Täuschung - Petra Ivanov - E-Book

Täuschung E-Book

Petra Ivanov

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  • Herausgeber: Unionsverlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Was ist das Geheimnis um Jasmin Meyers Vater? Er hat sie verlassen, als sie noch ein Kind war, hat sich nach Thailand abgesetzt, war dort in dubiose Geschäfte verwickelt und gilt seit nunmehr zehn Jahren als verschollen. Die Mutter verstummt, wenn die Rede auf ihn kommt, und wirft so immer drängendere Fragen auf, anstatt sie zu beantworten. Jasmin beschließt, nach Thailand zu reisen und sich auf die Suche zu machen. Die Reise stellt sie und ihren Freund Pal Palushi vor ungeahnte Herausforderungen. Sie sucht im ganzen Land, unter Einheimischen und Schweizer Auswanderern, in geheimnisvollen Höhlen und dubiosen Bars nach Puzzlestücken der Vergangenheit. Mächtige Clans wollen sie ausschalten. Zuletzt stößt sie auf Dinge, die sie und ihre Familie im Innersten erschüttern.

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Seitenzahl: 495

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Über dieses Buch

Jasmin Meyer sucht in Thailand nach Puzzlestücken ihrer Vergangenheit. Unter Einheimischen und Schweizer Auswanderern versucht sie, dem Geheimnis ihres seit zehn Jahren verschollenen Vaters auf die Spur zu kommen. Dabei stößt sie auf Dinge, die sie und ihre Familie im Innersten erschüttern.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst Kriminalromane, Thriller, Liebesromane, Jugendbücher, Kurzgeschichten und Kolumnen.

Zur Webseite von Petra Ivanov.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Petra Ivanov

Täuschung

Meyer und Palushi ermitteln in Thailand

Kriminalroman

Meyer und Palushi ermitteln (3)

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 4 Dokumente

© by Petra Ivanov 2016

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Karuka/Shotshop.com (Silhouette); dvarg@123rf (Drache)

Umschlaggestaltung: Heike Ossenkop

ISBN 978-3-293-30946-3

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Version vom 26.06.2024, 09:01h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

TÄUSCHUNG

Prolog1 – Als der Geländewagen im Rückspiegel auftauchte, schenkte Jasmin …2 – Der Gecko klebte an der Zimmerdecke und starrte …3 – Sechs Wochen zuvor4 – Die Fahrzeuge kamen direkt auf Jasmin und Pal …5 – Sechs Wochen zuvor6 – Der Bauch des Geckos ruhte auf körnigem Stein …7 – Sechs Wochen zuvor8 – Jasmin schlug die Augen auf. Zunächst wusste sie …9 – Auf der Rückfahrt war Jasmin ungewohnt schweigsam …10 – Wolfgang Seidel hatte beschlossen, nach Thailand auszuwandern …11 – Überall lauerten Makaken. Aufmerksam beobachteten sie die Menschen …12 – Fünf Wochen zuvor13 – Die alte Frau kreischte, als sie ihn sah …14 – Die Fenster im Trainingsraum waren beschlagen. Es roch …15 – Pal schloss die Augen. Als er sie wieder …16 – Als sie gegen Mittag in Bangkok ankamen …17 – Vier Wochen zuvor18 – Die Sonne stand tief am Himmel, als das …19 – Es war kurz nach Mitternacht, als Jasmin auf …20 – Das Motorrad war dem Gecko nicht geheuer …21 – Jasmin hatte schon geglaubt, Daisy würde ihr die …22 – Der Markt befand sich in einer offenen Halle …23 – Ein Gecko keckerte. Der Laut klang wie ein …24 – Das »Stump’s« lag in einer Seitenstraße, in der …25 – Als das Licht anging, brachte sich der Gecko …26 – Jasmin fühlte sich taub. Seit Stunden saß sie …27 – Das »Orchidhome« lag im Süden Phukets, unweit vom …28 – Ein Wok, einige Tropfen Sojaöl, ein Zischen …29 – Der erste Schuss fiel, als sie vor einem …30 – Sie hatten ihr Gepäck wieder. Die Koffer standen …31 – Vierzehn Jahre hatte sich Jasmins Leben fast ausschließlich …32 – Der Gecko roch Gefahr. Immer wieder ließ er …33 – Jasmin erkannte die matt gestrahlte Klinge aus rostfreiem …34 – Die Luft knisterte. Die Farben leuchteten, als sei …35 – Nakhon Ratchasima war ein wichtiger Knotenpunkt im Busverkehr …36 – Es regnete in Schwamendingen. Die Reifen der vorbeifahrenden …37 – Drei Monate später

Mehr über dieses Buch

Mitra Devi: Gespräch mit Petra Ivanov über »Täuschung«

Über Petra Ivanov

Petra Ivanov: »Meine Figuren sind lebendig. Wenn ich nicht schreibe, verliere ich den Kontakt zu ihnen.«

Petra Ivanov: »Mein Weltbild hat sich zum Besseren verändert, seit ich Krimis schreibe.«

Mitra Devi: Ein ganz und gar subjektives Porträt von Petra Ivanov

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Für meinen Vater

Prolog

Winnie Mae zog die Lippen nach. Fantasia Pink, passend zu den Pumps. Sie tupfte sich sorgfältig den Schweiß von der Stirn und strich ihr Kleid glatt. Was sie im Spiegel sah, gefiel ihr. Blondes Haar umrahmte ihr Gesicht und unterstrich die dunkle Wimperntusche. Das eng anliegende Kleid wölbte sich an den richtigen Stellen; die hohen Absätze ließen ihre Beine lang und grazil erscheinen. Zum ersten Mal seit Wochen lächelte sie.

Mit erhobenem Kopf trat sie in die schwülwarme Nacht hinaus, wo sie von einer Geräuschwelle überrollt wurde. Dem Knattern von Mopeds mischte sich Musik bei, Fahrzeuge hupten, Händler boten Waren feil, Frauen riefen in nasalem Singsang »Massage«. Farben überall, grell und leuchtend. Reklamen, blinkende Schriftzüge. Schlepper warben für kostenlose Shows; es qualmte aus Auspuffen, dampfte aus Garküchen, die alles von frittierten Insekten bis Reis anboten.

Winnie Mae nahm die Düfte in sich auf. Zitronengras und Chili, Schweiß, Abgas, Parfüm. Sie tauchte in die Menschenmenge ein, ließ sich mitziehen, lächelte Unbekannten zu, schüttelte den Kopf, als ihr eine Uhr zum Kauf angeboten wurde. Ein Schild versprach heiße Nächte; die Umrisse einer Frau leuchteten rot. In einer Seitenstraße wartete ein chinesischer Geldleiher auf Kunden, deren Wünsche größer waren als ihre Brieftasche.

»Money?«, fragte er.

Winnie Mae schüttelte den Kopf. Sie sah ihr Spiegelbild in einem Schaufenster und straffte die Schultern. Ein junger Thai bot an, sie zu begleiten, »I go where you go«. Wieder lehnte sie ab. Ein Straßenhändler schob einen Karren an ihr vorbei; ein Mann auf Krücken verkaufte Lose.

Als ihre Füße in den engen Schuhen zu schmerzen begannen, setzte sie sich in eine Bar und bestellte einen Singapur Sling. Am Tisch nebenan saßen zwei Amerikaner und unterhielten sich über die Preise sexueller Dienstleistungen; in der Tür des Massagesalons gegenüber rauchten zwei knapp bekleidete Frauen.

Winnie Mae nahm einen Schluck ihres Cocktails und schloss die Augen. Das fruchtige Aroma täuschte über den hohen Alkoholgehalt hinweg. Schon bald war das Glas leer. Sie bestellte einen weiteren Drink, legte den Kopf in den Nacken, betrachtete die Sterne und merkte, dass es nicht Sterne waren, sondern Lichter. Sie lachte, und niemand schaute sich nach ihr um. Ein Glücksgefühl durchströmte sie.

Sie stand auf, schob den Stuhl zurück und breitete die Arme aus, im Wissen, dass sie nicht auffiel. Hier gab es kein Richtig, kein Falsch, keine bösen Blicke, nur dieses Lächeln, das alles umfasste und alles verzieh. Sie war frei.

1

Als der Geländewagen im Rückspiegel auftauchte, schenkte Jasmin Meyer dem Fahrzeug keine Beachtung. Der Linksverkehr und die chaotische Fahrweise der Thais verlangten ihre ganze Aufmerksamkeit. Motorräder bahnten sich im Zickzackkurs einen Weg durch den Verkehr; schwer beladene Tuk-Tuks wichen Unebenheiten auf der Fahrbahn aus. Ein Moped schwenkte plötzlich auf das Trottoir und fädelte sich genauso unerwartet wieder in den Verkehr ein. Mit ihrer Ducati hätte Jasmin die Herausforderung genossen, doch der Roller, den sie gemietet hatte, erfüllte sie mit Unbehagen. Sie bereute, ihn nicht einem ausführlichen Sicherheitscheck unterzogen zu haben.

Pal Palushi erging es auf dem Sozius nicht anders. Seine Finger gruben sich in ihre Hüften wie Greifzangen. Sie hatten nur einen kurzen Ausflug zum Strand machen wollen und waren davon ausgegangen, ein Roller genüge, doch in Zukunft würde sich Jasmin auch für kurze Strecken ein anständiges Motorrad leihen. Immerhin befand sich die einzige Ducati-Fabrik außerhalb Italiens in Thailand.

Vor ihr tauchte eine rote Ampel auf. Als Jasmin anhielt, trat ein Kaugummiverkäufer auf die Straße. Bevor der Junge ihr seine Ware anbieten konnte, wechselte das Licht auf Grün. Pal griff in seine Tasche und kramte einige Baht hervor. Jasmin wartete. Neben ihnen fuhren die Fahrzeuge an, hinter ihnen hupte es. Ein Toyota scherte aus und überholte sie. In diesem Augenblick sah sie den Geländewagen wieder. Als gelernte Automechanikerin bekam sie selten Fahrzeuge zu Gesicht, die sie nicht kannte. Beim Thai Rung handelte es sich um einen Geländewagen mit der Karosserie eines Chevrolet Suburban. Der Luxuswagen war nicht nur bei der Elite beliebt, sondern auch bei Angehörigen der Königsfamilie.

Doch das war Jasmin jetzt egal. Es interessierte sie nur, dass der TR weder die Geschwindigkeit verringerte noch die Spur wechselte. Er bretterte direkt auf sie zu. Pal bemerkte den Wagen nicht, der im Rückspiegel immer größer wurde. Warum bremste der Fahrer nicht? Als Jasmin klar wurde, dass er sogar beschleunigte, begann ihr Herz, schneller zu schlagen. Sie musste losfahren. Da es unmöglich war, sich über den Verkehrslärm hinweg zu verständigen, versetzte sie Pal einen Tritt und gab Gas. Pal ruderte mit den Armen, bekam sie zu fassen und schmiegte sich an ihren Rücken. Jasmin wechselte die Spur, direkt vor den Kühler eines Lieferwagens. Dieser fuhr mit gleicher Geschwindigkeit weiter.

Der TR hatte die Spur ebenfalls gewechselt und raste nun auf den Lieferwagen zu, der nach rechts auswich. Sofort versuchte ein Motorrad, den frei gewordenen Platz einzunehmen, doch der Geländewagen war schneller. Er preschte nach vorne und schloss bedrohlich nah auf. Jasmin reihte sich in die Standspur ein. Der TR wurde ebenfalls langsamer. Jasmin wusste, dass Verkehrsregeln in Thailand selten beachtet wurden, doch dieses Verhalten weckte ihr Misstrauen. Sanuk, sabai, saduak, schoss es ihr durch den Kopf. Mehr brauche sie nicht zu wissen, um die Thais zu verstehen, hatte ihr Bruder Ralf erklärt, dessen Frau aus dem Nordosten des Landes stammte. Das Leben müsse Spaß machen, bequem sein und Genuss bereiten. Typisch Ralf, ein Volk auf drei Begriffe zu reduzieren, hatte Jasmin gedacht und die Augen verdreht, doch Pal, der sich in Geschichte und Politik Thailands eingelesen hatte, bestätigte Ralfs Zusammenfassung, auch wenn er der Meinung war, dieser vereinfache die Lebensphilosophie etwas gar zu stark. Er führte sie auf die üppige Natur zurück, die es den Menschen jahrhundertelang ermöglichte, ein müßiges Leben zu führen, sowie auf die buddhistische Prägung, mit der ein gewisser Fatalismus einherging.

Davon merkte Jasmin im Moment wenig. Der TR-Fahrer überließ nichts dem Schicksal, er jagte sie gezielt. Und vermutlich nicht, weil es als sanuk galt, also Spaß machte. Jasmin suchte nach einer Seitenstraße. Hua Hin, das älteste Seebad Thailands, war übersichtlich. Sie hatte keine Mühe, sich zu orientieren. Vor ihr tauchte der Clock Tower auf, dahinter erblickte sie das verzierte Dach eines Tempels. Unmittelbar danach führte ein Sträßchen von der Hauptstraße weg. Vermutlich war es der Weg zum Strand. Ganz in der Nähe befand sich die Tourist Police.

Jasmin wechselte erneut die Spur. Erst da bemerkte sie das Einbahnschild. Kurz erwog sie, trotzdem abzubiegen, wieder kam ihr aber Ralf in den Sinn. Bei einem Verkehrsunfall, hatte er sie gewarnt, seien in Thailand immer die Farang, die Ausländer, schuld, egal was sich tatsächlich abgespielt habe. Zähneknirschend fuhr sie weiter.

Der Geländewagen schloss bedrohlich nahe auf. Versuchte der Fahrer, sie in eine Gasse zu treiben, um sie auszurauben? Thailand galt als einigermaßen sicheres Land, zumindest für Touristen. Außerdem gab es geeignetere Orte, ihnen aufzulauern, als mitten im Verkehr.

Sie waren bei der Damnern Kasem Road angelangt. Keine Einbahnstraße. Erleichtert verlagerte Jasmin ihr Gewicht, um abzubiegen, doch der Geländewagen versperrte ihr mit einem waghalsigen Manöver den Weg. Jetzt, da er sich auf gleicher Höhe befand, sah Jasmin, dass ein Mann mit Ziegenbärtchen am Steuer saß. Der Wagen scherte aus. Jasmin beschleunigte. Sie quetschte sich an einem voll besetzten Tuk-Tuk vorbei. Hinter ihr zog Pal die Beine hoch. Jasmins Kehle war trocken, der Riemen des Helms drohte ihr die Luft abzuschneiden. Im Rückspiegel bemerkte sie Pal, der ihr zunickte.

Sie drehte das Gas voll auf und schoss auf die Gegenfahrbahn. Auf ihrer Ducati hätte sie es problemlos geschafft, sie vor dem herannahenden Gegenverkehr zu überqueren, doch der Roller war zu schwach. Das Heulen des Motors klang wie Protestgeschrei, der Sitz vibrierte. Aus Gewohnheit beugte sich Jasmin vor, als läge sie über dem Tank ihrer Monster, doch es nützte nichts. Sie befand sich genau in der Mitte der Straße, als die ersten Fahrzeuge hupend auf sie zurasten.

2

Der Gecko klebte an der Zimmerdecke und starrte auf den alten Mann. Der alte Mann lag im Bett und starrte zurück. Unablässig zupften seine Finger am Kissen, das auf seinem Bauch lag. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Bild vom Stockhorn. Wie der Hut eines Zauberlehrlings erhob sich der Gipfel der Bergkette, darüber erstreckte sich ein blauer Himmel. In den Augen des Mannes lag Erstaunen. Er blinzelte, drehte den Kopf auf die eine, dann auf die andere Seite, starrte wieder an die Decke.

Lange geschah nichts. Bis auf das beharrliche Zupfen registrierte der Gecko keine Bewegung im Raum. Er ließ seine Zunge hervorschnellen. Die Atemzüge des Mannes wurden flach, sie klangen kaum lauter als das Flüstern der Morgenbrise, die mit dem Bambusvorhang spielte. Jemand klopfte an der Tür. Der Mann zuckte zusammen, seine Finger hielten inne, dann zupften sie weiter.

Eine Frau trat mit gesenktem Kopf ins Zimmer. Ihr dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ihre Fingernägel waren kurz geschnitten und sauber. Sie betrachtete den Mann. Er trug einen gestreiften Pyjama, dort, wo der Schweiß den Stoff durchnässt hatte, klebte er ihm am Körper.

»Guten Morgen, Khun Kahl. Wie geht es Ihnen heute?«, fragte die Frau.

Der Mann drehte den Kopf. »Ich habe lange nach einem Parkplatz gesucht.«

»Ja.« Die Frau lächelte.

»Ich bin spät dran.«

»Ja.« Die Frau durchquerte das Zimmer und berührte den Mann am Arm. »In der Nacht habe ich einen Tokkee acht Mal rufen hören. Wissen Sie, was das bedeutet?«

Der Mann schwieg.

»Das bringt Glück!« Die Frau strahlte. »Heute haben wir Glück, Khun Kahl!« Sie öffnete einen Schrank, nahm ein Poloshirt und eine Hose heraus und suchte nach frischer Unterwäsche. Sie legte die Kleidungsstücke ins Bad und kam zum Bett zurück.

»Jetzt gehen wir duschen. Sind Sie bereit?« Sie nahm seine dürre Hand in ihre und strich ihm mit den Fingern über den Handrücken.

Der Mann regte sich nicht. Erst als die Frau die Decke zurückschlug, schwang er die Beine aus dem Bett. Sie waren dünn und weiß. Die Frau nickte aufmunternd, er setzte die Füße auf den Boden und stand auf. Gemeinsam tappten sie ins Bad. Das Wasser lief. Die Frau sagte etwas, der Mann kicherte, ein Gegenstand fiel zu Boden.

Der Gecko verschwand in einer Ecke. Von draußen erklang der Gesang eines Graudrongos. Der Pfeifton verstummte, als sich ein Motorrad näherte, kaum hatte sich das Knattern entfernt, nahm der Vogel seinen Gesang wieder auf.

»Wo ist Ihre Zahnbürste?«, fragte die Frau.

Der Mann kam aus dem Bad, die Wangen rosig, das dünne Haar nach hinten gekämmt. Die Frau folgte ihm, sie schaute in den Schrank, durchsuchte die Kommode, bückte sich und warf einen Blick unters Bett. Schließlich fand sie die Zahnbürste im Kühlschrank neben einer Packung Ragusa. Sie reichte sie dem Mann. Er verteilte Zahnpasta auf dem Kinn.

»Nicht rasieren, Zähne putzen«, erklärte die Frau und machte es ihm vor.

Der Mann begann, sich die Zähne zu putzen. Zuerst langsam, Zahn für Zahn, dann immer schneller. Zum Schluss schluckte er die Zahnpasta herunter. Die Frau reichte ihm ein Glas Wasser. Er betrachtete es lange, schaute sich im Zimmer um und trank. Die Frau streckte die Hand nach dem Glas aus, doch der Mann hielt es weiter fest.

Er kniff die Augen zusammen. »Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«

»Ich bin Nong. Ich bringe Sie jetzt zum Frühstücksraum.«

Der Mann lehnte sich vor. Ein verwirrter Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit. Er musterte die Frau von unten nach oben, plötzlich griff er ihr zwischen die Beine. Sie wich zurück und begann zu summen. »Lass uns etwas singen, Khun Kahl.«

Die Melodie war dem Gecko fremd, doch dem Mann schien sie zu gefallen. Die Leere in seinen Augen verschwand, und er begann zu singen. »Es wott es Fraueli z’Märit gah, z’Märit gah, und de Ma deheime lah, tralalalala, tralalalala.«

Die Frau stimmte ein. »Talalalala, talalalala.«

»Es wott es Fraueli …« Der Mann stellte das Glas hin. »Ich muss los, sonst bekomme ich einen Strafzettel!«

Der Mann zog die Tür auf, Sonnenlicht drang ins Zimmer. Einen Augenblick blieb er auf der Schwelle stehen, da hakte sich die Frau bei ihm unter, und er setzte sich wieder in Bewegung.

»Ich heiße Karl«, sagte er.

3

Sechs Wochen zuvor

Drei Anrufe in Abwesenheit. Alle von ihrer Mutter. Jasmin steckte das Handy in die Innentasche ihrer Lederjacke und verließ den Baumarkt, in dem sie seit Kurzem arbeitete. Ihr stand nur eine halbe Stunde Mittagspause zu, ihre Mutter würde warten müssen. Edith Meyer hatte sich noch nicht an Jasmins neuen Tagesablauf gewöhnt. Fast ein Jahr lang war Jasmin jederzeit erreichbar gewesen. Als private Ermittlerin hatte sie nur einen einzigen Personenschutzauftrag an Land gezogen. Noch immer wurde ihr kalt, wenn sie daran dachte. Der Auftrag hatte sie zurück an den Abgrund geführt, an dem sie stand, nachdem sie Opfer eines Verbrechens geworden war – und sie beinahe alles gekostet, was ihr etwas bedeutete.

Die Schiebetür ging auf, und Jasmin trat ins Freie. Kühle Winterluft schlug ihr entgegen. Jasmin schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Unvorstellbar, dass der erste Advent bereits vor der Tür stand. Gerade noch hatten sich die Blätter an den Bäumen zu verfärben begonnen. Sie überquerte die Straße und schlenderte auf einen Imbissstand zu, aus dem sich der Duft von Grillhähnchen verbreitete. Im Industrieviertel herrschte kaum Betrieb, der Großteil der Kunden würde die Möbelhäuser und Einkaufszentren erst am späten Nachmittag aufsuchen, wenn sich die Dämmerung über die Agglomeration von Zürich legte und die Lichterketten Weihnachtsstimmung aufkommen ließen.

Den Morgen hatte Jasmin damit zugebracht, Regale für Baumschmuck aufzubauen, leuchtende Rentiere und Weihnachtsmänner ans Stromnetz anzuschließen und künstlichen Schnee für die Dekorateure herbeizuschaffen. Zu ihrem Erstaunen hatte ihr die Arbeit gefallen. Obwohl die Tätigkeit kaum Fachwissen voraussetzte, genoss Jasmin das starke Drehmoment des Akkuschraubers, den Geruch des verdampfenden Öls und das Klicken des Seitenschneiders beim Kürzen der Drähte. Dass man das Ergebnis der Arbeit sah, befriedigte sie ebenfalls. Als Polizistin hatte sie über Monate hinweg die gleichen Fälle bearbeitet, der Abschluss war oft alles andere als zufriedenstellend gewesen.

Vor dem Imbissstand hatte sich eine Gruppe Möbelauslieferer versammelt. Jasmin studierte die Tafel, die neben der Theke angebracht war, und bestellte ein halbes Hähnchen mit Pommes frites. Sie setzte sich an einen der Kunststofftische und riss einen Ketchupbeutel auf. Die Möbelauslieferer beobachteten sie unverhohlen. Sie klopften Sprüche in ihre Richtung, doch Jasmin ignorierte sie. Sie schob sich eine Handvoll Pommes in den Mund, spülte sie mit Cola herunter, dann nahm sie das Hähnchen in beide Hände und biss hinein. Fett lief ihr über das Kinn und tropfte auf den Kartonteller. Als einer der Möbelauslieferer mit geschwellter Brust an ihr vorbeistolzierte, kehrte sie ihm den Rücken zu.

Die Arbeit im Baumarkt war bis Weihnachten befristet. Vielleicht würde sie sich anschließend um eine Feststelle bewerben, überlegte Jasmin. Mal schauen. Ein Schritt nach dem anderen. So hatte es ihre Therapeutin ihr eingeschärft. Erst wenn Jasmin sicher sei, dass sie der Boden unter ihren Füßen trage, solle sie den nächsten wagen. Sie hatte eine beachtliche Strecke zurückgelegt, seit sie die Klinik verlassen hatte. Sie war bei Pal eingezogen, schaffte es, die Wohnung ohne Panikattacken zu verlassen, nun ging sie sogar einer geregelten Arbeit nach. Pal war der Meinung gewesen, sie unternehme zu viel aufs Mal, und hatte ihr angeboten, für ihren Unterhalt zu sorgen, aber Jasmin wollte nichts davon wissen. Sie hatte fast alles verloren, an das bisschen Selbstachtung, das ihr geblieben war, klammerte sie sich hartnäckig.

Ihr Handy klingelte. Jasmin biss sich auf die Zunge. Verärgert legte sie das Hähnchen auf den Teller zurück. Obwohl sie verstand, dass sich ihre Mutter Sorgen machte, meinte sie manchmal, an der Fürsorge zu ersticken. Edith Meyer war nie eine Glucke gewesen. Nachdem ihr Mann sie kurz nach Jasmins Geburt verlassen hatte, hatte sie alle Energie darauf verwendet, die Familie durchzubringen. Sie nahm eine Stelle im »Hirschen« an, wo sie meist bis Mitternacht servierte, und da sie sich keine Kinderbetreuung leisten konnte, lernte Jasmin früh, für sich selbst zu sorgen. Ihre Brüder passten zwar auf sie auf, Fußball interessierte Bernie und Ralf jedoch weit mehr.

Jasmin riss dem Hähnchen einen Flügel ab. Öl spritzte über den Tisch. Sie dachte an Pal. Seine Drei-Zimmer-Wohnung bestand fast ausschließlich aus schwarzem Leder, Chrom und Glas; jedes Staubkorn war auf den Designermöbeln sichtbar, jeder Fleck fiel auf. Sein Schlafzimmer schimmerte zwar in warmen Rot- und Brauntönen, doch auch dort herrschte penible Ordnung. Jasmin war erst eingezogen, nachdem Pal ihr ein eigenes Zimmer zugesichert hatte, doch sie wusste, dass bereits der Gedanke an das Chaos hinter der Tür genügte, um ihn zu beunruhigen.

Als ihr Handy erneut klingelte, nahm sie den Anruf seufzend entgegen.

»Ich arbeite«, sagte sie, das letzte Wort betonend. »Hast du das schon wieder vergessen?«

»Komm mir nicht in diesem Tonfall, Mädchen! Ich versuche schon den ganzen Morgen, dich zu erreichen! Ist es zu viel verlangt, ans Telefon zu gehen, wenn die eigene Mutter anruft? Ich weiß, dass du arbeitest, aber Kaffeepausen sind wohl auch im Baumarkt erlaubt. Und so viel hast du morgens nicht zu tun, das hast du selber gesagt.«

Jasmin ließ den Redeschwall über sich ergehen. Edith zu unterbrechen, war sinnlos. Als es am anderen Ende endlich still wurde, fragte sie: »Und, was ist nun so dringend?« Sie hörte, wie ihre Mutter langsam die Luft ausstieß. »Hast du wieder angefangen zu rauchen?«, fragte sie überrascht.

»Ich möchte, dass du heute Abend zum Essen kommst«, sagte Edith.

Unbehagen stieg in Jasmin auf. »Was hast du? Ist etwas passiert?«

»Darf ich meine Kinder nicht zum Essen einladen? Muss etwas passiert sein?«, fragte Edith.

»Bernie und Ralf kommen auch?« Jetzt war Jasmin sicher, dass etwas nicht stimmte.

»Wie lange arbeitest du?«, wollte Edith wissen.

»Bis acht.«

»Gut, wir sehen uns dann.«

Jasmin wollte noch etwas sagen, aber Edith hatte schon aufgelegt. Erschrocken starrte Jasmin auf das Display. Sie dachte an den letzten Besuch bei ihrer Mutter und überlegte, ob damals etwas anders gewesen war als sonst. Nichts fiel ihr ein. Sie war an ihrem ersten Arbeitstag nach Ladenschluss vorbeigegangen, um zu berichten, dass es gut gelaufen war. Sie glaubte, es ihrer Mutter schuldig zu sein. Nachdem sie so knapp dem Tod entronnen war, hatte sie fast ein Jahr in ihrem ehemaligen Kinderzimmer verbracht. Ihre Mutter war einfach für sie da gewesen. Nicht ein einziges Mal hatte sie ihr Vorwürfe gemacht, oder durchblicken lassen, dass es ihr zu viel war. Dabei hätte sie allen Grund dazu gehabt. Nach über zehn Jahren bei der Polizei hatte Jasmin die elementarste Sicherheitsregel gebrochen. In ihrem Eifer, einen Serienmörder aufzuspüren, war sie im Alleingang einer Spur gefolgt – und in eine Falle getappt. Drei Monate lang hatte der »Metzger«, wie er von der Presse genannt wurde, sie an ein Bett gefesselt.

Der Nachmittag kroch viel langsamer dahin als der Morgen. In Gedanken ging Jasmin die letzten Begegnungen mit ihrer Mutter durch, suchte nach Anzeichen einer Krankheit oder eines Gebrechens. Hatte Edith einen Arzttermin erwähnt? Über Schmerzen geklagt? Sich ungewöhnlich verhalten? Jasmin war keine Veränderung aufgefallen, doch das musste nichts heißen. Edith war gut darin, ihre Gefühle zu verbergen, und ließ sich nie eine Schwäche anmerken. Jahrelang hatte sie trotz eines Bandscheibenschadens weitergeackert, bevor sie sich endlich dazu durchrang, eine Invalidenrente zu beantragen. Sie war ihren Kindern Mutter und Vater zugleich gewesen, hatte sie beschützt und für sie gekämpft.

Jasmin griff nach einem Stecker und schloss eine Lichterkette ans Stromnetz an, um zu überprüfen, ob sie leuchtete. Anschließend wandte sie sich einem kletternden Weihnachtsmann zu, den sie an der Wand montieren sollte.

Sie hatte es immer als selbstverständlich betrachtet, dass ihre Mutter funktionierte. Edith war stark und entschlossen. Sie wusste, was sie wollte: selbstständige Kinder, die Recht von Unrecht unterscheiden konnten. Wie oft hatte Jasmin diese Worte gehört! Doch manchmal vergaß sie, dass die Welt ihrer Mutter nicht ausschließlich aus ihr, Bernie und Ralf bestand. Sie fragte sich, wie Ediths Leben ausgesehen hätte, wenn sie nicht verlassen worden wäre. Hätte sie Hobbys gehabt? Freundschaften gepflegt? Sich vielleicht sogar zu einer Weiterbildung entschlossen? Wie hatte sie sich ihre Zukunft vorgestellt, als sie Erwin Meyer kennenlernte?

Über ihren Vater wusste Jasmin wenig. Seit sie zurückdenken konnte, war sein Name tabu, ihn zu erwähnen, kam einem Verrat gleich. Als Erwin Edith sitzen ließ, verwirkte er das Recht, in den Erinnerungen seiner Kinder weiterzuleben. So sah es Jasmin zumindest. Dachte ihre Mutter noch viel an ihn? Jasmin stellte sich vor, Pal würde eines Morgens die Wohnung verlassen und nie wieder zurückkehren. Sie biss auf den Bleistift, den sie zwischen den Zähnen hielt.

Als sie sich kurz nach acht auf ihre Monster setzte, war sie auf das Schlimmste gefasst. Während der Fahrt nahm sie die Umgebung kaum wahr. Der Feierabendverkehr hatte nachgelassen, nur auf der Autobahnausfahrt stauten sich die Fahrzeuge. Viel zu schnell kam sie in Schwamendingen an, wo ihre Mutter immer noch in derselben Genossenschaftssiedlung wohnte, in der Jasmin aufgewachsen war. Die Reiheneinfamilienhäuser hatten modernen Wohnblocks Platz gemacht, sonst hatte sich nicht viel verändert, seit Jasmin vor sechzehn Jahren ausgezogen war. Sie bog in die Hirzenbachstraße ein. Laub bedeckte die Wiesen, im Kirchgemeindezentrum brannte Licht. Ein Schild machte auf das Kerzenziehen aufmerksam und entlockte Jasmin trotz ihrer Anspannung ein Lächeln. Jahr für Jahr hatte sie ihrer Mutter Kerzen zu Weihnachten geschenkt und jedes Mal geglaubt, Edith damit zu überraschen.

Als sie von ihrer Ducati stieg, fragte sie sich plötzlich, ob Ediths Einladung auch Pal galt. Da er sich donnerstags mit seinem ehemaligen Studienkollegen Valentin zum Squashspielen traf, war sie gar nicht auf die Idee gekommen nachzufragen. Sie marschierte an einem verlassenen Spielplatz vorbei. Kurz bevor sie den Hauseingang erreichte, bog Ralf um die Ecke, einen Affenpinscher an der Leine führend. Erleichtert stellte Jasmin fest, dass er ohne seine Familie gekommen war. Edith wollte ihre Kinder also alleine sprechen. Warum? Weil das, was sie ihnen zu sagen hatte, persönlich war?

Ralf hob die Hand zum Gruß. »Sieh mal einer an! Wer hätte gedacht, dass dich der Samichlaus gehen lässt! Seine Fitze war wohl noch nicht einsatzbereit.«

Jasmin zeigte ihm den Mittelfinger. Bevor sie einen bissigen Spruch fallen lassen konnte, tauchte Bernie auf. »Hey, Mini! Hat dich Santa schon übers Knie gelegt?«

Sie schaute ihn finster an. »Ich montiere nur die Dekos, ich sitze dem verdammten Claus nicht auf dem Schoß!«

Bernie grinste. »Aha! Da haben wir sie, deine geheime Fantasie! Wusste nicht, dass du auf dicke Männer stehst.«

»Vielleicht ist es der Bart?« Ralf strich sich über sein unrasiertes Kinn. »Fay gefällt es auch, wenn es ein bisschen kitzelt.«

»Wenn es wo kitzelt?«, fragte Bernie augenzwinkernd.

Jasmin schlug Ralf mit der Handfläche gegen den Kopf. »Ich will es gar nicht hören!«

Der Affenpinscher begann zu kläffen, und Jasmin trat einen Schritt zurück. So war es seit jeher gewesen. Bernie und Ralf waren wie zwei auf den gleichen Ton gestimmte Saiten. Öffnete einer den Mund, zog der andere nach. Obwohl eineinhalb Jahre zwischen ihnen lagen, verhielten sie sich wie Zwillinge. Doch äußerlich unterschieden sie sich stark. Während der stämmige Bernie Jasmin um einen Kopf überragte, war Ralf nur wenige Zentimeter größer als sie, dazu feingliedrig. Seine Reh-Augen schimmerten im gleichen warmen Braun wie ihre, seine Züge waren scharfkantig. Jasmin hatte sich an die Sprüche ihrer Brüder gewöhnt. Überrascht war sie jedoch über deren Pünktlichkeit. Mit voller Wucht kehrten ihre Ängste zurück.

Bernie bemerkte ihren Stimmungswechsel sofort. »Hat sie dir auch nicht gesagt, warum sie uns sehen will?«

Jasmin schüttelte den Kopf.

»Vielleicht hat sie im Lotto gewonnen«, meinte Ralf.

»Dream on«, schnaubte Bernie.

»Kam sie euch irgendwie anders vor als sonst?«, fragte Jasmin. »Könnte sie krank sein?«

»Niemals«, sagte Bernie. »Vorgestern sah sie noch kerngesund aus. Gesund genug jedenfalls, um eine geschlagene Stunde auf mich einzureden.«

Seit Bernie geschieden war, versuchte Edith, ihn dazu zu bewegen, sich eine neue Frau zu suchen. Sie war der Meinung, er lasse sich gehen, und das gefiel ihr nicht.

»Es gibt Krankheiten, die sieht man nicht«, sagte Jasmin. »Nicht im Anfangsstadium.«

»Eines muss man dir lassen, Mini, mit Schwarzmalerei kennst du dich aus«, sagte Ralf.

»Wenigstens sehe ich den Tatsachen ins Auge!«, konterte Jasmin. »Dir wäre es wohl lieber, ich würde einfach blöd grinsen.«

Ralfs Miene verdüsterte sich. Die Bemerkung war eine Anspielung auf seine Frau. Mit Fay hatte sich Jasmin nie verstanden. Sie brachte kein Verständnis für das unterwürfige Verhalten der gebürtigen Thailänderin auf. Dass Fay Konflikte einfach weglächelte, machte Jasmin aggressiv.

»Fangt nicht wieder damit an!«, stöhnte Bernie und zog die Tür auf. »Es gibt nur einen Weg herauszufinden, was los ist.« Er marschierte die Treppe hoch.

Ralf folgte ihm, nachdem er Jasmin einen erbosten Blick zugeworfen hatte. Jasmins Gedanken waren bereits wieder bei ihrer Mutter. Ein einziges Mal hatte sie sie krank erlebt. Jasmin war in der vierten Klasse gewesen, wie üblich war sie über Mittag nach Hause gekommen, um für sich und ihre Brüder das Essen zuzubereiten. Als sie die Tür unverschlossen vorfand, war ihr alles Mögliche durch den Kopf gegangen, aber auf die Idee, ihre Mutter könnte krank sein, wäre sie nie gekommen, nicht einmal, als ihr der Geruch von Erbrochenem entgegenschlug.

Bernie klopfte und trat ein. Obwohl die Fenster offen standen, merkte Jasmin sofort, dass in der Wohnung geraucht worden war.

»Komme gleich«, rief ihre Mutter aus dem Schlafzimmer.

Jasmin streifte die Schuhe ab und ging in die Küche, wo es nach Tomaten und Basilikum duftete. Zwei leere Packungen Fertigsauce standen neben dem Herd, aus einem Topf quoll Schaum. Sie hob den Deckel und reduzierte die Wärme, bis das Wasser nur noch leicht sprudelte.

»Mini?«, rief Bernie aus dem Wohnzimmer. »Bringst du uns zwei Bier?«

Aus Gewohnheit nahm Jasmin zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank, dann besann sie sich eines Besseren, stellte sie zurück und goss sich ein Glas Cola ein. Bernie und Ralf hatten es sich auf dem Sofa bequem gemacht.

»Hol dir dein Bier selber«, sagte Jasmin zu Bernie. »Oder ruf Fay an. Die führt dir das Glas bestimmt an die Lippen.«

»Das sagst ausgerechnet du!«, blaffte Ralf. »Pal hält dir das Händchen vermutlich beim Scheißen!«

Jasmin schnappte nach Luft.

Edith Meyer trat ins Wohnzimmer und knallte das Fenster zu. »Ist es zu viel verlangt, sich für einmal wie Erwachsene zu benehmen? Ralf, das war unter der Gürtellinie! Du weißt, was Jasmin durchgemacht hat, und dass Pal zu ihr gehalten hat, grenzt an ein Wunder. Nimm dir ein Beispiel an ihm! Im Gegensatz zu dir weiß er, was sich gehört!« Sie wandte sich an Jasmin. »Und du, Mädchen, wirst endlich damit aufhören, Fay schlechtzumachen. Sie ist deine Schwägerin, ob es dir nun gefällt oder nicht. Und jetzt hol das Bier.«

»Schon gut, ich mach das.« Bernie stand auf.

Überrascht sah Jasmin ihm nach. Eigentlich hätte sein Verhalten sie nicht erstaunen dürfen. Während der letzten Jahre hatte er sein Mitgefühl immer wieder bewiesen. Nachdem sie die Polizei verlassen hatte, beschäftigte er sie in seiner Garage, obwohl er sich eine zusätzliche Mitarbeiterin nicht leisten konnte; als sie im vergangenen Sommer einen Rückfall erlitten hatte, nahm er sie sogar eine Weile bei sich auf. Trotz seiner Sprüche fühlte sich Jasmin in seiner Gegenwart wohl. Vielleicht wegen seiner Sprüche? Dass er sie nicht mit Samthandschuhen anfasste, empfand sie als wohltuend. Manchmal fürchtete sie, von den Menschen, die ihre Geschichte kannten, ausschließlich als Opfer wahrgenommen zu werden. Bernies Sprüche waren ein willkommenes Gegenprogramm zu den besorgten Blicken und verlegenen Fragen. Und anders als bei Ralf verbarg sich keine Animosität dahinter.

Bernie kehrte mit zwei Bier zurück. »Ich glaube, die Spaghetti sind fertig«, sagte er.

Als sich Edith in die Küche begeben wollte, gab Jasmin ihr ein Zeichen, sich zu setzen. Sie musterte ihre Mutter, suchte nach Schatten unter ihren Augen und prüfte ihre Kleider. Sie versuchte abzuschätzen, ob sie abgenommen hatte. Sie entdeckte ein paar Falten mehr im grobknochigen Gesicht und neue Altersflecken auf den Händen, doch die Hose spannte wie seit jeher über dem breiten Becken. Edith schien auch keine Schmerzen zu haben, wenn man von den lädierten Bandscheiben absah. Ihre Mutter bemerkte, wie sie sie taxierte. In ihren Augen sah Jasmin etwas, was sie noch nie dort gesehen hatte: Verlegenheit. Oder gar Scham? Rasch senkte Jasmin den Blick, als sei sie bei einer Indiskretion ertappt worden.

In der Küche goss sie die Spaghetti ab, mischte der Fertigsauce einige Gewürze bei und nahm die Teller aus dem Schrank. Während sie den Tisch deckte, berichtete Ralf von seinen Kindern. Die achtjährige Tiffany wünschte sich ein Handy und die fünfjährige Loyola eine sprechende Puppe zu Weihnachten. Jasmin bezweifelte nicht, dass die Wünsche in Erfüllung gehen würden. Fay ließ es ihren Kindern an nichts fehlen, auf die Idee, etwas zum Einkommen der Familie beizusteuern, kam sie jedoch nicht. Jasmin verkniff sich einen Kommentar. Stattdessen beobachtete sie ihre Mutter aus dem Augenwinkel. Obwohl Edith an den richtigen Stellen nickte, schien sie Ralf nur mit halbem Ohr zuzuhören.

»Das Essen ist bereit.« Jasmin stellte die Schüssel Spaghetti auf den Tisch und ging in die Küche zurück, um die Sauce und eine Packung Parmesan zu holen. Als sie zurückkehrte, räusperte sich ihre Mutter.

»Ich muss euch etwas sagen.«

4

Die Fahrzeuge kamen direkt auf Jasmin und Pal zu. Niemals würde Jasmin es schaffen, die Straße vor dem herannahenden Gegenverkehr zu überqueren. Kurz entschlossen ließ sie das Hinterrad durchdrehen und bremste vorne ab. Ihre Ducati hätte einen perfekten Kreis auf den Asphalt gezeichnet, der Roller geriet jedoch bedenklich ins Wanken. Jasmin riss den Lenker herum und verlagerte ihr Gewicht, Pal zog mit. Nun zeigte das Vorderrad in die Richtung, aus der sie soeben gekommen waren. Jasmin beschleunigte. Auf beiden Seiten überholten sie die Fahrzeuge. Ein Thai auf einem Roller streckte den Daumen in die Höhe, als er mit flatterndem T-Shirt an ihr vorbeifuhr.

Die Gefahr war noch nicht gebannt. Der TR-Fahrer hatte das Manöver ebenfalls beobachtet und würde vermutlich wenden, sobald sich eine Gelegenheit ergab. Jasmin bog an der nächsten Kreuzung ab und flitzte durch die Gassen, vorbei an Gästehäusern, Schönheitssalons und Restaurants, in denen größtenteils Senioren saßen. Sie blickte in den Rückspiegel. Der TR war nirgends zu sehen. Jasmin schlug den Weg zum Strand ein.

Die Wache der Tourist Police bestand aus einem eingeschossigen Bau mit rotem Ziegeldach, mit englischem und thailändischem Schriftzug. Jasmin hielt neben den Stufen, die zum Eingang führten, und nahm den Helm vom Kopf. Als Pal vom Sitz rutschte, schaltete sie den Motor aus.

»Was war das denn?«, entfuhr es ihm.

»Sag du es mir!« Jasmin ließ die Schultern kreisen.

»Der Chinese wollte uns rammen!«

»War der TR-Fahrer kein Thai?«

»Die Gesichtszüge waren eindeutig chinesisch.«

Jasmin war sich nicht sicher, ob sie den Unterschied erkennen würde.

Pal fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs schweißnasse Haar. Trotz des Fahrtwinds klebte ihm das Hemd am Körper, und seine Stirn glänzte feucht. Es hatte ihn Überwindung gekostet, sich auf den Sozius zu setzen; er überließ anderen nur ungern die Kontrolle. Dass er sich so bereitwillig ihren Fahrmanövern gefügt hatte, rechnete Jasmin ihm hoch an. Hätte er sich gesperrt, lägen sie jetzt vielleicht in einem Straßengraben oder auf einer Kühlerhaube.

Er versuchte zu lächeln. »Zum Glück verstehst du etwas von Zweirädern. Der Donut war spitze.«

Wie immer lösten seine schiefen Zähne ein Gefühl von Zärtlichkeit in ihr aus. Pal achtete penibel auf sein Äußeres, der kleine Makel machte ihn in Jasmins Augen menschlicher. Er verriet, dass der erfolgreiche Anwalt einst ein Kind gewesen war, dessen Eltern sich keine Zahnkorrekturen hatten leisten können. Sein Leben war nicht immer in geordneten Bahnen verlaufen. Sie legte die Hände an seine Wangen und küsste ihn auf den Mund.

»Ob der Mann uns ausrauben wollte?«, rätselte Pal.

»Kaum«, sagte Jasmin. »Du hast gestern erzählt, die thailändische Oberschicht verbringe ihre Ferien in Hua Hin.«

Pal runzelte die Stirn. »Ja, an den Wochenenden sollen Karawanen von Luxuswagen aus Bangkok anreisen. Aber was hat das mit dem Chinesen zu tun?«

»Es bedeutet, dass es genug Beute für Diebe gibt.« Jasmin breitete die Arme aus. »Ich weiß, dass die meisten Menschen davon ausgehen, wir Farang seien reich, aber sehen wir denn aus, als ob wir Bündel von Dollars mitschleppten?«

Ein Polizist marschierte vom Strand her auf sie zu, trotz des tropischen Klimas trug er eine Uniform, die aus einer langen Hose und einem langärmeligen Hemd bestand. Er fragte in tadellosem Englisch, ob er behilflich sein könne. Jasmin schüttelte den Kopf. Der Polizist würde kein Wort glauben, wenn sie ihm schilderten, was sich zugetragen hatte.

Pal lächelte. »Alles in Ordnung, danke. Wir wollten uns nur die Wache ansehen. Ich habe gelesen, das Gebäude sei erst vor Kurzem errichtet worden.«

Geschmeichelt über sein Interesse, begann der Polizist, vom Künstler zu erzählen, der den Bau entworfen hatte. Jasmin hörte nur mit halbem Ohr zu. Ihre Aufmerksamkeit galt der Straße, die parallel zum Strand verlief. Plötzlich fiel ihr ein, dass die Tourist Police nicht nur für Touristen zuständig war, die Opfer eines Verbrechens wurden, sondern auch Delikte untersuchte, die von Fremden begangen worden waren.

»Haben Sie oft mit chinesischen Verbrechern zu tun?«, fragte sie unvermittelt.

Der Polizist verstummte. Jasmin biss sich auf die Zunge. Ein Beamter der Tourist Police würde sein Land von der schönsten Seite präsentieren wollen. Ihre Frage musste ihn vor den Kopf gestoßen haben. Als Kriminalpolizistin hatte sie ein feines Gespür dafür gehabt, wie sie ihr Gegenüber dazu brachte, sich zu öffnen; sie musste wieder beginnen, wie eine Polizistin zu denken. Pal rettete die Situation, indem er erklärte, sie hätten viel Gutes über die thailändische Polizei gehört. »Dank Ihnen können sich Touristen sicher fühlen.«

Der Polizist lächelte wieder. Ob er Pals Schmeichelei durchschaute? Sie wussten doch, wie korrupt die Polizei war. Nach dem Machtwechsel hatte das Militär zwar hart durchgegriffen, noch immer floss aber viel Geld in die Taschen der Beamten. Seit Jasmin erfahren hatte, dass ein Polizist nicht nur seine Uniform bezahlen, sondern sich sogar seine Stelle erkaufen musste, begriff sie auch, warum.

Immer wieder schielte der Mann in ihre Richtung. Auf einmal realisierte sie, dass er auf die Schlangen starrte, die sich um ihre Handgelenke wanden. Sie hatte sie stechen lassen, um die Narben zu verdecken, die die Kabelbinder hinterlassen hatten.

Sie hob die Hände. »Ich habe viele Thais mit Tattoos gesehen.«

Der Polizist nickte. »Tattoos übertragen Kräfte. Sie beeinflussen das Schicksal.« Er betrachtete die Schlangen mit unverhohlenem Interesse. »Bei uns werden sie von Mönchen gestochen. Viele Träger glauben an ihre Wirkung.«

»An Frauen habe ich bisher keine gesehen«, stellte Jasmin fest.

»Ein buddhistischer Mönch darf eine Frau niemals berühren«, erklärte der Polizist. »Er würde dadurch verunreinigt und müsste sich einem langwierigen Reinigungsritual unterziehen.« Er löste den Blick nicht von den Schlangen.

Jasmin hätte die Tattoos jetzt gerne bedeckt. Fast kam es ihr vor, als fordere sie das Schicksal heraus, indem sie sich gegen das Böse wappnete. Als der Polizist den Kopf hob, trafen sich ihre Blicke. Trotz der kulturellen Unterschiede hatte Jasmin das Gefühl, als sähe er geradewegs in sie hinein.

»Thailand hat schon immer viele Chinesen angezogen. Sie sind nicht mehr aus der Gesellschaft wegzudenken.« Die Stimme des Polizisten war seidenweich. »Viele wichtige Konzerne und Banken sind in chinesischer Hand, und fast alle Ministerpräsidenten sind mindestens teilweise chinesischer Abstammung. Geschäftsmann, Chao Pho, Unternehmer …« Er lächelte und wandte sich an Pal. »Wir Buddhisten glauben daran, dass wir das Karma beeinflussen können.« Mit einer kleinen Verbeugung verabschiedete er sich.

Jasmin schaute ihm nach. Hatte er ihnen soeben etwas zu sagen versucht? Verwirrt drehte sie sich zu Pal um.

Er zuckte die Schultern. »Mit direkten Fragen wirst du nicht weit kommen. Wir sind hier nicht in der Schweiz.«

»Wie soll ich Antworten finden, wenn ich keine Fragen stellen darf?« Sie schaute an Pal vorbei zum Strand, und für einen Augenblick vergaß sie den TR-Fahrer.

Pal nahm ihre Hand. »Wollen wir am Wasser entlangspazieren?«

Sie gingen den Weg, den der Polizist gekommen war, vorbei an Verkaufsständen, die Strandtücher, Matten und Snacks anboten. Trotz der Hochsaison lagen nur wenige Personen auf den Liegen, und die meisten Sonnenschirme waren zugeklappt. Jasmin schlüpfte aus ihren Sandalen. Der Sand fühlte sich warm an unter ihren Füßen. Allmählich begann sie, sich zu entspannen. Als sie die frische Luft einsog, den Geruch von Fisch und Feuchtigkeit in sich aufnahm, glaubte sie beinahe, sich den Geländewagen nur eingebildet zu haben. Sie hatte sich immer gegen das Reisen gesperrt. Als Polizistin war sie täglich mit Menschen konfrontiert gewesen, die sie nicht verstand, obwohl sie die gleiche Sprache sprachen. Sie hatte nie das Bedürfnis verspürt, sich in den Ferien mit den Sitten anderer Länder zu befassen, nicht geahnt, dass Fremdes auch Schönheit barg.

»Was denkst du?«, fragte Pal.

Sie betrachtete ihn. Zu Hause hätte die Frage sie gestört. Seit sie die Klinik verlassen hatte, beobachtete Pal sie mit einer Mischung aus Vorsicht und Sorge. Dass sie überhaupt noch zusammen waren, verdankte sie vorwiegend Pals Beharrlichkeit, aber genau diese brachte sie manchmal dazu, sich zu verschließen. Es war ermüdend, andauernd studiert zu werden, sich ihrer Gemütslage stets bewusst sein zu müssen.

Manchmal wollte sie ihren Stimmungen nachgeben, ohne darüber Rechenschaft abzulegen, sich einfach treiben lassen. Dennoch bemühte sie sich, Pals Fragen zu beantworten. Sie schuldete es ihm. Er hatte drei Jahre lang zu ihr gehalten; Jahre voller Unsicherheiten und Konflikte. Sie hatte ihn zurückgewiesen, sich an ihn geklammert, ihn wieder von sich gestoßen. Wie eine Ertrinkende, die immer wieder kurz nach Luft schnappte, bevor sie erneut unterging. Es war ein ständiges Auf und Ab gewesen.

Es ist ein ständiges Auf und Ab. Es wird nie ganz vorbei sein.

Wenn sie diese Tatsache akzeptierte, so ihre Therapeutin, würde sie den nächsten Rückschlag bewältigen können.

»Weißt du noch, wie ich dir erklärt habe, wie exponiert ich mich fühle? Als sehe mir jeder an, was geschehen ist?«, fragte sie.

Was man mir angetan hat. Nicht das Schicksal, sondern ein kranker Mensch hat mir Gewalt angetan.

Pal blieb stehen. »Ja.«

Sie breitete die Arme aus. »Hier ist das Gefühl weg. Es ist, als wäre ich von der Bühne ins Publikum hinabgestiegen. Als gehörte ich dazu. Ausgerechnet hier, wo alles so anders ist!«

»Vielleicht genau deswegen. Niemand kennt dich, du kannst dich sozusagen neu erfinden. Nach außen, zumindest.«

»Kennst du das Gefühl?«

»Nicht persönlich, aber ich erlebe es regelmäßig, wenn die ›Schatzis‹ in Kosovo –«

»›Schatzis‹?«, wiederholte Jasmin.

Pal grinste. »So nennen Einheimische die Ausland-Kosovaren, die im Sommer nach Hause fahren, um auf Brautschau zu gehen. Die ›Schatzis‹ führen ihre teuren Wagen vor, erzählen von ihrem tollen Leben in der Schweiz oder in Deutschland und von den wichtigen Positionen, die sie in ihren Berufen einnehmen. Sie erfinden sich sozusagen neu.« Er wurde ernst.

»Sie suchen in der Heimat die Anerkennung, die sie in der Schweiz nicht finden. Damit zeichnen sie aber ein völlig falsches Bild ihres Alltags. Und regen andere dazu an auszuwandern.«

»Zum Glück bist du kein ›Schatzi‹!« Jasmin schlang die Arme um seinen Hals.

Pals Atem ging schneller. Mit einer fließenden Bewegung streifte er Jasmin das T-Shirt über den Kopf. Lachend knöpfte sie seine Hose auf und begann, sie herunterzuziehen.

Pal packte ihre Hand. »Wir sind in Thailand!«

»Ja, und?« Sie ließ ihn los und kümmerte sich um ihre eigene Hose.

Pal rannte bereits auf die Brandung zu. Im Schutz des Wassers zog er sie an sich. Sie presste das Gesicht an sein Haar, drückte ihn fest. Sein Herzschlag hämmerte gegen ihre Brust. Als sie die Beine um seine schmalen Hüften wickelte, stöhnte er leise. Ein Fischschwarm glitt an ihnen vorbei, silbrig glänzend, wie Lametta, das durchs Wasser gezogen wurde.

5

Sechs Wochen zuvor

Euer Großvater ist gestorben.«

Jasmin stellte die Spaghetti-Sauce in Zeitlupe auf den Tisch. Ralf ließ sich aufs Sofa fallen, Bernie blieb wie angewurzelt stehen. Edith schaute ihre Kinder eines nach dem anderen an. Da war sie wieder, diese Scham. Jasmin sah sie nur kurz, sie lag tief verborgen unter einer Mischung aus Trotz und Widerwillen.

Bernie sprach als Erster. »Unser … Großvater?«, wiederholte er langsam. »Ich dachte, dein Vater wäre bei einem Sturz vom Dach ums Leben gekommen.«

»Ich rede nicht von meinem Vater.«

Jasmin öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus. Sie hatte sich als Kind damit abgefunden, dass ihre Familie anders war als andere Familien. Da war keine Großmutter gewesen, die Enkel hütete, kein Großvater, der ihnen heimlich eine Münze oder ein Stück Schokolade zusteckte. Während ihre Klassenkameraden sonntags Verwandte besuchten, verbrachten Jasmin, Bernie und Ralf den Tag alleine zu Hause. Hatte ihre Mutter frei, ging die Familie manchmal spazieren, meist erledigte Edith jedoch das, wofür sie unter der Woche keine Zeit fand: Sie putzte, nähte Flicken auf Hosenknie, kontrollierte Hausaufgaben, sortierte Rechnungen.

»Wir haben einen Großvater? Und du hast nie ein Wort gesagt?« Bernie klang mehr erstaunt als verärgert.

Edith schob ihr Kinn vor. »Wir haben den Kontakt abgebrochen, als dein Vater uns sitzen ließ.«

»Wo?«, fragte Ralf. »Ich meine, wo lebt er? Hat er gelebt?«

»In Altstetten.«

»In Zürich-Altstetten?«, stieß Jasmin aus.

Edith mied ihren Blick und nickte kaum merklich. Bevor Jasmin zu Pal gezogen war, hatte sie in Altstetten gewohnt, einem Viertel am Rande Zürichs. Ihre Wege hätten sich kreuzen können. Vielleicht war sie ihrem Großvater sogar begegnet, ohne es zu wissen. Hätte er sie erkannt? Wusste er, wer sie war? In Jasmins Kopf überschlugen sich die Fragen.

Bernie erging es offenbar nicht anders. »Nun mal ganz langsam. Unser Großvater … wie heißt er schon wieder?«

»Heiri.«

»Heiri hat die ganze Zeit in Zürich gelebt? Warum hat er sich nie gemeldet?«

»Weil er ein Kotzbrocken war«, meinte Ralf. »Genau wie Vater.«

Bernie sah Edith an, doch sie schwieg.

»Mam?«, fragte Jasmin. »Ich versteh das auch nicht.«

Edith seufzte. »Da gibt es nichts zu verstehen. Wir haben den Kontakt abgebrochen. Was geschehen ist, ist geschehen. Sich den Kopf darüber zu zerbrechen, bringt nichts. Reden wir lieber über –«

»So ein Blödsinn!«, rief Jasmin. »Wir können doch nicht einfach so tun, als wäre alles okay, und das Thema wechseln!«

»Shit happens«, sagte Ralf.

Jasmin sah ihn ungläubig an.

»Er hat uns aus seinem Leben gestrichen«, fuhr Ralf fort. »Warum sollen wir uns mit ihm beschäftigen?«

»Weil ich wissen will, warum er es getan hat!«

»Das ändert doch überhaupt nichts an dem, was passiert ist!«, widersprach Ralf. »Er war ein Arsch, Punkt.«

Ausnahmsweise stand Bernie einmal auf Jasmins Seite. »Arsch hin oder her, er war unser Großvater.«

Ralf verdrehte die Augen. »Musst du jetzt auch zu einem Shrink?«

Bernie packte Ralf am Kragen und zog ihn hoch. Der Affenpinscher schoss bellend unter dem Sofa hervor und schnappte nach ihm, erwischte jedoch nur seine Hose. Als Bernie den Fuß hob, um den Hund abzuwehren, ballte Ralf die Faust.

Bevor er zuschlagen konnte, griff Edith nach einem Pfannendeckel und klopfte damit auf den Tisch.

Bernie und Ralf erstarrten. Parmesan rieselte auf den Boden. Jasmin hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Packung aufgerissen hatte.

»Habe ich euch so erzogen?« Edith stemmte die Hände in die Seiten. »Bernie, lass Ralf los. Ralf, schau, dass sich der Hund beruhigt. Jasmin, wisch den Käse auf.«

Alle drei gehorchten. Nachdem sich der Hund beruhigt hatte, ging Ralf neben Jasmin in die Knie und half ihr beim Aufwischen. Er murmelte eine Entschuldigung. Ralf hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Psychotherapien für Blödsinn hielt. Seiner Meinung nach verschärften sich Probleme, wenn man ihnen zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Während Jasmins Klinikaufenthalt hatte er sich kein einziges Mal gemeldet, im Gegensatz zu Bernie, der immerhin zwei Mal angerufen hatte. Als sie ihn nun betrachtete, fragte sie sich erstmals, was sich hinter seinem zur Schau gestellten Gleichmut verbarg. Er kam ihr plötzlich fremd vor. Sie hatte ihn stets als mildere Version Bernies wahrgenommen – weniger kräftig, weniger laut, im Grunde jedoch aus dem gleichen Holz geschnitzt. Dass Ralf womöglich ganz anders empfand, dass er Bernie nur so bereitwillig folgte, weil der Pfad vorgegeben war, hatte sie nie in Betracht gezogen.

Sie wischte die letzten Krümel auf. Als Polizistin hatte sie täglich hinter Fassaden geschaut. Sie hatte Verhaltensweisen von Menschen studiert, nach Motiven gegraben, Beweggründe erforscht. Die eigene Familie hatte ihre Neugier jedoch nie geweckt, als wäre sie eine längst erkundete Landschaft. Jasmin begriff, dass sie trotz ihrer 35 Jahre die Familie immer noch mit den Augen eines Kindes betrachtete.

»Schon okay«, sagte sie und stand auf.

Ralf beäugte sie misstrauisch.

»Ich werde wegen der Klapsmühle noch viele Sprüche zu hören bekommen«, fuhr sie fort. »Besser gesagt, noch viele schiefe Blicke ernten. Die meisten trauen sich ja nicht zu sagen, was sie denken.«

»Du wirst dich deswegen aber nicht vor einen Zug schmeißen, oder?«

War das Ralfs Art zu sagen, dass sie ihm etwas bedeutete? Ein schnippischer Spruch lag ihr auf der Zunge, doch sie hielt ihn zurück. »Nein, dazu bedeutet mir das Leben zu viel. Trotz allem.«

Ralf stand ebenfalls auf. Verunsichert durch ihre Offenheit, klopfte er sich die Hände an der Jeans ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Schüssel Spaghetti. »Können wir jetzt endlich essen? Ich habe einen Bärenhunger.«

In der Küche füllte Jasmin den Parmesan in eine Schale um. Als sie damit ins Wohnzimmer zurückkehrte, saßen ihre Brüder bereits am Tisch. Edith servierte die Spaghetti. Jasmin verteilte die Sauce. Kurz trafen sich ihre Blicke, da realisierte Jasmin, dass sie sich umsonst Sorgen gemacht hatte. Edith war gesund. Vor lauter Aufregung hatte Jasmin die Angst, die sie seit Ediths Anruf verspürt hatte, ganz vergessen.

»Warum hast du uns alleine sehen wollen?«, fragte sie. »Dass wir einen Großvater haben – hatten –, dürfen Pal und Fay doch auch wissen.«

»Weil ich die Erbschaftsangelegenheit mit euch besprechen möchte«, antwortete Edith.

Bernie hörte auf zu kauen. »Wir erben etwas?«

»Ein Haus.«

»Ohne Scheiß?«, platzte Ralf heraus. »Wie viel ist es wert?«

»Ich erinnere mich daran!«, warf Bernie ein. »Es hat grüne Fensterläden.«

Edith nickte. »Wir waren ab und zu dort zu Besuch.«

Bernie schloss die Augen. »Trug Großvater Hosenträger?«

»Ja«

»Wie viel ist das Haus wert?«, wiederholte Ralf.

»Laut Schätzung des Notars 750 000.«

Es wurde still am Tisch.

»750 000 Franken?«, brachte Jasmin heraus.

»Es sind keine Hypotheken drauf.«

»Holy shit«, hauchte Ralf.

»Ihr könnt es entweder verkaufen, oder einer von euch kann die anderen auszahlen und selber einziehen. Das müsst ihr untereinander besprechen.«

»Damit kann ich die längst fälligen Investitionen in die Garage finanzieren!«, frohlockte Bernie.

Ralf grinste. »Ich kann mir eine ganze Menge Dinge vorstellen, die ich mit dem Geld anstellen könnte!«

Jasmin hörte nur mit halbem Ohr zu.

Bernie hob sein Glas. »Lasst uns anstoßen! Auf Heiri!«

»Auf Heiri!«, stimmte Ralf ein. »Mini? Was ist?«

Jasmin sah ihre Mutter an. »Etwas verstehe ich nicht«, sagte sie langsam. »Warum bekommen wir das Haus? Vater ist doch der rechtmäßige Erbe.«

Stille legte sich über den Tisch. Jasmin konnte förmlich sehen, wie die Gedanken durch die Köpfe ihrer Brüder rasten. Ihre Mutter hörte auf zu kauen. Sogar der Hund, der zu Ralfs Füßen saß und immer wieder bettelnd hochsprang, hielt still.

»Mam?«

Edith schluckte den Bissen herunter, tauchte die Gabel in die Spaghetti und wickelte sie auf, als gelte die Frage jemand anderem.

»Mam!«

»Kein Grund, laut zu werden! Ich höre dich auch so!«

»Dann sag etwas!«

Schließlich legte Edith die Gabel hin und blickte ihre Kinder eines nach dem anderen an.

»Euer Vater ist verschollen.«

»Dann wird ihn der Notar suchen lassen«, sagte Jasmin.

»Nein, ich meine, offiziell«, erklärte Edith. »Er gilt laut Gericht als verschollen.«

»Das kann nicht sein«, widersprach Jasmin. »Eine Verschollen-Erklärung wird erst nach Jahren ausgestellt.«

»Nach einem Jahr.« Edith mied ihren Blick.

»Woher weißt du das? Du meinst … das Verfahren ist bereits abgeschlossen? Warum wussten wir nichts davon?«

Bernie hob die Hand. »Langsam, bitte! Kann mir das mal einer erklären? Welches Verfahren?«

Jasmin sah ihn an. »Wenn jemand verschwindet, gilt er als vermisst. Vermutet man, dass er tot ist, kann es aber nicht beweisen, lässt man ihn für verschollen erklären. Aber dafür müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein. Entweder hat sich die Person über Jahre hinweg nicht gemeldet, oder man kann davon ausgehen, dass ihr etwas zugestoßen ist.« Sie wandte sich wieder an ihre Mutter. »Das dauert aber viel länger als ein Jahr. Bis das Begehren überhaupt gestellt werden kann, müssen mehrere Jahre vergehen.«

»Fünf.«

Jasmin holte Luft. »Du hast das Begehren … du weißt seit sechs Jahren, dass Vater verschollen ist? Und hast es nie für nötig erachtet, uns etwas zu sagen?«

»Was ich für nötig erachte und was nicht, geht einzig und alleine mich etwas an.« Ediths Augen blitzten.

Bernie lehnte sich im Stuhl zurück. »Ehrlich gesagt, verstehe ich das auch nicht.«

»Da gibt es nichts zu verstehen.« Edith verschränkte die Arme. »Für mich ist euer Vater vor vierundreißig Jahren gestorben. Als er sein Wohlbefinden über das seiner Familie stellte.«

»Wir hatten ein Recht darauf, es zu erfahren«, beharrte Jasmin.

»Ein Recht?« Ediths Stimme wurde laut. »Komm mir nicht mit Rechten, Mädchen! Wer hat dafür gesorgt, dass täglich Essen auf den Tisch kam? Wer hat von früh bis spät geschuftet, damit du ein Dach über dem Kopf hattest? Wer war für dich da, als du krank warst? Nicht dein Vater!«

Schuldgefühle stiegen in Jasmin auf, gleichzeitig war ihr bewusst, dass ihre Mutter seit jeher Fragen ausgewichen war, indem sie in die Opferrolle schlüpfte. Weil Jasmin ihr nicht noch mehr Schmerz verursachen wollte, hatte sie sich immer gefügt. Auch jetzt kam die Versuchung auf, das Thema zu wechseln, aber der Drang, mehr zu wissen, war stärker.

Bernie ging es offenbar ähnlich. »Warum hat dir Heiri nie Geld gegeben, wenn er doch so reich war?«, fragte er.

»Er war nicht reich. Er hatte ein kleines Haus, das heute nur deshalb so viel wert ist, weil die Immobilienpreise in Zürich in die Höhe geschossen sind.«

»Wann wird das Erbe ausbezahlt?«, wollte Ralf wissen. Als Jasmin die Augen verdrehte, breitete er die Arme aus. »Was? Soll ich um einen Großvater trauern, den ich nie gekannt habe?«

»Die Sache ist nicht ganz so einfach«, gestand Edith. »Wenn jemand für verschollen erklärt wird, kann man einen Erbschein erst beantragen, nachdem man eine Sicherheit geleistet hat – für den Fall, dass die vermisste Person wieder auftaucht.«

»Was?«, entfuhr es Ralf. »Dann erben wir das Haus ja nur auf Papier!«

»Der Notar meint, ein Pfandrecht auf der Liegenschaft genüge als Sicherheit. Im Moment könnt ihr das Haus zwar nicht verkaufen, ihr dürft es aber bewohnen oder vermieten.« Edith schien froh zu sein, sich wieder praktischen Fragen widmen zu können. »Ich schlage vor, wir besprechen die Angelegenheit gemeinsam mit dem Notar, dann könnt ihr eure Fragen direkt an ihn richten. Und jetzt esst!«

Während die Brüder ihre Spaghetti verschlangen, versuchte Jasmin, die Informationen zu verdauen. Dass ihr Vater erst kürzlich als verschollen erklärt worden war, bedeutete logischerweise, dass er es all die Jahre zuvor nicht gewesen war. Jasmin hatte die Haltung ihrer Mutter nie hinterfragt, sondern sie übernommen. Genau wie Edith hatte sie die Ansicht vertreten, ein Vater, der seine Familie im Stich lasse, verdiene ihr Interesse nicht. Dadurch hatte sie sich der Möglichkeit beraubt, mehr über ihn zu erfahren. Und nun war der Letzte, der ihr etwas über ihn hätte erzählen können, auch tot.

»Ich möchte dabei sein, wenn das Haus geräumt wird.« Der Wunsch war so plötzlich da, dass es Jasmin selbst überraschte.

Edith knetete ihre Hände. Sie waren durch die jahrelange Arbeit im Service rissig, keine Handcreme vermochte die Spuren zu beseitigen. Sie hatten Jasmin als Kind geführt und gefüttert, als Jugendliche gepackt und geschüttelt, dann, als Jasmin wegen der Gewalt, die man ihr angetan hatte, dem Leben nicht mehr gewachsen war, gepflegt. Aus einem Impuls heraus legte Jasmin ihre Hand auf die ihrer Mutter. Das ungewohnte Zeichen der Zuneigung verunsicherte Edith.

»Bitte«, fügte Jasmin hinzu.

»Das geht nicht«, sagte Edith. »Es ist schon alles weg.«

Jasmin sah sie verständnislos an.

»Heiri hatte bereits vor Monaten einen Schlaganfall. Es war klar, dass er nie mehr ins Haus zurückkehren würde. Eine Räumungsfirma hat sich um alles gekümmert.«

»Wo sind seine Sachen?«, fragte Jasmin.

»Entsorgt.«

Jasmin zog ihre Hand zurück. Der Wunsch, ihren Großvater wenigstens durch seine Kleider, seine Möbel, die Bilder an der Wand oder den Gegenständen im Estrich ein bisschen kennenzulernen, war zunichtegemacht worden. Genauso wie die Möglichkeit, vom Großvater etwas über ihren Vater zu erfahren.

»Aber du hast bestimmt Fotos oder … irgendetwas behalten!«

»Nein.«

Jasmin ärgerte sich nicht nur über ihre Mutter, sondern auch über sich selbst. Warum hatte sie nie gefragt? Sie kannte Pals Familie besser als ihre eigene. Seine Eltern, die Großeltern, die fünf Geschwister, die zahlreichen Nichten, Neffen, Tanten und Onkel waren ihr vertraut. Sie kannte das Haus in Zajqevc, in dem er geboren wurde, und die Wohnung in Dietikon, in der er aufgewachsen war. Hatte Familienfotos gesehen, Geschichten über seine Vorfahren gelauscht, sogar die Stoffe bewundert, die seine Großmutter bestickt hatte.

Bernie, der aufgehört hatte zu essen, sah plötzlich auf. »Ich erinnere mich, wie er an diesem Tisch saß.«

Edith schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein, er kam nie zu Besuch.«

»Ich meine, Vater.«

Jasmin schaute ihre Mutter an. Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte in Ediths Augen Angst auf. Dann schob sie ihren Stuhl zurück.

»Ich mache mir eine Tasse Kaffee. Will sonst noch jemand eine?«

»Lieber noch ein Bier«, antwortete Ralf.

Nachdem Edith in der Küche verschwunden war, beugte sich Jasmin vor. »Woran erinnerst du dich?«, fragte sie Bernie.

Er starrte in die Luft. »Seine Hände waren kräftig, und wenn er mich hochnahm, bohrten sich seine Finger in meine Seiten, das hat immer so gekitzelt. Der Stoff seiner Jacke war rau, wie Schmirgelpapier, seine Hose dick, vor allem an den Knien.« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil ich weiß, was ein Plattenleger bei der Arbeit trägt. Wenn er vom Bau nach Hause kam, rief er: ›Salutti tutti!‹, und wir rannten ihm entgegen.«

»Du warst schneller«, sagte Ralf plötzlich. »Ich kam immer zu spät.«