KRYO – Die Verfehlung - Petra Ivanov - E-Book + Hörbuch

KRYO – Die Verfehlung Hörbuch

Petra Ivanov

3,5

Beschreibung

Der Arzt Michael Wild steht vor einer lebensverändernden Entscheidung: Soll er die Nachfolge im russischen Unternehmen KrioZhit antreten? Ein Unternehmen, das Körper konserviert und eine digitale Kopie des menschlichen Wesens anfertigen will? Währenddessen gelingt China im Wettlauf um die Optimierung des Menschen ein wichtiger Durchbruch: Erstmals konnte einem lebenden Patienten ein Chip ins Hirn implantiert werden. Michael erhält in Berlin eine anonyme Todesdrohung, und als seine Mutter Julia in Lebensgefahr gerät, begreift er: Er ist in ein skrupelloses Kräftemessen zwischen den größten Staaten der Welt geraten. Im packenden Finale der KRYO-Trilogie gipfelt das Versprechen auf ewiges Leben in einem tödlichen Machtkampf.

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Zeit:9 Std. 3 min

Sprecher:Jutta Seifert
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Über dieses Buch

Im globalen Wettlauf um die Optimierung des Menschen gelingt ein wichtiger Durchbruch: Erstmals wird einem Patienten ein Chip ins Hirn implantiert. Der Weg zur Unsterblichkeit? Der Arzt Michael Wild hadert, ob er Teil dieser Forschung sein will. Als er mit dem Tod bedroht wird, begreift er: Er hat längst keine Wahl mehr.

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Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst Kriminalromane, Thriller, Liebesromane, Jugendbücher, Kurzgeschichten und Kolumnen.

Zur Webseite von Petra Ivanov.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Englische Broschur, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Petra Ivanov

KRYO – Die Verfehlung

Thriller

Die KRYO-Trilogie III

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Lektorat: Susanne Gretter

© by Petra Ivanov 2024

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Image navi, QxQ images (Alamy Stock Photo)

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-31124-4

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Version vom 24.04.2024, 16:57h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

KRYO – DIE VERFEHLUNG

Personenverzeichnis1 — New York, Januar 20222 — Berlin, drei Wochen zuvor3 — Moskau4 — Berlin5 — Misdroy6 — Moskau7 — Danzig8 — Berlin9 — New York10 — Moskau11 — Berlin12 — Moskau13 — Berlin14 – Michael spürte nicht den Hauch eines schlechten Gewissens …15 — Moskau16 — New York17 — Moskau18 — Wilhelmshaven19 — Moskau20 — Dangast21 — New York22 — Dangast23 — Moskau24 — Ostfriesland25 — Moskau26 — Köln27 — New York28 – Krzysztof starrte aus dem Fenster. Birken, so weit …29 — Selenograd30 — Köln31 — Moskau32 — New York33 — Moskau34 — Köln35 — New York36 — Moskau37 — Moskau38 — Moskau39 — Moskau40 — New York41 — Moskau42 — Moskau43 — Moskau44 — New York45 — Long IslandEpilog — Neun Monate später

Mehr über dieses Buch

Über Petra Ivanov

Petra Ivanov: »Meine Figuren sind lebendig. Wenn ich nicht schreibe, verliere ich den Kontakt zu ihnen.«

Petra Ivanov: »Mein Weltbild hat sich zum Besseren verändert, seit ich Krimis schreibe.«

Mitra Devi: Ein ganz und gar subjektives Porträt von Petra Ivanov

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Für Jonathan

»In jedem Bereich der Medizin hatten wir in sehr, sehr kurzer Zeit erstaunliche, beachtliche Fortschritte. […]Die Kehrseite ist, dass die Sterblichkeit in unserem Land weiterhin bei 100% liegt.« (William Colby, National Hospice and Palliative Care Organization, Washington, D. C.)

Personenverzeichnis

Hauptfiguren

JULIA SANDERS

Dolmetscherin, Mutter von Michael

MICHAEL WILD

Arzt, Sohn von Julia

HENRY SANDERS

Professor für Astrophysik, Ehemann von Julia

ANDREJ STANISLAWOWITSCH DANILOW

Dolmetscher

PAWEL STANISLAWOWITSCH DANILOW

Geschäftsmann, Besitzer von ­KrioZhit, Bruder von Andrej, Ehemann von Vita

VIKTORIJA (VITA) SERGEJEWNA DANILOWA

Ex-Model, Ehefrau von Pawel

Nebenfiguren

OLEG WOLKOW

Oligarch, Ehemann von Irina

IRINA WOLKOWA

Ex-Model, Ehefrau von Oleg Wolkow

TSCHURKA (DSCHACHONGIR)

Jugendfreund von Vita

KATARZYNA SZEWIŃSKA

Neuroinformatikerin bei ­KrioZhit

GALINA PETROWNA

Mutter von Vita

KRZYSZTOF SZEWIŃSKI

Bruder von Katarzyna

TRAPEZIUS

Wächter

BOGDAN RADU

Arzt bei KrioZhit

LUBA LASAREWA

russisches Model

MARGARET FREEMAN

Professorin für Cybersicherheit, Kollegin von Henry

THOMAS MÖHKER

Redakteur Wissenschaftsjournal

BIRGITTA MÖHKER

Ehefrau von Thomas

AGNIESZKA STENZEL

ehemalige Gasthofbesitzerin

EDYTA DUDEK

Gasthofbesitzerin in Misdroy

CORNELIUS LIN

Bioinformatiker

LUDWINA ECKSTEIN

Cellolehrerin

EDUARD KUSNEZOW

Mitarbeiter des russischen Verteidigungsministeriums

1

New York, Januar 2022

Das Atmen fiel Julia schwer. Sie versuchte, das Wohnzimmerfenster hochzuschieben, doch es klemmte. Sie ging in die Knie, legte die Handballen an den Rahmen und setzte ihre ganze Kraft ein. Frische Luft strömte durch den schmalen Spalt, zusammen mit den vertrauten Geräuschen Inwoods. Spanische Sprachfetzen, das Klappern von Mülltonnen, das Brummen des Verkehrs auf dem Broadway, der hier im äußersten Norden Manhattans nichts mehr von seinem Glanz besaß und einfach US 9 hieß. Julia sehnte sich nach ihrem Haus in Upstate New York. Nach den Wäldern, der Weite und der Ruhe. Dieses Wochenende würde sie hinfahren, nahm sie sich vor. Sie hatte es hinausgeschoben, weil sie sich vor der Leere fürchtete, die Sams Tod hinterlassen hatte. Ob der Napf noch in der Küche stand? Die Hundeleine neben der Tür hing? Henry hatte Sam begraben und die Spuren des Einbruchs beseitigt. Doch Julia würde den Anblick des toten Hundes nie vergessen. Seine von Schaum bedeckte Zunge, die ihm aus der Schnauze hing. Sein Kopf, in Richtung Treppe gedreht, als habe er sie vor der Gefahr warnen wollen.

Gierig sog sie die Luft ein. Noch immer hatte sie das Gefühl, nicht genügend Sauerstoff zu bekommen. Sie griff nach ihrer Jacke und verließ die Wohnung. Der Januarnachmittag war kalt, und wie so oft wehte ein eisiger Wind. Dennoch schwitzte sie. Sie schlug den Weg zum Hill Park ein, der gleich um die Ecke lag. Auf knapp achtzig Hektar erstreckte sich der letzte natürliche Wald Manhattans. Als Michael klein war, hatten sie oft die Nachmittage dort verbracht. Manchmal waren sie bis zum Spuyten Duyvil Creek spaziert, wo sie das riesige, blaue »C« betrachteten, das ein Student an den Felsen gemalt hatte. »Daddy«, hatte Michael dann gerufen, weil das Logo für ihn unwiderruflich mit Henry verbunden war, der schon damals an der Columbia University unterrichtete.

Seither waren über zwanzig Jahre vergangen. Inzwischen wusste Michael, dass Henry nicht sein leiblicher Vater war. Er hatte sich mit Julias Lügen versöhnt und begriffen, dass sie ihn hatte schützen wollen. Was ihr am Ende doch nicht gelungen war. Auf der Suche nach Antworten war Michael dem Feind direkt in die Arme gelaufen. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie musste loslassen. Michael war längst erwachsen, er traf seine eigenen Entscheidungen. Pawel würde nicht zulassen, dass ihm etwas zustieß. Pawel Stanislawowitsch Danilow. Russischer Geschäftsmann. Millionär. Und Michaels Onkel. Ein mächtiger Mann, der die Mittel und die Möglichkeiten hatte, für Michaels Sicherheit zu sorgen. Glaubte sie. Hoffte sie.

Der Speichel sammelte sich in Julias Mund. Sie versuchte zu schlucken, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. War sie etwa krank? Sie spürte, wie ihre Beine unter ihr nachgaben, und sank auf die Knie. Entfernt nahm sie wahr, wie ein Jogger neben ihr stehen blieb, doch sie verstand nicht, was er sagte. Ihre Welt beschränkte sich auf ihren Körper, der ihr nicht mehr zu gehören schien. Sie spürte den Asphalt unter ihren Händen, hörte ein Keuchen. Ihre Arme zuckten unkontrolliert, und Übelkeit stieg in ihr auf. Schmerzen, überall. Sie wollte schreien, brachte aber nur ein Wimmern zustande.

Hatte sie verdorbene Lebensmittel gegessen? Seit sie ihren Geschmacks- und Geruchssinn verloren hatte, achtete sie genau auf das Ablaufdatum. Vielleicht war sie in Gedanken woanders, als sie sich das Essen zubereitet hatte. Zurzeit beschäftigte sie so vieles, dass sie manchmal nicht einmal merkte, was sie im Supermarkt aus dem Regal nahm. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie gekocht hatte, doch ihre Gedanken entglitten ihr. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, und alles in ihr krampfte sich zusammen. Das Letzte, was sie hörte, war das Röcheln, das aus ihrer Kehle kam.

2

Berlin, drei Wochen zuvor

Michael Wild betrat seine Stammkneipe im Wedding. Nichts hatte sich in den drei Monaten, seit er zum letzten Mal hier war, verändert. Es roch nach Bier und Männerschweiß, im Fernsehen lief ein Match zwischen Chelsea und Aston Villa. Thomas Möhker saß bereits vor einem Pils. Als er Michael entdeckte, stand er auf und kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.

»Bin ich froh, dich zu sehen!« Er klopfte Michael auf die Schulter, hielt aber abrupt inne, als er den Leibwächter bemerkte, der hinter Michael stehen geblieben war. »Gehört der zu dir?«

Michael lächelte schief. »Eine lange Geschichte.«

»Da bin ich aber gespannt!« Thomas trat an die Theke. »Noch ein Pils.«

Michael schüttelte den Kopf. »Wasser, bitte.«

Thomas sah ihn überrascht an und bestellte dann eine Flasche Mineralwasser für ihn. Der Leibwächter drehte eine Runde durch die Kneipe, bevor er neben dem Eingang Stellung bezog. Insgeheim nannte Michael ihn wegen seiner ausgeprägten Nacken- und Schultermuskulatur Trapezius.

»Er arbeitet für Pawel Danilow«, erklärte er, nachdem sie sich gesetzt hatten.

»Und warum brauchst du einen Bodyguard?«

Wo beginnen? Michael fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Seit Thomas ihn beauftragt hatte, für das Wissenschaftsjournal eine Reportage über den Transhumanismus zu schreiben, war so viel geschehen, dass es ihm vorkam, als lebe er das Leben eines anderen. Er war in die USA gefahren, um Interviews zu führen, und hatte dabei die illegalen Machenschaften eines Unternehmens aufgedeckt. Man hatte ihn nach Russland entführt, dort hatte er seinen Onkel kennengelernt und endlich die Ursache für das Zittern gefunden, das ihn zum Abbruch seiner Facharztausbildung gezwungen hatte.

Und er hatte sich verliebt. Schon der Gedanke an Katarzyna Szewińska löste ein Ziehen in seiner Brust aus. Michael beschloss, mit dem Einfachsten zu beginnen.

»Ich leide an Morbus Wilson«, sagte er. »Das ist eine Kupferspeicherkrankheit, die durch einen genetischen Defekt verursacht wird. Unbehandelt führt sie zum Tod, doch ich nehme Chelatbildner, und inzwischen hat sich der Kupferspiegel in meinem Körper stabilisiert. Bald stelle ich auf Zink um. Meine Leber ist zum Glück noch nicht stark beschädigt. Mit der richtigen Ernährung kann ich ein beschwerdefreies Leben führen.« Er hob sein Wasserglas und prostete Thomas zu. »Nur als Chirurg werde ich nie arbeiten.«

Thomas wirkte betroffen. »Du klingst erstaunlich gelassen.«

Michael blickte aus dem Fenster und betrachtete die Altbauten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er war als Student nach Berlin gezogen und hatte sich sofort wie zu Hause gefühlt. Die breiten Gehsteige waren ihm nach der Enge Manhattans luxuriös vorgekommen, der Himmel über den niedrigen Wohnblöcken weit. Jetzt verglich er Berlin mit Moskau. Wie pragmatisch seine Wahlheimat im Vergleich zur Zwölf-Millionen-Metropole wirkte. Entspannt, beinahe familiär.

Er drehte sich wieder Thomas zu. »Gelassen ist vielleicht etwas übertrieben. Im Moment beschäftigen mich allerdings andere Dinge mehr.«

Er begann zu erzählen. Von seiner Reise in die USA. Den Interviews, die er dort geführt hatte. Wie er auf eine Klinik gestoßen war, die mit Blutplasma von Kindern handelte. Jesse, ein vierjähriger Junge aus Seattle, war an den Folgen der Transfusion gestorben. Der Skandal hatte hohe Wellen geschlagen, doch der Name des Kunden, der sich Jesses Blutplasma hatte spritzen lassen, war nie an die Öffentlichkeit gedrungen. Kurz bevor das FBI die Ermittlungen aufgenommen hatte, war ein Hackerangriff auf verschiedene amerikanische Gesundheitseinrichtungen verübt worden, dabei waren Daten verschwunden, unter anderem auch die Patientenakte des Kunden.

»Ich bin überzeugt, dass der russische Staat hinter der Cyberattacke steckt«, sagte Michael.

»Warum?«, fragte Thomas.

»Bei dem Kunden handelt es sich um Oleg Wolkow.«

Thomas blinzelte. »Der Oleg Wolkow? Oligarch und Besitzer von Wolkow Industries?«

Michael nickte.

Thomas stieß einen leisen Pfiff aus. »Jetzt verstehe ich, warum du einen Bodyguard brauchst!«

»Ich weiß nicht, ob Wolkow mich immer noch zum Schweigen bringen will. Ich habe keine Beweise dafür, dass er sich Jesses Blutplasma hat spritzen lassen.«

»Bist du deshalb untergetaucht?«

Michael schnaubte. »So kann man es auch nennen.«

Ausführlich erklärte er, wie er in seinem Hotelzimmer in Kalifornien betäubt und nach Russland entführt worden war. Nicht von Oleg Wolkow, sondern von Pawel Danilow.

»Er hat behauptet, dass er mich vor Wolkow schützen wolle. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass nicht nur Wolkow hinter mir her war, sondern auch Vita. Viktorija Sergejewna Danilow«, fügte er hinzu. »Pawels Frau.«

Thomas lachte laut, verstummte aber, als er merkte, dass Michael nicht scherzte. »Er hat dich entführt, um dich vor seiner Frau zu schützen?«

»Unter anderem.« Es fiel Michael schwer, Pawels Vorgehensweise in wenigen Sätzen zu begründen. »Pawel ist mein Onkel.«

Bis zu seinem sechzehnten Geburtstag hatte Michael geglaubt, Henry Sanders sei sein Vater. Erst durch die Ereignisse der letzten Monate war ihm klar geworden, warum seine Mutter ihm nicht die Wahrheit sagen wollte. Weil Julia um ihr Leben, ja sogar um seines gefürchtet hatte.

Sie hatte Andrej Danilow kurz nach der Wende kennengelernt. Glasnost und Perestroika waren damals in aller Munde, auf dem internationalen Parkett wurde Michail Gorbatschow wie ein Held gefeiert. In der Sowjetunion aber herrschte nach wie vor Unsicherheit, und die Angst vor dem Staat saß tief. Andrejs Vater hatte als Chemiker für das Militär gearbeitet. Dass sein Sohn eine Ausländerin heiraten wollte, konnte er nicht dulden. Julia stellte für ihn eine Bedrohung dar, also musste sie weg.

Michael schauderte, als er daran dachte, was man ihr angetan hatte. Mitten in der Nacht war sie abgeholt und in ein ehemaliges Gefängnis verschleppt worden. Man hatte ihr Fotos einer übel zugerichteten Leiche gezeigt und behauptet, es handle sich um Andrej. Sie wurde wegen Mordes beschuldigt und tagelang verhört. Schließlich gelang ihr die Flucht. Danach hatte sie sich achtundzwanzig Jahre lang vor der Welt versteckt. Hätte Michael nicht ausgerechnet seinen Onkel Pawel um ein Interview gebeten, würde sie heute noch zurückgezogen in ihrem Haus in Upstate New York leben.

»Du hast Pawel Danilow also angeschrieben, ohne zu wissen, wer er ist?«, fragte Thomas, nachdem Michael ihm die Geschichte erzählt hatte.

Michael zuckte die Schultern. »Zufall, Schicksal, nenne es, wie du willst. Er betreibt eine Kryonikanlage in Russland. Er ist überzeugter Transhumanist. Es war naheliegend, ihn anzuschreiben. Wie du dir denken kannst, gibt er keine Interviews, ohne vorher Erkundigungen über den jeweiligen Journalisten einzuholen. Als ich nach Berlin kam, habe ich meinen Namen von Sanders in Wild geändert. Den Mädchennamen meiner Mutter.« Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. »Ich weiß, trotzig wie ein Kind. Dabei hätte ich mir keinen besseren Vater als Henry vorstellen können. Jedenfalls kannte Pawel den Namen und stellte Nachforschungen an. Ihm war schnell klar, dass Andrej mein Vater sein musste.«

Michael holte sein Handy hervor und rief ein Foto von Andrej auf. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen war frappant. Breite Stirn, gerade Nase, hellgraue Augen. Sandblondes Haar, ein markantes Kinn.

Thomas schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich brauche noch ein Bier.«

Er kam mit einem weiteren Pils und einer zweiten Flasche Mineralwasser zurück.

»Ich wünschte, ich hätte Andrej Danilow gekannt«, sagte Michael.

»Hat deine Mutter nie erfahren, dass er noch am Leben war?«

»Damals gab es kein Internet. Und als Andrej vor einem halben Jahr wirklich verschwand, haben die Medien außerhalb Russlands kaum darüber berichtet.« Michael betrachtete die Blasen, die in der Flasche aufstiegen. »Wenn ich Pawel ein halbes Jahr früher angeschrieben hätte …«

»Ich dachte, Andrej sei ertrunken.«

Stumm schüttelte Michael den Kopf. Er hatte seinen Vater nie getroffen, trotzdem empfand er Trauer, wenn er an ihn dachte. Andrej war von seiner eigenen Familie verraten worden. Seine Eltern hatten behauptet, Julia habe ihn verlassen. Andrej kam darüber nie hinweg. Vor sieben Jahren kehrte er der Welt den Rücken und trat in ein Kloster ein.

»Als er sein Vermögen der Kirche spenden wollte, wehrten sich Pawel und Vita mit allen Mitteln.«

»Das erstaunt mich nicht«, sagte Thomas. »Pawel Danilow verspricht seinen Kunden ewiges Leben. Das Paradies auf Erden. Für die Kirche eine Provokation. Sie hätte alles darangesetzt, ihn zu ruinieren.«

Michael nickte. »Es kommt noch schlimmer. Pawel gehören nur neunundvierzig Prozent des Konzerns. Zwei Prozent befinden sich im Besitz eines nicht namentlich bekannten Aktionärs. Hätte Andrej der Kirche seine Anteile vermacht, und wäre es dieser gelungen, den unbekannten Aktionär ausfindig zu machen …« Michael schüttelte den Kopf. »Das konnten Pawel und Vita nicht zulassen.«

Thomas runzelte die Stirn.

»Vita hat einen tadschikischen Kriminellen damit beauftragt, Andrej zu töten«, erklärte Michael. »Es gelang Andrej aber, ins Meer zu flüchten. Dort wurde er von einem Mitarbeiter Pawels aufgegriffen, der die Sache zu Ende brachte.«

Er staunte darüber, wie abgebrüht er klang. Wann hatte er aufgehört, Entsetzen zu spüren? Hatten die Ereignisse der letzten Monate ihn dermaßen abstumpfen lassen?

»Pawel befürchtete, Vita könnte auch in mir eine Gefahr sehen«, fuhr er fort. »Wenn ein Erblasser in Russland kein Testament hinterlässt, greift die gesetzliche Erbfolge, wie bei uns. Ich hätte Andrejs neunundvierzig Prozent der Firma geerbt.«

Thomas starrte ihn an.

»Was aber niemand wusste, war, dass Andrej von dem Verrat seines Vaters erfahren hatte. Kurz vor seinem Tod hat er das Testament abgeändert und sein gesamtes Vermögen meiner Mutter vermacht.«

Thomas stieß einen leisen Pfiff aus.

Michael drehte das Wasserglas zwischen den Fingern. »Pawel hat keine Kinder. Er hofft, dass ich in das Unternehmen einsteige und es weiterführe.«

»Möchtest du das?«

Michael wusste es nicht. Wirtschaft hatte ihn nie interessiert, und die Unternehmen waren komplex. Während der Perestroika-Periode hatte Pawels Vater die RusChem übernommen, ein Betrieb, der Düngemittel herstellte und Abbaustätten für Phosphate und Nitrate besaß. Später hatte Pawel die Aktionärs-Finanz-Korporation Finema gegründet und weitere Firmen in der Telecom- sowie Tech-Branche dazugekauft. Seine Leidenschaft aber galt seiner Kryonikanlage. Er träumte davon, das menschliche Bewusstsein auszulesen und es auf ein externes Medium zu speichern.

»Ich kann mir vorstellen, die Leitung der Kryonikanlage zu übernehmen«, antwortete Michael schließlich. »Aber ich kann mich nicht um alle Unternehmen kümmern. Ich bin kein Geschäftsmann, sondern Arzt. Allerdings sind die Firmen eng miteinander verwoben. KrioZhit aus dem Geflecht herauszulösen, würde vermutlich viele Nachteile mit sich bringen.«

»Du könntest für die anderen Unternehmen Geschäftsführer einstellen«, schlug Thomas vor.

»Ich müsste trotzdem verstehen, wie sie funktionieren. Das würde Jahre dauern.«

»Chirurg zu werden, dauert auch Jahre. Das hat dich nicht davon abgehalten, deinen Traum zu verfolgen.«

Michael begriff selbst nicht, warum er zögerte. Er hatte immer etwas im Leben bewirken wollen. Nun wurde ihm die Chance dazu geboten. Trotzdem konnte er sie nicht unbeschwert ergreifen. Fürchtete er sich vor der fremden Kultur? Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass sie Andrej nie richtig verstanden habe, was sie auf sein Umfeld und das politische System, in dem er aufgewachsen war, zurückführte. Michael wusste nicht, ob es so etwas wie eine russische Mentalität gab, nur, dass es ihm mit Pawel ganz ähnlich ging. Er verstand ihn einfach nicht. Auf ihn wirkte er undurchschaubar und unberechenbar. Wenn Michael Direktheit erwartete, machte Pawel Andeutungen. Wenn er mit emotionalen Argumenten rechnete, appellierte Pawel an seine Vernunft und umgekehrt. Fragen wich Pawel so geschickt aus, dass Michael es häufig erst später merkte. Die russische Sprache bereitete Michael keine Sorgen. Grammatik und Vokabular konnte er lernen. Nicht aber das, was sich zwischen den Zeilen verbarg. Wie sollte er Geschäftsverhandlungen führen, wenn er nicht in der Lage war, sein Gegenüber zu fassen? Hinzu kam die politische Situation. Russland war in den letzten Jahren zunehmend repressiver und antiwestlicher geworden. Oppositionelle galten als Volksgegner, NGOs als ausländische Agenten, und kritische Wissenschaftler schüchterte man ein.

»Ich muss es mir noch überlegen«, sagte er.

Im Fernsehen erzielte Aston Villa das Ausgleichstor, doch niemand schien sich groß für das Spiel zu interessieren. Die Gäste blickten immer wieder zu Trapezius, der weiterhin aufmerksam die Umgebung im Auge behielt. Auf einmal sehnte Michael sich nach dem einfachen Leben, das er geführt hatte, bevor seine Krankheit eine Kette von Ereignissen ausgelöst hatte, über die er längst die Kontrolle verloren hatte. Auch wenn er sich dagegen entschied, bei Pawel einzusteigen, es gab kein Zurück. Er würde ein Vermögen in zweistelliger Millionenhöhe erben. Das weckte Begehrlichkeiten.

»Dich beschäftigt noch etwas«, sagte Thomas. »Lass mich raten. Eine Frau?«

Michael lehnte sich zurück. Wie gut Thomas ihn kannte!

Thomas schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ich wusste es! Jeder normale Mensch wäre völlig aus dem Häuschen, wenn er über Nacht Millionär –«

»Ich habe noch nichts geerbt«, unterbrach Michael ihn.

»Du hingegen klingst, als würde dich das alles nichts angehen«, fuhr Thomas unbeirrt fort. »Dafür kann es nur einen Grund geben. Wer ist sie? Hast du sie in Russland kennengelernt? Ist sie Russin?«

»Polin.«

Thomas grinste. »Erzähl!«

Michael verschränkte die Arme. Seit Jahren versuchten Thomas und seine Frau Birgitta, eine Partnerin für ihn zu finden. Wenn sie ihn zum Essen einluden, war meistens für vier Personen gedeckt, weil eine Freundin von Birgitta zufällig kurz zuvor angerufen hatte oder eine Mitarbeiterin von Thomas gerade in der Gegend war.

»Sie heißt Katarzyna«, begann er zögernd.

Allein schon, wenn er ihren Namen aussprach, schlug sein Herz schneller. Bilder stiegen vor seinem inneren Auge auf. Katarzyna, wie sie vor dem Bildschirm saß, ihr dunkler, langer Zopf über dem weißen Labormantel. Ihre schmalen Hände und wie geschickt sie mit diesen an den Geräten hantierte. Ihr konzentrierter Blick, ihre intelligente Ausstrahlung. Sie war keine klassische Schönheit, doch sie brachte etwas in ihm zum Klingen.

Er räusperte sich. »Sie hat als Neuroinformatikerin bei KrioZhit gearbeitet.«

»Hat?«, wiederholte Thomas.

»Sie ist verschwunden.«

Thomas wartete.

»Ihr Verhalten kam mir von Anfang an seltsam vor«, sagte Michael zögerlich. »Sie hat ihren Arbeitsplatz im Untergeschoss eingerichtet, dort, wo die Patienten gelagert werden. Oft blieb sie bis spät in die Nacht. Zuerst dachte ich, dass sie sich einfach besser konzentrieren kann, wenn niemand in der Nähe ist. Dann fielen mir Ungereimtheiten auf. Blutproben, die auf unerklärliche Weise verschwanden. Ein Behälter, der einen Cephalon – so nennen wir den Kopf – eines frisch Verstorbenen enthielt, war nicht richtig verschlossen. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, was Katarzyna machte. Sie forschte an Patienten.«

»Mit Patienten meinst du Leichen?«

»Ja.«

Thomas wirkte nicht sonderlich beeindruckt.

»Ein Platz in einem Dewar ist teuer. Die Angehörigen zahlen dafür, dass wir den Körper des Patienten so gut wie möglich erhalten. Vor allem das Gehirn muss unversehrt bleiben, damit es irgendwann ausgelesen oder wieder zum Leben erweckt werden kann. Katarzyna hat den Patienten Hirnschnitte entnommen, um die neuronalen Netzwerke zu studieren.« Michael sah Thomas an. »Hast du mitbekommen, dass es chinesischen Wissenschaftlern gelungen ist, einem lebenden Menschen flexible Elektroden ins Gehirn einzusetzen, mit denen sich die Aktivität von Nervenzellen aufzeichnen lassen?«

Thomas nickte.

»Sie haben dazu einen Roboter verwendet, der die feinen Drähte wie eine Nähmaschine unter der Schädeldecke verlegt. Eine Methode, die Katarzyna mitentwickelt hat.«

»Willst du damit sagen, dass sie den Chinesen Informationen weitergegeben hat?«

»Vieles deutet darauf hin, aber … es passt einfach nicht zu ihr.«

Thomas betrachtete ihn skeptisch.

»Ich weiß«, gestand Michael. »Ich klinge wie ein verliebter Idiot. Aber Katarzyna lebt für ihre Arbeit! Warum sollte sie alles, was sie erreicht hat und noch erreichen möchte, aufs Spiel setzen?«

»Ist den Chinesen der Proband nicht gestorben?«

»Doch.«

»Warum glaubst du, dass Katarzyna das Leck ist?«, fragte Thomas. »Abgesehen davon, dass sie die Methode mitentwickelt hat?«

»Vor einigen Wochen hat jemand beobachtet, wie sie in einer Tiefgarage zu Oleg Wolkow ins Auto gestiegen ist. Kurz nachdem der Erfolg der Chinesen publik geworden war, ist sie untergetaucht.«

»Was hat Wolkow damit zu tun?«, fragte Thomas sichtlich verwirrt.

»Er könnte der Mittelsmann sein.«

Thomas holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Eine Wissenschaftlerin, die heimlich Leichen aufschneidet, ein Oligarch, der sich Kinderblut spritzen lässt, ein ehemaliges Model, das nicht vor Mord zurückschreckt, und ein unbekannter Spion. Bist du sicher, dass du unter Morbus Wilson leidest und nicht unter Halluzinationen?«

Michael lächelte schwach.

»Was wirst du jetzt tun?«

»Katarzyna suchen.«

Eine Staubschicht hatte sich auf die Möbel in seiner Wohnung gelegt. Langsam ging Michael durch die Räume, strich mit den Fingern über die Studienbücher im Regal und blieb schließlich vor dem alten Schreibtisch stehen, auf dem ein Stapel Post lag. Thomas hatte sich während seiner Abwesenheit um die Rechnungen gekümmert, die handschriftlich adressierten Umschläge aber hatte er nicht geöffnet. Einer enthielt eine Einladung zu einer Hochzeit, die vor zwei Wochen stattgefunden hatte, bei einem anderen handelte es sich um einen Bettelbrief. Dann fiel Michael ein Kuvert mit Trauerrand auf, und er griff danach.

Im Wohnzimmer telefonierte Trapezius. Michael hörte, wie der Leibwächter Julias Namen erwähnte. Seine Mutter war immer noch im Ruhrgebiet, wo sie gemeinsam mit seinen Großeltern Weihnachten gefeiert hatten. Michael war anschließend nach Berlin zurückgekehrt, Julia und Henry wollten bis Neujahr bleiben und dann nach New York zurückfliegen.

»Pawel?«, fragte er und deutete auf das Telefon.

Trapezius nickte.

»Neuigkeiten?«

Trapezius wechselte ein paar Worte mit Pawel, dann reichte er Michael das Handy.

»Wie fühlt es sich an, wieder in Berlin zu sein?«, fragte Pawel.

Michael war nicht nach Small Talk zumute. »Gibt es eine Spur von Katarzyna?«

»Nein«, antwortete Pawel. »Ich wollte nur wissen, ob alles in Ordnung ist.«

»Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich zurückkomme, falls du deswegen anrufst.«

Pawel lachte leise. »Direkt wie immer.«

»Das ist es doch, was du wissen möchtest?«

»Unter anderem.«

»Ich werde dir erst eine Antwort geben, wenn ich Katarzyna gefunden habe. Daran hat sich nichts geändert.«

»Tu, was du tun musst.«

Michael wechselte das Thema. »Weißt du mehr über das Leck?«

Pawel zögerte. »Nein.«

Also ist er nach wie vor überzeugt, dass Katarzyna ihn verraten hat, dachte Michael. Wortlos gab er Trapezius das Telefon zurück und ging wieder ins Arbeitszimmer. Er merkte, dass er das Kuvert mit dem Trauerrand immer noch in der Hand hielt. Er öffnete es und zog eine Karte heraus, auf der eine kahle Winterlandschaft zu sehen war. »In stiller Trauer«, stand in schwarzen Buchstaben auf weißem Schnee. Michael schlug die Karte auf.

Er schaute genauer hin und erstarrte. Auf der Karte stand sein Name. Michael Wild. Es war seine eigene Traueranzeige.

3

Moskau

Das Jagannath lag an der Ulitsa Kuznetsky Most, einer Einkaufsstraße, die vor allem eine wohlhabende Klientel anzog. Vita hatte noch nie von dem Restaurant gehört, obwohl sie die Luxusboutiquen, die sich hier niedergelassen hatten, häufig aufsuchte. Als sie dort ankam, begriff sie, weshalb. Ungläubig starrte sie durch das Fenster. Die Wände waren in Gelb- und Orangetönen gestrichen, die Holztische abgenutzt. An einer Selbstbedienungstheke standen zwei Männer, beide mit Bart, ihre langen Haare hatten sie auf dem Kopf zu einem Dutt zusammengebunden. Die Frau an der Kasse trug einen purpurfarbenen Wollpullover, der aussah, als sei er von einem Kind gestrickt worden. Vita nahm ihr Handy hervor, um sich zu vergewissern, dass das wirklich der Ort war, an dem Irina sich mit ihr treffen wollte. In diesem Moment entdeckte sie ihre Freundin.

»Vikulja!«, rief Irina und winkte. Mühelos schritt sie auf ihren hohen Absätzen über den Asphalt, genauso, wie sie es früher auf dem Laufsteg getan hatte. »Wie schön, dich zu sehen, Schätzchen.«

Sie begrüßten einander mit Wangenküssen.

»Sind wir hier richtig?«, fragte Vita mit einem Blick auf das Restaurant.

Perlendes Lachen. »Das Essen ist wunderbar, du wirst sehen. Alles vegan. Mein Ernährungsberater hat es mir empfohlen.«

»Du isst jetzt vegan?«

»Schon seit fünf Tagen«, antwortete Irina mit unüberhörbarem Stolz.

»Keinen Fisch mehr? Ich dachte, Omega-3-Säuren halten jung.«

»Kaviar enthält auch Omega-3-Säuren.«

»Kaviar ist aber nicht vegan.«

Ein verwirrter Ausdruck trat auf Irinas Gesicht, dann schürzte sie die Lippen. »Sei doch nicht so pingelig! Du klingst wie Pascha.«

Vita versuchte, sich auszumalen, was Pawel zu Irinas Definition von veganen Speisen sagen würde. Seiner Meinung nach besaß Irina die Intelligenz eines Faultiers, doch Vita wusste es besser. Im Gegensatz zu einem Faultier, das beim Klettern sogar die eigenen Arme mit den Ästen am Baum verwechselte, war Irina auf ihrem Weg nach oben kein einziges Mal abgestürzt. Sie war ehrgeizig und wusste genau, wie sie ihre Ziele erreichen konnte. Eine Eigenschaft, die sie mit Vita verband. Sie hatten sich als junge Models kennengelernt und sich geschworen, nie mehr dorthin zurückzukehren, wo sie herkamen: in die grauen Vororte von Moskau, in denen es weder Platz für Ambitionen noch für Träume gab. Wer hoch hinauswollte, zog bestenfalls in eine höhere Etage im Plattenbau um. Beide hatten den Ausstieg aus der Modebranche rechtzeitig geschafft. Insgeheim war Vita der Meinung, dass sie das bessere Los gezogen hatte. Pawel war zwar nicht so reich wie Irinas Ehemann, dafür sah er gut aus, was man von Oleg Wolkow nicht behaupten konnte.

Sie betraten das Restaurant, dicht gefolgt von ihren Leibwächtern. Es duftete nach fremden Gewürzen und nasser Wolle. Meditationsmusik waberte aus den Lautsprechern. Die Leibwächter wählten einen Tisch, von dem aus sie den Raum im Auge behalten konnten. Vita und Irina reihten sich in die Warteschlange ein. Ungeduldig folgte Vita mit dem Blick den langsamen Bewegungen der beiden bärtigen Männer, die immer noch mit der Auswahl ihrer Gerichte beschäftigt waren. Wie in Zeitlupe stellten sie ihre Suppenschalen auf die Tabletts, gingen einen Schritt weiter in Richtung Kasse, beugten sich vor, um die Getränke im Kühlfach zu studieren, und griffen schließlich nach einem Glas.

»Das Dal schmeckt köstlich«, sagte Irina, als sie endlich an der Reihe waren. »Und Linsen enthalten Eiweiß. Das ist wichtig für Veganer.«

Vita nahm sich eine Tomatensuppe. Das Tablett war klebrig, und sie bereute, dass sie ihre Handschuhe ausgezogen hatte. Während des Essens erzählte Irina von ihrem neuen Ernährungsberater. Vita hörte nur mit halbem Ohr zu. In Gedanken war sie bei Michael. Ihrem Neffen. Was für eine seltsame Vorstellung! Noch konnte sie nicht fassen, dass Andrej mit seiner Jugendliebe einen Sohn gezeugt hatte. Pawel hatte Michael bereits zu seinem Nachfolger erkoren, auch wenn er es nicht offen aussprach. Vita aber traute dem jungen Arzt die Leitung der Finema nicht zu. Er zeigte keinerlei Begeisterung für die Unternehmen. Er war ein Idealist, genau wie sein Vater. Fehlte nur, dass auch er ins Kloster eintrat. Außerdem hatte Andrej seinen Firmenanteil nicht Michael, sondern Julia vererbt. Unwillkürlich schürzte Vita die Lippen. Julia war unberechenbar und emotional. Sie würde niemals darüber hinwegsehen, dass Stanislaw Iwanowitsch sie als junge Studentin aus Russland vertrieben hatte. Vita hegte große Sympathien für Pawels verstorbenen Vater. An seiner Stelle hätte sie genauso gehandelt. Julia war eine Gefahr, die nach einer Lösung verlangte. Sie ist immer noch eine Gefahr, dachte sie, auch wenn Pawel das nicht wahrhaben will. Wenn sich Julia mit diesem unbekannten Aktionär zusammentat, könnten sie die Finema kontrollieren. Und damit Vita und Pawels Leben nach dem Tod.

Vita rührte in ihrer Suppe. Sie hatte Pawel versprochen, sich von Julia fernzuhalten. Im Moment hatten sie ohnehin dringendere Probleme. Dass seine Forschungsergebnisse in die Hände der Chinesen gelangt waren, hatte im Kreml für Ärger gesorgt. Vita verstand nicht, wie diese Elektroden, die man ins Gehirn einpflanzte, funktionierten, aber sie wusste, dass sie für das Militär genauso interessant waren wie für die Wissenschaft. Immerhin konnte man damit Gedanken manipulieren. Im Gegensatz zu seinem Vater führte Pawel keine direkten Aufträge für die Regierung aus, doch er hatte die guten Beziehungen stets aufrechterhalten und seine Forschungsergebnisse mit dem Militär geteilt. Entweder man arbeitete mit dem Staat oder gegen ihn. Dazwischen gab es nichts. Jahrelang hatte das Zusammenspiel gut funktioniert, und beide Seiten hatten davon profitiert. Jetzt aber war die Beziehung in Schieflage geraten. Bevor sich Pawel näher mit Julia befassen konnte, musste er Katarzyna Szewińska finden.

Vita verzog das Gesicht.

»Schmeckt dir die Suppe nicht?«, fragte Irina.

»Ich musste nur gerade an etwas Unangenehmes denken.«

»Stell dir lieber etwas Schönes vor, Sorgen verursachen Falten.«

Vita versuchte, sich zu entspannen, doch es fiel ihr schwer. Immer wieder sah sie Dr. Kat vor sich. Sie hatte dieser Wissenschaftlerin von Anfang an nicht über den Weg getraut. Normalerweise besaß Pawel ein gutes Gespür für Menschen, doch Dr. Kat hatte ihn mit ihren Fähigkeiten geblendet. Und nicht nur damit, dachte Vita. Auch mit ihrer Skrupellosigkeit. Denn das war der eigentliche Grund, weshalb er sie angeworben hatte. Er brauchte Resultate, und zwar schnell, sonst rückte die Unsterblichkeit in weite Ferne. Dr. Kat war bekannt dafür, dass sie bis an die Grenze des Erlaubten ging, um ihre Forschung voranzutreiben. Pawel hatte darauf spekuliert, dass sie unter gewissen Bedingungen auch bereit wäre, diese Grenzen zu überschreiten. Deshalb hatte er dafür gesorgt, dass sie unbeschränkten Zugang zu den Leichen hatte, die in seinen Dewars hingen. Eine Weile sah es aus, als würde sein Plan aufgehen. Dr. Kat forschte heimlich an Patienten, und Pawel tat so, als würde er nichts merken. Dann aber war sie zu weit gegangen. Sie hatte den Chinesen Forschungsergebnisse zukommen lassen. Zumindest vermutete Pawel das. Nun musste er die Suppe auslöffeln, die er sich selbst eingebrockt hatte.

Und ich werde ihm dabei helfen, dachte Vita, während sie den Löffel zum Mund führte. Pawel und sie waren ein Team. Für ihn würde sie sogar Irina aushorchen. Die Frage war nur, wie? Vita konnte ihr schlecht erzählen, dass man Dr. Kat dabei beobachtet hatte, wie sie sich heimlich zu Oleg ins Auto setzte. Irina würde Oleg sofort mit ihrem Wissen konfrontieren, und dazu sollte es erst kommen, wenn Pawel klar war, was Oleg und Dr. Kat miteinander verband. Spionierten sie gemeinsam für die Chinesen? Oder hatte Oleg von Dr. Kat mehr über Michael erfahren wollen?

Vita dachte nach. Bis vor Kurzem hätte es Wolkow Industries ernsthaft geschadet, wenn Michael ausgepackt hätte. Das Pentagon hatte zu Olegs wichtigsten Kunden gezählt, und ein toter amerikanischer Junge kam in Washington nicht gut an. Jetzt aber hatte Oleg mit den Chinesen einen Milliardendeal abgeschlossen, also dürfte es ihm egal sein, wenn die Geschichte aufflog. Weitere Geschäfte würde es ohnehin nicht geben, denn dank SpaceX hatten die Amerikaner endlich eigene Triebwerke.

Oder fürchtete sich Oleg etwa vor der Reaktion des Kremls? Die Amerikaner würden ihn als blutrünstigen Rohling präsentieren, worunter Russlands Image leiden könnte.

Irina berührte Vitas Arm. »Schätzchen, was ist los?«

»Dr. Kat«, gestand sie. »Ich kann sie nicht vergessen.«

Irina sah sie mitfühlend an. »Aber du denkst doch nicht mehr, dass Pascha etwas mit dieser Vogelscheuche am Laufen hatte?«

»Natürlich nicht! Ich frage mich nur, wo sie steckt.«

Irina zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich hat sie gemerkt, dass sie bei Pascha nicht landen kann, und sucht sich nun ein neues Opfer.«

Offensichtlich wusste Irina nichts von dem Treffen in Olegs Wagen. Auch nicht von dem Leck, dachte Vita. Oleg sprach nie mit ihr über Geschäftliches, und da sich Irina weder für Wissenschaft noch für Politik interessierte, hatte sie die Forschungsversuche der Chinesen mit Sicherheit nicht verfolgt.

»Hast du keine Angst, dass eine andere Frau versuchen könnte, sich an Oleg heranzumachen?«, fragte Vita.

Irina zupfte eine Fussel von ihrem Kaschmirpullover. »Oleschik ist nicht an anderen Frauen interessiert. Er hat ja mich.«

»Wir sind nicht mehr die Jüngsten.«

»Oleschik würde mich nie verlassen.«

»Von seiner ersten Frau hat er sich auch scheiden lassen.«

Irina wirkte verunsichert. Vita lehnte sich zurück, sie hatte ihr Ziel erreicht. Irina würde Oleg genau im Auge behalten.

»Entschuldige, Irka«, sagte sie und griff nach Irinas Hand. »Ich weiß nicht, was heute mit mir los ist. Oleg vergöttert dich.«

Irina lächelte, doch die Zweifel waren gesät.

4

Berlin

Die Redaktion des Wissenschaftsjournals lag am Potsdamer Platz. Julia betrachtete die futuristischen Bauten und dachte an Moskau City, wo sich der Hauptsitz der Finema befand. Sie kannte sich mit moderner Architektur nicht aus. Die neu gebauten Stadtviertel mit ihren Glasfassaden, Bürotürmen und Einkaufstempeln sahen für sie alle gleich aus. Kaffeeketten mit grünen Markisen, vertraute Hotellogos, viel Verkehr.

Henry keuchte, und Julia verlangsamte ihre Schritte. Er hatte sich gut von seiner Herzoperation erholt, doch ganz gesund war er noch nicht. Er wurde schnell müde, nicht nur nach körperlichen Aktivitäten, sondern auch nach geistigen, was ihr Sorgen machte. Er war immer ihr sprichwörtlicher Fels in der Brandung gewesen, der einzige Mensch, dem sie vertrauen und auf den sie sich stützen konnte. Doch auch ein Fels erodierte, wenn ständig Wellen gegen ihn schlugen.

»Möchtest du dich kurz hinsetzen?«, fragte sie.

Er winkte ab. »Wir sind gleich da.«

Sie überquerten die Leipziger Straße und steuerten auf ein Bürogebäude zu, das etwas zurückversetzt lag. Im Erdgeschoss befanden sich ein Restaurant und ein Bistro, das Wissenschaftsjournal war auf der dritten Etage untergebracht. Im Aufzug tupfte sich Henry den Schweiß von der Stirn.

Thomas Möhker erwartete sie bereits. Mit seiner Nickelbrille und dem hellen Hemd wirkte er auf Julia eher wie ein Wissenschaftler als ein Journalist.

Er reichte Julia die Hand. »Schön, Sie kennenzulernen, Frau Sanders.«

»Julia, bitte.« Sie stellte Henry vor.

Thomas Möhker begrüßte ihn auf Englisch.

»Ich verstehe ein bisschen Deutsch«, sagte Henry mit schwerem Akzent.

»Ich hoffe, du hast dich gut erholt«, sagte Thomas Möhker. »Michael hat mir von der Operation erzählt.«

»Ich bin ein …« Henry schaute Julia fragend an.

»Ein zäher Brocken.«

Thomas Möhker lächelte und führte sie in ein Konferenzzimmer. Michael saß bereits an einem ovalen Tisch aus Kunstharz, vor sich hatte er diverse Unterlagen ausgebreitet. Thomas Möhker schloss die Tür. Mitten in der Bewegung hielt er inne und wandte sich an Julia.

»Du warst das am Telefon! Ich habe mich vorhin gefragt, woher ich deine Stimme kenne.«

Julia war beeindruckt. Das Gespräch lag über drei Monate zurück. Sie hatte sich als Assistentin von Margaret Freeman ausgegeben und behauptet, sie wolle Erkundigungen über Michael einholen.

Thomas Möhker sah zu Michael. »Wolltest du Professor Freeman überhaupt interviewen?«

»Nein, warum sollte ich?«

Julia erklärte, dass sie einen Vorwand gebraucht hatte, um an Informationen zu gelangen. Michael war nicht zu einem Termin erschienen, und sie hatte befürchtet, dass ihm vielleicht etwas zugestoßen war.

»Margaret Freeman ist Spezialistin für Cybersecurity. Da das Speichern des menschlichen Bewusstseins auf einen Datenträger große Risiken birgt, ist es naheliegend, dass Michael in seiner Reportage über den Transhumanismus darauf Bezug nehmen würde«, erklärte sie.

»Warum hast du nicht einfach gesagt, dass du seine Mutter bist?«, fragte Thomas Möhker. »Und dass du beunruhigt bist, weil er sich nicht meldet?«

Julia zögerte.

»Thomas weiß Bescheid«, sagte Michael. »Ich habe ihm von Oleg Wolkow und KrioZhit erzählt.«

Julia erklärte ihm in aller Kürze, warum sie sich all die Jahre versteckt hatte. Wenn sie Thomas Möhker um Hilfe bitten wollten, musste er die genauen Umstände kennen.

»Margaret Freeman ist eine Arbeitskollegin von mir«, ergänzte Henry, nachdem Julia ihren Bericht beendet hatte. »Sie unterrichtet ebenfalls an der Columbia University. Sie war es, die Julia geholfen hat, ihre digitalen Spuren zu verwischen, als sie sich auf die Suche nach Michael machte.«

Thomas Möhker wandte sich wieder an Michael. »Du hast mir damals von ihr erzählt, oder? Als wir über einen Artikel zum Umgang der Behörden mit Daten nachgedacht haben?«

Michael nickte. »Margaret hat während der Amtszeit von George W. Bush an der National Cybersecurity Initiative mitgewirkt. Davor war sie beim Militär. Sie hat am Joint Forces Staff College in Virginia Informatik, Cybersicherheit, Wissen- und Technologietransfer studiert.«

Es klopfte an der Tür. Thomas Möhker öffnete und wechselte ein paar Worte mit einem Redakteur.

Julia setzte sich neben Michael. »Bist du mit der Suche nach Katarzyna weitergekommen?«

Michael wartete mit der Antwort, bis Thomas Möhker die Tür wieder geschlossen hatte. Dann holte er ein Blatt hervor, das er Julia reichte.

»Das ist die Kopie einer Karte, die mir anonym zugeschickt wurde.«

Eine Traueranzeige. Julia schluckte ein paar Mal trocken, als sie Michaels Namen auf der Karte las. Sie gab das Blatt an Henry weiter. Sie sah ihm an, dass ihn die unmissverständliche Botschaft ebenso schockierte.

»Eine Drohung«, murmelte er.

»Thomas und ich haben vorhin darüber spekuliert, von wem sie stammen könnte«, sagte Michael. »Oleg Wolkow? Vita Danilowa? Oder … Katarzyna?«

»Wir haben uns gefragt, weshalb der Absender keine Forderungen stellt«, fügte Thomas Möhker hinzu.

»Vielleicht geht es einfach nur darum, Michael ein wenig einzuschüchtern.« Henry betrachtete die Kopie. »Habt ihr das Original der Polizei übergeben?«

»Die Karte und der Umschlag wurden in einem privaten Labor untersucht.« Thomas Möhker deutete zur Tür. »Soeben habe ich erfahren, dass sich weder Fingerabdrücke noch DNA darauf befinden.«

»Ich war dagegen, die Polizei einzuschalten«, sagte Michael. »Ich wollte mich zuerst mit euch absprechen.«

Julia nickte langsam. Die deutsche Polizei würde Michael nicht schützen können, sollten Oleg Wolkow oder Vita Danilowa hinter dieser Aktion stecken. Vermutlich würde man die Karte ohnehin für einen schlechten Scherz halten.

»Du musst Pawel davon erzählen«, sagte Julia. »Er hat die Ressourcen, um den Absender aufzuspüren.«

»Das habe ich bereits getan.«

Eine nachdenkliche Stimmung machte sich breit. Michael starrte aus dem Fenster, Henry war ins Grübeln versunken. Julia betrachtete ihren Sohn und verspürte den Drang, ihn tröstend in die Arme zu nehmen, so wie früher, als er noch ein kleines Kind war. Doch nicht nur er, auch seine Probleme waren größer geworden. Sie ließen sich nicht mit Zuneigung und Trost lösen.

Thomas Möhker brach das Schweigen. »Michael und ich haben die nächsten Schritte besprochen. Wir haben vereinbart, dass ich mich mit Oleg Wolkow befasse, während er sich auf die Suche nach Katarzyna Szewińska macht. Raumfahrttechnologie gehört zu meinen Spezialgebieten, ich habe in den vergangenen Jahren mehrere Beiträge darüber verfasst. Mit etwas Glück können mir meine Kontaktpersonen Informationen über Wolkow Industries beschaffen.«

»Ein guter Plan.« Henry nickte. »Vielleicht erfährst du mehr über den Raketendeal. Ich begreife immer noch nicht, warum sich die Chinesen für russische Triebwerke interessieren sollten.« Er sah Michael an. »Es sei denn, Wolkow hat ihnen Forschungsergebnisse von KrioZhit zukommen lassen, und sie revanchieren sich auf diese Weise.«

»Der Deal zwischen Wolkow Industries und den Chinesen war auch Thema auf unserer letzten Redaktionssitzung«, berichtete Thomas Möhker. »Wir haben uns gefragt, ob der Kauf der Triebwerke mit dem Rüstungsgeschäft zwischen den USA und Taiwan zusammenhängen könnte. Die Chinesen waren darüber alles andere als begeistert.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte Henry. »Wir haben den Taiwanesen elf mobile Raketenwerfer, 135 präzisionsgelenkte Marschflugkörper und sechs Systeme zur Luftaufklärung verkauft.«

»China hat daraufhin angekündigt, dass es, ich zitiere: eine legitime und notwendige Antwort darauf geben werde«, sagte Thomas Möhker.

»Ihr denkt, die Chinesen kaufen Wolkows Triebwerke, um den Amerikanern eins auszuwischen?«, fragte Julia.

»Möglich wäre es«, antwortete Thomas Möhker. »Wir sind uns doch alle einig, dass China es nicht nötig hat, sich russische Triebwerke zu beschaffen. Sie haben die besseren. Mir gefällt die Erklärung, dass Wolkow für China spioniert, allerdings besser.«

Julia sah Michael an, dass er mit sich kämpfte. Wenn es stimmte, steckte vermutlich auch Katarzyna mit drin.

»Kann es sein …«, begann er zögerlich. »Dass die Amerikaner immer noch an Wolkows Triebwerken interessiert sind? SpaceX befindet sich angeblich in ziemlichen finanziellen Schwierigkeiten. Sie kommen mit der Produktion der Raptor nicht nach.«

»Elon Musk schafft es immer irgendwie«, wandte Thomas ein.

»Aber wenn es so wäre«, beharrte Michael. »Dann hat sich Wolkow vielleicht doch mit Katarzyna getroffen, um mehr über mich zu erfahren. Weil er weiterhin fürchtet, dass ich auspacken könnte.«

Julia stellte sich ans Fenster. Sie sprach nicht aus, was sie dachte. Dass Oleg Wolkow in diesem Fall zu drastischeren Mitteln greifen würde, als Katarzyna auszuhorchen oder eine Traueranzeige zu schicken. Immerhin hatte er bereits mehrere Menschen töten lassen, damit niemand erfuhr, dass er sich Kinderblutplasma hatte spritzen lassen. Andererseits, wer sollte die Karte sonst geschickt haben? Vita war direkt, wenn sie eine Drohung aussprach, stand sie auch dazu.

Blieb nur Katarzyna Szewińska.

Thomas Möhker wohnte mit seiner Frau und seinem zweijährigen Sohn in einem Altbau unmittelbar neben dem Kleingartenverein in Charlottenburg. Es war schon dunkel, als Julia und Henry eintrafen. Vor dem Eingang hatte jemand aus Schneeresten einen winzigen Schneemann gebaut, in den Fenstern flackerte die Weihnachtsbeleuchtung. Julia klingelte, und ein Türsummer ertönte. Langsam stiegen sie die Treppe hoch. Henry hielt sich an dem polierten Handlauf fest wie an einem Rettungsseil.

Im dritten Stock stand die Tür offen. Aus der Wohnung war das Klappern von Töpfen zu hören.

»Es riecht nach Lasagne«, flüsterte Henry.

Julia sah ihn mit gespielter Strenge an. Seit seiner Operation musste er eine strikte Diät einhalten. Lasagne, sein Lieblingsgericht, stand nicht auf dem Speiseplan.

»Herzlich willkommen!« Thomas Möhker bat sie herein und trat einen Schritt beiseite.

Ein Junge kam über den Flur gerannt und blieb abrupt stehen, als er die fremden Besucher sah. Mit seinem krausen Haar und den dunklen Augen ähnelte er seinem Vater kein bisschen. Hinter ihm tauchte eine Frau auf. Sie trug ein T-Shirt, auf dem ein Weihnachtsmann mit Kopfhörern abgebildet war, und einen Afro, der sie einige Zentimeter größer erscheinen ließ.

»Das sind Oskar und Birgitta«, stellte Thomas Möhker die beiden vor.

»Hej«, sagte Birgitta und führte sie in das mit Lichterketten und Tannenzweigen geschmückte Wohnzimmer. »Fühlt euch wie zu Hause. Was kann ich euch anbieten? Glögg? Oder lieber Wasser? Tee?«

»Für mich Wasser, bitte«, sagte Julia.

»Für mich auch.« Das Bedauern in Henrys Stimme war nicht zu überhören.

Oskar hielt Henry ein Plüschrentier entgegen.

Thomas Möhker lächelte. »Du bist offiziell im Kreis der Familie aufgenommen. Knut mag nicht jeden.«

Während Henry mit dem Jungen spielte, half Julia beim Servieren der Getränke.

»Kommst du aus Schweden?«, fragte sie Birgitta.

»Ja, aus Malmö. Ich habe vor sechs Jahren eine Konferenz in Berlin besucht, über die Tom berichtet hat. Drei Monate später bin ich hierhergezogen.«

Thomas Möhker legte ihr den Arm um die Schultern. »Schweden hat seine beste Luftfahrtingenieurin verloren, und ich bin schuld daran.«

Birgitta boxte ihn spielerisch in die Seite. Sie erzählte von ihrer Arbeit bei einem schwedischen Anbieter für Luftfahrtsyteme, ihrem Wechsel zum Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt und der Herausforderung, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen.

»Bist du mit den neusten technologischen Entwicklungen im Bereich Raketentriebwerke vertraut?«, fragte Henry, der zugehört hatte.

»Mit Triebwerken habe ich mich seit dem Studium wenig befasst«, antwortete Birgitta. »Ich entwickle neue Energieversorgungssysteme für Flugzeuge. Aber als Thomas mir von dem Deal der Chinesen mit Wolkow Industries erzählt hat, habe ich im Internet recherchiert. Dass China russische Triebwerke kauft, ergibt tatsächlich keinen Sinn.« Es klingelte an der Tür, und sie entschuldigte sich.

Kurz darauf kam Michael mit einem in Weihnachtspapier gewickelten Karton herein. Oskar sah das Papier und stürzte darauf zu. Michael ging in die Hocke, um ihm beim Auspacken zu helfen. Auf dem Karton war ein Duplo-Space-Shuttle abgebildet.

»Nach dem Essen setzen wir das Ding zusammen«, versprach er.

Oskar versuchte, den Karton zu öffnen.

Michael gab nach. »Okay, wir packen die Teile jetzt aus und bereiten schon mal alles vor.« Er setzte sich mit Oskar auf den Boden.

Julia betrachtete die beiden. Wie schnell die Zeit doch verging! Eben war Michael noch zwei Jahre alt, und Henry hatte ihm sein erstes Mikroskop geschenkt. Bei dem Gedanken daran musste sie schmunzeln. Michael hatte sich mehr für die beweglichen Teile interessiert als für das, was durch die Linse zu sehen war.

Birgitta stellte eine große Schüssel mit Salat auf den Tisch und holte eine Auflaufform aus dem Ofen. Thomas setzte den protestierenden Oskar auf seinen Hochstuhl.

»Ich hoffe, ihr mögt Lasagne«, sagte Birgitta und sah Henry an. »Michael hat mir von deinem Infarkt erzählt. Ich hab die Teigplatten gegen Zucchinischeiben ausgetauscht.«

Henry lächelte. »Danke, das wäre nicht nötig gewesen.«

»Doch«, widersprach Michael. »Sehr nötig sogar.«