dem Fleischmesser hantierte. »Oder gehören Einbrüche bereits zu den gröberen Delikten?«

Cavalli zeigte keine Reaktion. »Statistisch gesehen werden Einbrüche nicht als gröbere Delikte definiert. Es kommt aber natürlich darauf an, wie hoch der Schaden ist. Man darf sie nicht bagatellisieren. Die Gesamtzahl der Einbruchdiebstähle belief sich dieses Jahr auf rund 17 500. Das sind zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. Dank der DNA-Datenbank gelingt es, immer mehr tatverdächtige Einbrecher zu eruieren.«

Eine unangenehme Stille trat ein. Regina versuchte, Chantal in ein Gespräch über ihren geplanten Wiedereinstieg ins Berufsleben zu verwickeln, doch es gelang ihr nicht.

Der linke Scheibenwischer war dem rechten immer einen Bruchteil einer Sekunde voraus. Er wirkte dadurch robuster. Wie zwei Strafverfolger jagten sie die Schneeflocken, die sich gegen die Scheibe warfen. Kaum waren sie weggewischt, nahmen neue den freien Platz ein. Cavalli und ich, dachte Regina. Aber war Cavalli wirklich der Robustere?

Endlich sagte Cavalli etwas. »Es wäre nicht nötig gewesen, ihr von Christopher zu erzählen.«

Regina spielte mit ihrem Fingerring. »Ich habe nicht mit ihr darüber gesprochen. Aber mit Chantal. Es tut mir leid.«

Vor ihnen verlief eine Reifenspur quer über die Fahrbahn, wo ein Wagen auf dem Schneematsch ins Schleudern geraten war. Regina war froh, als sie das Steilstück hinter sich ließen und am Triemlispital vorbeifuhren.

»Danke, Cava.«

»Wofür?«

»Für deine Unterstützung heute Abend.«

Cavalli lenkte den Volvo stumm durch die Stadt. Er passierte das Bellevue und bog Richtung Kunsthaus ab. Vor der Universität nahm er die Abzweigung nach Fluntern. Als er die letzten Lichter der Stadt hinter sich gelassen hatte, hielt er an und stieg aus.

Er öffnete die Beifahrertür und reichte Regina die Hand. »Komm, hör dir die Stille hier oben an.«

Regina stieg aus. Der Schnee auf dem Zürichberg war trockener, er bedeckte knapp die Wiese. Die Schicht dämpfte die üblichen Abendgeräusche, so dass sich eine andächtige Stille über die Natur legte.

Cavalli stellte sich hinter Regina und umschloss sie mit seinen Armen. »Ich habe bloß die Wahrheit gesagt. Du bist diejenige, die auf der BAZ tolle Arbeit geleistet hat. Du erkennst sofort Zusammenhänge und holst bei Einvernahmen mehr Informationen aus Angeschuldigten heraus als jede andere Staatsanwältin.«

»So besonders ist das auch wieder nicht.«

»Du bist gut, Regina. Dafür musst du dich nicht schämen.«

»Ich schäme mich nicht. Ich finde es einfach normal, sein Bestes zu geben.«

»Das Beste ist nicht immer genug. Bei dir ist das anders. Darauf darfst du stolz sein.« Er zog sie enger an sich.

Regina lehnte sich gegen ihn und schaute in den Himmel. Es fielen nur noch wenige Schneeflocken, stellenweise war die Wolkendecke aufgebrochen und ließ spärliches Mondlicht durch. Cavallis Worte und sein muskulöser Körper hinter ihrem gaben ihr das Gefühl, stark zu sein. Sie versuchte, diesen Moment in ihr Gedächtnis einzuprägen, um ihn hervorzuziehen, wenn ihre Zweifel sie wieder einholten.

Marko holte seine Autoschlüssel. »Ich bin in zwanzig Minuten wieder da. Leg dich hin, Mama, ich wasche ab, wenn ich zurück bin.«

Die Familie seines Onkels wohnte in Dietlikon, bloß zehn Minuten von Dübendorf entfernt. Im Feierabendverkehr brauchte Marko für dieselbe Strecke mindestens das Doppelte. Doch an Weihnachten waren die Straßen leer.

Marina tätschelte seinen Arm und bat ihn, vorsichtig zu fahren. Marko wusste, dass sie sich nicht hinlegen würde, bis die letzte Spur des Abendessens weggeräumt war. Er schlüpfte in seine Turnschuhe und zog eine warme Jacke an. In der Tür blickte er zurück. Seine Mutter stand inmitten von zerknülltem Geschenkpapier und leeren Kaffeetassen. Sein Vater bückte sich mühsam und streifte seine Hausschuhe ab. Bojan war nirgends zu sehen. Einem Impuls folgend ging Marko noch einmal zurück und küsste seine Mutter, bevor er die Treppe hinunter zur Familie seines Onkels trabte, die draußen wartete.

Sein alter Golf sprang trotz der Kälte sofort an. Auf dem Rücksitz saß gähnend seine Tante. Er drehte sich zu ihr um, konnte ihr Gesicht aber nicht erkennen, da ein Fahrzeug hinter ihm die Lichter eingeschaltet hatte.

»Angeschnallt?«, fragte er.

»Fahr los«, befahl seine Cousine.

Marko bestand darauf, dass sie sich anschnallte. Ankica gab maulend nach. Marko achtete nicht auf ihre Einwände und bog in die Zürichstraße ein. Die Temperatur war gesunken, stellenweise war die Fahrbahn mit Glatteis bedeckt. Er fuhr vorsichtig ins Stadtzentrum und dann die Dübendorfer Bahnhofstraße hinauf. Die Weihnachtsbeleuchtung tauchte die leere Fahrbahn in warmes Licht. Einige Jugendliche standen am Bahnhof und rauchten; aus einem offenen Autofenster drang albanische Musik.

Bald hatten sie Dübendorf hinter sich gelassen. Die letzte Wohnsiedlung vor dem Waldstück zwischen der Chriesmatt und Dietlikon lag im Dunkeln. Die Straße wurde schmal, der Schnee auf der Fahrbahn verbarg die Seitenmarkierung.

»Weißt du noch, wie du mit mir in diesem Wald den Samichlaus gesucht hast?«, fragte Ankica.

Marko lächelte. »Natürlich. Du warst erst sechs und glaubtest, du wärst nicht brav genug gewesen.« Ankicas Eltern hatten die Bräuche am Nikolaustag nicht gekannt. Im Kindergarten erfuhr das Mädchen dann, dass die anderen Kinder Schokolade, Nüsse und Mandarinen erhalten hatten. Als sie weinend nach Hause gelaufen war, hatte ihre Mutter sofort Marko angerufen, der ihr die Tradition erklärte und Ankica mit in den Wald nahm. Dort verteilte ein Nikolaus mit echtem Esel Chlaussäcke.

Marko betrachtete seine Cousine, die keine Ähnlichkeit mehr mit dem unsicheren Mädchen von damals hatte. »Heute gäbe er dir bestimmt die Rute.«

Ankica streckte ihm die Zunge raus. »Die könnte ich jetzt brauchen!«

Am Waldrand geriet der Golf leicht ins Rutschen, und Marko widmete seine ganze Aufmerksamkeit wieder der Straße. Glücklicherweise hielt der Wagen hinter ihnen genügend Abstand. In Dietlikon leuchtete ihnen der blaue Elefant auf dem Jumboschild entgegen, kurz darauf parkierte Marko vor der Wohnung seines Onkels. Der Abschied war kurz.

Auf dem Rückweg drehte Marko die Musik auf, um sich gegen die aufkommende Müdigkeit zu wappnen. Es hatte keine anderen Fahrzeuge auf der Straße. Erst im Waldstück sah er die Rücklichter eines Mazdas, der vorsichtig über den Schnee kroch. Marko überholte nicht, sondern bremste ab, da er sich an die glatte Stelle erinnerte. Der Wagen vor ihm drosselte das Tempo weiter. Er schlich mit knapp dreißig dahin. Das hätte der Nikolaus mit dem Esel auch geschafft, schmunzelte Marko für sich. Bald wurde er aber ungeduldig. Als er an der glatten Stelle vorbei war, wagte er auf einer übersichtlichen Strecke ein Überholmanöver. Er scherte nach links aus. Radio DRS spielte Jingle Bells, und Marko lächelte, als er sich an Ankicas Staunen erinnerte, damals im Wald.

Er beschleunigte auf sechzig Kilometer pro Stunde. Der Wagen neben ihm zog nach. Überrascht drückte Marko auf das Gaspedal. Sah ihn der Fahrer nicht? Er blickte hinüber, doch in der Dunkelheit konnte er ihn nicht erkennen. Vor ihm lag eine leichte Linkskurve; wenn ein Auto entgegenkäme, könnte die Situation gefährlich werden. Markos Handflächen wurden feucht. Er fuhr jetzt fast neunzig; der Motor heulte. Der Wagen neben ihm war immer noch auf gleicher Höhe. Die Straße war schmal, doch Marko traute sich nicht, noch weiter an den linken Rand zu fahren. Er fluchte, nahm seinen Fuß vom Gas, aber das Pedal folgte seiner Bewegung nicht. Einen Augenblick war Markos Kopf leer; er begriff nicht, was geschah. Sein Atem stockte. Vor ihm lag die Brücke über den Chriesbach. Kurz dahinter befand sich ein Kreisverkehr. Und dann sah er die Scheinwerfer. Sie kamen direkt auf ihn zu. Marko trat heftig auf das Bremspedal, Glatteis hin oder her, und riss das Lenkrad nach links. Er war bei der Brücke angelangt, sah das Geländer entlang dem Radweg. Das entgegenkommende Auto verlangsamte sein Tempo, doch es reichte nicht mehr. Es prallte in den Kotflügel des Golfs, als Marko auszuweichen versuchte. Er spürte den Schlag und hörte Metall auf Metall treffen. Die Zeit schien stillzustehen, als er gegen das Geländer anschlug. Der Ansager kündigte Stille Nacht an, und Marko dachte noch flüchtig, dass er das Lied unpassend fand. Sein Golf flog über den Rand der Brücke hinaus. Die absurde Hoffnung, dass alles ein Albtraum war, stieg in ihm auf. Dann landete der Wagen kopfüber im Bachbett.

3

Cavalli holte Regina um Punkt sieben Uhr in Gockhausen ab. Sie wartete bereits vor der Tür. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den andern, die Hände tief in die Taschen ihres Ledermantels vergraben, das Kinn im hochgeschlagenen Kragen verborgen.

Cavalli startete den Motor. Er nahm einen schwachen Duft von Parfüm wahr. Beyond Paradise, erkannte seine Nase. »Hast du …« Er wartete, als eine Boeing direkt über ihnen dröhnte. »… schlafen können?«, beendete er eine halbe Minute später den Satz.

»Immer wieder ein bisschen. Wie hat Chris die Festtage überlebt?« Regina wollte nicht über sich oder den bevorstehenden Arbeitsbeginn reden.

»Er hat nicht viel erzählt. Kam aber selten vor drei Uhr nach Hause. Ich glaube, er durfte im Service mithelfen. Auf dem Küchentisch liegt viel Kleingeld.«

»Wie läuft die Wohnungssuche?«

»Über die Feiertage haben nicht viele Leute gekündigt.«

Seit Christopher bei Cavalli eingezogen war, war die Zweizimmerwohnung zu eng geworden. Regina hatte den Verdacht, dass Cavalli noch nicht viel dagegen unternommen hatte. Hoffte er, dass Chris bald zu Constanze zurückginge? Dafür schien seine Exfrau ihre neu gewonnene Freiheit zu sehr zu genießen. Sie hatte Chris zehn Jahre lang allein großgezogen, bevor er letzten Sommer zu Cavalli gezogen war. Cavalli hatte nur zugestimmt, um zu verhindern, dass Chris in ein Internat kam, nachdem er mehrere Einbrüche begangen hatte.

Sie kamen viel zu schnell am Helvetiaplatz an. Cavalli fuhr am Bezirksgebäude vorbei und bog in die Langstraße ein. Eine Querstraße weiter lenkte er seinen Volvo erneut nach rechts in die Molkenstraße.

Regina blieb sitzen und betrachtete die Tauben vor dem Amtsgebäude.

»Dann wünsche ich dir einen guten Start.« Cavalli reichte ihr eine Plastiktüte.

»Was ist das?«

»Ein Grundstock für deinen neuen Schreibtisch.« Er lehnte sich zu ihr hinüber und küsste sie auf die Wange. »Viel Glück.«

Regina öffnete die Tüte und erblickte Darvidas, Traubenzucker, Bärentatzen, Grüntee, Vitamintabletten und Kaugummi. Gerührt bedankte sie sich und verließ widerwillig die Vertrautheit des Volvos.

»Schick mir eine SMS, wenn du fertig bist«, rief Cavalli ihr nach. »Ich hole dich ab. Egal, um welche Zeit.«

Irina fuhr mit der Bürste ein letztes Mal durch Katjas Haar. Sorgfältig band sie die dunklen Strähnen zu einem Pferdeschwanz zusammen. Katja fragte unglücklich nach ihrer Matrioschka.

Irina seufzte. Seit die kleinste Puppe verloren war, diente sie Katja als Vorwand für alles, was ihr missfiel. Irina war überzeugt, dass ihr die billig verarbeitete Matrioschka nicht viel bedeutete. Während die qualitativ guten Holzpuppen bis zu zehn kleinere Figuren in sich trugen, beschränkte sich das Massenprodukt, das Regina ihr geschenkt hatte, auf fünf. Die Innerste war immer noch so groß wie eine Birne gewesen.

Irina strich ihrer Tochter übers Haar. »Sie wird bestimmt irgendwo wieder auftauchen. Komm, wir müssen los.«

Katja rührte sich nicht.

»Es wird dir im Kindergarten gefallen, Katjenka, du wirst sehen.« Irina kniete vor sie hin und zog sie in ihre Arme. Katjas Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Unterlippe begann zu zittern.

Pilecki holte Katjas Winterjacke. Er betrachtete seine Familie, und Mitleid stieg in ihm auf. Er wusste nicht, wer von beiden elender aussah. Doch während Katjas Augen überliefen, riss sich Irina zusammen und holte mit zackigem Schritt ihre Sachen. Nur wer sie gut kannte, sah, dass ihr der bevorstehende Abschied genauso zu schaffen machte.

Pilecki hielt die Wohnungstür auf. »Huckepack?«

Katja schüttelte den Kopf und klammerte sich an Irina.

Pilecki begleitete sie bis zum Kindergarten. Ihm fielen keine aufmunternden Worte ein. Er fühlte sich schuldig, weil Katja seinetwegen in einem fremden Land Fuß fassen musste. Irina ging schweigend an seiner Seite. Pilecki betrachtete sie und spürte plötzlich die Verantwortung, die auf ihnen lastete. Sie hatten keine Möglichkeit gehabt, den gemeinsamen Alltag zu testen. Dazu hätte Irina eine Aufenthaltsbewilligung benötigt. Ihr Zusammensein hatte sich auf Ferien und Besuche in Kiew beschränkt. Das hier war etwas anderes. Mit ihrer Vergangenheit als Tänzerin in Zürich kam Irina gut zurecht, da hatte Pilecki keine Bedenken. Die Meinung anderer interessierte sie wenig. Aber wenn Katja sich schlecht einlebte, würde sie das nicht ohne Weiteres wegstecken. Zudem fürchtete sich Pilecki davor, dass Irina sich unterfordert fühlte. In Kiew hatte sie eine schlecht bezahlte, aber interessante Stelle auf dem Amt für Statistik aufgegeben. In der Schweiz wartete niemand auf eine Mathematikerin aus der Ukraine.

Die Kindergärtnerin empfing sie herzlich. Sie zeigte Verständnis für das scheue Mädchen und bot Irina an, den Morgen bei ihnen zu verbringen. Dankbar holte Irina Katjas Finken hervor. Pilecki beobachtete erleichtert, wie Katja Irinas Hand für einen Augenblick losließ und verstohlen aufsah.

Regina starrte auf ein Blatt Papier an der Scheibe des Empfangsschalters. Es war mit »Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich« beschriftet. Konnte sich der Kanton kein Schild leisten? Sie war nicht zum ersten Mal hier, aber heute schien ihr alles anders. Der junge Mann hinter der Trennscheibe meldete Regina beim Abteilungsleiter an.

Kurz darauf holte Silvio Tozzi sie im Warteraum ab. Er streckte ihr eine braungebrannte Hand entgegen und hieß sie willkommen. Regina folgte ihm zum Lift neben den vergitterten Treppen, die Häftlinge an einer Flucht hinderten.

»Ich zeige dir zuerst dein Büro, danach machen wir einen kleinen Rundgang. Ich nehme an, du kennst das meiste schon.«

»Einigermaßen. Ich war ein paar Mal hier.« Regina fühlte sich im engen Lift unwohl. Tozzi strahlte eine Präsenz aus, die zu viel Raum einnahm.

Im vierten Stock saßen erst wenige Staatsanwälte in ihren Büros. Reginas Schritte klangen laut auf dem Linoleum. Sie kamen zu einer bordeauxroten Tür, die in ein Vorzimmer führte.

»Hier sitzt dein Protokollführer. Kevin kommt meist gegen acht. Er ist im ersten Jahr bei uns.« Einige Polizisten verbrachten im Rahmen ihrer Ausbildung zwei Jahre als Protokollführer auf der Staatsanwaltschaft. Sie protokollierten Einvernahmen, erledigten Schreibarbeiten, legten Aktenverzeichnisse an und passten auf Gefangene auf.

»Und das hier ist dein Büro.« Tozzi zeigte auf einen großzügigen Raum mit Holzmöbeln aus den Siebzigerjahren.

Reginas Name stand bereits auf dem Metallschild. Sie trat ein und sah sich um. Links befand sich ein runder Tisch mit vier Stühlen, vor ihr stand ein Schreibtisch, leicht schräg, so dass sie durch die Glasscheibe neben dem Eingang freie Sicht auf das Vorzimmer hatte. Und der Protokollführer freie Sicht auf sie.

Eine blonde Frau in Reginas Alter erschien in der Tür und stellte sich vor. »Theresa Hanisch. Ich sitze im Büro gegenüber. Wenn du Fragen hast, zögere nicht anzuklopfen.«

»Fragen werde ich bestimmt haben.«

Tozzis Blick blieb an Hanischs engem Jupe hängen, als sie sich umdrehte. Er spürte, wie Regina ihn anschaute, und sah weg. Dann nahm er den Rundgang durch die Amtsstelle wieder auf und erklärte Regina gleichzeitig, was sie erwartete. »Wir gehen sieben bis acht Mal pro Jahr eine Woche lang auf Brandtour. Die erste Hälfte der Woche musst du selbst ausrücken, danach bist du nur noch Stellvertreter, falls ein Kollege zwei Fälle gleichzeitig bearbeiten muss.« Er öffnete die Tür zu einem winzigen, fensterlosen Raum. »Eine der Abstandszellen. Einmal pro Monat findet eine Abteilungssitzung unter meiner Leitung statt. Ebenfalls einmal pro Monat trifft sich die ganze Amtsstelle mit Landolt. Er ist noch in den Ferien, kommt erst Ende Woche wieder.«

Regina versuchte, sich alles zu merken. Sie war froh, dass sie ihre vertrauten Fälle weiterbearbeiten würde, so konnte sie sich langsam einarbeiten.

Tozzi schien ihre Gedanken zu erraten. »Du wirst am Anfang noch stark mit deinen Dossiers von der BAZ beschäftigt sein. Trotzdem ist es gut, wenn du auch unsere Fälle bearbeitest.«

Regina sah ihn überrascht an. Sie brachte über hundert Pendenzen mit. Wie sollte sie Zeit dafür finden?

Tozzi fuhr unbeirrt fort. »Ich hatte zwischen Weihnachten und Neujahr Brandtour. Über die Feiertage ist immer viel los. Ich musste jeden Abend ausrücken, einmal in einer Messerstecherei mit acht Beteiligten. Das gibt eine Menge Arbeit! Ich kann deine Unterstützung gut brauchen.«

Regina schwieg perplex. Staatsanwälte bearbeiteten Fälle nicht gemeinsam. Vielleicht warf ein Kollege einen Blick in eine Akte, aber nur, wenn er darum gebeten wurde. Wollte Tozzi sie auf diplomatische Art auf besondere Anforderungen bei der STA IV aufmerksam machen?

»Ich bringe dir nachher das Dossier eines Raserunfalls vorbei«, fuhr er fort. »Zwei Raser haben sich ein Rennen geliefert. Das Tragische daran: Eine unbeteiligte Autofahrerin kam ums Leben. Die Frau hinterlässt einen fünf Monate alten Säugling. Und einmal mehr war der fehlbare Lenker ein Mann aus Ex-Jugoslawien.« Tozzi verzog das Gesicht.

Regina hörte aufmerksam zu. Eine Ahnung beschlich sie: »Du sprichst aber nicht den Unfall des Polizisten an, an Heiligabend?«

»Doch, genau der. Marko Simonovic. Hast du davon gehört?«

Regina nickte. Das war ein komplizierter Fall, dachte sie, mit wenig Aussicht auf Erfolg, da es keine Zeugen gab. Wenn ein Polizist in einen Unfall verwickelt war, schaute man ganz genau hin. Und wenn dieser Polizist der einzige Serbe im Korps war, erst recht. Dass die Raserproblematik ohnehin Aufmerksamkeit erregte, schuf zusätzliche Komplikationen.

»Polizei und Justiz nehmen das Raserphänomen ernst«, fuhr Tozzi fort. »Du weißt bestimmt, dass wir eine Verkehrsgruppe aufbauen, die ab Mitte Jahr für die Bearbeitung von Raserfällen zuständig sein wird.«

Regina nickte.

»Ausgenommen sind natürlich die Fälle von eventualvorsätzlicher Tötung, die weiterhin hier auf der STA IV untersucht werden.« Tozzi rückte seine Krawatte zurecht. »Die Verkehrsgruppe besteht aus fünf Staatsanwälten aus allen Teilen des Kantons, die mit den Spezialitäten von Raserfällen besonders vertraut sind. Da teilweise langjährige Freiheitsstrafen in Aussicht stehen, muss die Beweissicherung entsprechend umfassend sein. Die involvierten Staatsanwälte müssen eine Affinität für Technik mitbringen, sonst sind seriöse Einvernahmen und Anklageschriften nicht möglich.«

»Ich verstehe nicht viel von Tech…«, begann Regina.

»Wir treffen uns um halb zehn zum Kaffee. Richte dich zuerst einmal in Ruhe ein.« Tozzi verschwand mit einem freundlichen Lächeln.

Regina stand wie angewurzelt in ihrem neuen Büro. Sie spürte noch jemanden im Raum und drehte sich um. Ein bulliger Mann mit Millimeterschnitt und hängendem Kiefer lehnte sich hinter ihr an ein Regal.

»Wer sind Sie?«, fragte Regina, als sich der ungebetene Besucher nicht vorstellte.

»Kevin Sutter. Dein Protokollführer.« Er drückte Reginas Hand so fest, dass sie einen entsetzten Laut von sich gab.

Sie musterte den Polizisten und wünschte sich in die BAZ zurück.

Cavalli holte sie wie versprochen ab. Dankbar kroch Regina auf den Beifahrersitz und ließ sich gehen. Die Ereignisse des Tages sprudelten aus ihr heraus.

»Klingt für mich ganz danach, als wolle Tozzi eine ruhige Kugel schieben«, sagte Cavalli.

»Und dieser Polizist! Er gibt mir das Gefühl, er tue mir einen persönlichen Gefallen, wenn er etwas erledigt, das zu seinem Pflichtenheft gehört!«

»Dein Vorsatz, mehr Durchsetzungsvermögen an den Tag zu legen, wird dir gelegen kommen.«

»Sehr witzig.« Regina zog ihre Schuhe aus und hielt die Zehen an die Heizung. »Kann ich etwas aufdrehen?«

»Nur zu.«

»Hast du gewusst, dass es Simonovic war?«

»Der Polizist, der den Unfall verursacht hat? Klar.«

»Wir haben doch neulich über ihn gesprochen. Auf dem Weihnachtsmarkt hat er mir die Plastiktüte zurückgebracht.«