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Hafturlaub. Wenn die ehemalige Polizistin Jasmin Meyer das Wort bloß hört, wird ihr übel – auch sie wurde Opfer einer Gewalttat. Nun aber muss sie sich ihren Ängsten stellen: Die 11-jährige Fanny wird bedroht, und Jasmin vermutet, dass ein Strafgefangener dahintersteckt. Da stellt sich heraus, dass einer der Verdächtigen ein Klient ihres Lebenspartners ist, des Anwalts Pal Palushi. Als der Vergewaltiger Hafturlaub erhält, realisiert Jasmin, dass sie ganz auf sich allein gestellt ist. Doch um Fanny zu beschützen, scheut sie vor nichts zurück.
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Seitenzahl: 500
Hafturlaub. Wenn die ehemalige Polizistin Jasmin Meyer das Wort bloß hört, wird ihr übel – auch sie wurde Opfer einer Gewalttat. Nun aber muss sie sich ihren Ängsten stellen: Die 11-jährige Fanny wird bedroht. Jasmin vermutet, dass ein Strafgefangener dahintersteckt. Und der Verdächtige erhält Hafturlaub …
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Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst Kriminalromane, Thriller, Liebesromane, Jugendbücher, Kurzgeschichten und Kolumnen.
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Petra Ivanov
Hafturlaub
Meyer und Palushi ermitteln gegeneinander
Kriminalroman
Meyer und Palushi ermitteln (2)
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Unionsverlag
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Die Erstausgabe erschien 2014 im Appenzeller Verlag.
Die Autorin dankt Pascal Hantz für die Einsicht in seine Akten.
© by Petra Ivanov 2014
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: sanchez (Frau), markusspiske (Hintergrund) / photocase.com
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30959-3
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
HAFTURLAUB
1 – Das Mädchen stieg in die S-Bahn ein …2 – Pal Palushi legte das Urteil des Verwaltungsgerichts hin …3 – Milena Herzog wohnte in einer familienfreundlichen Siedlung am …4 – Fanny hasste ihre Mutter. Sie war gemein …5 – Der Sitz der Direktion der Justiz und des …6 – Der 29-jährige Luca Bracchini war vor vier Jahren …7 – Eric Laupper starrte auf den Bildschirm. Bei seiner …8 – Jasmins Finger zitterten, als sie den Schlüssel in …9 – Als Pal am Informationsschalter nach Jakob Reichlin fragte …10 – Der Vertrag ist in Ordnung, an deiner Stelle …11 – Wieder ein Tag. Eric Laupper lag im Bett …12 – Matthias Herzog wohnte in einer Altbauwohnung in der …13 – Wenn Celine mich jetzt sehen könnte, dachte Fanny …14 – Pal lag mit offenen Augen im Bett und …15 – Die Öffnung in der Mauer der Justizvollzugsanstalt Pöschwies …16 – Laut dem Europarat soll es auch in der …17 – Es war heiß im Anwaltszimmer der Justizvollzugsanstalt Pöschwies …18 – Valentin Schaufelberger gab sich keine Mühe, seine Überraschung …19 – Der Traum20 – Jasmin holte tief Luft und klingelte. Aus der …21 – Für einige Gefangene war der Snackautomat im Besucherraum …22 – Milena Herzog kämpfte gegen das Verlangen, sich zu …23 – Herr Laupper, Sie sind hier, weil eine Mitarbeiterin …24 – Jasmin starrte auf die Wohnungstür. Die Vorstellung …25 – Milena Herzog machte es sich auf dem Massagestuhl …26 – Eric Laupper folgte dem Zaun mit gleichmäßigen Schritten …27 – Es war dunkel in der Wohnung. Nirgends brannte …28 – Es dämmerte. Der 14. Juli würde wieder heiß …29 – Der Wind hatte aufgefrischt. Holunderblüten rieselten von einem …30 – Der Himmel über Urdorf war fast schwarz …31 – News-Ticker32 – Pal rieb seine Handflächen gegeneinander, um sie zu …33 – Das Mädchen zog seine Mütze gerade. Immer verrutschte …Mehr über dieses Buch
Über Petra Ivanov
Petra Ivanov: »Meine Figuren sind lebendig. Wenn ich nicht schreibe, verliere ich den Kontakt zu ihnen.«
Petra Ivanov: »Mein Weltbild hat sich zum Besseren verändert, seit ich Krimis schreibe.«
Mitra Devi: Ein ganz und gar subjektives Porträt von Petra Ivanov
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Für Sandra
Das Mädchen stieg in die S-Bahn ein. Es zögerte, als es den Biergeruch wahrnahm. Auf der Treppe, die zum Oberdeck des Wagens führte, lag eine grüne Dose. Ein klebrig aussehender Fleck bedeckte zwei Stufen. Kurz überlegte das Mädchen, sich einen Platz im Unterdeck zu suchen, doch ein Blick genügte, um zu erkennen, dass alle Abteile besetzt waren. Vorsichtig setzte das Mädchen einen Fuß auf die Stufe. Die Sohlen seiner Ballerinas gaben schmatzende Geräusche von sich, als es die Treppe hochstieg. Oben angekommen, rieb das Mädchen die Sohlen auf dem Boden, um sie zu reinigen.
Die Ballerinas waren neu. Lange hatte sich die Mutter geweigert, ihm welche zu kaufen. Stattdessen musste das Mädchen Schuhe mit Fußbett tragen. Es hatte sich dafür geschämt. Kein Wunder, wurde es von den Jungen nicht wahrgenommen. Wer interessierte sich schon für ein Mädchen mit Klötzen an den Füssen? Von Mode hatte die Mutter keine Ahnung. Deshalb hatte das Mädchen beim letzten Einkauf nur beiläufig und ohne große Hoffnung auf die Ballerinas im Schaufenster gedeutet. Es hatte nicht damit gerechnet, dass sein Wunsch endlich erfüllt würde. Als die Mutter stehenblieb, konnte das Mädchen sein Glück kaum fassen. Zehn Minuten später besaß es ein Paar pinkfarbene Ballerinas mit Schleifen. Die Mutter legte ihm den Arm um die Schultern und drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel. Das Mädchen ließ es geschehen. Seit der Trennung vom Vater benahm sich die Mutter häufig merkwürdig. Die plötzlichen Gefühlsausbrüche waren zwar peinlich, aber angenehmer als die geistige Abwesenheit, die sie immer häufiger beschlich. Manchmal hielt die Mutter mitten im Gespräch inne, weil sie den Faden verloren hatte. Letzte Woche hatte sie im Supermarkt eine Packung Katzenfutter vom Regal genommen, obwohl Felix seit fast vier Monaten tot war. Rasch schob das Mädchen den Gedanken weg. Noch immer schossen ihm die Tränen in die Augen, wenn es an den Kater dachte.
Es bückte sich und hob den Fuß, um die Sohle genauer zu untersuchen. Dabei fiel ihm eine stumpfe Stelle auf dem Leder auf. Es befeuchtete den Zeigefinger und polierte den Schuh. Es bemerkte nicht, wie sein Rock hochrutschte und den Blick auf seine langen, nackten Beine freigab. Auch nicht, wie der Mann im Viererabteil das Interesse an seiner Zeitung verlor. Konzentriert verteilte das Mädchen Speichel auf dem Leder. Erst als der Schuh wieder wie neu aussah, richtete es sich auf. Es steuerte auf einen Fensterplatz zu, um dem Vater zuzuwinken.
Der Vater brachte das Mädchen nach jedem Besuch zum Bahnhof. Er schien nicht zu begreifen, dass es mit seinen elf Jahren schon fast erwachsen war. Seine Klassenkameradinnen durften ohne Eltern ins Einkaufszentrum fahren, seine beste Freundin Celine nahm abends sogar Gesangsunterricht in der Stadt. Nie wurde sie von ihrer Mutter begleitet. Nur meine Eltern behandeln mich wie ein Kind, dachte das Mädchen. Mit einem Seufzer nahm es den Schulthek vom Rücken und stellte ihn neben den Sitz.
Die Lichter über der Tür blinkten bereits, als das Mädchen aus dem Fenster schaute und den Vater suchte. Dort stand er, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen zusammengekniffen, um besser sehen zu können. Als er die Tochter erblickte, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Das Mädchen lächelte zurück, die trüben Gedanken waren wie weggeblasen. Es stellte sich die Fältchen an den Augenwinkeln des Vaters vor, die Bartstoppeln, die so herrlich kitzelten, wenn es einen Gute-Nacht-Kuss bekam. Früher, als das Mädchen klein gewesen war, hatten sie Katz und Maus gespielt. Auf allen vieren hatte der Vater versucht, die Tochter zu fangen. Durchs ganze Haus hatte er sie gejagt, unter dem Esstisch hindurch, die Treppen hinauf, bis die Knie brannten und das Mädchen sich kichernd ergab. Sogleich war der Vater über ihm gewesen, mit einem zufriedenen Schnurren hatte er das Mädchen mit den Lippen gepackt, an der Haut geknabbert, während es sich vor Lachen wand.
Heute verbrachten sie die Nachmittage häufig am Fluss, wo sie Scrabblesteine legten, Leute beobachteten, einander Geschichten vorlasen oder, wenn es das Wetter erlaubte, im Wasser planschten. Abends kochten sie gemeinsam. Nicht so, wie die Mutter kochte. Meist fehlte irgendeine Zutat, so dass sie improvisieren mussten. Trotzdem schmeckte das Essen immer.
Langsam fuhr der Zug an. Der Vater reckte beide Arme in die Höhe und bewegte sie hin und her. Das Mädchen winkte zurück.
Es war 17.54 Uhr, als die S-Bahn die Haltestelle Zürich-Hardbrücke verließ.
Bis vor kurzem war der Bahnhof für das Mädchen lediglich ein Name gewesen. Tauchte das Schild neben dem Gleis auf, so bedeutete es, dass der Zug bald in Zürich eintreffen würde. Nie zuvor war das Mädchen dort ausgestiegen. Vom Fenster aus hatte es das komplizierte Geflecht der Schienen betrachtet und sich gefragt, woher der Lokführer wusste, welches Gleis in den Tunnel zum Hauptbahnhof führte. Über dem Bahnhof Hardbrücke erstreckte sich die gleichnamige Brücke wie ein steinernes Reptil. Das Mädchen wunderte sich, dass die Pfeiler das Gewicht all der Autos und Lastwagen zu tragen vermochten. Als es das erste Mal dort ausgestiegen war, hatte es den Kopf eingezogen und sich an die Hand des Vaters geklammert. Gemeinsam hatten sie sich einen Weg zum Lift gebahnt, der Lärm eines vorbeifahrenden Intercity-Zugs hatte das Gespräch verunmöglicht. Oben angekommen, hatte der Vater das Mädchen zur Seite gezogen und auf ein Hochhaus mit gläserner Fassade gezeigt.
»Das ist der Prime Tower«, erklärte er. »Das höchste Gebäude der Schweiz. Im 35. Stock gibt es ein Restaurant. Dorthin lade ich dich an deinem 18. Geburtstag ein!«
Als das Mädchen nun durch ein Netz von Oberleitungen hindurch das Hochhaus betrachtete, glaubte es, niemals 18 Jahre alt zu werden. Die Zeit verstrich so langsam. Es träumte davon, berühmt zu sein, als Schauspielerin vielleicht oder als Sängerin. Wie gerne hätte es wie Celine Gesangsunterricht genommen! Doch sowohl die Mutter als auch der Vater hielten seine Idee für eine vorübergehende Laune. Nie konnten sich die Eltern auf etwas einigen, doch ausgerechnet hier waren sie gleicher Meinung. Celine hatte sich sogar für eine Castingshow bewerben dürfen. Sie hatte es zwar nicht bis vor die Kamera geschafft, immerhin hatte sie aber vor Publikum gesungen.
Und ich?, dachte das Mädchen. Ich muss ins Geräteturnen. Nicht einmal ins Kunstturnen darf ich. Im Kunstturnen gebe es zu viele Wettkämpfe, sagt die Mutter. Nur, weil sie immer arbeitet. Sonst könnte sie mich begleiten. Das Mädchen lehnte die Stirn gegen die Fensterscheibe. Es fröstelte im klimatisierten Wagen. Obwohl der Sommer noch nicht begonnen hatte, herrschte draußen Badewetter. Das Mädchen trug sein Lieblings-Top, das lilafarbene mit den Spaghettiträgern. Die Tante hatte es ihm zum Geburtstag geschenkt. Wenigstens sie hatte ein Gespür für Mode.
Das Mädchen ließ sich in den Sitz zurückfallen. Es streifte die Ballerinas ab und legte die Füße auf den Sitz gegenüber. Jemand hatte eine Gratiszeitung liegen lassen. Als das Mädchen danach griff, rutschte ihm der linke Träger über die Schulter. Der Mann im Viererabteil nahm einen Schluck Wasser aus einer PET-Flasche.
Davon merkte das Mädchen jedoch nichts. Es starrte auf ein Foto von Justin Bieber, der sich angeblich von seiner Freundin getrennt hatte. Beim Anblick der Haarsträhne, die dem Sänger in die Stirn fiel, begann das Herz des Mädchens zu klopfen. Seine Brust fühlte sich seltsam eng an, als würde die Luft aus ihr gepresst. Es war ein wohliger Schmerz, einer, den das Mädchen auskostete. Fühlte sich so die Liebe an? Traurig und wunderschön zugleich? Manchmal, wenn der Druck zu stark wurde, lief ihm das Augenwasser über. Die Tränen flossen gemächlich, ohne dass das Mädchen das Bedürfnis hatte, sie zurückzuhalten. Sie waren warm und salzig, kein Ausdruck von Verzweiflung, sondern die Folge eines Naturgesetzes, wie Schmelzwasser, das aus einem Gletscher rann. In Gedanken versunken strich sich das Mädchen über den Arm.
Das Ruckeln der S-Bahn holte es in die Gegenwart zurück. Der Schulthek kippte und versperrte den Durchgang. Das Mädchen betrachtete die Anzeige auf dem Bildschirm: Zürich-Altstetten. Auf dem Perron stand eine Frau mit einer Brezel in der Hand. Das Mädchen merkte, dass es Hunger hatte. Das Essen würde auf dem Tisch stehen, wenn es nach Hause kam. Nach den Besuchen beim Vater gab sich die Mutter immer besonders Mühe, etwas Feines zu kochen. Unter der Woche hatte sie keine Zeit, aufwendige Mahlzeiten zuzubereiten. Manchmal brachte sie etwas vom Chinesen mit, doch meist tischte sie Brot und Käse auf. Am Samstag hingegen bereitete sie Lasagne, Risotto oder Pizza mit selbstgemachtem Teig zu.
»Ist das dein Schulthek?«, fragte eine Männerstimme.
Das Mädchen drehte den Kopf.
Der Mann im Viererabteil hielt einen Schulrucksack mit Pferdemotiven in den Händen. »Er lag im Durchgang«, erklärte er und schob den Thek unter die nackten Beine des Mädchens.
Es bedankte sich.
Die Uhr auf dem Perron zeigte 17.59 Uhr, als der Zug den Bahnhof Altstetten hinter sich ließ.
Am Himmel brauten sich Wolken zusammen. Das Mädchen sah sie nicht. Es schämte sich für den Schulthek. Nur Kinder hatten einen mit Pferdemotiv. Die Mutter weigerte sich, einen neuen zu kaufen. Der Thek sei in gutem Zustand, meinte sie. Es hatte nichts genützt, dass ihr das Mädchen erklärte, alle anderen Fünftklässler trügen normale Rucksäcke, ohne Bildmotiv, ohne Reflektoren an den Schnallen. Das Mädchen hatte sogar behauptet, es werde ausgelacht, was zwar nicht stimmte, denn genau genommen wurde es gar nicht beachtet. Dass Nichtbeachtung aber viel schlimmer als Spott war, begriff die Mutter sowieso nicht.
»Der Thek ist keine zwei Jahre alt«, hatte sie festgestellt.
»Es ist ein Kinderthek!«
»Letztes Jahr hat er dir noch gefallen.«
Letztes Jahr war eine Ewigkeit her. Vor einem Jahr hatte der Vater noch zu Hause gewohnt. Wenn das Mädchen zu Bett gegangen war, hatte es die Zimmertür einen Spalt offen gelassen, um den Feierabendgeräuschen zu lauschen: dem monotonenSurren des Geschirrspülers, dem sanften Klirren von Rotweingläsern und dem leisen Gemurmel von Stimmen aus dem Wohnzimmer. Im Laufe des Jahres waren die Stimmen immer lauter geworden. Das Mädchen hatte nicht verstanden, worüber sich die Eltern stritten. Doch es hatte am Tonfall gemerkt, dass die Auseinandersetzungen eine Bedrohung darstellten.
Nun war es ruhig im Haus. Abends schloss das Mädchen die Zimmertür, um die Stille nicht hören zu müssen. Oder, schlimmer noch, das Weinen der Mutter, wenn sie in der Badewanne lag. Das Mädchen fragte sich, was die Mutter getan hatte, um den Vater zu vertreiben. Die Eltern erklärten, niemand sei schuld. Sie sprachen von Auseinanderleben und unterschiedlichen Prioritäten. Das Mädchen glaubte ihnen nicht. Manchmal machte es sich Vorwürfe. Vielleicht hätte es häufiger im Haushalt mithelfen oder besser auf Prüfungen lernen müssen. Wenn es gute Zeugnisse nach Hause brachte, strahlten die Eltern. Es war lange her, seit die Mutter glücklich ausgesehen hatte.
Der Vater hingegen schien zufrieden. Seine neue Wohnung war klein, aber das Mädchen hatte dort ein eigenes Zimmer. Die Möbel hatte es selbst aussuchen dürfen. Im weißen Metallbett mit kunstvoll geschwungenen Bögen fühlte es sich wie ein Hollywood-Star. Nur an den Lärm hatte es sich noch nicht gewöhnt. Aus der Bar an der Ecke ertönten bis in die frühen Morgenstunden Gelächter und Musik. Unter seinem Fenster johlten Betrunkene, mitten in der Nacht fuhren Autos vorbei.
Freitags ging das Mädchen direkt nach der Schule zum Vater. Den Samstag verbrachten sie zusammen, gegen Abend kehrte das Mädchen zur Mutter zurück. Bereits am Freitagmorgen musste es deshalb wissen, was es am Samstag anziehen wollte und ob es etwas benötigte, das beim Vater nicht vorhanden war, eine Schwimmbrille vielleicht, ein bestimmtes Buch, ein Spiel oder seine Regenjacke. Es hatte sich angewöhnt, den Wetterbericht im Internet zu lesen, bevor es packte, doch die Vorhersage traf nicht immer zu.
Wie um dies zu untermauern, erhellte ein Blitz den Himmel. Das Mädchen zuckte zusammen. Ängstlich blickte es aus dem Fenster. Die S-Bahn fuhr dem Schlieremerberg entlang. Die Bäume am Waldrand wirkten abweisend, die Dunkelheit hinter ihnen war komplett. Im Tal auf der gegenüberliegenden Seite hob sich das Spital Limmattal vom violetten Himmel ab. Auf der Krebsstation war die Großmutter gestorben, vor drei Jahren. Doch daran dachte das Mädchen jetzt nicht. Es zählte die Sekunden zwischen einem Blitzschlag und dem tiefen Grollen des Donners, das mit einiger Verzögerung folgte. Noch war das Gewitter weit weg. Vielleicht schaffe ich es rechtzeitig nach Hause, dachte das Mädchen.
Es war 18.02 Uhr, als die S-Bahn in Urdorf einfuhr.
Das Mädchen hob den Schulthek auf und schlüpfte in die Träger. Noch eine Haltestelle. Sein Atem ging flach, seine Beine fühlten sich seltsam kraftlos an. Es konnte sich nicht erklären, wovor es Angst hatte. Es fürchtete nicht, vom Blitz getroffen zu werden. Die Bedrohung, die es spürte, war diffus. Vielleicht war es die Angst vor dem Schrecken selbst, die es die Augen schließen ließ. Es mochte Unberechenbares nicht.
Noch zwei Minuten bis zur Haltestelle Urdorf-Weihermatt. Der Hausteil, in dem das Mädchen wohnte, seit die Familie vor fünf Jahren aus einer Genossenschaftswohnung dorthin umgezogen war, lag in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs. »Araberhäuschen« wurden die verschachtelten, hellen Flachdachbauten im Dorf genannt. Weiter oben befanden sich die Villen der Reichen. Früher hatten sich die Mutter und das Mädchen einen Spaß daraus gemacht, sich das Leben hinter den hohen Hecken vorzustellen. Sie hatten sich ausgemalt, wie die Hausherrin mit dem automatischen Rasenmäher plauderte, weil sie sich langweilte, oder die Zehennägel ihres Pudels lackierte, um sich zu beschäftigen. Dabei hatten sie hinter vorgehaltener Hand gekichert.
Ob die Mutter je wieder lachen würde? In den Sommerferien wollten sie zwei Wochen in den Bergen verbringen, wo die Tante ein Ferienhaus besaß. Das Mädchen wäre lieber ans Meer gefahren, doch dafür fehlte das Geld. Auch auf das Reitlager im Jura musste es dieses Jahr verzichten. Immerhin hatte der Vater versichert, dass sie im Winter zusammen Ski fahren gingen, nur sie beide. Vielleicht nähme er sogar Snowboard-Unterricht. Davon hatte das Mädchen der Mutter nichts erzählt. Sie würde nur den Kopf schütteln und behaupten, der Vater stecke in einer Midlife-Krise. Das Wort benutzte sie gerne. Es war die Erklärung für alles, was schieflief.
Ein weiterer Blitz erhellte den Himmel. Das Mädchen hielt sich am Griff neben der Tür fest. In der Ferne sah es bereits die Villen am Waldrand, ein einsamer Spaziergänger schritt mit eingezogenem Kopf zügig dem Bahngleis entlang. Um sich abzulenken, betrachtete das Mädchen den Bildschirm, auf dem die nächsten Haltestellen aufgeführt waren. Eine Lautsprecherstimme kündigte Urdorf-Weihermatt an. Als der Zug abbremste, stellte sich jemand hinter das Mädchen. Es war zu sehr mit sich beschäftigt, um den Mann aus dem Viererabteil zu erkennen.
Nur wenige Sekunden, bevor die S-Bahn hielt, fielen die ersten schweren Regentropfen. Das Mädchen schaute auf seine Ballerinas. Ob es sie ausziehen und barfuß nach Hause laufen sollte? Mit Schuhen wäre es schneller. Aber das Wasser könnte das weiche Leder beschädigen. Das Mädchen war hin- und hergerissen. Entscheidungen zu treffen, gehörte nicht zu seinen Stärken. Manchmal überlegte es so lange, dass es seine Chance verpasste. Wie damals, als es einen H&M-Gutschein zu Weihnachten bekommen hatte und sich nicht entschließen konnte, ob es den Pullover mit den Silberfäden oder die rosa Kapuzenjacke kaufen sollte. Am Schluss waren beide Kleidungsstücke nicht mehr in der richtigen Größe erhältlich gewesen.
Die Tür ging auf. Eine Windböe erfasste das feine Haar des Mädchens. Fast gleichzeitig krachte ein lauter Donnerschlag. Das Mädchen war nicht mehr fähig, Vor- und Nachteile abzuwägen. Ohne an seine Ballerinas zu denken, rannte es los. Es klammerte sich an die Schulterriemen seines Schultheks, als könnten diese ihm Halt geben. Nach wenigen Schritten klebte ihm das Top wie eine zweite Haut am Körper. Die Schuhe klatschten laut auf dem Asphalt, doch das Mädchen hörte das Geräusch nicht.
Genauso wenig, wie es die Schritte hinter sich hörte.
Es war 18.04 Uhr, als die S-Bahn aus dem Bahnhof Urdorf-Weihermatt fuhr und in der Ferne verschwand.
Pal Palushi legte das Urteil des Verwaltungsgerichts hin. Als Strafverteidiger war er es gewohnt, Niederlagen einzustecken. Seine Klienten waren größtenteils Männer, die aus Wut, Gier, Rache oder schlicht Dummheit Delikte begangen hatten, für die sie sich vor dem Gesetz zu verantworten hatten. Die Schuldfrage stand selten im Raum. Pals Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass die Verfahrensrechte seiner Klienten gewahrt wurden. Er fühlte sich nicht als moralische Instanz, sondern als Garant für die Rechtsstaatlichkeit. Deshalb verhielt er sich seinen Klienten gegenüber absolut loyal, egal, was sie zu ihm geführt hatte. Trotzdem, oder gerade deswegen, ließ er keine Nähe zu. Er fürchtete, den Blick fürs Wesentliche zu verlieren, wenn es ihm nicht gelang, Distanz zu wahren. Er brauchte einen klaren Kopf, um Informationen zu analysieren und strategische Überlegungen anzustellen. Aus diesem Grund irritierte ihn die Enttäuschung, die er beim Lesen des Urteils spürte.
Er stand auf, um einen Ordner im USM-Regal gegenüber seinem Schreibtisch zurechtzurücken. Wenn ihn seine Gefühle verwirrten, verspürte er unweigerlich den Drang, in seiner Umgebung Ordnung zu schaffen. Er hatte schon ganze Nächte damit verbracht, sein Ablagesystem neu zu organisieren, weil er Schuldgefühle empfunden hatte, die er sich nicht erklären konnte, oder weil ihm ein Fall zu nahe gegangen war. Wie jetzt.
Eric Laupper war Anfang der Neunzigerjahre vom Bezirksgericht Zürich wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt worden. In der Hoffnung, eine mildere Strafe zu erhalten, zog er den Fall weiter ans Obergericht. Inzwischen hatte aber der aufsehenerregende Mord eines Rückfalltäters die Öffentlichkeit in Aufruhr versetzt. Die Bevölkerung verlangte mehr Sicherheit. Das Obergericht sprach gegen Laupper eine Verwahrung aus. Seither waren über zwanzig Jahre vergangen. Noch immer saß Laupper in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies. Dies, obwohl er über längere Zeit im offenen Vollzug gelebt hatte und seine bedingte Entlassung bereits eingeleitet worden war. Dass die Behörden einen Rückzieher gemacht hatten, lag nicht an Laupper. 2006 war ein Gefangener beschuldigt worden, im Hafturlaub eine Prostituierte attackiert zu haben. Anfänglich war von versuchter Vergewaltigung die Rede gewesen, nach jahrelangen Untersuchungen war es schließlich zu einer Verurteilung wegen Freiheitsberaubung gekommen. Doch der Schaden war angerichtet. Von einem Tag auf den anderen wurden unbegleitete Urlaube für Verwahrte gestrichen. Man versetzte Laupper zurück in den geschlossenen Vollzug und verweigerte ihm jegliche Lockerungen.
Pal war kein Spezialist für Strafvollzugsrecht. Ein Mitarbeiter der Kanzlei, der krankheitshalber ausfiel, hatte Eric Laupper vertreten. Pal hatte den Gefangenen bisher nur ein einziges Mal getroffen, kurz nachdem er das Mandat übernommen hatte. Er war in die Pöschwies gefahren, um sich mit einem Klienten zu besprechen, und hatte die Gelegenheit ergriffen, sich Laupper vorzustellen. Das Treffen hätte nicht mehr als ein Höflichkeitsbesuch werden sollen. Pal wusste, wie belastend Freiheitsstrafen für viele seiner Klienten waren. Sie fühlten sich ohnmächtig, einer Institution ausgeliefert, die ungleich stärker war als sie. Ein neuer Anwalt war eine zusätzliche Belastung, die mit einem einfachen Besuch verringert werden konnte.
Pal setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und nahm ein Fläschchen Evian aus einer Schublade. Normalerweise versuchte er, tagsüber wenig zu trinken. Je mehr Flüssigkeit er zu sich nahm, desto mehr schwitzte er. Obwohl er am Mittag immer das Hemd wechselte, rochen seine Kleider am Abend, als habe er sie mehrere Tage getragen. Da er heute keine weiteren Termine hatte, leerte er die halbe Flasche, anschließend schloss er die Augen und dachte an seinen Gefängnisbesuch zurück.
Viele Klienten, die Pal während seiner bald acht Jahre als Strafverteidiger betreut hatte, glaubten, ungerecht behandelt zu werden. Sie behaupteten, aus Not mit Drogen gehandelt zu haben oder aus Leichtsinn zu schnell gefahren zu sein. Ihre Frauen schlugen sie, weil diese sie provoziert hatten, die Töchter, um die Familienehre zu retten. Pal stellte sich auf die Klagen ein, er wusste, dass es aussichtslos war, diesen Klienten klarzumachen, dass nicht sie die Opfer waren, sondern die Menschen, die sie verletzt hatten.
Vor dem Besuch in der Pöschwies hatte Pal die Akte von Eric Laupper überflogen. Als er die zahlreichen Rekurse sah, die der Gefangene eingereicht hatte, erhielt Pal den Eindruck eines Mannes, der die Verantwortung für sein Handeln nicht übernehmen wollte. Pal nahm sich vor, eine Viertelstunde zuzuhören und sich dann mit dem Versprechen zu verabschieden, sich zu melden, sobald das Urteil des Verwaltungsgerichts vorliege. Aus der Viertelstunde war eine halbe geworden. Als Pal das Anwaltszimmer verließ, entschloss er sich, mit seinem kranken Berufskollegen zu reden. Lauppers Schilderungen stimmten ihn nachdenklich. Wenn sie den Tatsachen entsprachen, würde Pal sich vertieft mit dem Strafvollzugsrecht auseinandersetzen müssen.
Es klopfte an der Tür, und Lisa Stocker trat ein. Die Sekretärin arbeitete seit vier Jahren im Anwaltsbüro, sie unterstützte sowohl Pal als auch die anderen beiden Anwälte, die sich die Räumlichkeiten an der Löwenstrasse teilten. Da sie nie ohne Grund störte, hob Pal fragend die Augenbrauen.
»Frau Herzog ist hier«, erklärte Lisa leise. »Weißt du, wo Jasmin steckt?«
Pal sah auf die Uhr. Ihm kam es vor, als sei er gerade erst von der Mittagspause zurückgekehrt, doch es war bereits 15 Uhr. Jasmin hätte längst hier sein sollen. Beunruhigt blickte er auf sein Handy. Keine Nachricht. Als er Jasmins Nummer wählte, verließ Lisa diskret den Raum. Die Combox schaltete sich ein, und Pal schloss kurz die Augen. Er versuchte, sich einzureden, dass Jasmin nur vergessen hatte, das Handy zu laden, in seinem Inneren wusste er aber, dass es nicht stimmte.
Alles war so gut gegangen. Die Ereignisse, die Jasmin Meyers Karriere bei der Polizei beendet und sie für immer gezeichnet hatten, lagen zweieinhalb Jahre zurück. Das erste Jahr hatte sie schwer traumatisiert in der Wohnung ihrer Mutter verbracht. Nur mit Mühe war es Pal gelungen, den Kontakt zu ihr aufrechtzuerhalten. Doch seine Geduld hatte sich gelohnt. Jasmin hatte den Schritt zurück ins Leben gewagt. Einen Ermittlungsauftrag, den Pal ihr zugehalten hatte, hatte sie wie eine Rettungsleine ergriffen. Sie hatte dafür gekämpft, in die Normalität zurückzukehren, und es hatte tatsächlich ausgesehen, als hätte sie es geschafft. Sie fand eine kleine Wohnung in Zürich-Altstetten, wenig später trat sie eine Stelle bei einer privaten Sicherheitsfirma an.
Niemand hatte den Absturz kommen sehen. Auslöser war ein Streit gewesen. Jasmin hatte einem Rowdy den Zugang zu einem Club verwehrt. Als der Mann sie beschimpfte, schlug sie zu. Mit ihren 1.65 Metern und 52 Kilogramm war sie dem Bodybuilder körperlich weit unterlegen gewesen. Was ihr an Masse fehlte, kompensierte sie aber mit Geschwindigkeit, Technik und vor allem Wut. In diesem Augenblick brach der Hass aus ihr heraus, den sie in sich trug, seit sie Opfer eines Verbrechens geworden war. Er galt hauptsächlich ihr selbst. Der Rowdy diente nur als Ventil. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Dieser Umstand hatte ihn fast das Augenlicht gekostet.
Jasmin war auf der Stelle entlassen und wegen Körperverletzung angezeigt worden. Pal gelang es, eine außergerichtliche Einigung zu erzielen, so dass sie mit einer bedingten Geldstrafe davonkam. Weit schlimmer waren aber die Auswirkungen auf ihr seelisches Gleichgewicht. Der Vorfall warf sie wieder zurück. Sie schloss sich in ihrer Wohnung ein, schob den selbstmontierten Riegel vor und starrte aus dem Fenster hinaus in eine Welt, der sie nicht mehr angehörte.
Und dann kam der Anruf von Milena Herzog. Sie hatte die Homepage entdeckt, die Pal hatte erstellen lassen, als Jasmin mit dem Gedanken spielte, sich als Ermittlerin selbständig zu machen. Da Jasmins Privatwohnung als Geschäftsadresse ungeeignet war, hatte Pal seine Kollegen gebeten, sie in der Kanzlei Kunden empfangen zu lassen. Bisher war erst eine einzige Anfrage eingegangen. Ein Handwerker wollte seine untreue Ehefrau beschatten lassen, verlor das Interesse jedoch, als ihm bewusst wurde, wie teuer ihn der Auftrag zu stehen käme. Jasmin hatte die Idee einer eigenen Detektei schon fast aufgegeben, als sich Milena Herzog meldete. Die Klientin wollte am Telefon nicht sagen, worum es ging, sicherheitshalber wies Jasmin sie auf ihren Stundenansatz hin. Milena Herzog bat um einen Termin.
Nun war sie hier. Doch von Jasmin fehlte jede Spur. Mit einem Seufzer stand Pal auf. Er nahm sein Armani-Jackett vom Bügel und schlüpfte hinein. Vor dem Spiegel zog er seine Krawatte gerade, fuhr sich mit dem Kamm durchs leicht gewellte, dunkle Haar und strich seine Hose glatt, bevor er sein Büro verließ und zum Empfang schritt.
Milena Herzog war eine Frau mit ebenmäßigen Gesichtszügen und direktem Blick. Pal schätzte sie auf Mitte vierzig, möglicherweise jünger. Die geröteten Augen zeugten von wenig Schlaf, doch ihr Händedruck war erstaunlich kräftig. Pal stellte sich vor.
»Frau Meyer ist leider in einer dringenden Angelegenheit aufgehalten worden«, erklärte er mit Bedauern in der Stimme. »Es tut ihr furchtbar leid. Sie wird in einer halben Stunde hier sein. Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
Milena Herzog zögerte.
»Eine Tasse Kaffee vielleicht? Ein Mineralwasser?«, fuhr Pal fort. »Frau Meyer bedauert, dass sie Ihnen Umstände macht. Sie ist die Zuverlässigkeit in Person.«
»Ich muss meine Tochter von der Schule abholen. So lange kann ich nicht warten.«
»Möchten Sie einen neuen Termin vereinbaren?«
Milena Herzog zögerte.
»Oder wäre es wegen Ihrer familiären Verpflichtungen vielleicht einfacher, die Besprechung bei Ihnen zu Hause abzuhalten? Ich bin sicher, Frau Meyer hätte nichts dagegen.«
»Warum nicht? Ja, das würde gehen.« Die Erleichterung war Milena als Herausforderungen, nicht als Hindernisse. Als er nun das leichte Kopfschütteln seiner Sekretärin sah, fragte er sich erstmals, ob Valentin womöglich recht hatte. War das Fass voll? Ohne ein weiteres Wort kehrte er in sein Büro zurück, schloss die Tür und holte seine Motorradkleidung aus dem Schrank. Nachdem er sich umgezogen hatte, teilte er Lisa mit, dass er in einer halben Stunde zurück sei.
Der Juninachmittag war so warm, dass sich der Asphalt unter den Rädern seiner Ducati weich anfühlte. Ideales Wetter für eine Passfahrt, dachte Pal, an einer Baustelle vorbeizirkelnd. Er hatte mit Jasmin erst eine einzige Ausfahrt gemacht dieses Jahr. Mit Unbehagen dachte er daran zurück. Jasmins aggressiver Fahrstil hatte ihm mehrmals den Puls in die Höhe gejagt. Er war kein übervorsichtiger Fahrer, doch riskante Manöver vermied er auf der Straße – anders als bei den Supermoto-Rennen, die er auf dafür vorgesehenen Pisten fuhr. Nicht so Jasmin. Sie forderte das Schicksal geradezu heraus. Ihre Waghalsigkeit hatte ihn angezogen, als sie sich kennengelernt hatten, doch es gab eine feine Grenze zwischen Mut und Leichtsinn. Jasmin hatte sie überschritten.
Pal bremste vor einer weiteren Baustelle. Gerne hätte er das Gas aufgedreht, um sich von der Kraft des Superbikes berauschen zu lassen, in der Stadt kam er aber nur langsam voran, was seinen Unmut verstärkte. Er musste sich noch auf eine Einvernahme vorbereiten, zwei Beschwerden verfassen sowie umfangreiche Unterlagen eines albanischen Bauunternehmens studieren. Vor allem Letzteres belastete ihn. Am nächsten Morgen hatte er eine Besprechung mit einem Klienten, den er in einem Inkassoverfahren vertrat. Um ihn kompetent zu beraten, musste er die dubiosen Geschäfte des Bauunternehmens nachvollziehen können. Pal hatte sich zwar auf Strafrecht spezialisiert, doch er hatte ein Nachdiplomstudium in internationalem Wirtschaftsrecht absolviert. Als gebürtiger Kosovare wurde er immer wieder bei Fragen zu Wirtschaftsbeziehungen mit dem Balkan beigezogen. Diese privatrechtlichen Mandate ermöglichten ihm einen Lebensstil, von dem er als Sohn eines Gastarbeiters nie zu träumen gewagt hätte. Sie hatten aber auch ihren Preis, denn wer einem Anwalt so viel zahlte, erwartete die entsprechende Leistung.
Auf der Badenerstraße waren viele Velofahrer unterwegs. Pal behielt sie im Auge, besonders zwischen dem Bezirksgericht und der Kalkbreite, wo die Schlaglöcher sie zu Ausweichmanövern zwangen. Dass die Stadt die Löcher nicht ausbesserte, passte nicht zu Pals Bild von Zürich. Er fragte sich, ob die Arbeitskräfte fehlten oder ob es an den nötigen Finanzen mangelte. Auf Ordnung und Sauberkeit legte man in Zürich Wert. Genau deshalb gefiel es Pal hier.
Zürich-Altstetten lag an der Grenze zu Schlieren. Da der Wohnraum in der Stadt begehrt war, waren auch hier die Mieten gestiegen. Für ihre Zweizimmerwohnung bezahlte Jasmin 1300 Franken pro Monat, obwohl sie an einer stark befahrenen Straße lag. Pal hatte ihr angeboten, bei ihm einzuziehen, doch sie hatte abgelehnt. Sie brauche einen Ort, wohin sie sich zurückziehen könne. Als er nun vor der verschmutzten Häuserzeile hielt, fragte er sich, ob er ihren erneuten Absturz hätte verhindern können, wenn er hartnäckiger gewesen wäre. Er arbeitete oft bis spät abends, Verabredungen einzuhalten, war schwierig. Manchmal sahen sie sich mehrere Tage nicht.
Jasmins Monster stand an der Hauswand. Sie war also da. Pal holte den Schlüssel hervor, den sie ihm gegeben hatte, und schloss die Haustür auf. Der Geruch von Waschmittel schlug ihm entgegen. Er stieg die Treppe in den vierten Stock hoch, einen Lift gab es nicht. Vor Jasmins Wohnungstür blieb er stehen. Er hörte keine Geräusche. Widerwillen kam in ihm auf. Ein Teil von ihm wollte nicht wissen, was hinter der Tür lag, als stelle sie eine Schwelle dar, die, einmal überschritten, keine Rückkehr erlaubte. Pal schüttelte über sich den Kopf.
Er klingelte. Nichts geschah. Er wartete einige Sekunden, dann steckte er den Schlüssel ins Schloss. Er stieß auf Widerstand. Jasmin war also in der Wohnung. Erneut klingelte er, diesmal länger. Als sie immer noch nicht öffnete, hämmerte er mit der Faust gegen die Tür.
»Jasmin! Mach auf, ich bins, Pal.«
Er stellte sich so hin, dass sie ihn durch den Spion erkennen konnte. Endlich bewegte sich etwas. Er vernahm Schritte, dann das Klicken des Riegels. Die Tür wurde aufgezogen, und abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Die Wohnung lag im Dunkeln. Zögernd trat er ein. Sein Fuß stieß gegen etwas, das mit einem scheppernden Geräusch davonrollte. Als sich seine Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er, dass es sich um eine leere Coladose handelte.
»Jasmin?«
»Was willst du?« Ihre Stimme kam aus der Ecke, wo ihre Matratze lag.
Dass sie auf dem Boden schlief, störte Pal. Er hatte ihr ein Bett kaufen wollen, doch ihr Stolz ließ es nicht zu, Geld von ihm anzunehmen. Langsam bewegte er sich auf die Stimme zu. Er trat auf etwas Weiches, vermutlich ein Kleidungsstück, als er einen Bogen darum machen wollte, prallte seine Ferse gegen eine Hantel. Der Schmerz schoss ihm das Bein hoch. Leise fluchend tastete er nach der Kurbel, die neben dem Fenster befestigt war, und öffnete den Rollladen. Licht flutete ins Zimmer. Jetzt erkannte er Jasmin, die auf der Matratze saß und sich die Augen rieb. Neben dem Bett stand ein Teller mit Essensresten zwischen weiteren leeren Coladosen. Pal riss die Fenster auf.
»Was soll der Scheiß?«, stieß Jasmin aus.
Pal konnte sich nur noch mit Mühe beherrschen. »Weißt du, wie spät es ist?«
»Es ist mir egal«, schnauzte sie. »Was fällt dir ein, einfach hereinzuplatzen?«
Pal holte Luft, da fiel sein Blick auf Jasmins Handgelenke. Sie waren mit Mullbinden verbunden. Ihm wurde kalt. Er hatte den Gedanken stets verdrängt, Jasmin könnte sich das Leben nehmen, seine Furcht übertrieben gefunden und deshalb unterdrückt. Jasmin war stark. Eine Kämpfernatur. Suizid passte nicht zu ihr, so einfach würde sie sich nicht ergeben, hatte er sich eingeredet. Doch tief in seinem Innern hatte die Angst geschlummert. Er hatte befürchtet, nicht bei Jasmin zu sein, wenn ihr Lebenswille der Resignation Platz machte. Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus.
Er löste sich aus seiner Starre und kniete sich vor sie hin, unsicher, ob er sie in die Arme schließen durfte. Das schulterlange Haar fiel ihr ins Gesicht, doch es verdeckte ihre Augenringe nicht. Früher hatten Kollegen sie ihrer schimmernden Rehaugen wegen »Bambi« genannt. Der Blick, dem Pal jetzt begegnete, war matt und ausdruckslos. Er stellte sich vor, wie sie alleine auf dem schmutzigen Laken lag, eine Klinge in der Hand. Hatte sie gezögert, als sie die ersten Blutstropfen sah? Oder hatte sie die Schnitte entschlossen ausgeführt? Warum hatte sie ihre Meinung geändert? Dass der Zufall sie gerettet hatte, glaubte Pal nicht. Als ehemalige Kriminalpolizistin wusste Jasmin genau, wie sie ihrem Leben ein Ende setzen musste.
»Starr mich nicht so an!« Jasmin rieb sich die Augen. »Wie spät ist es überhaupt? Warum bist du nicht im Büro?«
Pals Blick folgte ihren bandagierten Handgelenken.
»Verdammt, Pal, was ist …« Plötzlich hob sie die Hände. »Deswegen! Du glaubst, ich hätte mir die Pulsadern aufgeschnitten.« Sie lachte ohne Humor.
»Jasmin, ich möchte dir helfen, bitte. Ich habe gelesen, dass es in Embrach eine neue Spezialstation für Traumapatienten gibt, vielleicht …«
»Lass mich in Ruhe! Such dir jemand anders, den du retten kannst.«
Er legte ihr die Hand auf den Arm.
Sie schüttelte sie ab. »Lass mich, habe ich gesagt! Ich will schlafen! Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.«
»Warst du bei einem Arzt? Oder hast du die Wunden selbst verbunden?«
Jasmin seufzte verärgert. Sie riss ein Stück Klebeband ab und begann, den Verband am linken Handgelenk aufzurollen. Darunter kam eine Gaze zum Vorschein. Als Jasmin sie löste, sah Pal ein dunkles Band, das sich ihren Arm hinaufwand und in einen Schlangenkopf mündete. Pal starrte auf die Giftzähne, die aus dem aufgerissenen Maul ragten.
»Was ist?«, fragte Jasmin gereizt. »Hast du noch nie ein Tattoo gesehen? Jetzt lass mich endlich in Frieden!«
»Du hast dich tätowieren lassen?«, fragte Pal ungläubig.
Als sich Jasmin von ihm abwandte, verlor er die Fassung. Er fühlte sich wie eine Marionette. Jasmin löste Gefühle in ihm aus, über die er keine Kontrolle hatte. Sie zog ohne erkennbares Muster an den Fäden, die sie in der Hand hielt, und ließ ihn tanzen. Valentin hatte recht. Irgendwann war genug.
»Schau mich an, wenn ich mit dir rede!« Er packte sie an der Schulter.
Jasmin sprang auf. »Fass mich nicht an!«
Pal stand ebenfalls auf. »Ich habe alles stehen und liegen lassen, weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe! Glaubst du, ich hätte nichts Wichtigeres zu tun, als Babysitter zu spielen? Und mich dafür auch noch wie Dreck behandeln zu lassen?«
»Ich habe dich nicht darum gebeten! Du bist ein verdammter Kontrollfreak, das ist dein Problem!«
»Nein, du bist mein Problem!«
Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, bereute er sie. Genau deshalb bemühte er sich stets, sich zu beherrschen. Einmal gesagt, entwickelten Worte eine Eigendynamik und ließen sich nicht mehr zurücknehmen. Jasmin trat einen Schritt zurück, die Arme vor der Brust verschränkend. Pal fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. Wenn er ehrlich war, galt seine Wut sich selbst. Er hatte die Situation falsch eingeschätzt, dass er überreagiert hatte, war ihm peinlich.
Die grünen Augen der Schlange mit ihren Spaltpupillen fixierten ihn. Das Reptil war hässlich. Was hatte Jasmin dazu bewogen, ihre Handgelenke zu verunstalten? Kaum hatte er sich die Frage gestellt, wusste Pal die Antwort: die Narben. Drei Monate war Jasmin an ein Bett gefesselt gewesen. Die Kabelbinder hatten leuchtend rote Striemen hinterlassen. Seither trug Jasmin fast ausschließlich Kleidungsstücke mit langen Ärmeln. Dass sie sich ihrem Schicksal nicht einfach ergeben, sondern eine Lösung gesucht hatte, hätte Pal freuen müssen, doch er empfand nur Bedauern. Er fragte sich, was unter der zweiten Mullbinde steckte.
Jasmin zeigte zur Tür. »Da geht es raus. Du brauchst nicht wiederzukommen. So einfach kannst du dein Problem lösen.«
»Jasmin …«
»Verschwinde!«
Pal versuchte, die Situation mit einer Halbwahrheit zu retten. »Bitte, Jasmin, hör mir zu. Es tut mir leid! Ich bin schlecht gelaunt. Das Verwaltungsgericht hat den Rekurs eines Klienten abgelehnt. Der Fall beschäftigt mich.«
»Wie schrecklich!«, stieß Jasmin mit gespieltem Entsetzen aus. »Eine berufliche Niederlage!«
»Darum geht es mir nicht«, erklärte Pal beherrscht. »Sondern um den Klienten.«
Jasmin schnaubte. »Blödsinn! Bei der Arbeit lässt du keine Gefühle zu.«
»Ich bin keine Maschine, auch wenn du das manchmal zu glauben scheinst. Dieser Fall lässt mich nicht kalt. Aber ich bin aus einem anderen Grund hier. Du bist nicht zu deinem Termin erschienen, und ich wollte mich vergewissern, dass …«
»Termin?« Plötzlich riss Jasmin die Augen auf. »Milena Herzog! Scheiße!« Hektisch begann sie, Kleider aufzusammeln.
»Es ist alles in Ordnung«, beruhigte Pal sie. Er berichtete vom Treffen. »Sie erwartet dich um 17 Uhr.«
Jasmin ließ sich wieder auf die Matratze fallen. »Scheiße, scheiße, scheiße!«
Als sich Pal neben sie setzte, wich sie nicht zurück.
»Verdammt, Pal, ich …« Sie schüttelte den Kopf.
»Schon gut, das kann vorkommen.«
Noch immer schüttelte sie den Kopf. »Endlich ein Auftrag in Sicht, und ich vermassle es.«
»Du hast nichts vermasselt. Lass dir eine gute Ausrede einfallen.«
»Pal, es tut mir leid.« Sie rieb sich die Schläfen. »Was ich gesagt habe, habe ich nicht so gemeint.«
Sie schwiegen. Durchs offene Fenster drangen die Geräusche des Sommers: Vogelgezwitscher, Gartenstühle, die auf einem Sitzplatz zurechtgerückt wurden, ein Ball, der gegen eine Hauswand prallte, das Klappern eines Putzeimers. In der Ferne erstarb der Motor eines Rasenmähers.
Jasmin sprach als Erste. »Ich weiß, dass ich für dich ein Problem bin.«
Pal lockerte seine Krawatte. »Nein, das bist du nicht. Manchmal«, er suchte nach milden Worten, »fühle ich mich einfach hilflos.«
Sie nahm seine Hand. »Ich muss mir selber helfen.«
Pal strich ihr über die Finger. »Du weißt, ich bin immer für dich da.«
»Erzähl mir von deinem Klienten«, wechselte sie das Thema. »Warum geht er dir unter die Haut?«
Pal zögerte. Er unterstand dem Anwaltsgeheimnis, er war nicht befugt, Informationen über seine Klienten preiszugeben. Er hob eine Coladose auf, um festzustellen, ob sich darin noch Flüssigkeit befand.
»Ich hol dir eine frische.« Jasmin stand auf und verschwand in der Küche. Kurz darauf kam sie zurück und reichte ihm eine eiskalte Cola.
»Danke.«
»Was wird deinem Klienten vorgeworfen?«
»Der Sachverhalt ist unbestritten.« Es zischte, als Pal die Dose öffnete. »Mein Klient hat seine Tat vor langer Zeit gestanden. Und seine Strafe abgesessen. Doch er befindet sich immer noch im Gefängnis.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Er wurde verwahrt.«
Jasmin richtete sich auf. »Dann ist er zu Recht im Knast! Genau dazu ist eine Verwahrung schließlich da.«
»Ich glaube eher, er ist ein Opfer des Systems«, widersprach Pal. »Beziehungsweise der Gesellschaft.«
»Der Verbrecher als Opfer?« Jasmins Augen blitzten vor Wut. »Verwechselst du da nicht etwas? Was hat er getan? Weswegen wurde er verurteilt?«
Pal hob beschwichtigend die Hände. »Eric Laupper hat ein Verbrechen begangen, das versuche ich nicht zu beschönigen. Doch ich bezweifle, dass er noch ein Risiko für die Gesellschaft darstellt. Dennoch werden ihm keine Vollzugslockerungen gewährt. Sogar zu einer Spitaluntersuchung wurde er von einem Aufseher begleitet.«
»Das ist auch richtig so!«
»Jahrelang hat er in der Gemeinde Regensdorf Abfall eingesammelt. An Fluchtgelegenheiten hat es ihm nicht gemangelt. Trotzdem hat er nicht einen einzigen Regelverstoß begangen, weder innerhalb noch außerhalb der Anstalt.«
»Das muss gar nichts heißen, das weißt du genau. Es kann sogar ein schlechtes Zeichen sein – Psychopathen sind bekannt dafür, dass sie sich extrem gut anpassen können!«
»Eric Laupper hat sein halbes Leben im Gefängnis verbracht. Er hat seine Strafe längst verbüßt.«
»Daran hätte er denken sollen, bevor er eine Straftat beging! Selber schuld.«
»Für seine Tat ist er selbst verantwortlich, ja. Dafür, dass er immer noch sitzt, aber nicht. Das Problem ist, dass niemand Risiken eingehen will. Es bläst ein rauher Wind, nicht nur in der Justiz, sondern im Vollzug generell. Das Bedürfnis nach Sicherheit hat überhandgenommen. Es herrscht keine Verhältnismäßigkeit mehr.«
»Es kann nie genug Sicherheit geben!«
»Wenn die Gerechtigkeit der Sicherheit zuliebe geopfert wird, geht das zu weit. Vor allem, weil es keinen Grund dafür gibt. Noch nie waren wir so wenigen Gefahren ausgesetzt. Doch jede einzelne Panne wird von den Medien hochgespielt. Ein Justizskandal«, Pal zeichnete Anführungs- und Schlusszeichen in die Luft, »verkauft sich gut. Dass kaum etwas schiefläuft, interessiert niemanden. Auch nicht, dass diese seltenen Pannen in keinem Verhältnis zur wirklichen Bedrohung stehen. Der Mensch verhält sich paradox. Im Alltag fürchten wir uns vor dem wenig Wahrscheinlichen, die wahren Gefahren aber übersehen wir.«
»Es reicht, wenn einmal etwas schiefläuft! Besteht auch nur die geringste Gefahr, dass ein Straftäter rückfällig wird, gehört er hinter Gitter!«
Pal schüttelte den Kopf. »Es gibt keine absolute Sicherheit, verstehst du das nicht? Ein Restrisiko bleibt immer, das gehört zum Leben. Wenn ich einer jungen Frau sage, dass ihr 19-jähriger Freund mit einer Wahrscheinlichkeit von 14 Prozent im nächsten Jahr eine sexuelle Grenzüberschreitung begeht, wird sie sich ziemlich sicher von ihm trennen. Dabei entspricht der Freund genau dem schweizerischen Durchschnitt. Soll der Staat ihn deswegen vorsorglich einsperren? Damit würden wir die Rechtssicherheit opfern, eines der wichtigsten Güter eines demokratischen Staates! Wohin führt es, wenn wir beginnen, Menschen aus der Gesellschaft zu eliminieren, weil sie eine Tat begehen könnten?« Er betonte das letzte Wort. »Das ist kein Rechtsstaat mehr. Und genau das ist es, was mich an diesem Fall stört. Mein Klient wird dafür missbraucht, dem Volk eine Sicherheit vorzutäuschen, die es nicht gibt.«
»Wie würdest du reagieren, wenn du betroffen wärst?«, fragte Jasmin mit harter Stimme. »Was, wenn deine Schwester oder deine Nichte von einem entlassenen Häftling ausgeraubt, verletzt oder, noch schlimmer, vergewaltigt oder getötet würde? Wie wichtig wäre dir deine Rechtssicherheit dann?«
»Jedes Opfer ist eines zu viel«, stimmte Pal zu. »Doch aus juristischer Sicht ist ein sachlich nicht gerechtfertigter Freiheitsentzug unhaltbar.«
»Aus meiner Sicht ist eine Gewalttat unhaltbar!«
»Und deswegen nehmen wir in Kauf, dass Menschen grundlos weggeschlossen bleiben? Man schätzt, dass 70 bis 80 Prozent der Straftäter, die als rückfallgefährdet gelten, sich in Freiheit bewähren würden. Aber wie sollen sie das beweisen? Sie tauchen in keiner Statistik auf. Jeder Rückfalltäter hingegen wird skandalisiert.« Pal beugte sich vor. »Wird ein harmloser Mensch wegen eines Fehlentscheids verwahrt, lässt sich das nie beweisen. Rückfallraten werden maßlos überschätzt. Sie ändern sich zudem mit der Kriminalpolitik.«
»Schieb dir deine Statistiken sonst wohin!«, fauchte Jasmin. »Gott sei Dank gibt es Menschen, die auch an die Opfer denken und nicht nur an Zahlen oder Paragraphen!«
Milena Herzog wohnte in einer familienfreundlichen Siedlung am Rande Urdorfs. Von Zürich-Altstetten dauerte die Fahrt nur eine Viertelstunde. Viel zu rasch kam Jasmin beim Besucherparkplatz an, wo ein Fußweg zu den versetzten, aneinandergebauten Häusern führte. Gerne wäre sie noch weitergefahren. Wenn sie auf ihrer Monster über die Straßen brauste, fielen alle Sorgen von ihr ab. Ihr Puls passte sich dem Hämmern des Desmo-Herzens an, manchmal jagte sie den Motor bis in die obersten Tourenbereiche, nur um das vertraute Ballern zu hören. Doch ein Umweg hatte nicht drin gelegen. Auf keinen Fall wollte sie sich verspäten, nicht nach dem verpassten Termin am Nachmittag.
Vor einem Zweifamilienhaus, das sich äußerlich kaum von den anderen der Siedlung unterschied, blieb sie stehen. Auf dem winzigen Rasen lag ein Paar Inlineskates, über einem Gartenstuhl trocknete ein Badetuch. Die Blumen unterhalb des Fensters benötigten dringend Wasser; sie ließen die Köpfe hängen, als hätten sie die Hoffnung längst aufgegeben. Jasmin fühlte sich ihnen seltsam nahe. Sie schob das Gefühl beiseite und stieg vom Motorrad. Als sie den Reißverschluss ihrer Sheltexjacke öffnete, entdeckte sie auf dem Deckel der Lichtmaschine eine feine Ölspur. Besorgt ging sie in die Knie. Ob er undicht war? Ein Limadeckel kostete rund 1000 Franken. Das konnte sie sich schlicht nicht leisten. Erst kürzlich hatte sie die Zahnriemen erneuert und die Dichtungen der Frontgabel ausgetauscht.
Mit einem Schlag waren die Ängste zurück, die sie seit Monaten quälten. Sie fürchtete, dem Leben nicht mehr gewachsen zu sein. Selbst Alltägliches wie der Unterhalt ihrer Ducati, einfache Hausarbeiten oder Einkäufe stellten fast unüberwindbare Hindernisse dar. Sie begriff nicht, was mit ihr los war. Ein Jahr lang war alles so gut gelaufen. Sie hatte den »Metzger«, wie ihr Peiniger von den Medien genannt wurde, zwar nicht vergessen, doch die Erinnerungen an die Gefangenschaft waren verblasst. Noch immer war sie nachts schweißgebadet aufgewacht, doch es war ihr gelungen, Traum und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Seit einigen Monaten war die Grenze fließend. Manchmal überkam sie ein Gefühl von Unwirklichkeit. In solchen Momenten betrachtete sie ihre Hände, versuchte, die Finger zu bewegen, und fragte sich, ob sie zu ihr gehörten. Ihre Glieder waren ihr fremd, sie vermochte sie nicht zu steuern. Ihr Bewusstsein befand sich außerhalb ihres Körpers, an einem Ort, an dem keine Gefahren lauerten und nichts von ihr erwartet wurde. Am Anfang hatte dieser Zustand nur einige Minuten gedauert, inzwischen vergingen Stunden, bis sie sich wieder als Ganzes fühlte. Früher hatte ihr der Sport geholfen, sich zu spüren. In letzter Zeit brachte sie dafür kaum die nötige Energie auf. Sie spulte ihr Pflichtprogramm ab, doch ihr Körper hatte die Endorphinausschüttung eingestellt.
Sie zwang sich, sich auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Ihre mentale Stärke hatte sie in einer lebensgefährlichen Situation gerettet. Da würde sie es wohl schaffen, sich auf das Gespräch mit Milena Herzog zu fokussieren. Sie ignorierte die nagende Unsicherheit sowie den Drang umzukehren. Sie brauchte diesen Auftrag. Entschlossen zog sie die Ärmel ihrer Bluse über die Verbände an den Handgelenken und marschierte auf den Eingang zu.
Die Tür wurde aufgezogen, bevor sie klingeln konnte. Die plötzliche Bewegung ließ Jasmin zusammenzucken. Ihr gegenüber stand eine Frau, die seltsam vertraut wirkte. Es dauerte einen Augenblick, bis Jasmin begriff, warum. Milena Herzog erinnerte sie an ihr Spiegelbild. Oberflächlich betrachtet, bestand zwischen ihnen bis auf die braunen Haare keine Ähnlichkeit, doch der angespannte Zug um den Mund, die leicht hochgezogenen Schultern und der etwas zu schnelle Atem kamen Jasmin vertraut vor. Als sie Milena Herzog in die Augen schaute, erkannte sie darin Angst.
Ihre Stimme klang überraschend sicher. »Frau Meyer, danke, dass Sie extra hergefahren sind. Bitte, kommen Sie herein.«
»Ich muss mich vielmals entschuldigen«, begann Jasmin.
Milena Herzog winkte ab. »Zwischenfälle passieren. Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
»Ein Glas Wasser, bitte.«
Milena Herzog führte Jasmin ins Wohnzimmer und bat sie, am Esstisch Platz zu nehmen. Es herrschte ein angenehmes Chaos im Raum. Auf dem Tisch lagen Stifte, eine Schere und zerschnittene Pferdemagazine. Ein Regal war überfüllt mit Büchern und Alben, an den Wänden hingen Plakate von Ausstellungen und eingerahmte Kinderzeichnungen. Vor dem Fernseher befand sich ein Sitzsack mit losen Fäden, daneben eine aufgerissene Getreideriegel-Verpackung.
»Ich mache mir einen Espresso«, rief Milena Herzog aus der Küche. »Sind Sie sicher, dass Sie keinen möchten?«
Der Koffeinschub klang verlockend. »Doch, gerne.«
Kurz darauf kam Milena Herzog mit einem Tablett zurück. Sie stellte zwei Tassen Espresso, zwei Gläser und einen Krug Wasser auf den Tisch. Als ihr Blick auf die Verpackung des Getreideriegels fiel, seufzte sie. Sie ging zu einer Treppe, die in den oberen Stock führte.
»Fanny!«, rief sie.
»Was?«, erklang eine gedämpfte Mädchenstimme.
Milena Herzog wartete. Eine Tür ging auf.
»Was ist?« Die Stimme klang lauter.
»Komm bitte herunter.«
»Warum?«
Als Milena Herzog nicht antwortete, ertönten Schritte. Kurz darauf erschien ein Mädchen, das ausschließlich aus langen, dünnen Armen und Beinen zu bestehen schien. Die feinen Haare hatte Fanny zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, doch einzelne Strähnen rutschten ihr aus dem Haargummi. Als sie Jasmin bemerkte, senkte sie scheu den Blick.
»Fanny, das ist Frau Meyer.«
Jasmin stand auf und reichte ihr die Hand. »Hallo Fanny.«
Die Antwort war zu leise, als dass Jasmin sie hätte verstehen können. Fanny streifte ihre Hand, ohne aufzusehen. Als ihre Mutter sie auf den Abfall hinwies, hob Fanny die Verpackung auf und huschte davon. Milena Herzog sah ihr nach.
»Sie hat es nicht einfach«, erklärte sie. »Mein Mann und ich haben uns vor einem halben Jahr getrennt. Fanny leidet sehr darunter.« Sie seufzte. »Wir hätten es ihr gerne erspart, doch wir sahen keinen anderen Weg. Fanny zuliebe unsere Beziehung aufrechtzuerhalten, wäre falsch gewesen. Sie ist sehr feinfühlig, sie hätte sofort durchschaut, dass wir ihr etwas vorspielen. Matthias und ich hielten es für besser, ihr die Wahrheit zu sagen.«
Jasmin nickte, obwohl Milena Herzog nicht auf Zustimmung zu warten schien. Trotz der Angst, die irgendwo in ihrem Innern lauerte, wirkte sie selbstsicher. Sie kam Jasmin nicht vor wie eine Frau, die Entscheidungen hinterfragte. Ihre nächsten Worte bestätigten den Eindruck.
»Daran lässt sich nichts ändern. Fanny wird lernen müssen, mit der neuen Situation umzugehen. Insgeheim hofft sie natürlich, dass Matthias zurückkommt. Doch wir machen ihr nichts vor. Das wird nicht passieren.« Milena Herzog sah Jasmin an. »Sie fragen sich, warum ich Ihnen das alles erzähle.«
»Ich nehme an, es hat mit Ihrem Auftrag zu tun.«
Milena Herzog holte aus ihrer Handtasche zwei gefaltete A4-Blätter. »Vor drei Monaten erhielt ich per Post einen Brief.«
Sie reichte Jasmin ein Blatt. Der blasse Streifen am Rand wies darauf hin, dass es sich um eine Kopie handelte. Darauf stand ein einziger Satz: »Dafür wirst du büßen, du schlampe!«
Unweigerlich stellten sich Jasmins Nackenhaare auf. Sie legte den Drohbrief auf den Tisch, damit Milena Herzog das Zittern ihrer Hände nicht bemerkte.
»Waren Sie bei der Polizei?«
»Natürlich. Doch der Absender war vorsichtig. Nichts deutet auf die Herkunft des Briefes hin, außer der Poststempel. Der Umschlag wurde in Regensdorf abgeschickt.« Sie sah Jasmin mit einem vielsagenden Blick an.
Jasmin begriff. Die Justizvollzugsanstalt Pöschwies, das größte geschlossene Gefängnis der Schweiz, befand sich in Regensdorf. Hinter den Mauern lebten über 400 Straftäter. Einer von ihnen war der »Metzger«. Er war zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Verwahrung verurteilt worden. Seit zehn Jahren war keinem Gefangenen die Flucht aus der Pöschwies gelungen. Trotzdem würde sich Jasmin nicht sicher fühlen, solange der »Metzger« lebte. Daran änderten weder die Mauern, die Nato-Drähte noch die Panzertüren etwas. Bei der Vorstellung, es könnte einem Gefangenen möglich sein, unsichtbar die Hand nach seinem Opfer auszustrecken, und sei es nur in Form eines Briefes, wurde ihr kalt. Sie bemühte sich, den Gedanken von sich zu schieben. Regensdorf gehörte zu den bevölkerungsreichsten Gemeinden des Kantons Zürich. Es lebten nicht nur Straftäter dort.
Jasmin räusperte sich. »Wurde das Papier analysiert? Die Tinte untersucht? Die Techniker im Urkundenlabor der Kapo Zürich sind hoch qualifiziert. Sie haben eine Datenbank mit Inkjet-Tinten- und Toner-Proben aufgebaut. Aufgrund der Zusammensetzung der Tinte können sie zum Beispiel herausfinden, von welchem Hersteller ein Tintenstrahldrucker stammt.«
»Das Forensische Institut hat alles versucht. Der Absender hat einen weitverbreiteten Laserdrucker benutzt.«
»DNA?«
Milena Herzog schüttelte den Kopf. »Aber das ist noch nicht alles. Vor vier Wochen kehrte Fanny von einem Besuch bei ihrem Vater zurück. Zu Hause fand sie in ihrem Schulthek einen Umschlag, auf dem mein Name stand. Darin befand sich diese Nachricht.« Sie reichte Jasmin das zweite Blatt.
»Ich werd es dir heihmzahlen, schlampe!«, las Jasmin.
Die Furcht stand Milena Herzog ins Gesicht geschrieben. Am liebsten hätte Jasmin ihre Hand genommen und gedrückt. Sie dachte an die zahlreichen Opfer, die sie als Polizistin befragt hatte. Sie hatte sich immer eingebildet, deren Angst zu verstehen, doch weder Empathie, Erfahrung noch Weiterbildungen in Psychologie hatten ihr zu vermitteln vermocht, was sich in ihrem Gegenüber wirklich abspielte. Jasmin hatte das Ausmaß der Ohnmacht nicht verstehen können, die das Ausgeliefertsein hervorrief. Erst als ihr eigenes Leben bedeutungslos wurde, weil sie keine Kontrolle mehr darüber hatte, begriff sie, dass Angst das Selbstwertgefühl zerstörte.
»Sie möchten, dass ich herausfinde, wer diese Drohbriefe geschrieben hat«, sagte Jasmin mit fester Stimme.
Milena Herzog sah ihr in die Augen. »Nein, ich möchte, dass Sie meine Tochter beschützen. Der Umschlag wurde ihr in den Schulthek gelegt!« Ihre Stimme wurde laut. »Er weiß, wer sie ist! Er war in ihrer Nähe!«
»Er?«
Milena Herzog hob verzweifelt die Arme.
»Sie gehen davon aus, dass es ein Mann ist?«, fragte Jasmin.
»Ich habe keine Ahnung«, gestand Milena Herzog. »Die Polizei vermutet, dass die Drohungen mit meiner Arbeit zusammenhängen. Zuerst haben sie Matthias verdächtigt. Aber das ist absolut lächerlich! Er liebt Fanny über alles, er würde ihr nie wehtun. Mir auch nicht. Trotz der Trennung gehen wir zivilisiert miteinander um. Er hätte schlicht keinen Grund, mir anonyme Briefe zu schreiben und mir etwas ›heimzuzahlen‹ schon gar nicht.« Sie hielt kurz inne. »Vor einem Jahr habe ich erfahren, dass Matthias eine Beziehung zu einer anderen Frau hatte. Wenn jemand einen Grund hat, wütend zu sein, dann ich.«
»Sind Sie es?«
»Ich war enttäuscht und gekränkt. Die Vorstellung, dass er mich neun Monate lang betrogen hat, ohne dass ich es merkte, ließ unser Leben wie eine einzige, große Lüge erscheinen. Ja, ich war auch wütend. Hauptsächlich deshalb, weil Matthias mir vorwarf, ich würde überreagieren. Nachdem er die Beziehung zu Sybille abgebrochen hatte, glaubte er, wir könnten einfach weitermachen, als wäre nichts gewesen.« Leise erklärte sie: »Ich konnte nicht mehr zurück. Mein Vertrauen in ihn war zerstört. Das versteht er bis heute nicht.«
»Was macht Ihr Mann beruflich?«
»Er ist Sekundarlehrer.«
»Und Sybille?«
»Sie hat im gleichen Schulhaus unterrichtet.« Milena Herzog schüttelte den Kopf. »Ich weiß, was Sie denken, aber Sybille hat die Briefe nicht geschrieben. Nachdem Matthias mit ihr Schluss gemacht hat, hat sie gekündigt. Seit fünf Monaten unterrichtet sie an einer deutschen Schule in Singapur.« Sie betrachtete ihre Hände. »Ich glaube, Matthias vermisst sie.«
Jasmin wusste, dass hinter der Gewalt an Frauen und Kindern häufig männliche Bezugspersonen steckten. Oft wollten Opfer die Tatsache nicht wahrhaben, dass der Mensch, den sie liebten oder geliebt hatten, ihnen wehtun könnte. Deshalb verstand Jasmin, warum die Polizei den Lehrer besonders genau unter die Lupe genommen hatte. Bevor sie jedoch weitere Fragen zu den Drohungen stellte, musste sie wissen, was genau Milena Herzog von ihr erwartete und ob sie mit Jasmins Konditionen einverstanden war. Als sie das Thema anschnitt, fiel ihr Milena Herzog ins Wort.
»Ich habe einen Vertrag aufgesetzt.« Sie holte eine Sichtmappe hervor. »Vielleicht können Sie ihn kurz durchsehen, dann besprechen wir die einzelnen Punkte.«
Jasmin wurde flau im Magen. Wegen ihrer starken Legasthenie fiel ihr das Lesen und Schreiben schwer. Über die Jahre hatte sie Strategien entwickelt, um die Schwäche zu verbergen. Dazu gehörte, sich nie in Gegenwart anderer mit Texten zu beschäftigen. Nicht einmal Pal wusste, wie sehr sie mit den Buchstaben kämpfte. Als Milena Herzog ihr ein mehrseitiges Dokument reichte, beschleunigte sich Jasmins Puls. Sie starrte auf die Sätze, unfähig, einen Sinn darin zu erkennen.
»Ich hoffe, Sie empfinden mein Vorgehen nicht als unhöflich. Ich wollte Ihnen Arbeit abnehmen. Aber vielleicht habe ich auch über das Ziel hinausgeschossen«, sagte Milena Herzog entschuldigend.
Jasmin zwang sich zu einem Lächeln. »In der Regel arbeite ich mit einem Standardvertrag«, log sie. »Gerne nehme ich aber die Punkte auf, die Ihnen wichtig sind. Allerdings möchte ich Ihren Vorschlag in Ruhe im Büro durchgehen, wenn es Ihnen recht ist.«
»Natürlich«, sagte Milena Herzog rasch. »Ich war wohl etwas voreilig. Bitte verstehen Sie, es geht mir nur darum, das Administrative möglichst schnell zu erledigen, damit Sie anfangen können.«
»Dann sind Sie also mit meinen Konditionen einverstanden?«
»Ich finde Ihren Ansatz fair, ja. Ich habe mir aber erlaubt, Wochenpauschalen einzusetzen.« Sie beugte sich vor und deutete auf die zweite Seite des Vertrags.
Jasmin legte das Dokument weg. »Verschwenden wir keine Zeit damit. Erklären Sie mir, was genau Sie von mir erwarten. Sie haben gesagt, ich soll Fanny beschützen. Rund um die Uhr? Oder nur, wenn sie das Haus verlässt?«
»Ich möchte, dass Sie Fanny von der Schule abholen, wenn ich arbeite. Mittwochs habe ich frei, freitags geht sie jeweils direkt zu Matthias. Bis vor kurzem ist sie alleine hingefahren, und Matthias hat sie am Bahnhof Hardbrücke abgeholt. Seit der Entdeckung des Briefes im Thek habe ich eine Begleitung organisiert. Da Matthias bis 16.30 Uhr unterrichtet, kann er nicht rechtzeitig in Urdorf sein. Aber er bringt sie am Samstagabend zurück.«