12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €
Camp Casablanca in Kosovo: Der Swisscoy-Soldat Fabian Zaugg wird beschuldigt, eine Bardame vergewaltigt zu haben. Der Soldat bestreitet die Tat, doch die Spuren zeichnen ein anderes Bild. Seine Schwester in der Schweiz beauftragt den Anwalt Pal Palushi mit der Verteidigung, in der Hoffnung, dass dieser als gebürtiger Kosovare mehr Licht in die Angelegenheit bringen kann. Pal Palushi bittet die Ex-Polizistin Jasmin Meyer, vor Ort zu recherchieren. Diese merkt schon bald, dass weit mehr hinter den Anschuldigungen steckt, als es den Anschein macht. Hat Fabian Zaugg etwas gesehen, das nicht für seine Augen bestimmt war? Oder schützt er einen Kameraden? Je tiefer Jasmin Meyer gräbt, desto undurchsichtiger wird die Geschichte.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 628
Camp Casablanca in Kosovo: Ein Swisscoy-Soldat wird beschuldigt, eine Bardame vergewaltigt zu haben. Er bestreitet die Tat, doch die Spuren zeichnen ein anderes Bild. Jasmin Meyer und Pal Palushi versuchen beide auf ihre eigene Weise, Licht in die Sache zu bringen. Hat Fabian Zaugg etwas gesehen, das nicht für seine Augen bestimmt war?
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst Kriminalromane, Thriller, Liebesromane, Jugendbücher, Kurzgeschichten und Kolumnen.
Zur Webseite von Petra Ivanov.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Petra Ivanov
Tatverdacht
Meyer und Palushi ermitteln in Kosovo
Kriminalroman
Meyer und Palushi ermitteln (1)
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente
Die Erstausgabe erschien 2011 im Appenzeller Verlag, Schwellbrunn.
Die Autorin dankt der Schweizer Kulturstiftung PRO HELVETIA für die großzügige Förderung ihrer Arbeit an diesem Buch.
© by Petra Ivanov 2011
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Vasily Pindyurin
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30962-3
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 26.06.2024, 11:37h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
Standard EPUB: Für Reader von Sony, Tolino, Kobo etc.Kindle: Für Reader von Amazon (E-Ink-Geräte und Tablets)Apple: Für iPad, iPhone und MacE-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
TATVERDACHT
1 – Die Schritte kamen näher. Fabian Zaugg schloss die …2 – Verdammt, Mini, was soll das?«3 – Pal Palushi fragte sich, ob es ein Fehler …4 – Besarta Sinani nahm eine Tasse vom Regal …5 – Als Jasmin die Wohnungstür aufstieß, stürzte ihre Mutter …6 – Wm Daniel Odermatt, 32, Bravo Zugführer7 – Das Einfamilienhaus der Familie Zaugg lag am südlichen …8 – Pal Palushi faltete die Zeitung und legte sie …9 – Besarta lauschte den regelmäßigen Atemzügen ihrer Cousinen …10 – Jasmin betrachtete die Fotos, die auf dem Zimmerboden …11 – Fachof Bettina Röthlin, 31, Juristin/S1 Personal12 – Das Anwaltszimmer im Kantonalgefängnis Frauenfeld unterschied sich kaum …13 – Die Autobahnraststätte Münsingen war ein idealer Ort …14 – Fourier Christian Frick, 36, Chef Chalet und Kompanie …15 – Jasmin widerstand der Versuchung, ihr Teeglas zu leeren …16 – Besarta Sinani hielt den Hahn mit einer Hand …17 – Enrico Geu bewegte sich genau so, wie Jasmin …18 – Sdt Nina Falk, 22, Zug Alpha19 – Pal kam es vor, als hätte die Welt …20 – Besarta wartete darauf, dass das Krähen des Hahns …21 – Kpl Peter Hess, 36, Mun Verwalter22 – Pals Notizen füllten bereits den halben Schreibblock …23 – Die SMS kam kurz vor 15 Uhr. »Leaving …24 – Besarta Sinani glaubte zu ersticken. »Du hast mir …25 – Jedes Mal, wenn Jasmin in Shpresas goldbraune Augen …26 – Als Pal Maja Salvisbergs Gesichtsausdruck sah, wusste er …27 – Oblt Etienne von Büren, 32, Air Operator28 – Noch immer beschäftigte Jasmin die Frage, ob Bekim …29 – Besarta putzte sich die Nase. Die Vorstellung …30 – Ein Klingeln riss Pal aus tiefem Schlaf …31 – Fabian Zaugg mochte die Fahrten nach Oberuzwil nicht …32 – Jasmin lauschte gebannt Pals Schilderungen. Seit dem Morgen …33 – Pal hätte sich gerne die Schläfen massiert …34 – Besarta Sinani klammerte sich an ihre Reisedokumente …35 – Jasmin starrte auf die Schlagzeile. Sie hatte verschiedene …36 – Zora Giovanoli schaute auf die Uhr. Zwei Falten …37 – Maj Kilian Aldenkamp, 46, dCdr Swiss Intelligence Cell …38 – Jasmin überließ Pal die Bestellung und lehnte sich …39 – Fabian faltete den Nato-Marschbefehl und steckte ihn in …EpilogWorterklärungenAbkürzungenMehr über dieses Buch
Über Petra Ivanov
Petra Ivanov: »Meine Figuren sind lebendig. Wenn ich nicht schreibe, verliere ich den Kontakt zu ihnen.«
Petra Ivanov: »Mein Weltbild hat sich zum Besseren verändert, seit ich Krimis schreibe.«
Mitra Devi: Ein ganz und gar subjektives Porträt von Petra Ivanov
Andere Bücher, die Sie interessieren könnten
Bücher von Petra Ivanov
Zum Thema Schweiz
Zum Thema Zürich
Zum Thema Kriminalroman
Zum Thema Spannung
Zum Thema Frau
Für meine »Co-Autoren« Stefan Flachsmann und François Furer
Die Schritte kamen näher. Fabian Zaugg schloss die Augen. Er vernahm das gleichmäßige Stapfen schwerer Stiefel, dazwischen das leichte Quietschen von Ledersohlen. Bevor er ausmachen konnte, ob zwei oder drei Personen auf seine Zelle zusteuerten, übertönte das Knattern eines Huey-Helikopters die Geräusche. Automatisch huschte Fabians Blick zum Fenster hoch oben in der Wand. Er sah nur den klaren Oktoberhimmel. Noch gestern hatte eine dicke Wolkendecke das Camp in Grau gehüllt.
An die plötzlichen Wetterumschwünge in Kosovo hatte sich Fabian immer noch nicht gewöhnt. Manchmal schien die Sonne so erbarmungslos, dass ihm der Schweiß unter seiner Splitterschutzweste in Bächen hinunterlief. Die Staubwolken, die sich an trockenen Sommertagen hinter den Patrouillenfahrzeugen bildeten, erinnerten ihn an Szenen aus einem Western. Bereits wenig später konnte ein heftiger Regenfall die ungeteerten Wege in Matsch verwandeln. Meist hörte der Regen genauso rasch auf, wie er gekommen war. Selten bedeckte eine Wolkendecke die Ebene von Dukagjin über Tage hinweg.
Das Wetter war nicht das einzig Widersprüchliche in Kosovo. Fabian dachte an die Gastfreundschaft. Als Schweizer Soldat wurde er herzlich empfangen. Er trank mit den Dorfältesten Kaffee und plauderte mit ehemaligen Gastarbeitern. Kinder winkten vom Straßenrand, wenn er im Sprinter an ihnen vorbeifuhr. Dennoch spürte er stets eine gewisse Zurückhaltung. Zu Beginn seines Einsatzes hatte er die Stimmung der Menschen nicht wahrgenommen. Sie waren ihm fremd gewesen wie so vieles andere auch. Doch mit der Zeit hatte er gelernt, auf Blicke zu achten und Gesten zu deuten. Da war ihm aufgefallen, dass die Einheimischen ihre Ansichten hinter einer sorgfältig errichteten Mauer aus Höflichkeit verbargen.
Die Schritte waren verstummt. Ein Militärpolizist erteilte Anweisungen. Sein tiefer Bass hallte im Flur. Fabian erkannte die Stimme von Alex Brenner, der ihn vor vier Tagen verhaftet hatte. Die Antwort des zweiten Mannes war zu leise, als dass er den Inhalt hätte ausmachen können. Trotzdem wusste Fabian, wer sprach. Er schob die Hände in die Taschen seines Tarnanzugs, um das Zittern zu verbergen, das ihn plötzlich erfasste. Mit einem Klicken sprang die Tür auf. Als Brenner die Zelle betrat, erhob sich Fabian. Er mochte den Polizisten, trotz seiner ruppigen Art. Gestern Nacht hatte Brenner ihm ungebeten eine zusätzliche Wolldecke gebracht, als die Temperatur gegen den Gefrierpunkt gesunken war. Nur die schwarze Binde an seinem Oberarm, die mit »MP« beschriftet war, löste in Fabian eine unerklärliche Angst aus. Sie erinnerte ihn an die Trauerbinde, die seine Großmutter nach dem Tod seines Großvaters getragen hatte.
Brenner kündigte mit den für ihn typischen kurzen Sätzen einen Besucher an. »Der Frisör. Der Antrag wurde bewilligt. Ohne Schere und Rasiermesser. Zwanzig Minuten.« Er trat zur Seite, um einem schmalen Kosovaren Platz zu machen, der seit zwei Jahren im Camp arbeitete. Dabei warf er einen kritischen Blick auf Fabians Stoppeln.
Fabian schluckte und strich sich über den Kopf. Der letzte Haarschnitt lag erst zehn Tage zurück. Viel zu kürzen gab es nicht. Während Brenner es sich auf dem einzigen Stuhl bequem machte, öffnete der Frisör seine Tasche und holte einen Kurzhaarschneider, eine Schürze, Rasierwasser und einen Kamm hervor. Fabians Herz klopfte so heftig, dass er fürchtete, der Militärpolizist könne es hören. Er sah sich um, unsicher, wo er sich hinsetzen sollte. Brenner erkannte sein Dilemma, stand auf und schob den Stuhl in die Mitte der Zelle. Dann stellte er sich neben die Tür.
Der Frisör legte Fabian die Schürze um und nahm den elektrischen Haarschneider zur Hand. Der Personalausweis, den er an einem Bändel um den Hals trug, schaukelte vor Fabians Augen hin und her. »Sabri Rahimi« stand unterhalb eines Passfotos, auf dem der Kosovare wesentlich älter aussah als vierundzwanzig. Die dunkelbraunen Augen blickten ernst in die Kamera, das knochige Gesicht war überbelichtet, sodass die Schatten, die normalerweise unterhalb der markanten Wangenknochen lagen, kaum zu sehen waren.
Ein Summen ertönte neben Fabians Ohr. Im Gegensatz zu einem Schweizer Frisör begann ein Kosovare zuerst mit dem Schneiden der Haare. Das Waschen erfolgte nach dem Schnitt. Fabian hatte nie gefragt, warum, wie er sich auch nie gefragt hatte, weshalb Schweizer Soldaten der private Kontakt mit Einheimischen untersagt war, oder warum Infanteristen jedes Kontingents an Tankstellen hielten, um »Pop keks« zu kaufen, ein industriell hergestelltes Gebäck mit Cremefüllung. Es war nie seine Art gewesen, die Dinge zu hinterfragen.
Sabri Rahimi schaltete den Haarschneider aus und legte ihn beiseite. Normalerweise hätte er Fabian als Nächstes rasiert. Die Rasur war zwar noch unnötiger als der Haarschnitt, da Fabians Bart nur spärlich wuchs, doch sie gehörte dazu. Als der Frisör sein Rasiermesser suchte, fiel ihm ein, dass er es nicht hatte mitbringen dürfen. Entschuldigend zog er die Schultern hoch, verteilte aber trotzdem großzügig Rasierwasser auf Fabians Wangen. Der Duft überlagerte den Geruch von Schweiß, feuchter Wolle und abgestandener Luft, der in der Zelle hing. Anschließend holte Sabri Rahimi einen Frotteelappen hervor und befeuchtete ihn mit Mineralwasser. Mehrmals fuhr er Fabian damit über den Kopf. Als er fertig war, löste er die Schürze und schüttelte sie aus. Nun folgte das Finale eines kosovarischen Haarschnitts: die Massage.
Kräftige Finger bohrten sich in Fabians Schultern, strichen seinen Hals entlang und massierten seine Kopfhaut. Fabian schloss die Augen. Wärme breitete sich in seinem Nacken aus, durchströmte seine Arme und ließ seine Fingerspitzen kribbeln. Er unterdrückte einen Seufzer, um überrascht die Luft anzuhalten, als die Hände des Frisörs seinen Rücken hinunterwanderten. Das gehörte nicht zum Standardservice.
Fabian spürte, wie ihm ein Zettel in die Tasche geschoben wurde. Er riss die Augen auf. Brenner stand bockstill neben der Tür, die Arme vor der Brust verschränkt. Obwohl er Fabian beobachtete, schien er nichts bemerkt zu haben. Von draußen vernahm Fabian Motorengeräusche, kurz darauf das Knacken von Lautsprechern.
»Wir müssen los«, sagte Brenner.
Sabri Rahimi packte seine Sachen zusammen und verließ die Zelle, ohne zurückzublicken. Fabian schaute ihm nach. Unausgesprochene Worte lagen ihm auf der Zunge. Brenner löste ein Paar Handschellen von seinem Gürtel und stellte sich vor Fabian.
»Hände«, befahl er.
Es dauerte einen Moment, bis Fabian begriff, was Brenner von ihm erwartete. Verwundert streckte er dem Militärpolizisten die Hände entgegen. Als die Handschellen einrasteten, starrte Fabian sie mit offenem Mund an.
Brenner deutete auf die Tür. »Komm.«
»Aber … so? Warum?«, stammelte Fabian.
Brenner runzelte die Stirn. »Vorschrift.«
Er packte Fabian am Oberarm und führte ihn aus der Zelle. Als sie in den frischen Herbstmorgen hinaustraten, kam ihnen die Untersuchungsrichterin entgegen.
»Sind Sie bereit?«, fragte Maja Salvisberg.
»Jawohl«, antwortete Brenner.
Fabian wartete auf eine Reaktion Salvisbergs. Er war überzeugt, dass die Untersuchungsrichterin Brenner bitten würde, die Handschellen aufzuschließen. Doch Salvisberg schob lediglich eine hellbraune Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus ihrem Gummiband gelöst hatte, und schlug den Weg zur Fahrzeughalle ein. Fabian folgte ihr mit gesenktem Kopf, Brenner an seiner Seite. Er hörte Fahrzeugtüren zuschlagen und Soldaten rufen. Plötzlich ertönten aus den Lautsprechern die ersten Takte einer bekannten Melodie.
»Flying home«. Das Lied, das gespielt wurde, wenn jemand endgültig in die Schweiz zurückreiste. Aus dem Augenwinkel sah Fabian, wie sich eine Piranha neben einem Puch in Stellung brachte. Es war erst wenige Wochen her, seit Fabian diese Abschiedszeremonie miterlebt hatte. Damals war aber nicht er abgereist, sondern das Sommerkontingent. Langsam hatte sich der Reisebus einen Weg durch die Spalier stehenden Fahrzeuge gebahnt, unter der Schweizerfahne hindurch, die vom ausfahrbaren Arm eines Lastwagens gehangen hatte, vorbei an Sanitätsfahrzeugen, Staplern und Radschützenpanzern, aus denen Soldaten gewunken und die Heimkehrer mit Leuchtpetarden verabschiedet hatten.
Unwillkürlich traten Fabian die Tränen in die Augen. Bis jetzt hatte er nicht begriffen, dass er wirklich abreiste. Seine Verhaftung war ihm wie ein Traum vorgekommen. Alles, was seither geschehen war, schien nichts mit ihm zu tun zu haben. Immer hatte er damit gerechnet, plötzlich wieder im Container zu erwachen, der ihm die letzten sieben Monate als Schlafzimmer gedient hatte. Langsam dämmerte ihm, dass er ihn lange nicht mehr betreten würde.
Er kam an einer Gruppe Infanteristen vorbei, die ein Geländefahrzeug beluden. Fabian wollte ihnen zuwinken, doch seine Hände waren immer noch gefesselt. Er begnügte sich mit einem schiefen Lächeln und war überrascht, als die Soldaten wegschauten. Nur einige Österreicher starrten ihn neugierig an.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Salvisberg.
Fabian nickte. Die Untersuchungsrichterin war einen Tag nach seiner Verhaftung aus der Schweiz angereist, zusammen mit Brenner. Obwohl sie Uniform trug, wirkte sie mit ihren geschwungenen Augenbrauen und den vollen Lippen weiblich. Ihr Anblick weckte in Fabian das Bedürfnis, den Kopf an ihre schmale Schulter zu legen und die Augen zu schließen.
»Einsteigen«, sagte Brenner.
Fabian realisierte, dass sie vor einem Fahrzeug der Militärpolizei standen. Brenner hielt ihm die Tür auf. Als Fabian auf den Rücksitz rutschte, stieß er mit dem Knie gegen eine scharfe Kante. Er spürte den Schmerz kaum. Sein Körper fühlte sich taub an, als gehöre er jemand anderem. Salvisberg nahm auf dem Beifahrersitz Platz und schüttelte dem Fahrer die Hand. Der Wagen setzte sich in Bewegung, hielt aber einige Meter weiter vorne hinter einem Sprinter wieder an.
»Wir sind gleich so weit«, rief der Fahrer des Sprinters.
Fabian beugte sich vor und beobachtete, wie ein Major eine Reisetasche auf den Rücksitz schob. Mehrere Offiziere verabschiedeten sich von ihm. Plötzlich spürte Fabian eine Hand auf der Brust, die ihn gegen die Rückenlehne presste. Brenner gab ihm stumm zu verstehen, dass seine Neugier nicht erwünscht war. Im Schritttempo fuhren sie auf den Ausgang zu, rund zehn Meter hinter dem Major, begleitet von den Klängen des Abschiedslieds.
»Flying home«. Nach Hause fliegen. Das Camp war sein Zuhause geworden, dachte Fabian, die oft eintönige Routine sein Alltag. Eine Rückkehr nach Münsingen konnte er sich nicht vorstellen.
»Wissen meine Eltern, dass ich komme?«, fragte er.
»Sie sind informiert«, antwortete Salvisberg.
»Holen sie mich am Flughafen ab?«
Salvisberg drehte sich um. Erneut wechselte sie mit Brenner einen Blick. Unbehagen stieg in Fabian auf.
»Sie fahren nicht nach Hause«, erklärte Salvisberg mit seltsamer Stimme. »Wir bringen Sie nach Frauenfeld.«
»Frauenfeld?«, wiederholte Fabian.
»Ins Gefängnis.« Salvisberg holte tief Luft. »Hören Sie, ich glaube, Sie verstehen die Lage nicht ganz …« Sie wiederholte die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden.
Ihre Worte gingen im Hupkonzert der Spalier stehenden Fahrzeuge unter. Einige Gesichter erkannte Fabian wieder, viele waren neu. Zuvorderst stand der Kommandant. Er salutierte, als der Sprinter auf gleicher Höhe war. Kurz bevor das Fahrzeug der Militärpolizei die Stelle erreichte, wandte er sich ab. Auf einmal begriff Fabian, dass die Abschiedszeremonie nicht ihm galt, sondern dem Major.
Sein Blick blieb am Stacheldrahtzaun hängen, der das Camp umgab. Er schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als der Fahrer beschleunigte. Die Gipfel der albanischen Alpen waren schneebedeckt, doch erstmals berührte die Schönheit der Landschaft Fabian nicht. Er lehnte die Stirn gegen die Fensterscheibe und starrte auf den Asphalt. Obwohl Salvisbergs Worte in seinem Kopf nachhallten, verstand er ihre Bedeutung nicht. Er begriff, dass er nicht zurückkommen würde. Aber nicht, dass er im Knödelbunker keine wässrigen Erbsen mehr essen würde. Ihm war klar, dass er in Frauenfeld übernachten würde, aber nicht, dass er am folgenden Morgen nicht vor einem Infanteriekommandanten zum Appell antreten musste. Dass er nie wieder auf der Falke Wache schieben würde. Keine Partys mehr im »Pulverfass« feiern konnte. Keine Längen im Löschwasserbecken schwimmen würde. Keine Massagen mehr genießen durfte.
Am Flugplatz in Gjakova kontrollierte ein italienischer Zöllner ihre Pässe. Um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, beobachtete Fabian den Major, der in einer Pizzeria verschwand.
»Möchten Sie etwas essen?«, fragte Salvisberg.
Fabian schüttelte den Kopf. Als Brenner ihm eine Flasche Mineralwasser reichte, nahm er einen kleinen Schluck. Anschließend wurde er in eine Baracke geführt, wo er auf einem Plastikstuhl Platz zu nehmen hatte. Brenner warf Salvisberg einen fragenden Blick zu. Als die Untersuchungsrichterin nickte, schloss er die Handschellen auf. Dankbar vergrub Fabian seine Hände in den Hosentaschen. Seine Finger berührten ein Stück Papier, und er zuckte zusammen. Der Versuchung, die Nachricht zu lesen, konnte er kaum widerstehen. Doch er zwang sich, den Blick auf die Wand gegenüber zu richten und sich nichts anmerken zu lassen.
Der Versorgungsflug aus der Schweiz landete pünktlich. Schon eine Stunde später war die Maschine der Farnair bereit für den Rückflug. Neben dem Major flogen Botschaftspersonal und eine Mitarbeiterin des Bundes mit. Fabian wurde als Letzter an Bord geführt. Er setzte sich zusammen mit Brenner in die vorderste Reihe, direkt hinter den Frachtraum, in dem er sein Gepäck entdeckte. Salvisberg zog bereits während des Starts eine dicke Akte aus ihrem Handgepäck und begann, darin zu blättern.
Fabian wurde in den Sitz zurückgedrückt, als das Flugzeug abhob. Er spürte die Schwerkraft im Bauch; es kam ihm vor, als wehre sich ein Teil von ihm, fortgetragen zu werden.
Obwohl Brenner das Fenster zur Hälfte verdeckte, sah Fabian die Ebene, die sich von Peja bis Prizren erstreckte. Bilder von halb fertigen Häusern, zahllosen Autowaschanlagen und Tankstellen stiegen in ihm auf; von Bauern, die mit einfachsten Mitteln ihre Felder bewirtschafteten. Er dachte an die vielen Gräber, die er gesehen hatte, an Gedenkstätten für gefallene UÇK-Kämpfer und an die ausgebrannten Häuser der Serben. An die Scharen von Kindern, die schichtweise zur Schule gingen, und an die vielen Arbeitslosen, die sich die Zeit in Cafés vertrieben. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals.
»Ich muss aufs WC«, sagte er.
Brenner stand wortlos auf und folgte Fabian durch den schmalen Gang. Links und rechts verstummten die Gespräche. Die einzige Flugbegleiterin an Bord lächelte ihnen zu und zog sich zurück. Vor der Toilette blieb Fabian unschlüssig stehen. Er fragte sich, ob Brenner ihm auch in die winzige Kabine folgen würde. Zögernd trat er ein. Brenner blieb im Gang stehen.
»Nicht abschließen«, sagte der Polizist.
Fabian zog die Tür zu und atmete auf. Mit zitternden Fingern klaubte er den Zettel aus seiner Hosentasche. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, als er das Papier auseinanderfaltete.
Darauf stand eine Telefonnummer.
Plötzlich hatte Fabian das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Die Wände der engen Kabine schienen auf ihn einzustürzen. Er setzte sich auf die Toilette und wiederholte die Ziffern, bis er die Nummer auswendig konnte. Übelkeit stieg in ihm auf. Er klammerte sich an den Rand des Waschbeckens. Im Spiegel darüber wirkte sein Gesicht käsig.
Es klopfte an die Tür. »Zaugg?«
Fabian zuckte zusammen. Schweiß rann ihm in die Augen und vermischte sich mit den Tränen, die er zurückzuhalten versuchte. Ein letztes Mal wiederholte er die Ziffern, dann warf er den Zettel in die WC-Schüssel. Bevor er spülen konnte, verkrampfte sich sein Magen. Fabian fiel auf die Knie und erbrach sich. Er beobachtete, wie sich die Tinte auf dem Zettel in der Flüssigkeit auflöste.
Die Tür ging mit einem Knall auf. »Zaugg!«
Fabian beugte sich vor, sodass Brenner den Inhalt der WC-Schüssel nicht sah. Mit einer Hand tastete er nach der Spülung. Es rauschte, und ein Loch tat sich auf. Das Erbrochene verschwand und schwemmte den Zettel fort. Desinfektionsmittel spülte die letzten Erinnerungen weg.
End of Mission.
Verdammt, Mini, was soll das?«
Jasmin Meyer ignorierte ihren Bruder und startete den Tiguan. Sie hörte ein Knattern im Motorraum und schüttelte den Kopf. Der Wagen hatte erst 5000 km zurückgelegt, und schon war die Parkbremse defekt.
»Mini!«, rief Bernie erneut quer durch die Werkstatt. »Beweg deinen Arsch hier rüber!«
Jasmin schaltete den Motor ab, rutschte vom Fahrersitz und öffnete die Haube. Sie wollte gerade anfangen, das Steuergerät auszubauen, da tauchte ihr Bruder neben ihr auf. In der Hand hielt er eine Bestellung, die er Jasmin unter die Nase hielt.
»Bist du taub, oder was?«, fragte Bernie. »Was soll der Scheiß?«
»Kannst du nicht lesen?«, fragte Jasmin gereizt. »Und hör auf, mich ›Mini‹ zu nennen.«
Schon als Kinder hatten ihre älteren Brüder sie Mini genannt. Dabei war sie mit ihren 1,65 m nicht einmal besonders klein. Doch in den Augen von Bernie und Ralf würde sie immer die kleine Schwester bleiben. Auch mit 34 Jahren noch.
»Du bist diejenige, die ein A nicht von einem B unterscheiden kann!«, konterte Bernie, auf ihre Legasthenie anspielend. »Also schieb dir deine Sprüche anderswohin.«
Jasmin packte einen Ring-Gabelschlüssel und schlug damit nach dem Formular in Bernies Hand. Mit grimmiger Genugtuung beobachtete sie, wie es zerriss. Noch lieber hätte sie Bernie zu Boden gehen sehen. Fluchend wich ihr Bruder zurück.
»Warum hast du ein neues AGR bestellt?« Bernie kam einen Schritt näher und baute sich vor ihr auf. »Ich hab gesagt, der Motor des Golfs braucht eine Generalüberholung!«
Jasmin antwortete nicht.
»Hier bin ich der Chef«, sagte Bernie, während er die zwei Hälften des Bestellformulars zerknüllte. »Wenn ich dir einen Auftrag gebe, führst du ihn aus, kapiert? Ich befehle, du parierst. Dein Dickschädel geht mir langsam auf den Geist. Kein Wunder, hat dich die Polizei rausgeschmissen. Weiber!«
Jasmin schnappte nach Luft. Dass er ihr die Schuld daran gab, alles verloren zu haben, was ihr wichtig gewesen war, zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Noch schlimmer war, dass sie tief in ihrem Inneren genauso dachte wie er. Sie spürte den Verlust und die Angst, das Leben nicht mehr in den Griff zu bekommen. Die Wut, die in ihr aufstieg, ließ sie mit den Zähnen knirschen. Sie zwang sich, ruhig zu atmen und sich auf das eigentliche Problem zu konzentrieren.
»Nur das Abgasrückführventil ist defekt«, presste sie hervor. »Der Motor ist okay.«
Bernie schüttelte den Kopf. »Es kommt Öl ins Abgassystem. Das ist überhaupt nicht okay.«
»Der Motor bringt die volle Leistung«, widersprach Jasmin. »Der TDI hat 220 000 km drauf, was erwartest du? Bei dieser Laufleistung verkokt das AGR gern. Das fängt schon beim Anschluss am Auspuffkrümmer an.«
»Scheiße, Mini, das reicht! Wenn ich sage, der Motor wird überholt, dann will ich nicht, dass du nur das AGR austauschst!«
Jasmin kniff die Augen zusammen. »Und wenn ich sehe, dass das nicht nötig ist, mach ich es nicht! Das kostet den Kunden einige Tausend Franken!«
»Davon bezahl ich dir deinen Lohn!«
Jasmin betrachtete Bernies roten Kopf. In der Werkstatt war es still geworden. Neugierige Mechaniker lauschten dem Streit gebannt. Seit vier Monaten arbeitete sie hier. Kein Tag verging, ohne dass es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und Bernie kam. Er provozierte sie nicht absichtlich, doch es ging ihm offensichtlich nicht in den Kopf, dass sie ihm ebenbürtig war. Genau wie er hatte sie ursprünglich eine Lehre als Automechaniker absolviert. Schon kurz nach der Abschlussprüfung hatte sie sich jedoch bei der Polizei beworben, wo sie innerhalb weniger Jahre zur jüngsten Sachbearbeiterin beim Dienst Kapitalverbrechen aufgestiegen war. Dennoch hatte sie sich weiterhin für Motoren interessiert. Sie las regelmäßig Fachzeitschriften und schraubte in ihrer Freizeit an ihrem Motorrad herum.
»Weißt du was, Bernie? Du kannst mich mal.« Äußerlich ruhig, wischte sie sich die Hände am Overall ab. »Das Steuergerät des Tiguans ist defekt. Es muss ersetzt werden. Bestell ein neues. Die Parkbremse ist übrigens elektrohydraulisch, nicht elektronisch, wie du aufs Auftragsformular geschrieben hast. Sie wird von einer elektrischen Pumpe betrieben.« Ohne zurückzublicken, marschierte sie auf die Garderobe zu.
»Mini!«, rief ihr Bernie nach. »Wohin gehst du?«
In der Garderobe streifte sie den Overall ab, nahm ihren Motorradanzug vom Haken und zog ihn über. Unter ihren Stiefeln hatte sich eine Pfütze gebildet. Sie schüttelte das Wasser ab und schlüpfte hinein. Zuletzt stülpte sie sich entschlossen den Helm über den Kopf und stapfte zum Ausgang. Bernie rannte ihr nach. Sie zeigte ihm den Mittelfinger.
Als Jasmin die Kraft ihrer Ducati spürte, war es um ihre Selbstbeherrschung geschehen. Sie gab Gas und raste über den Parkplatz. Ihre Monster war zwar schon über sieben Jahre alt, dennoch wummerte der Motor immer noch in einem unvergleichlichen Stakkato. Drehzahlen unter 3000 pro Minute waren für diese Maschine eine Beleidigung.
Um zehn Uhr vormittags hatte sich der Berufsverkehr beinahe aufgelöst. Jasmin bog in die Hauptstraße ein und wechselte auf die Überholspur. Hundert Meter vor ihr befand sich ein Blitzkasten. Sie kannte alle Standorte im Kanton Zürich. Als sie darauf zufuhr, schaltete sie, ohne die Geschwindigkeit zu verringern, in den zweiten Gang. Abrupt schloss sie das Gas, bremste hinten und zog mit dem Zeigefinger die Kupplung, um gleich darauf die Drehzahl auf 8000 zu erhöhen, ehe sie die Bremse löste und forsch einkuppelte. Das Vorderrad kam problemlos hoch. Sie grinste, als sie geblitzt wurde. Auf dem Foto würde ihr Nummernschild wegen des Winkels nicht zu erkennen sein. Ihre ehemaligen Kollegen beim Kapitalverbrechen hätten sie anhand der Duc und der Kleidung erkannt. Doch vor der Verkehrspolizei musste sie sich nicht fürchten.
Sie überholte eine Kolonne wartender Autos und hielt ungeduldig vor einer roten Ampel. Nur wenige Zweiradfahrer wagten sich im November noch auf die Straße. Die glatte Fahrbahn war ihnen zu gefährlich, die frühe Dämmerung erhöhte das Risiko, von anderen Verkehrsteilnehmern übersehen zu werden. Das hinderte Jasmin nicht daran, das Gas voll aufzudrehen, als die Ampel auf Grün wechselte. Jasmin fuhr auf eine Kreuzung zu; leichter Regen setzte ein. Ohne zu überlegen, wählte sie die Spur, die in die Innenstadt führte. Die Wohnung ihrer Mutter, wo sie vor einem halben Jahr Unterschlupf gefunden hatte, lag in der entgegengesetzten Richtung. Jasmin hatte sich dorthin zurückgezogen, um ihre Wunden zu lecken. Diese waren zwar noch nicht verheilt, doch es war Zeit, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Ihre Mutter konnte ihr ebenso wenig helfen wie Bernie, der ihr mit dem Job in der Garage einen Dienst hatte erweisen wollen. Edith Meyer war nie besonders fürsorglich gewesen. Dafür hatte sie schlicht keine Zeit gehabt. Als ihr Mann kurz nach Jasmins Geburt verschwunden war, hatte sie neben ihrer Arbeit als Kellnerin im »Hirschen« zusätzlich an Banketten ausgeholfen, um sich und die drei Kinder durchzubringen. In den wenigen freien Stunden, die ihr geblieben waren, hatte sie die Hausarbeit erledigt. Gerieten Jasmin, Ralf oder Bernie jedoch in Not, so war sie immer für sie da gewesen. Wenn nötig, kämpfte sie für sie wie eine Löwin für ihre Jungen.
Ohne bewusst eine Entscheidung getroffen zu haben, bretterte Jasmin auf einen sanierten Altbau an der Löwenstraße zu. Nachdem sie den Motor abgestellt hatte, blieb sie sitzen und starrte auf das Messingschild an der Mauer. »Pal Palushi« stand neben den Namen zweier weiterer Anwälte, die sich eine Kanzlei im dritten Stock des Gebäudes teilten. Regen tropfte vom Visier ihres Helms, doch Jasmin regte sich nicht. Als Pal vor einer Woche angerufen hatte, um ihr einen Auftrag zu unterbreiten, hatte sie ohne Kommentar aufgelegt. Sie war überzeugt gewesen, sein Angebot sei nur ein weiterer Versuch, ihr zu helfen. Jasmin wollte kein Mitleid. Wenn sie wieder dort anknüpfen wollte, wo ihre Beziehung zu Pal abgebrochen war, brauchte sie seinen Respekt. Doch mit ihrem kindischen Benehmen trug sie nicht gerade dazu bei, sich Achtung zu verschaffen, gestand sie sich widerwillig ein. Zumindest könnte sie sich anhören, worum es ging.
Langsam stieg sie vom Motorrad. Sie nahm den Helm vom Kopf; dabei fielen ihr die schwarzen Halbmonde unter ihren Fingernägeln auf. Sie hatte die Werkstatt so überstürzt verlassen, dass sie sich nicht einmal die Hände gewaschen hatte. Sie zuckte mit den Schultern und stieß die Tür auf. Statt den Lift zu nehmen, joggte sie die drei Stockwerke hoch, um die Durchblutung in ihren von der Kälte steifen Gliedern anzuregen. Vor der Kanzlei strich sie sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht, klingelte kurz und trat ein.
»Ist er frei?«, fragte sie die Sekretärin am Empfang, ohne stehen zu bleiben.
Lisa Stocker sprang auf. »Einen Moment! Herr Palushi …«
Jasmin steuerte auf das Büro am Ende des Gangs zu. Um diese Zeit hatte Pal selten Besprechungen. Entweder war er am Gericht, oder er saß vor dem PC. Da die Tür geschlossen war, ging sie davon aus, dass er Schreibarbeiten erledigte. Ohne anzuklopfen, betrat sie sein Büro.
Ein verärgerter Ausdruck huschte über Pals kantiges Gesicht. Sobald er sie erkannte, glätteten sich seine Züge. Langsam stand er auf. Er war kaum größer als sie, doch in seinem tadellos sitzenden Armanianzug wirkte er imposant.
»Jasmin«, begrüßte er sie. »Bitte, setz dich.«
Sie hörte ein leichtes Zögern in seiner Stimme, das nicht zu seinem selbstsicheren Auftreten passte. Normalerweise legte er eine kühle Distanziertheit an den Tag, die schwer zu erschüttern war. Auch als sie sich mit ihrem nassen Motorradanzug auf den ledernen Besucherstuhl fallen ließ, zuckte er mit keiner Wimper.
»Erzähl«, sagte Jasmin.
Pal lächelte. Seine schiefen Zähne kamen zum Vorschein. Sie waren der Grund dafür gewesen, dass sich Jasmin vor über einem Jahr überhaupt getraut hatte, den Anwalt zu einem Date einzuladen. Seine Zähne und seine abstehenden Ohren. Sie hatten Jasmin davon überzeugt, dass Pal trotz seines geschliffenen Äußeren auch nur ein Mensch war. Dass er sein Studium als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte, hatte sie erst später erfahren. Normalerweise schreckte sie vor intelligenten Männern zurück.
Pal Palushi nahm wieder Platz und griff nach einer Akte, die er jedoch nicht öffnete, sondern ihr hinschob. »Fabian Zaugg«, begann er, »20 Jahre alt, Infanterist bei der Swisscoy. Vor einer Woche wurde er in Kosovo verhaftet. Er wird beschuldigt, eine lokale Angestellte im Camp vergewaltigt zu haben. Der Kommandant der Swisscoy hat eine Voruntersuchung angeordnet. Die Untersuchungsrichterin reiste sofort nach Suhareka.«
»Eine Frau? Berufsmilitär?«
»Zeitmilitär. Hauptmann Maja Salvisberg ist seit drei Jahren militärische Untersuchungsrichterin. Sie ist eine von sechs Profis, die zur Entlastung der Miliz-Untersuchungsrichter eingesetzt werden. Davor arbeitete sie als UR im Thurgau. Ich kenne sie nicht, aber sie macht auf mich einen professionellen Eindruck. Sie hat einen Spezialisten vom Forensischen Institut Zürich mitgenommen, um die Spuren vor Ort zu sichern.«
»Gut.« Jasmin nickte anerkennend.
»Nein«, widersprach Pal. »Zumindest nicht für Fabian Zaugg.«
Es dauerte einen Moment, bis Jasmin begriff. Vierzehn Jahre bei der Polizei hatten ihre Sichtweise geprägt. Sie war es gewohnt, Beweise zuhanden der Staatsanwaltschaft zu sammeln mit dem Ziel, eine Verurteilung zu erwirken, sofern der Täter schuldig war. Pal hingegen war Strafverteidiger.
»Hat er es getan?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht. Er streitet es ab, doch seine Aussagen sind widersprüchlich. Ich habe das Gefühl, dass er etwas verheimlicht.« Pal legte seine Hand auf die Akten. »Lies sie durch. Deine Meinung interessiert mich.«
Jasmin kniff die Augen zusammen. Pal bewegte sich in der Regel nur innerhalb des gesetzlich erlaubten Rahmens. Da er an das Anwaltsgeheimnis gebunden war, hatte er kein Recht, ihr die Akten auszuhändigen. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, holte er ein Dokument aus seinen Unterlagen, aus dem hervorging, dass Fabian Zaugg sein Einverständnis gegeben hatte.
»Etwas begreife ich trotzdem nicht«, sagte Jasmin. »Seit wann kümmert es dich, ob ein Klient schuldig ist oder nicht?«
»Lies die Akten«, wiederholte Pal.
»Was genau erwartest du von mir?«
»Ich muss wissen, wer dieser Junge ist. Wer er war, bevor er zur Armee ging. Ob er sich verändert hat, und wenn ja, warum. Ich brauche jemanden, der mit seiner Familie, mit seinen Freunden und Kollegen spricht. Salvisberg gewährt mir zwar Einsicht in die Einvernahmeprotokolle, doch weitere Fragen an Zeugen kann ich nur mit einem Beweisergänzungsbegehren stellen, und das ist mir zu heikel.«
»Das verstehe ich nicht.«
Pal beugte sich vor. »Wenn ich Fragen stelle, ohne die Antworten zu kennen, gehe ich ein großes Risiko ein. Ich könnte die Lage meines Klienten verschlechtern. Eigene Ermittlungen sind ebenfalls heikel. Ich darf mich nicht dem Vorwurf aussetzen, Zeugen zu beeinflussen. Wie weit ein Verteidiger gehen darf, ist in der Schweiz umstritten. Hinzu kommt, dass mir schlicht die Zeit fehlt. Fabian Zaugg ist nicht mein einziger Klient.«
»Seit wann übernimmst du überhaupt Militärfälle?«
»Die Militärjustiz hat einen Pflichtverteidiger ernannt. Vor einer Woche hat mich Fabian Zauggs Schwester aufgesucht und mich gebeten, das Mandat zu übernehmen. Karin Zaugg studiert im achten Semester Jura. Offenbar war sie der Meinung, ihr Bruder werde schlecht vertreten.«
»Stimmt es?«
Pal wich aus. »Der Pflichtverteidiger hat das einzig Richtige getan: Er riet seinem Klienten zu schweigen. Mindestens so lange, bis er Akteneinsicht hatte.«
»Warum hast du zugesagt?« Jasmins Augen verengten sich. Ihre ursprüngliche Skepsis kehrte zurück. Suchte Pal eine Beschäftigung für sie? Hatte er den Fall angenommen, damit er ihr die Ermittlungsarbeit übertragen konnte? Sie dachte an die vergangenen Monate zurück. Den Frühling hatte sie größtenteils in der Wohnung ihrer Mutter verbracht. Pal hatte immer wieder versucht, sie hinauszulocken. Er schlug Motorradtouren vor, organisierte Tickets für den Moto GP von Spanien und bat sie sogar, sich sein Superbike anzuschauen, weil er angeblich Probleme mit den Kolben hatte. Beim Gedanken daran zuckten Jasmins Mundwinkel. Pal hätte seine Ducati 1098R mit verbundenen Augen in alle Einzelteile zerlegen und wieder zusammenbauen können. Die Vorstellung, dass er sie um Hilfe bat, war absurd. Nein, nicht absurd, korrigierte sie sich in Gedanken. Es zeigte lediglich, wie wichtig sie ihm war. Obwohl sie ihn immer wieder zurückgewiesen hatte, ließ er nicht locker. Er verstand, dass sie Zeit brauchte. Weder hatte er Fragen, betreffend die Zukunft, gestellt noch eine Gegenleistung für seine Unterstützung gefordert. Er war einfach da gewesen. Schließlich hatte sie im Sommer einer Passfahrt zugestimmt. Noch heute spürte sie den Wind, der durchs halb offene Visier gedrungen war; sie sah den Asphalt wenige Millimeter unterhalb ihres Knies vorbeiziehen, als sie tief in einer Kurve lag. Die Tour hatte sie für einige Stunden von den Ängsten und Selbstvorwürfen befreit, die sie quälten. Obwohl sie seither immer wieder Phasen durchlebt hatte, in denen sie sich selbst verachtet hatte und ihr die Welt als feindliches Territorium vorgekommen war, stellte dieser Tag einen Wendepunkt dar. Nach der Tour hatte sie wieder begonnen, nach vorne zu schauen.
Pal hatte ihre Frage immer noch nicht beantwortet. Sein Pokerface mochte gegnerische Anwälte verunsichern, doch Jasmin beeindruckte er damit nicht.
»Warum hast du den Fall übernommen?«, wiederholte sie.
Er legte seine Hand auf die Akten. »Ich möchte, dass du beim Lesen unvoreingenommen bist. Der Besprechungsraum ist den ganzen Tag frei. Mach es dir bequem.«
Fabian Zaugg hatte sich direkt nach der Rekrutenschule um einen Swisscoy-Einsatz beworben. Nach einem zwölfwöchigen Einführungskurs im Kompetenzzentrum Swissint in Stans reiste er im vergangenen April zusammen mit 160 weiteren Soldaten nach Kosovo. Als Infanterist war er oft auf Patrouille. Zu seinen Aufgaben gehörte aber auch die Sicherung und Überwachung von serbischen Kulturdenkmälern, Siedlungen sowie des Kfor-Hauptquartiers. Probleme mit ihm gab es nie. Er fügte sich gut in die Gruppe ein, hielt sich an die Vorschriften und befolgte die Befehle.
Bis zum 3. Oktober. An diesem Abend besuchte er das »Pulverfass« im Camp, wo er mit der Bardame flirtete. Laut Zeugenberichten stellte ihm Besarta Sinani Fragen über seinen Wohnort Münsingen. Offenbar arbeitete ein Verwandter von ihr dort auf einer Baustelle. Nach Barschluss wurden die beiden vor einem Gedenkstein für zwei verstorbene Soldaten beobachtet, obwohl Fabian Zaugg um diese Zeit in seinem Wohncontainer hätte sein sollen. Ein Infanteriekamerad gab später zu Protokoll, er habe circa um 23 Uhr ein unterdrücktes Weinen aus Fabian Zauggs Container gehört. Ob es sich um eine Frau gehandelt habe, konnte er nicht sagen.
Zwei Wochen später berichtete die »Bota Sot«, eine der auflagenstärksten Tageszeitungen in Kosovo, eine lokale Angestellte im Camp Casablanca sei von einem Schweizer Soldaten vergewaltigt worden. Kurz darauf meldete sich Alban Sinani, der Cousin des mutmaßlichen Opfers, bei der öffentlichen Anlaufstelle des Kfor-Hauptquartiers in Prizren und zeigte Fabian Zaugg an. Das Public Affairs Office kontaktierte sofort den österreichischen Bataillonskommandanten, Befehlshaber des Manöverbataillons Dulje. Dieser wiederum informierte den National Contingent Commander, Oberst Marcel Iseli, welcher den Legaladvisor der Swisscoy beizog, die Militärpolizei von den Anschuldigungen in Kenntnis setzte, Kontakt mit der zuständigen Untersuchungsrichterin in der Schweiz aufnahm und ihr den Befehl für eine Voruntersuchung erteilte.
Maja Salvisberg bat die Beteiligten, möglichst wenige Personen zu involvieren. Sie ahnte, dass der Fall hohe Wellen werfen würde. Weder der Infanteriekommandant noch Fabian Zauggs Zugführer erfuhren Einzelheiten. Obwohl die Untersuchung als »national matter« eingestuft wurde, kam NCC Iseli nicht darum herum, den Leiter der multinationalen Militärpolizei-Kräfte, den Kommandanten der Multinationalen Task Force Süd sowie den Public Information Officer der Swisscoy, Spec Of Daniel Pellegrini, ins Bild zu setzen. Vier Tage lang sah es aus, als könnte der Name des angeschuldigten Soldaten vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden. Am fünften Tag erschien in der »Bota Sot« ein Interview mit Alban Sinani. Darin beschuldigte er Fabian Zaugg namentlich, seine Cousine vergewaltigt zu haben. Am folgenden Tag wurde der Soldat in die Schweiz geflogen.
Jasmin legte den Bericht beiseite und sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mittag. Frustriert stand sie auf. Sie hatte erst einen Bruchteil der Unterlagen gelesen. Sich durch das Labyrinth von Buchstaben zu kämpfen, war ein geistiger Marathon. Die vielen Abkürzungen und unbekannten militärischen Bezeichnungen erschwerten das Lesen zusätzlich. Obwohl sie wusste, dass ihre Legasthenie angeboren war und nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun hatte, ärgerte sie sich über ihre Unfähigkeit, einen Text auf Anhieb zu verstehen. Bei der Kripo hätte ihr Bürokollege Tobias Fahrni die Informationen mündlich für sie zusammengefasst. Bis sie für eine Führungsposition vorgeschlagen worden war, hatte er sogar ihre Berichte geschrieben. Dafür hatte sie ihm Arbeit an der Front abgenommen. Wehmütig dachte sie an ihren gutherzigen, hilfsbereiten Freund zurück. Eine Schwere, gegen die sie seit fast einem Jahr ankämpfte, breitete sich in ihren Gliedern aus. Rasch schob sie die Erinnerungen beiseite. Tobias Fahrni gehörte der Vergangenheit an. Pal um Hilfe zu bitten, kam für sie nicht infrage. Er wusste nicht, dass ihr das Lesen Schwierigkeiten bereitete, und Jasmin würde dafür sorgen, dass es so blieb. In seiner Freizeit studierte Pal juristische Fachzeitschriften und Bundesgerichtsurteile. Die Lektüre von Sachbüchern über Politik und Gesellschaft betrachtete er als Erholung. Nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Englisch und Albanisch. Daneben kam sich Jasmin wie eine Analphabetin vor.
Schlecht gelaunt verließ sie den Besprechungsraum und machte sich auf die Suche nach der Küche oder einem Pausenraum. Sie hatte Pal erst wenige Male in seinem Büro aufgesucht und kannte sich in den Räumlichkeiten nicht aus. Neben der Toilette entdeckte sie eine Nische, in der eine Kaffeemaschine und ein Kühlschrank untergebracht waren. Sie fand Mineralwasser, Weißwein, Kaffeerahm und einen Behälter mit Salat, der bestimmt der Sekretärin gehörte.
»Brauchen Sie Hilfe mit der Kaffeemaschine?«, fragte Lisa Stocker hinter ihr.
Jasmin wirbelte herum. Sie hasste Personen, die sich heranschlichen. »Gibt es in diesem Saftladen keine Cola?«
Erschrocken wich die Sekretärin zurück. »Nein, tut mir leid. Aber gleich gegenüber befindet sich ein Lebensmittelgeschäft.«
Ohne ein weiteres Wort schnappte sich Jasmin ein Glas, füllte es mit Wasser und stapfte zurück in den Besprechungsraum.
Die Untersuchungsrichterin hatte tatsächlich professionelle Arbeit geleistet. Kaum hatte sie von den Anschuldigungen erfahren, hatte sie den Wohncontainer von Fabian Zaugg versiegeln lassen. Sie informierte das Forensische Institut Zürich und bat einen Kriminaltechniker, sie nach Kosovo zu begleiten. Dieser begann sogleich, die Spuren im Container zu sichern. Als Jasmin Pals Zusammenfassung studierte, kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Zwar waren seit der mutmaßlichen Tat bereits zwei Wochen vergangen, doch dem Kriminaltechniker war es gelungen, belastendes Material sicherzustellen. Vor allem dank des Umstands, dass Enrico Geu, der mit Fabian Zaugg den Wohncontainer teilte, zwei Wochen lang abwesend gewesen war. Während dieser Zeit war sein Bett unberührt geblieben. Bis auf die Nacht des 3. Oktober.
Die Spuren ergaben ein deutliches Bild. Auf Geus Kissen entdeckte der Kriminaltechniker eingetrockneten Speichel. Die Untersuchung durch das Institut für Rechtsmedizin in St. Gallen bestätigte, dass die sichergestellte DNA mit den Proben von Besarta Sinani übereinstimmte. Dies hatte Pal erfahren, als die Untersuchungsrichterin Fabian Zaugg mit den Beweisen konfrontiert hatte. Zudem war unter Fabian Zauggs Matratze ein gebrauchter Slip gefunden worden. Er konnte ebenfalls Besarta Sinani zugeordnet werden. Dass eine Drittperson DNA und Slip dort deponiert hatte, durfte bezweifelt werden. Auf dem Lichtschalter, der Stuhllehne sowie dem Bettgestell hatte der Kriminaltechniker Fingerabdrücke der Bardame gefunden.
Trotzdem stimmten die Informationen Jasmin nachdenklich. Wenn Fabian Zaugg ein Verbrechen begangen hatte, hätte er den Slip dann nicht entsorgt, statt ihn unter der Matratze zu verstecken? Oder war er so naiv und glaubte, das Beweisstück bliebe unentdeckt? Heute schaute jeder C.S.I., oder wie die TV-Serien alle hießen. Die Arbeit der Spurensicherung war einem breiten Publikum bekannt. Jasmin machte sich eine Notiz und blätterte weiter. Gerne hätte sie die Originalberichte des Forensischen Instituts und des St. Galler Instituts für Rechtsmedizin studiert. Als Sachbearbeiterin beim Kapitalverbrechen hatte sie immer Zugang zu den Resultaten der Spurensicherung gehabt. Erst jetzt merkte sie, wie sehr die Arbeit eines Verteidigers durch den Mangel an Informationen erschwert wurde.
Laut Untersuchungsrichterin war Besarta Sinani im deutschen Feldlazarett in Prizren von einer Ärztin untersucht worden. Diese entdeckte zwar Blutergüsse an ihren Armen, konnte aber nicht sagen, wann sie entstanden waren. Zu viel Zeit war seit der mutmaßlichen Tat verstrichen. Auch die nachfolgende gynäkologische Untersuchung war wenig aufschlussreich gewesen. Jasmin schüttelte den Kopf. Als Polizistin hatte sie immer wieder erlebt, dass die wenigsten Opfer von sexuellen Übergriffen direkt nach einem Vorfall Anzeige erstatteten. Viele duschten zuerst ausgiebig, als hofften sie, die schmerzliche Erfahrung wegwaschen zu können. Sie fühlten sich unrein, manchmal sogar mitschuldig. Sie schämten sich für die Gewalt, die ihnen angetan worden war. Als hätten sie die Tat verhindern können, wenn sie vorsichtiger oder aufmerksamer gewesen wären.
Jasmin hatte nicht gemerkt, dass sie aufgestanden war. Sie stand am Fenster, die Arme um den Körper geschlungen. Früher hatte sie nicht verstehen können, was in einem Opfer vorging. Zwar hatte sie sich in Weiterbildungskursen intensiv damit beschäftigt, doch ein kleiner Teil von ihr hatte trotz des Fachwissens geglaubt, Opfer werde nur, wer es zulasse.
Plötzlich verspürte sie den Drang, sich zu bewegen. Wäre sie noch bei der Kantonspolizei gewesen, hätte sie jetzt ihre Sporttasche gepackt und wäre in den Kraftraum gegangen. Dort hätte sie Hanteln gestemmt, bis ihre Muskeln brannten. Anschließend hätte sie auf dem Laufband einige Kilometer zurückgelegt, um sich zu entspannen. Jetzt begnügte sie sich mit ein paar Kniebeugen und Liegestützen.
Sie setzte sich wieder und nahm eine durchsichtige Mappe in die Hand. Pal hatte alle Berichte ausgedruckt, die in den albanischsprachigen Zeitungen erschienen waren. Darunter befand sich auch ein Artikel aus dem englischen »Kfor Chronical«. Jasmin glaubte, dass es sich um eine ausgeschmückte Pressemitteilung über den Vorfall handelte. Um den Inhalt genau zu verstehen, reichten ihre Englischkenntnisse jedoch nicht aus. Sie hatte ein Drittel überflogen, als es an die Tür klopfte.
»Hunger?«, fragte Pal, auf seine Uhr deutend. »In der Brasserie um die Ecke gibt es ausgezeichnete Mittagsmenüs.«
Jasmin schielte auf die Befragungsprotokolle, die sie noch nicht gelesen hatte.
Pal bemerkte den Blick. »Was hältst du von Zauggs Aussage?«
»Hab schon Pläne«, murmelte sie und gab vor, sich auf den Artikel vor sich zu konzentrieren. Sie wartete darauf, dass Pal den Raum verließ. Als er sich nicht bewegte, sah sie auf. »Was ist?«, fragte sie gereizt.
»Soll ich dir etwas mitbringen?«
»Ich habe Nein gesagt!«
»Um 14 Uhr habe ich einen Gerichtstermin«, informierte Pal sie kühl. »Vermutlich bin ich gegen 17 Uhr zurück. Wenn du etwas brauchst, wende dich an Lisa.« Mit einem kurzen Nicken verschwand er.
Pal Palushi fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, Jasmin um Hilfe zu bitten. Verspielte er seine letzte Chance, ihre Beziehung zu retten? Die wenigen glücklichen Wochen, die sie zusammen verbracht hatten, lagen fast ein Jahr zurück. Doch solange auch nur ein Funken Hoffnung bestand, dass sie wieder zueinanderfänden, würde er weiterkämpfen. Das Problem bestand darin, das richtige Maß an Beharrlichkeit zu finden. Von sich aus machte Jasmin keinen Schritt auf ihn zu. Er musste also die Initiative ergreifen. Dabei durfte er jedoch nicht zu forsch vorgehen.
Wut stieg in ihm auf. Auf seine Unfähigkeit, zu ihr durchzudringen. Auf das Schicksal, das ihm ganz kurz gezeigt hatte, was Liebe bedeutete, nur um sie ihm gleich wieder wegzuschnappen. Aber vor allem auf die Person, die dafür verantwortlich war, dass Jasmin heute über die Schulter schaute, wenn sie ins Freie trat. Dass sie ihre kastanienbraunen Haare abgeschnitten hatte, damit niemand sie am Pferdeschwanz packen konnte. Oder dass sie immer mit dem Rücken zur Wand saß, um jeden im Blickfeld zu haben. Nicht die kleinste Veränderung war Pal entgangen. Auch der Hass nicht, der manchmal in ihren Augen aufloderte. Nicht auf das Schicksal. Sondern auf sich.
Damit kannte er sich aus. Zwar besaß er heute ein gesundes Selbstwertgefühl, doch während seiner Studienzeit hatte er sich oft gewünscht, in einem anderen Körper zu erwachen. Die Vorurteile gegenüber Albanern und die gedankenlosen Sprüche von Kommilitonen hatten ihn manchmal in Rage versetzt. Ob er Jura studiere, um Schlupflöcher im Schweizer Gesetz zu finden. Ob die Drogenmafia seine Ausbildung finanziere, damit er später Dealer vor Gericht vertreten könne. Fast schlimmer waren die Reaktionen von Personen, die seine Herkunft nicht kannten. Wenn er erklärte, dass er aus Kosovo stamme, so erntete er meist erstaunte Blicke. Oft bekam er zu hören, dass er »ganz anders« sei. Oder »gar nicht so«. Dass der Großteil der Kosovaren in der Schweiz kaum auffiel, war wenigen bewusst.
Pal nahm seinen Mantel vom Bügel und verließ die Kanzlei. Das Bezirksgericht Zürich lag nur zehn Minuten entfernt. Normalerweise fuhr er trotzdem mit seiner Duc hin; die paar Minuten auf dem Motorrad stellten eine willkommene Unterbrechung des Arbeitsalltags dar. Doch heute war ihm der Aufwand zu groß. Bis er seinen Motorradanzug angezogen, das Jackett sowie den Aktenkoffer verstaut hätte, wäre er längst dort. Rund um das Gericht befanden sich mehrere gute Restaurants. Eine Einzelperson fand immer Platz, auch ohne Reservation. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, über Mittag auswärts zu essen. Das ersparte ihm das Kochen zu Hause und gab ihm Gelegenheit, in Ruhe über bevorstehende Gerichtsverhandlungen nachzudenken. Heute schweiften seine Gedanken jedoch vom Beruflichen ab.
Statt gegen die Sprücheklopfer hatte Pal als Student seinen Zorn gegen sich selbst gerichtet. Er hatte sich über das geärgert, was er in ihren Augen war – und nicht war. Doch damit billigte er das Verhalten seiner Kommilitonen, genau wie Jasmin insgeheim die Verantwortung für das Verbrechen übernahm, das gegen sie verübt worden war. Manchmal hatte Pal das Bedürfnis, sie zu schütteln, bis sie endlich einsähe, dass sie nichts dafür konnte. Wenn er ihr aber in die trügerisch sanften, braunen Augen blickte oder ihre schmale Silhouette auf der mächtigen Duc sah, so wollte er sie nur noch in die Arme schließen. Das würde sie jedoch nicht zulassen. Vielleicht würde sie aber diesen Auftrag annehmen. Allerdings musste er äußerst vorsichtig sein, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, er behindere die Untersuchung. Das würde seinem Klienten schaden. Bis jetzt war Maja Salvisberg außergewöhnlich offen gewesen; Pal wollte ihr Vertrauen nicht verspielen. Trotzdem musste auch ihr klar sein, dass er den Sachverhalt aufarbeiten musste. Nur so konnte er die nächsten Untersuchungsschritte voraussehen, Probleme frühzeitig erkennen und die entsprechenden Maßnahmen für seinen Klienten ergreifen.
Pal hoffte, dass Jasmins Neugier stärker war als ihr Stolz. Dass sie in der Autowerkstatt ihr Talent vergeudete, war offensichtlich. Noch nie war er einer Polizistin begegnet, die Einvernahmetechniken und Intuition so geschickt verband. Sie entlockte einer Person Antworten, wo andere nicht einmal entsprechende Fragen stellten. Ihr etwas vorzumachen, war fast unmöglich. Deshalb wollte er ihre Meinung über Fabian Zaugg hören.
Pal war beim »Gattopardo« angekommen, einem edlen italienischen Lokal, das er oft aufsuchte. Er schätzte nicht nur die Küche; genauso wichtig war ihm die gedämpfte Atmosphäre des Raums. Der dunkle Teppich und die schweren Ledersessel schluckten den Lärm und strahlten Ruhe aus. Da Pal oft bis elf oder zwölf Uhr nachts arbeitete, war der Mittag seine wichtigste Erholungsphase. Er begrüßte den Patron und wurde zu einem Fensterplatz geführt. Nach einem kurzen Blick auf die Karte bestellte er Ossobuco milanese mit Polenta, dazu ein Glas Chianti Classico Riserva.
Aus seinem Klienten wurde Pal nicht schlau. Normalerweise hatte er nicht die Kapazität, eigene Ermittlungen anzustellen. Das war Aufgabe des Untersuchungsrichters. Außer, ein Angeschuldigter verlangte ausdrücklich danach und verfügte über die nötigen Mittel. Doch auch dann war Pal zurückhaltend. Ihm fehlten das Fachwissen und die nötige Erfahrung. Da er oft Mandate als Pflichtverteidiger ausübte, waren derartige Anfragen selten. Häufig vertrat er wegen seiner Sprachkenntnisse Kosovaren: Kleinkriminelle auf der Suche nach dem schnellen Geld; Männer, die Traditionen als Vorwand missbrauchten, Gewalt anzuwenden. Manchmal fühlte er sich nicht als Anwalt, sondern als Sozialarbeiter. Er versuchte, gleichgültige Jugendliche von der Notwendigkeit einer Ausbildung zu überzeugen, erklärte Drogendealern, dass sie auf dem Bau zwar weniger verdienten als auf der Straße, dafür am Abend stolz auf ihre Leistung sein dürften. Selten gelang es ihm, seine Mandanten vom eingeschlagenen Weg abzubringen. Trotzdem arbeitete er sorgfältig. Jeder hatte das Recht auf eine gute Verteidigung – egal, ob schuldig oder unschuldig.
Daneben betreute er albanische Unternehmen, die in der Schweiz tätig waren – Reisebüros, Carunternehmen, Gastrobetriebe und Immobilienfirmen –, und beriet Firmen, die im Balkan Geschäfte tätigten. Diese sogenannten erbetenen Mandate waren der Grund dafür, dass er im »Gattopardo« zu Mittag essen konnte und bei der Wahl seiner Kleidung nicht auf die Preisschilder achten musste. Sie finanzierten die Enduro-Maschinen, auf denen er Supermoto-Rennen fuhr, und hatten es ihm ermöglicht, Spritzschutz, Lufteinlasskanäle sowie die Abdeckungen seines 60000 Franken teuren Superbikes mit exklusiven Carbonteilen zu ersetzen.
Fabian Zaugg gehörte weder der einen noch der anderen Kategorie an. Als seine Schwester vor einer Woche die Kanzlei betreten hatte, hatte Pal sie freundlich, aber bestimmt darauf hingewiesen, dass er keine Erfahrung mit Militärfällen habe. Doch Karin Zaugg hatte nicht lockergelassen. Die Jura-Studentin war von der Unschuld ihres Bruders überzeugt. Sie glaubte, dass Besarta Sinani log. Und dass nur ein Kosovare herausfinden könne, warum. Pals Einwand, dass er nicht Ermittler, sondern Strafverteidiger sei, ließ sie nicht gelten.
»Fabian ist in irgendetwas hineingeraten«, hatte sie behauptet.
»Haben Sie eine Vermutung?«
»Nein. Ich weiß nur, dass Fabian nie Gewalt anwenden würde. Er ist nicht aggressiv.«
»Immerhin hat er sich freiwillig für einen Armeeeinsatz gemeldet.«
»Für einen Friedenseinsatz! Und wären seine Freunde nicht gewesen, wäre es ihm überhaupt nie in den Sinn gekommen, sich bei der Swisscoy zu bewerben.« Karin Zaugg wickelte eine blonde Haarsträhne um den Zeigefinger. »Fabian, Patrick und Raffael sind seit ihrer Kindheit befreundet. Sie haben gleichzeitig die Rekrutenschule absolviert, alle drei als Infanteristen. Vermutlich war es Raffael, der auf die Idee kam, an die RS einen Auslandseinsatz anzuhängen. Es würde zu ihm passen. Er war es auch gewesen, der Fabian überredet hatte, sich in die Infanterie einteilen zu lassen. Eigentlich wollte Fabian zu den Sanitätstruppen. Er hält nichts von Waffen. Und dann erzählte er an einem Urlaubswochenende plötzlich, er wolle nach der RS zur Swisscoy. Zuerst dachte ich, er mache Witze. Fabian ist einfach nicht der Militärtyp, verstehen Sie? Ursprünglich wollte er sich sogar vor der RS drücken, irgendwelche Leiden vortäuschen, um als dienstuntauglich zu gelten. Doch es war ihm ernst! Plötzlich wollte er etwas von der Welt sehen – behauptete er zumindest. Zuvor war er noch nie alleine im Ausland gewesen. Ich hatte ihn nicht einmal dazu überreden können, nach der Lehrabschlussprüfung einen Sprachaufenthalt in Betracht zu ziehen. Wir haben uns sogar deswegen gestritten. Ich war der Meinung, dass er seinen Horizont erweitern solle, bevor er eine Stelle suche, aber er begriff nicht, warum. Und nun wollte er nach Kosovo? Es passte überhaupt nicht zu ihm.«
»Die Armee war offensichtlich anderer Meinung«, sagte Pal.
»Dass sie ihn genommen haben, hat mich, ehrlich gesagt, verblüfft. Raffael wurde abgelehnt, und Patrick machte im letzten Moment einen Rückzieher. Eigentlich hätte ich das eher von Fabian erwartet. Aber er blieb dabei, auch ohne Raffi und Patrick. Zu Beginn hatte er schrecklich Heimweh. Er gab sich Mühe, es zu verbergen, weil er beweisen wollte, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Aber mir konnte er nichts vormachen. Er verbrachte jede freie Minute auf Facebook.«
»Das passt nicht zur Tatsache, dass er seinen Einsatz verlängert hat«, wandte Pal ein.
»Ich weiß.« Karin Zauggs Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. »Irgendetwas ist da unten passiert. Auf einmal ließ Fabian nichts mehr von sich hören. Seine Freundin klagte, er reagiere kaum auf ihre Mails. Michelle und Fabian sind seit über zwei Jahren zusammen. Zu Beginn seines Einsatzes hat er ihr regelmäßig geschrieben. Im Laufe des Sommers zog er sich aber immer mehr zurück. Er hat nicht nur den Kontakt zu uns abgebrochen, er hat sich auch in anderer Beziehung verändert. Er ließ sich zum Beispiel einen Millimeterschnitt verpassen.«
»Die meisten Infanteristen tragen die Haare kurz.«
»Fabian ist kein typischer Infanterist! Das ganze Machogehabe interessiert ihn nicht. Wenn er sich einfach den Kopf geschoren hätte, hätte ich es noch verstanden. Das ist im Militär bestimmt praktisch. Aber er hat sich Streifen rasieren lassen!«
Pal betrachtete das Foto, das Karin Zaugg ihm reichte. Die schmalen Streifen zogen sich von Fabian Zauggs Schläfen bis zu seinen Ohren. Die Frisur war zweifellos auffällig, doch Pal maß ihr keine besondere Bedeutung bei. Viele Jugendliche experimentierten mit ihrem Aussehen. Alles, was Pal bisher über Fabian Zaugg erfahren hatte, ließ darauf schließen, dass der Soldat auf der Suche nach der eigenen Identität war. Für einen 20-Jährigen keine Seltenheit. Vor allem nicht, wenn er tatsächlich so angepasst gewesen war, wie seine Schwester ihn beschrieb. Es erstaunte Pal auch nicht, dass sich Fabian Zaugg in Kosovo verändert hatte. Erstmals lebte er von seiner Familie getrennt. Er musste sich behaupten, wenn er nicht untergehen wollte. Möglicherweise hatte er sich so in die Rolle des Testosteron-Bolzens hineingesteigert, dass er Stärke und Gewalt nicht mehr trennen konnte.
Karin Zaugg schien seine Gedanken zu lesen. »Fabian hat diese Frau nicht vergewaltigt! Dafür lege ich die Hand ins Feuer. Egal, wie sehr er sich verändert hat, dazu ist er nicht fähig. Sie kennen ihn nicht. Er ist … Fibu könnte nie …« Mit hastigen Bewegungen klaubte sie ein Taschentuch hervor.
Pal wartete, bis sie sich gefasst hatte. »Wie sind Sie auf mich gekommen?«
Karin Zaugg putzte sich die Nase. »Internet und Kollegen. Ich habe nach einem albanischen Strafverteidiger in der Schweiz gesucht. Sie sind der Einzige.«
»Gehen wir davon aus, dass Ihr Bruder unschuldig ist. Haben Sie sich überlegt, was das bedeuten würde?«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, erwiderte Karin Zaugg. »Es muss einen guten Grund geben, warum ihm jemand eine Tat anhängen will, die er nicht begangen hat. Genau deshalb brauche ich Sie. Sie verstehen die Kultur der Kosovaren. Sie kennen das Land. Sie sprechen die Sprache.«
»Warum vertrauen Sie mir?« Pal beugte sich vor. »Wenn Sie recht haben, so müssen wir davon ausgehen, dass Besarta Sinani lügt. Wissen Sie, was das bedeutet? Für eine albanische Frau ist eine Vergewaltigung eine Schande. Von sich aus würde sie eine solche Geschichte nie erfinden. Also müsste mehr dahinterstecken. Viel mehr. Woher wollen Sie wissen, dass ich neutral bin? Dass ich wirklich die Interessen Ihres Bruders vertrete?«
Erstmals lächelte Karin Zaugg. »Ich habe Referenzen eingeholt.«
»Referenzen?«, wiederholte Pal.
»Bei einem Bekannten am Bezirksgericht Zürich, wo Sie ein Praktikum absolviert haben, bei Berufskollegen sowie Ihren ehemaligen Mitstudenten.«
»Verstehe.« Pal widerstand der Versuchung, nach dem Ergebnis ihrer Recherchen zu fragen. Verärgert stellte er fest, dass sich der Schweiß unter seinen Achseln sammelte. Er rief sich in Erinnerung, dass er einer Studentin gegenübersaß. Ihre Meinung konnte ihm egal sein.
»Ich weiß, dass Sie nach dem Studium ein Jahr in den USA waren und den Master of Law gemacht haben. Anschließend haben Sie die Anwaltsprüfung abgelegt und gleichzeitig ein Nachdiplomstudium in internationalem Wirtschaftsrecht abgeschlossen«, sagte Karin Zaugg. »Wie Sie das geschafft haben, ist mir allerdings ein Rätsel. Einige Professoren können sich sogar an Ihren Namen erinnern. An einer großen Uni wie Zürich grenzt das an ein Wunder. Sie müssen sie sehr beeindruckt haben. Ich weiß auch, dass Sie an einem Mentoring-Programm teilgenommen haben, um Studenten mit Migrationshintergrund zu unterstützen. Und dass Sie eine Topstelle in einem internationalen Konzern haben könnten, es aber vorziehen, Pro-bono-Arbeit zu leisten.«
Pal hob den Zeigefinger. »In Ausnahmefällen. In der Regel werde ich bezahlt. Als Strafverteidiger verlange ich üblicherweise 250 Franken pro Stunde, zuzüglich Mehrwertsteuer. Und einen Vorschuss von 3000 Franken. Liegt das für Sie drin?«
Erstmals wirkte Karin Zaugg unsicher. »Wäre es möglich, dass Sie Ihr Mandat in eine amtliche Verteidigung umwandeln?«
»Ich kann es versuchen, doch ob der Antrag genehmigt wird, weiß ich nicht.«
»Bei Pflichtverteidigern ist ein Stundensatz von 180 Franken das Maximum«, sagte Karin Zaugg. »Zumindest im Militärstrafprozess.«
»Sie haben sich genau erkundigt.«
Karin Zaugg lächelte gequält. »Was blieb mir anderes übrig? Ich weiß auch, dass im Militärstrafprozess ein Verurteilter nicht selbst für die Kosten eines amtlichen Verteidigers aufkommen muss, im Gegensatz zum zivilen Strafverfahren.«
»Sie gehen mit dem Anwaltswechsel ein finanzielles Risiko ein«, führte Pal ihr vor Augen. »Wissen Ihre Eltern, dass Sie mich aufgesucht haben?«
Karin Zaugg senkte den Blick. »Meine Eltern halten es für eine schlechte Idee, dass ein Albaner Fabian vertreten soll.«
»Verständlich.«
»Überhaupt nicht! Wer sonst kann herausfinden, was dort unten geschehen ist?«
»Die Untersuchungsrichterin, zusammen mit der Militärpolizei. Dazu sind sie da.«
»Maja Salvisberg ist Schweizerin.«
»Haben Sie sich überlegt, dass innerhalb der Swisscoy etwas vorgefallen sein könnte? In diesem Fall bin ich die denkbar schlechteste Wahl. Einem Schweizer Anwalt gegenüber wären Armeeangehörige offener. Außerdem bin ich mit den Besonderheiten des Militärstrafrechts nicht vertraut.«
Karin Zaugg wischte seine Bedenken mit einer Handbewegung beiseite. »Nach allem, was ich erfahren habe, dürfte das für Sie kein Problem darstellen. Und was die Armee betrifft: Diese Besarta ist Albanerin. Auch wenn andere Soldaten in die Geschichte verwickelt sind, so hat sie immer noch gelogen, zumindest, was Fabian betrifft.«
Schließlich hatte Pal unter einer Bedingung zugestimmt: Er brauchte Fabian Zauggs Einverständnis. Nicht nur dafür, dass er den Soldaten vertreten, sondern auch, dass er eigene Recherchen anstellen durfte. Ohne das Vertrauen seines Mandanten konnte Pal nichts ausrichten. Er vertrat ausschließlich seine Klienten. Nicht deren Familien. Außerdem weigerte er sich, selbst zu ermitteln. Dazu fühlte er sich nicht kompetent genug. Im Hinterkopf hatte er bereits an Jasmin gedacht. Ihr traute Pal zu, Licht in die Angelegenheit zu bringen, ohne Zeugen zu beeinflussen. Er willigte ein, Fabian Zauggs Fall zu übernehmen, und versprach, sofort den Antrag auf Umwandlung des Mandats zu stellen.