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Die Optimierung des Menschen ist das Geschäft der Zukunft. Eine kalifornische Firma verkauft Blutplasma-Verjüngungskuren, Tech-Riesen investieren Unsummen in die digitale Bewusstseinsspeicherung. Und ein russisches Unternehmen verspricht durch die Konservierung des eigenen Leichnams ein Leben nach dem Tod. Währenddessen stirbt in Seattle ein obdachloser Junge an Herzversagen. Als der deutsche Chirurg Michael Wild beginnt, Fragen zu stellen, verschwindet er von der Bildfläche. Seine Mutter Julia ist entschlossen, ihn zu finden – doch sie hütet selbst ein Geheimnis, und ihre Gegner sind weitaus mächtiger, als sie denkt. Ein hochaktueller, perfekt recherchierter Thriller über die Grenze zwischen Leben und Tod, die Schnittstelle von Mensch und Maschine und die Zukunft unserer Spezies.
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Blutplasma-Verjüngungskuren oder die Konservierung des Körpers für ein Leben nach dem Tod: Das Geschäft mit der Optimierung des Menschen boomt. Als der junge Chirurg Michael Wild beginnt, Fragen zu stellen, verschwindet er spurlos. Seine Mutter Julia ist fest entschlossen, ihn zu finden – doch ihre Gegner sind weitaus mächtiger, als sie denkt.
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Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst zahlreiche Kriminalromane, Jugendbücher und Kurzgeschichten.
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Petra Ivanov
KRYO – Die Verheißung
Thriller
Die KRYO-Trilogie I
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Lektorat: Susanne Gretter
© by Petra Ivanov 2023
© by Unionsverlag, Zürich 2023
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Image navi, QxQ images (Alamy Stock Photo)
Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz
ISBN 978-3-293-31120-6
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Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
KRYO – DIE VERHEISSUNG
Personenverzeichnis1 — Juni 20212 — September 20213 – Das wird schon«, sagte Henry4 – Vita betrachtete sich im Spiegel. Zwischen ihren Augenbrauen …5 – Er kam nicht. Das Auditorium war bis auf …6 – Julias Angst, dass Michael etwas zugestoßen sein könnte …7 – Cody zog die Decke enger um sich …8 – Julia hatte die letzte E-Mail abgeschickt, nun musste …9 – Der Nowodewitschi-Friedhof lag am Ufer der Moskwa …10 – Der fensterlose Raum war sechs Meter lang und …11 – Achtundfünfzig ungelesene E-Mails. Michael hatte sich seit dem …12 – Die Mittagspause war fast vorbei, in der Kantine …13 – Margaret Freeman hatte am Joint Forces Staff College …14 – Michael tippte wie in Trance. Er hatte sich …15 – Die Kryonikanlage lag im Industrieviertel von Carson City …16 – Sie saßen um einen rustikalen Holztisch herum …17 – Gideon Larsens Augen bewegten sich erneut. Fliegenlarven …18 – Der Kindergarten war mit Kürbissen, freundlichen Gespenstern und …19 – Julia stand vor einer Schrotthandlung. Autowracks türmten sich …20 – Michael lag auf dem Bett und starrte an …21 – Freund oder Feind? Julia stand vor dem Leuchtturm …22 – Durch die verdunkelte Scheibe des Mercedes blickte Vita …23 – Kälte. Überall. Sie griff nach ihr, umspülte sie …24 – Die Maschine aus San Francisco war vor zwei …25 – Noch nie war Julia in einer Stadt gewesen …26 – Henrys Mund war mit Klebeband bedeckt, aus seiner …27 – Michael hämmerte wütend auf die Tasten seines Laptops …28 – Die Arztpraxis befand sich in einem Geschäftshaus im …29 – Andrej saß mit dem Rücken zur Sonne …30 – Dr. Kat war zu einem Problem geworden …31 – Henry rutschte auf dem Hosenboden nach hinten …32 – Richard Witthaus hatte wirklich nur in netter Gesellschaft …33 – Der Raum, in dem der Versuch stattfand …34 – Michael stand mitten im Raum und ließ die …35 – Der Abend war hereingebrochen. Henrys Schlafzimmer lag auf …36 – Das Handy von Dinah Izatt war immer noch …37 – Ausgerechnet jetzt hatte Dad einen Job ergattert …38 – Im Fahrstuhl roch es nach Urin. Vita atmete …39 – Als Julia näher kam, begriff sie, dass sich …40 – Henry lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken …41 – Auf der Fahrt zurück nach Salt Lake City …42 – Dr. Witthaus war enttäuscht, dass Cody ohne Amber …43 – Die Pflegerin entfernte den Verband und wusch Henrys …44 – Eric kam erst am übernächsten Tag wieder zur …45 – Jedes Mal, wenn die Tür aufging, richtete sich …46 – Der Pike Place Market gehörte zu den ältesten …47 – Die Immobilienfirma, für die Caroline Witthaus tätig war …48 – Die 2nd Avenue befand sich in unmittelbarer Nähe …49 – Cody kniete auf der Rückbank des Fords …50 – Julia winkte Mary Ellen ein letztes Mal zu …51 – Michael betrachtete die Hirnscheibe einer Maus, die er …52 – Dschachongir wirkte im Wohnzimmer ihrer Mutter so fehl …53 – Julia nahm ihre Tasche vom Gepäckband. Sie hinkte …Mehr über dieses Buch
Über Petra Ivanov
Petra Ivanov: »Meine Figuren sind lebendig. Wenn ich nicht schreibe, verliere ich denn Kontakt zu ihnen.«
Petra Ivanov: »Mein Weltbild hat sich zum Besseren verändert, seit ich Krimis schreibe.«
Mitra Devi: Ein ganz und gar subjektives Porträt von Petra Ivanov
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Für Aljoscha
»Wir experimentieren mit uns,wie wir es uns mit keinem Tiere erlauben würden,und schlitzen uns vergnügt und neugierigdie Seele bei lebendigem Leibe auf.«
Friedrich Nietzsche
HauptfigurenUSA
JULIA SANDERS
Dolmetscherin, Muttervon Michael
MICHAEL WILD
Arzt, Sohn von Julia
HENRY SANDERS
Professor für Astrophysik,Ehemann von Julia
Hauptfiguren Russland
ANDREJ STANISLAWOWITSCH DANILOW
Dolmetscher
PAWEL STANISLAWOWITSCH DANILOW
Geschäftsmann, Besitzervon KrioZhit, Bruder vonAndrej, Ehemann von Vita
STANISLAW IWANOWITSCH DANILOW
Militärchemiker, Vater von Andrej und Pawel
VIKTORIJA (VITA) SERGEJEWNA DANILOWA
Ex-Model, Ehefrau von Pawel
OLEG WOLKOW
Oligarch, Ehemann von Irina
IRINA WOLKOWA
Ex-Model, Ehefrau vonOleg Wolkow
NebenfigurenUSA
JESSE
verstorbener Junge
CODY
obdachloser Junge
AMBER
Schwester von Cody
ERIC
Freund von Cody
SHARI
Mutter von Jesse
MARGARET FREEMAN
Professorin für Cybersicherheit,Kollegin von Henry
KENJI TAKAHASHI
Vorsitzender von DenkfabrikFutura+, Professor in Harvard
NEIL MUNZO
Kryoniker
GIDEON LARSEN
Transhumanist, Mormone
CHARLES BALDWIN
CEO von Rejuvena
DINAH IZATT
Labormitarbeiterin bei Rejuvena
RICHARD WITTHAUS
Arzt, Ehemann vonCaroline Witthaus
CAROLINE WITTHAUS
Immobilienmaklerin,Ehefrau von Richard Witthaus
MARY ELLEN
Mitarbeiterin der Hope Church Seattle
NebenfigurenRussland
BOGDAN RADU
Arzt bei KrioZhit
TSCHURKA (DSCHACHONGIR)
Jugendfreund von Vita
TANJA
russische Austauschstudentin
KATARZYNA SZEWIŃSKA
Neuroinformatikerin bei KrioZhit
TRAPEZIUS
Wächter
Juni 2021
Sie waren da. Andrej beschleunigte seine Schritte. Die Birken hoben sich vom Himmel ab, die Stämme hell, die Baumkronen die einzigen Farbtupfer im Grau. Andrej hatte sie immer als Wegweiser zu Gott empfunden, jetzt bedeuteten sie für ihn Schutz. Er verließ den Feldweg und verschwand in den Wald. Das Moos gab unter seinen Füßen nach, schon nach wenigen Metern war ihm klar, dass er nicht weit kommen würde. Er sank auf die Knie. Die Mückenschwärme, denen er durch zügiges Gehen entkommen konnte, holten ihn ein, eine surrende Wolke, die seine Sinne benebelte.
Blutsauger. Wie sie alle. Der Vater. Der Bruder. Die Welt, der er den Rücken gekehrt hatte. Glaubten einzig an die Allmacht des Geldes, erhofften sich davon Erlösung und Freiheit. Nicht einmal vor der Grenze des Todes schreckten sie zurück. Mühsam rappelte sich Andrej hoch. Er würde es nicht zulassen, dass sie seine Seele gefangen nahmen.
Möwengeschrei. Wenn er die Küste erreichte, wäre er gerettet. Er kämpfte sich durch das Dickicht, schob mit bloßen Händen Brennnesseln und Brombeerranken beiseite. Lungenkraut bedeckte den Boden, zarte Blüten, violettblau, die Blätter weiß gepunktet. Darunter die Gebeine der Gulag-Opfer. Andersdenkende, wie er.
Solowezki war noch immer ein Ort des Todes.
Sie kamen näher. Andrej drehte sich nicht um. Er wusste, wie sie aussahen. Kurz geschorene Haare, undurchdringliche Mienen und Hände, die zupacken konnten. Die Tadschiken waren ihm erstmals am vergangenen Sonntag aufgefallen, als die Mönche in festlicher Prozession um das Kloster zogen. Die fahle Sonne spiegelte sich in dem goldenen Knauf des Stocks, den der Archimandrit hielt. Geblendet hatte Andrej den Blick abgewandt. Da hatte er sie bemerkt. Sie standen inmitten einer Schar Touristen, passten jedoch ebenso wenig zu ihnen wie die Mönche in ihren Brokatgewändern. Tadschiken. Früher hatte sein Bruder ausschließlich Russen mit heiklen Aufgaben betraut. Der Firma ging es offenbar schlechter, als er gedacht hatte.
Nach der Prozession hatte Andrej alles darangesetzt, die Sache rasch zu Ende zu bringen, doch das Wetter durchkreuzte seine Pläne. Der Wind peitschte die Wellen in die Höhe, ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Die Fähre legte nicht an, Flugzeuge hoben nicht ab. Die Solowezki-Inseln waren von der Welt abgeschnitten.
Er hörte das Glucksen der Eiderenten. Der Wald wurde lichter, Andrej kam an blühenden Moltebeerensträuchern vorbei. Er atmete schwer, die feuchte Hose klebte ihm an den Beinen. Die offene Tundra bot keine Deckung, er gab ein leichtes Ziel ab.
Da vorne, endlich, das Meer! Vereinzelte Schaumkronen zeugten davon, dass das Wasser noch nicht zur Ruhe gekommen war. Keine Schiffe am Horizont, keine Fischerboote. Polarseeschwalben stoben auf, schwangen sich in die Höhe und glitten davon. Sehnsüchtig sah Andrej ihnen nach.
Ein Schuss fiel. Andrej rannte auf das Ufer zu, stürzte über die Böschung, zog sich hoch und stolperte weiter. Der Sand war hart, Andrej kam jetzt schneller voran. Er streifte die Jacke ab, zerrte den Pullover über den Kopf, riss sich die Schuhe von den Füßen. Das Meer empfing ihn wie ein alter Feind. Eiskalt und abweisend. Hektisch bewegte er Arme und Beine, er musste weiter hinausschwimmen, bevor die Kälte ihn lähmte. Noch ein Schuss. Abtauchen, der Körper taub, die Gedanken glasklar.
Schwamm er noch? Dunkel, überall, ein Rauschen in den Ohren, Salz auf der Zunge. Ein Glücksgefühl.
Stimmen. Schaukeln. Ein Betonklotz auf der Brust.
»Er kommt zu sich!«, sagte eine raue Männerstimme.
Warmer Atem hauchte seinem Körper Leben ein. Der Betonklotz auf seiner Brust verschwand. War wieder da. Verschwand.
»Haben sie ihn getroffen?«
Schnauben. »Diese Kanaken treffen nicht einmal den Boden unter ihren Füßen.«
Andrej blinzelte. Ein gerötetes Gesicht, grobporig, darüber der graue Himmel. Jemand führte ihm eine Flasche an den Mund.
»Weg mit dem Wodka!«, sagte die raue Stimme.
»Das arme Schwein schlottert!« Jemand schraubte den Deckel auf. »Merkt doch keiner.«
»Idiot! Mit dem ist nicht zu spaßen! Kein Alkohol, hat er gesagt.«
Das Gesicht verschwand, die Flasche auch. Andrej versuchte, sich zu bewegen. Er war festgefroren im ewigen Eis. Ein anderes Gesicht tauchte über ihm auf, wettergegerbt, rissige Lippen. Er wurde mit einer Plane zugedeckt, die nach Fisch roch.
»Willst du ihm auch noch das Händchen halten?« Die raue Stimme klang spöttisch.
Ein wenig Wärme kehrte in Andrejs Körper zurück. Seine Zähne begannen, aufeinanderzuschlagen. Man hatte ihn aus dem Wasser gezogen. Aber da war doch gar kein Boot gewesen. Er versuchte, sich aufzusetzen. Sein Arm gab unter ihm nach, und er landete auf dem Rücken. Am Himmel jagten sich die Wolken, ihm wurde schwindlig. Er schloss die Augen, wartete ein paar Minuten, stemmte sich wieder hoch. Diesmal schaffte er es auf die Knie. Abgeblätterte Farbe, ein mehrfach geflicktes Netz. Er befand sich auf einem Fischerboot. Hinter der Reling sah er den Strand.
»Die Tadschiken sind weg.« Zwischen den rissigen Lippen steckte jetzt eine Zigarette.
Andrej hörte Bedauern in der Stimme seines Retters. War er … Andrej versuchte, den Gedanken zu Ende zu denken, doch auf einmal fühlte er sich so müde, dass er nur noch schlafen wollte.
Bleib wach!
Wer hatte das gesagt?
Traue niemandem!
Der Motor tuckerte, und das Boot änderte seinen Kurs. Gischt spritzte an Deck. Warum kreisten keine Vögel über ihnen? Wo war der Tagesfang? Andrej drehte den Kopf. Die Insel war weg.
»Archangelsk«, flüsterte er. »Muss nach … Archangelsk.«
Der Motor wurde gedrosselt. Backbord tauchten die Umrisse einer Jacht auf. Andrejs Unruhe wuchs. Der Motor befand sich jetzt im Leerlauf. Der Fischer mit der rauen Stimme rief dem Kapitän der Jacht etwas zu, Taue flogen durch die Luft.
»Zeit umzusteigen, Kumpel.«
Die beiden Fischer zogen ihm eine Rettungsweste an und halfen ihm auf die Beine. Sie führten ihn zur Reling. Das Boot schlug gegen die Fender der Jacht, Andrej musste sich mit beiden Händen festhalten, um nicht hinzufallen. Dieselgestank. Männer mit Bootshaken griffen nach ihm. Andrej schwebte in der Luft. Das Fischerboot wendete.
Auf einmal begriff er, dass er dem Feind direkt in die Arme gelaufen war. Mit klammen Fingern fummelte er an den Verschlüssen der Weste. Zwei Männer packten ihn unter den Achseln und zogen ihn hoch.
»Willkommen an Bord!« Der Mann, der ihn begrüßte, sah gepflegt aus. Er trug teure Kleidung und strahlte Zuversicht aus.
Andrej erkannte ihn sofort. Er wollte zurückweichen, es waren nur wenige Schritte bis zur Reling, ein Sprung, und er wäre gerettet. Warum gehorchte ihm sein Körper nicht?
»Du brauchst keine Angst zu haben, du wirst nichts spüren.« Der Mann lächelte und zeigte dabei gleichmäßige, weiße Zähne.
»Nein!«, rief Andrej. »Nein! Bitte …« Der Wind trug seine Stimme fort, und sie verlor sich über dem Weißen Meer.
Unter Deck hatte man eine Koje für ihn eingerichtet. Ein Tiefkühler stand bereit.
»Bitte!«, flehte Andrej. »Alles, nur das nicht!«
Der Mann neigte den Kopf zur Seite, als denke er über Andrejs Bitte nach. »Eine Leiche im Boden zu vergraben, wo sie von Würmern und Bakterien verdaut wird, ist viel grausamer.«
»Ihr nehmt meine Seele gefangen!«
»Wir gönnen ihr nur eine Pause«, sagte der Mann freundlich. »Damit du dich über das ganze Universum ausbreiten kannst.«
Andrej schrie auf, warf sich auf die Knie und faltete die Hände.
Der Mann beugte sich vor. »Du wirst deinem gefallenen Zustand entkommen. Das ist es doch, was du willst? In den Urzustand zurückkehren, wie vor dem Sündenfall.«
O Ihr Heiligen Körperlosen Gewalten, gewährt mir die Kraft, über das Böse zu siegen.
Andrejs Gebet wurde nicht erhört.
September 2021
Julia hörte auf zu tippen und schaute aus dem Fenster. Der Ahornbaum wiegte sich sanft im Wind, seine Blätter glitzerten in der Sonne. Nicht mehr lange, und das Grün würde in Goldgelb und Tiefrot übergehen. Sie liebte das Spektakel, das sich im Herbst in Upstate New York abspielte und ihr abwechslungsreicher erschien als jede Kunstausstellung in Manhattan. Samson spürte ihren Stimmungswechsel und hob erwartungsvoll den Kopf.
»Nur noch drei Seiten, Sam«, sagte Julia.
Mit einem Grunzen legte der Hund die Schnauze auf die Vorderpfoten und schloss die Augen. Julia widmete sich wieder der Übersetzung, an der sie arbeitete.
Der Reinigungsprozess des WC-Sitzes wird automatisch ausgelöst. Der …
Sie hielt inne. »Wiper … wie sagt man dazu auf Deutsch?«
Der Hund drehte den Kopf weg.
»Nicht sehr hilfreich«, murmelte sie.
Sie ahmte die Bewegung, die sie zu beschreiben versuchte, mit den Händen nach, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Abstreifer, jetzt fiel es ihr ein.
Der Abstreifer besteht aus hochflexiblem Spezialkunststoff.
Eine knappe Stunde später streckte sie sich gähnend. Sam sprang auf. Mit seinem zotteligen Fell ähnelte er dem Teppich, den Julia für ihn gekauft hatte und der jetzt die Holzdielen vor dem Bücherregal bedeckte. Sam trottete zu ihr hinüber und legte den Kopf auf ihren Schoß.
»Bin gleich so weit.« Julia sicherte den Text.
Eine Drossel landete auf dem Fenstersims, und Sam presste sich gegen Julias Bein. Noch immer fürchtete er sich vor fast allen Lebewesen. Die Wunden, die ihm sein früherer Besitzer zugefügt hatte, waren zwar verheilt, doch sie hatten tiefe Narben hinterlassen. Im Tierheim hatte man ihr davon abgeraten, den misshandelten Hund zu adoptieren, doch Julia wusste, wie es sich anfühlte, jemandem ausgeliefert zu sein. Schutzlos. Der Hund war eine verwandte Seele. Sie hatte ihn Samson genannt, nach der biblischen Figur, die sich durch ihre Stärke auszeichnete.
»Fertig!« Julia schob den Stuhl zurück.
Schwanzwedelnd sprang Sam aus dem Büro. Julia hörte das Klacken seiner Krallen auf der Treppe. Sie ging ins Bad und trug Sonnencreme auf. Ihre Haut war so hell, dass sie sich sogar im Wald verbrannte. Heute würde sie einen ausgedehnten Spaziergang machen, sie hatte sich eine längere Pause verdient. Seit Tagen arbeitete sie fast ununterbrochen. Wie so oft waren die Unterlagen zu spät bei ihr eingetroffen, dennoch hatte der Auftraggeber auf dem vereinbarten Abgabetermin bestanden. Manchmal fragte sie sich, warum es einigen Menschen so schwerfiel zu planen. Ihr Mann amüsierte sich über ihre Erwartungen. »Du bist und bleibst eine Deutsche«, pflegte er zu sagen. Julia quittierte die Bemerkung stets mit einem Augenrollen. Sie wusste, dass Henry sie bloß neckte. Er war ein feinfühliger Mensch, der weder in Stereotypen dachte noch einfache Erklärungen suchte.
Sam stand mit der Leine im Maul am Fuß der Treppe. Julia ging in die Küche. Der Kühlschrank war leer. Sie hatte wieder einmal vergessen, Lebensmittel einzukaufen. Seit sie ihren Geruchs- und Geschmackssinn verloren hatte, bedeutete ihr Essen wenig. Sie fischte eine Scheibe Toastbrot aus dem Gefrierfach und biss hinein. Sie mochte die raue Oberfläche und die Kälte auf der Zunge.
»Sorry, Sam, ich muss noch einmal nach oben. Portemonnaie holen. Dafür gehen wir dann bis zum Hofladen.«
Ihre Handtasche stand auf der Kommode. Sie nahm einige Dollarscheine heraus und schob sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Sie war schon an der Treppe, als der vertraute Klang einer eingehenden E-Mail ertönte. Sie blieb stehen. Zögerte. Drehte sich um. Manchmal verfluchte sie ihre Gründlichkeit.
Im Büro beugte sie sich über den Schreibtisch und griff nach der Maus. Eine neue Nachricht. Julia las den Absender.
Michael.
Ein Adrenalinstoß durchfuhr sie, siedend heiß. Benommen ließ sie sich auf den Stuhl fallen.
Das wird schon«, sagte Henry.
Sein Zwirnjackett hing locker über den Schultern, der angespannte Zug um seinen Mund verriet jedoch, dass auch er nervös war. Der Flug aus Berlin war vor einer halben Stunde gelandet. Nicht mehr lange, und Michael würde durch die Schiebetür kommen, die den Blick in die Gepäckausgabe versperrte. Julia musterte die Reisenden. Bunte Fragmente aus anderen Welten. Sie führte den Daumen an den Mund und knabberte an der Nagelhaut, eine schlechte Angewohnheit, die sie nach Michaels E-Mail wieder aufgenommen hatte.
Fünf Jahre war es her, dass sie ihn im Foyer des Javits Convention Centers, wo er einen Chirurgie-Kongress besuchte, zum letzten Mal traf. Die gläserne Fassade. Das Licht, das durch die Decke strömte und Muster auf den glatten Boden zeichnete. Der Monitor, der die Saalbelegung anzeigte. Dort hatte sie gestanden und sich der Vorstellung hingegeben, dass er sich über ihren Überraschungsbesuch freuen würde.
Aber er hatte ihr nur eine einzige Frage gestellt. »Hast du deine Meinung geändert?«
»Michael, bitte, lass uns –«
»Dann haben wir uns nichts zu sagen.«
Es war ihr letzter Versuch, den zerrissenen Faden ihrer Beziehung neu zu knüpfen. Als er drei Jahre später in Deutschland sein Medizinstudium abschloss, lud er sie nicht zur Feier ein. Auch nicht, als er den Doktortitel erwarb. Dr. Michael Sanders. Wild, korrigierte sie sich. Er hatte ihren Mädchennamen angenommen. Sie fröstelte. Begriff er denn nicht, wie gefährlich das war?
Die Tür ging auf, und ein Ehepaar mit Gepäckwagen sah sich suchend um. Sie sprachen Deutsch. Julia reckte den Hals und sah die lange Warteschlange am Zoll. Das Labor-Day-Wochenende bedeutete das Ende der Sommerferien, übermorgen begann das neue Schuljahr. An den New Yorker Flughäfen herrschte Hochbetrieb.
»Vielleicht hat er es sich anders überlegt«, sagte sie.
Henry drückte ihre Schulter. »Wenn Michael schreibt, dass er kommt, dann kommt er auch.«
Julia nickte. Man konnte ihrem Sohn viel vorwerfen, nicht aber Unzuverlässigkeit. Henry witzelte manchmal über Michaels Zielstrebigkeit und die Sturheit, mit der er seine Vorhaben umsetzte, das habe er von ihr, sagte er. Julia wusste es besser. Im Gegensatz zu Michael strebte sie nicht auf ein Ziel zu. Sie lief vor der Vergangenheit davon.
Wieder ging die Tür auf, zwei Männer mit Schläfenlocken kamen heraus. Hinter ihnen, halb verdeckt von einem schwarzen Hut mit breiter Krempe, Michael. Die Geräusche um Julia herum wurden dumpf, als trüge sie Ohrstöpsel. Dann stand er vor ihr. Sein Haar war länger, stellte sie fest, und nachlässig nach hinten gekämmt. Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf, eine Verlegenheitsgeste, die ihr vertraut war.
Als sie einen Schritt auf ihn zuging, wich er kaum merklich zurück. Er hatte ihr noch immer nicht verziehen.
Henry klopfte ihm auf den Rücken. »Schön, dich zu sehen.«
Michaels Mund verzog sich zu einem Lächeln. Seine Augen erreichte es nicht. Diese Höflichkeit war schlimmer als seine Zurückweisung. Er behandelte sie wie Fremde.
»Wie war der Flug?«, fragte Henry.
»Gut.«
»Konntest du ein wenig schlafen?« Julia sprach Englisch, um Henry nicht auszuschließen.
»Ja.«
Henry machte einen Schritt zum Ausgang, wo die Taxis standen.
Michael deutete auf die Rolltreppe in der Mitte der Ankunftshalle. »Die Bahn ist schneller.«
Henry warf Julia einen Blick zu.
Sie fragte sich, ob Michael die Nähe im Taxi unangenehm war. Oder wollte er sie herausfordern, ihr zu verstehen geben, dass er nicht bereit war, sich nach ihren Bedürfnissen zu richten?
»Wir können auch mit der Bahn fahren«, sagte sie.
Sie nahmen die Long Island Railroad nach Manhattan. Während Julia sich in den Anblick der schäbigen Häuser mit ihren winzigen Vorgärten vertiefte, unterhielten sich Henry und Michael über den Wechselkurs des Dollars. Als wäre Michael ein Tourist. Je näher sie der Stadt kamen, desto dichter standen die Häuser, schließlich gab es nur noch mehrstöckige Backsteinbauten. Schwarze Feuertreppen verliefen in Zickzacklinien über die Fassaden, wie chirurgische Fäden über Wunden. Der Zug tauchte in den East River Tunnel.
An der Penn Station bot Julia an, Michael einen Metropass zu besorgen.
»Nicht nötig«, sagte er. »Ich fliege morgen weiter.«
»Morgen schon?«
Sie hatte mit Henry besprochen, dass sie heute in seiner Stadtwohnung übernachten und erst am nächsten Tag mit Michael in das Haus in Upstate New York fahren würden.
Michael schwieg.
Henry rieb die Handflächen gegeneinander. »Dann schlage ich vor, dass wir das Beste aus der Zeit machen, die wir zusammen haben.«
Michael sah auf die Uhr. »Wollen wir uns zum Abendessen treffen? Ich bringe mein Gepäck ins Hotel, dann –«
»Du übernachtest im Hotel?«, stieß Julia aus.
»Prima«, sagte Henry rasch. »Um sieben bei uns?«
Julia rechnete schon damit, dass Michael ablehnen und fürs Abendessen ein Restaurant vorschlagen würde, aber er stimmte zu. Dann hob er die Hand, winkte zum Abschied und wandte sich ab.
Julia sah die Menschen an sich vorbeiströmen. Starr stand sie da, unfähig, weiterzugehen. Die niedrige Decke erdrückte sie, die massiven Stützpfeiler versperrten ihr die Sicht auf Michael, der die Rolltreppe betreten hatte. Sie wollte gerade Luft holen, um etwas zu sagen, als ein Polizist auf sie zukam. Dunkelblaue Uniform. Steife Schirmmütze. Breiter Einsatzgürtel. Das Neonlicht brachte das goldene Schild auf seiner Brust zum Blitzen. Julias Kehle schnürte sich zu, und ihr Herz begann zu rasen.
Renn! Die Stimme kam tief aus der Vergangenheit. Achtundzwanzig Jahre lösten sich in nichts auf.
Julia rannte.
Schmutzige Fliesen, gleichgültige Menschen, Kaffee in Pappbechern, Brezelbude. Rolltreppe, Reinigungspersonal, Musik, ein offener Geigenkasten, Münzen auf Samt. Warme Luft blies ihr von einer Subwaystation entgegen, sie hörte ein Rattern, ein Quietschen. Zeitungskiosk, Blumenladen, Damentoiletten.
Ein gelbes Schild: Vorsicht, nasser Boden.
Abrupt blieb Julia stehen. Der Schweiß rann ihr den Körper hinunter, sie atmete in kurzen, schnellen Stößen. Ihr Haar hatte sich aus dem Gummiband gelöst, einzelne Strähnen klebten ihr am Nacken, an der Wange. Mit zittrigen Beinen hastete sie zur ersten freien WC-Kabine. Gelbe Spritzer auf dem Ring. Papierfetzen im Wasser. Sie übergab sich.
»Julia?« Henrys Stimme kam von weit her.
»Sir, Sie können hier nicht –«
»Julia, bist du da drin?« Näher jetzt.
Er war ihr nachgerannt, trotz seines hohen Blutdrucks. Eine andere Angst ergriff sie. Im Gegensatz zu der blinden Panik, die der Polizist in ihr ausgelöst hatte, ließ diese Angst klare Gedanken zu. Henry war das Bollwerk zwischen ihr und der Welt. Seit sie als junge Frau aus Europa geflohen war und er sie bei sich aufgenommen hatte, sorgte er dafür, dass ihr niemand zu nahe kam. Er war der einzige Mensch, dem sie hundertprozentig vertraute. In letzter Zeit machte ihm das Herz zu schaffen. Er hatte versprochen, einen Arzt aufzusuchen, es aber immer wieder hinausgeschoben.
Julia wischte sich das Gesicht mit Toilettenpapier ab und verließ die Kabine. Henry löste sich von der Bahnangestellten, die ihm den Zugang zur Damentoilette verwehrte, und führte Julia zum Ausgang an der 8th Avenue, möglichst weit weg von den engen Straßen und Hochhäusern Midtown Manhattans. Sie setzten sich auf die Treppe vor dem Postamt.
»Entschuldige.« Julia atmete tief ein. »Mir ist klar, dass man mich schon längst aufgespürt hätte, wenn ich immer noch zur Fahndung ausgeschrieben wäre, aber …«
»Ich weiß.«
Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Ja, er wusste. Obschon sie ihm nie die ganze Geschichte erzählt hatte. Anfangs, weil sie nicht darüber sprechen konnte. Tag für Tag übersetzte sie Texte, aber für das, was ihr widerfahren war, fand sie die Worte nicht. Später, weil sie die Wunden, die langsam zu heilen begonnen hatten, nicht aufreißen wollte. Sie hatte in den USA ein neues Leben aufgebaut. Julia Wild existierte nicht mehr. Aber ihre Angst vor der Polizei hatte sie nicht ablegen können.
Henry sah sie fragend an.
Julia schloss kurz die Augen. Er hatte ein Recht darauf, endlich alles zu erfahren, doch schon beim Gedanken, darüber zu sprechen, wurde ihr wieder übel.
»Michael hat abgenommen«, sagte sie stattdessen.
Henry ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. »Ein Assistenzarzt hat keine Zeit zu essen. Das ist in Deutschland vermutlich nicht anders als hier.«
»Ja.«
Henry blickte zu einem Verkaufswagen, der am Fuß der Treppe stand. »Möchtest du eine Cola? Du zitterst immer noch.«
Sie schüttelte den Kopf. Schweigend sahen sie dem Verkehr zu. Gegenüber befand sich der Madison Square Garden, ein Plakat warb für ein bevorstehendes Konzert. Wann hatte sie zuletzt mit Henry ein Konzert, ein Musical oder ein Theater besucht? Sie kam nur in die Stadt, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Das Risiko, jemandem zu begegnen, den sie von früher kannte, war ihr zu groß. Außerdem gab es an jeder Ecke Überwachungskameras.
Sie stand auf. »Gehen wir? Ich muss noch den Truthahn füllen.« Michaels Lieblingsspeise. Für ihn feierte sie Thanksgiving auch im September.
Henry winkte ein Taxi herbei. Inwood, wo er seit seiner Kindheit lebte, lag im Norden Manhattans. Als Julia zu ihm gezogen war, hatte sie sich dort sicher gefühlt. Das Viertel wurde auf drei Seiten von Flüssen begrenzt, es gab fast mehr Grünflächen als Häuser. Für ein Kind wie Michael, das gerne draußen spielte, war es geradezu ideal. Im Laufe der Jahre wanderten die irischen und jüdischen Familien ab, und Einwanderer aus der Dominikanischen Republik zogen zu. Die Synagogen wurden nicht mehr genutzt, der Gottesdienst in den Kirchen fand auf Spanisch statt. Die Veränderungen machten Julia zu schaffen. Sie hatte gerade erst wieder Boden unter den Füßen gewonnen. Dass sich dieser Boden bewegte, kam ihr vor, als habe sie ihr neues Leben auf einem fliegenden Teppich aufgebaut.
Das Haus, das sie daraufhin in Upstate New York erwarben, war von der Hauptstraße aus nicht zu sehen. Nur im Winter, wenn die Laubbäume ihre Blätter verloren, schimmerte die hellgraue Holzfassade zwischen den Ästen durch. Sie hatten ursprünglich bloß die Wochenenden dort verbringen wollen. Für Henry dauerte die Fahrt zu seinem Arbeitsplatz an der Columbia University zu lang. Bald aber war Julia jede Ausrede recht, um auch unter der Woche im Haus zu bleiben.
Das Taxi hielt vor einem vierstöckigen Wohnblock, dessen Fassade kürzlich renoviert worden war. Henrys Wohnung lag im dritten Stock und bestand aus einem L-förmigen, fensterlosen Flur, von dem zwei Schlafzimmer und ein Bad abgingen. Am Ende des Flurs lagen das Wohnzimmer und die Küche, dazwischen gab es eine Essnische. Durch die Fenster im Schlafzimmer blickte man auf eine Backsteinmauer, nur vom Wohnzimmer aus war ein Stückchen Himmel zu sehen.
Sam begrüßte sie mit einem leisen Winseln. Er fühlte sich in der Stadt genauso unwohl wie Julia und zuckte bei jedem fremden Geräusch zusammen. Obwohl es erst drei Uhr war, machte sich Julia in der Küche zu schaffen. Sie musste sich beschäftigen, wenigstens die Hände bewegen, wenn die Zeiger auf der Uhr schon stillzustehen schienen. Sie schnitt Brotwürfel, fügte Gewürze dazu, knetete die Masse und bereitete den Truthahn vor.
Henry trat in die Küche. »Brauchst du Hilfe? Soll ich etwas kosten?«, fragte er hoffnungsvoll.
Julia hielt ihm einen Löffel mit Truthahnfüllung hin.
»Vielleicht noch eine Prise Salz«, schlug er vor und tauchte den Löffel in die Masse.
Julia musste trotz ihrer Anspannung schmunzeln. »Möchtest du etwas Süßkartoffelpüree?«
Sie füllte eine Schale, ohne eine Antwort abzuwarten. Er nahm sie mit in Michaels ehemaliges Schlafzimmer, wo er seinen Arbeitsplatz eingerichtet hatte.
Um sechs war der Tisch gedeckt. Um halb sieben stand Julia am Fenster. Michael erschien pünktlich. Obwohl er einen Schlüssel besaß, klingelte er. Er begrüßte als Erstes Sam, der bellend zurückwich. Julia hatte sich den Hund erst angeschafft, nachdem Michael nach Deutschland gezogen war.
»Bist du mit der Subway gefahren?«, fragte Henry, während er Michael durch den Flur folgte.
»Die letzte Station bin ich zu Fuß gegangen. Am Broadway verkauft eine Frau Tamales.« Michael klang überrascht.
»Inwood hat sich verändert«, sagte Julia. »Wie lange ist es her, seit du das letzte Mal hier warst?«
Die Frage war überflüssig. Sie wusste auf den Tag genau, wann Michael das letzte Mal hier gewesen war. Und er wusste, dass sie es wusste.
Sie holte den Truthahn aus dem Ofen. Das Essen schmeckte ihm, er bat um einen Nachschlag. Als er ihr seinen Teller hinhielt, zitterte seine Hand.
»Fliegst du morgen nach Berlin zurück?«, fragte Henry.
»Nein, weiter nach San Francisco.«
»Machst du dort Urlaub?«
»Ich recherchiere für einen Artikel. Ich habe mir eine Auszeit genommen. Im Moment arbeite ich als Journalist.«
Solange Julia zurückdenken konnte, wollte Michael Arzt werden. Er hatte sein Privatleben seinem Berufswunsch untergeordnet, Freizeit und Freunde dafür geopfert. Warum unterbrach er die Facharztausbildung, um als Journalist zu arbeiten?
Henry räusperte sich. »Worüber schreibst du?«
»Über den Traum vom ewigen Leben. Der Optimierung des Menschen.«
»Aus medizinischer Sicht?«
»Nein, aus transhumanistischer.« Michael griff nach seinem Glas und trank einen Schluck Wasser.
Henry sah Julia an. »Transhumanisten wollen den Menschen durch Technik verbessern. Sie sind davon überzeugt, dass wir mit genetischen oder neurotechnologischen Eingriffen unsere biologischen Grenzen sprengen können.«
Die Erklärung war unnötig, Julia wusste, welche Ziele Transhumanisten verfolgten. Sie begriff, dass Henry versuchte, sie in das Gespräch mit einzubeziehen, doch sie war zu sehr mit Michaels Abweisung beschäftigt und konnte sich nicht konzentrieren.
»Klingt für mich nach Eugenik«, nahm Henry den Faden wieder auf.
»Ist es in gewisser Weise auch«, antwortete Michael. »Nur, dass nicht der Staat dahintersteckt, wie in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern der Markt. Oder besser gesagt, die Leistungssteigerungsgesellschaft.«
Julia lehnte sich zurück. Wie viele Abende hatten sie am Tisch gesessen und über Gott und die Welt gesprochen? Als Jugendlicher hatte Michael alles hinterfragt, eine unbedachte Äußerung ihrerseits konnte zu heftigen Diskussionen führen. Manchmal war sie es leid gewesen, sich darauf einzulassen, Henry aber hatte sich immer die Zeit genommen, sich mit Michaels Gedanken auseinanderzusetzen.
»Geht es wirklich darum, die Leistung zu steigern?«, fragte er jetzt. »Ist es nicht vielmehr die Angst vor dem Tod, die Transhumanisten antreibt? Es fiel den Menschen schon immer schwer, sich mit ihrer Endlichkeit abzufinden.«
»Für Transhumanisten ist der Tod bloß ein technisches Problem«, erwiderte Michael. »Erinnerst du dich an die Straßenaktion, die vor ein paar Jahren auf dem Google-Campus stattgefunden hat? Die Demonstranten verlangten, dass Google eine Lösung für den Tod findet. Den Tod lösen. Die Wortwahl ist doch bezeichnend.«
Henry schüttelte verwundert den Kopf.
»Was machst du in San Francisco?«, fragte Julia.
Ihre Stimme war wie Sand im Getriebe des Gesprächs.
»Ich besuche eine Konferenz. Führe Interviews.« Michael verstummte.
Eine unangenehme Stille breitete sich aus.
»Henry wurde mit dem Distinguished Columbia Faculty Award ausgezeichnet«, sagte Julia, als sie das Schweigen nicht mehr aushielt. »Für seine Verdienste im Unterrichten. Die Ehrung findet in zwei Wochen statt. Es wäre schön, wenn du dabei sein könntest.«
Michael sah Henry an. »Herzliche Gratulation. Ich komme gern.«
Henry spielte die Bedeutung der Auszeichnung herunter, die Freude darüber ließ ihn aber erröten. Während er Michael von der bevorstehenden Feier erzählte, setzte Julia Kaffee auf. Sie starrte in die bläuliche Flamme auf dem Gasherd. Michaels Verhalten bestätigte, was sie bereits am Flughafen geahnt hatte. Er war nicht gekommen, weil er ihr verziehen hatte.
Er ging zum Angriff über, als sie den Kürbiskuchen auftischte.
»Und? Hast du deine Meinung geändert?«, fragte er.
Das helle Grau seiner Augen. Gebündelte Strahlen, alle Farben vereint und doch unsichtbar. Die Rückseite des Regenbogens.
»Ich muss es wissen!«, beharrte er.
Julia senkte den Blick. Dass die Wahrheit nicht nur ihr, sondern auch ihm gefährlich werden konnte, wollte er nicht begreifen, egal wie oft sie es ihm zu erklären versuchte.
»So viel schuldest du mir!«, rief er.
»Lass es gut sein, Michael.«
»Ich will Antworten!«
»Sie werden dich nicht glücklich machen.«
Er bohrte weiter. Sie schüttelte den Kopf. Henry versuchte zu vermitteln, wie schon so oft. Schließlich stand Michael auf, verabschiedete sich von Henry und verließ die Wohnung. Die Heftigkeit, mit der die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, war wie ein Schlag in die Magengrube. Julia stellte sich ans Wohnzimmerfenster, um Michael noch einmal hinterherzusehen. Sam, der unter ihrem Stuhl gelegen hatte, folgte ihr mit eingezogenem Schwanz. Sie schob die Finger zwischen die Lamellen der Jalousie und spähte durch den Spalt. Würde Michael sein Versprechen halten und in zwei Wochen zurückkehren? Wie aufrecht er ging, wenn er wütend war. Ach Michael, es war doch gut, so, wie es war. Warum konntest du dich nicht mit dem begnügen, was uns geschenkt wurde? Ein Leben fernab von Gewalt und Willkür. Unspektakulär, aber sicher. Julia blinzelte, wischte eine Träne weg. Als sie wieder nach draußen schaute, war er verschwunden. Sie wollte sich schon abwenden, als ihr ein dunkler Lexus auf der gegenüberliegenden Straßenseite auffiel. Das Fahrerfenster war geöffnet, am Steuer saß ein Mann. Er drehte den Kopf in ihre Richtung.
Julia sprang zurück, wie gebrannt von dem Anblick. Heftig atmend stützte sie sich an der Wand ab. Sie ging wieder ans Fenster und spähte hinaus. Der Lexus fuhr davon, sie konnte den Mann am Steuer nicht mehr sehen. Sie presste die Faust auf den Mund, um nicht laut zu schreien.
Andrej war doch tot!
Vita betrachtete sich im Spiegel. Zwischen ihren Augenbrauen deutete sich eine Falte an, steil und hässlich. Sie massierte die Stelle mit den Fingerspitzen, fuhr an ihrem Nasenrücken entlang und strich sich über die breiten Wangenknochen. Sie musste aufhören, an Andrej zu denken. Sorgen bekamen ihr nicht, ihre Haut wurde fahl, ihre Augen verloren ihren Glanz. Außerdem hatte er selbst gesagt, dass nur Gott ohne Sünde sei.
Sie beschloss, nicht länger an ihn zu denken. Ein voller Tag stand bevor. Vita hatte früh gelernt, dass es zwecklos war, sich mit Problemen zu beschäftigen, die sie nicht lösen konnte. Deshalb griff sie jetzt nach einem Schwämmchen und begann, Make-up aufzutragen. Eigentlich widerstrebte es ihr, die Haut vor der Yoga-Stunde zu grundieren. Der Schweiß verstopfte die Poren, was zu Rötungen führte. Ohne Make-up aus dem Haus zu gehen, kam jedoch auch nicht infrage. Sie ging auf die vierzig zu, die Jahre hatten Spuren hinterlassen. Vita war nicht mehr das junge Model, das die Titelseiten der Hochglanzmagazine zierte.
Sie spürte einen Luftzug und drehte sich um. Pawel stand in der Tür.
»Pascha!« Rasch mattierte Vita die glänzenden Stellen in ihrem Gesicht.
Er lehnte sich gegen den Türrahmen. »Störe ich?«
»Natürlich nicht. Aber wolltest du nicht direkt ins Büro fahren?«
Er musterte sie mit undurchschaubarem Blick. Vita fühlte sich entblößt, obschon sie einen Morgenmantel trug. Früher hatte sie geglaubt, dass sich Pawel nicht an ihr sattsehen konnte, mit der Zeit aber hatte sie begriffen, dass er auch Menschen, die er nicht als ebenbürtig betrachtete, auf diese Weise ansah. Innerlich schrumpfte sie zusammen.
»Du bist bestimmt müde von dem langen Flug«, sagte sie, während sie Mascara auftrug. »Willst du dich nicht ein wenig hinlegen?«
»Ich möchte Andrjuschas Grab besuchen. Begleitest du mich?«
Seine Stimme war seidig weich, dennoch lag eine Schärfe darin, die keinen Widerspruch zuließ. Ahnte er, was sie getan hatte? Vitas Hand zitterte so stark, dass sie mit der Mascara-Bürste die Hornhaut berührte. Ihr Auge begann zu tränen.
Pawel wartete nicht auf eine Antwort. Vita hörte, wie er im Ankleidezimmer ein frisches Hemd vom Bügel nahm. Als sie eine halbe Stunde später ins Wohnzimmer trat, stand er neben der Marmorskulptur des Nautilus, die er kürzlich ersteigert hatte, und telefonierte. Während er redete, beäugte er ihr dunkles Kleid. Es war schlicht, aber figurbetont. Sie hatte es in einer neu eröffneten Boutique in Schukowka gekauft. Der Designer hatte eine Kollektion eigens für Beerdigungen und Trauerveranstaltungen entworfen. Offenbar hielt Pawel es für passend, denn er kehrte ihr den Rücken zu und schaute aus dem Fenster. Hinter einem hohen Zaun war das Dach des Nachbarhauses zu erkennen, eine Villa im Renaissance-Stil, die seit einigen Monaten leer stand, wie viele der Häuser an der Rubljowsker Chaussee, deren Besitzer sich auf einem Weingut in Frankreich oder in einer Londoner Stadtwohnung niedergelassen hatten. Vita konnte nicht verstehen, warum sie wegzogen. Wer es bis hierher geschafft hatte, war ganz oben angekommen. Sogar Präsident Putin wohnte an der Rubljowka.
Aus der Küche drang das Geräusch eines Mixers. Wie oft hatte Vita dem Hausmädchen erklärt, dass sie vor der Yogastunde keinen Smoothie trank? Sie ging in die Küche, nahm das Glas, das auf der Anrichte stand, und kippte den Inhalt in den Abguss. Die Philippina wich erschrocken zurück, was Vita ein Gefühl von Befriedigung verschaffte. Ihre Mutter hätte sie dafür gescholten, doch Vita wäre nicht so weit gekommen im Leben, wenn sie auf ihre Mutter gehört hätte.
»Entschuldigen Sie, Viktorija Sergejewna«, nuschelte das Hausmädchen in kaum verständlichem Russisch.
Vita kehrte ins Wohnzimmer zurück. Pawel telefonierte immer noch. Er hatte kein Gramm zugenommen, seit sie sich vor vierzehn Jahren kennengelernt hatten. Seine Haut war straff, sein Muskeltonus beneidenswert. Im Gegensatz zu ihr schien er kaum zu altern. Nur das akkurat geschnittene Haar, das an den Schläfen ergraut war, zeugte davon, dass auch sein Körper sich veränderte. Viele ihrer ehemaligen Arbeitskolleginnen hatten Geschäftsmänner mit dicken Brieftaschen und prallen Bäuchen geheiratet. Pawel hingegen war nicht nur gut gebaut, er hatte auch ein ebenmäßiges Gesicht, einen markanten Kiefer und klare Augen. Wie lange noch, bis er sich eine jüngere Frau suchte? Die ihm einen Erben schenkte?
Er hatte aufgelegt. Gedankenverloren folgte er mit dem Finger den geschwungenen Linien des Nautilus, die Schultern leicht hochgezogen, den Kopf zur Seite geneigt. Plötzlich wirkte er verwundbar. Fast, als hätte ihn das Telefongespräch berührt. Der Anblick war so außergewöhnlich, dass Vita nervös wurde.
»Wer war das?«, fragte sie.
Er schwieg lange. »Der Nautilus ist ein Meisterwerk«, sagte er schließlich.
Vita sah ihn verständnislos an. »Diese Schnecke?«
»Das ist keine Schnecke, sondern ein Kopffüßler. Die einzelnen Kammern entsprechen exakt der Fibonacci-Folge. Eine goldene Spirale. Das Symbol der Unendlichkeit.«
Was hatte der Nautilus mit dem Telefongespräch zu tun?
Pawel richtete sich auf. »Wir gehen nicht zum Friedhof«, verkündete er. »Putin ist gerade losgefahren.«
Wenn der Präsident morgens in den Kreml fuhr, wurde die Chaussee gesperrt. Erst wenn die Staatskarosse und das Dutzend Begleitfahrzeuge vorbeigerast waren, durften die Bewohner der Rubljowka die Straße wieder benutzen. Oft bildeten sich kilometerlange Staus.
Vita sah auf die Uhr. Viertel vor neun. Sie wusste genau, dass Putin nie so spät fuhr.
Sie setzte sich aufs Sofa. Gab es eine andere Frau? Ein Model? Oder vielleicht diese Wissenschaftlerin, die letztes Jahr bei Pawel in der Firma angefangen hatte? Dr. Katarzyna Szewińska. Vitas Finger krallten sich in ein Seidenkissen. Die Frau war ihr von der ersten Begegnung an unsympathisch gewesen. Was ihr Äußeres anging, stellte sie keine Gefahr dar, die dichten Augenbrauen und die kräftige Nase ließen sie viel zu männlich erscheinen. Dennoch zog sie Pawel in den Bann. Als sie sagte, Fleisch sei ein totes Format, hatte er sogar gelächelt. Und er hing an jedem Wort, das sie von sich gab. Wörter, die Vita größtenteils nicht verstand, wie kortikales Modem, Cyborg, Mind-uploading oder biohybrides Forschungsprogramm. Einige hatte sie nachgeschlagen, als sie sah, wie angeregt Pawel mit der Wissenschaftlerin diskutierte. Dabei hatte er sie doch gar nicht eingestellt, weil sie angeblich so brillant war.
Er ging mit dem Telefon in der Hand an Vita vorbei, den Blick auf das Display gerichtet. Dabei kaute er auf der Innenseite seiner Wange. Noch etwas, das er nur tat, wenn er aufgewühlt war. Vita sah ihm nach. Er verschwand im Flur. Der dicke Teppich schluckte seine Schritte, die Bürotür fiel zu.
Zwei Stunden später saß Vita in einem Café in Schukowka, rührte mit einem Löffel aus Kandiszucker in einem Latte Macchiato und wartete auf Irina, die einzige Freundin, die ihr aus ihrer Zeit als Model geblieben war. Genau wie sie hatte Irina den Ausstieg rechtzeitig geschafft. Ihr Mann war in der Industrie tätig, er hatte sich einen Kilometer weiter westlich an der Rubljowka niedergelassen. Im Hintergrund lief Fashion TV.
Irina kam wie immer zu spät. Über dem bauchfreien Top trug sie einen Pelzmantel, ihre Füße steckten in Stilettos.
»Vikulja, Schätzchen!« Die vollen Lippen formten Küsschen, dann sah sie den Latte Macchiato. »Was ist passiert? Warum bist du nicht ins Yoga gekommen?«
Vita erzählte ihr von Pawels seltsamem Verhalten.
Irina griff nach ihrer Hand. »Das hat bestimmt nichts mit dir zu tun.«
»Er begann plötzlich, von Meisterwerken zu reden. Ob er mir damit zu verstehen geben will, dass ich ihm nicht mehr genüge?«
»Blödsinn«, sagte Irina und bestellte einen Tee. »Andrejs Tod macht ihm zu schaffen, das ist alles. Du sagst selbst, dass Pascha nichts so sehr fürchtet wie den Tod.«
Vita tauchte den Löffel in den Milchschaum. Hatte Pawel den Nautilus erstanden, weil er die Unendlichkeit symbolisierte, und nicht etwa, weil er perfekt war? Den Tod hatte er schon immer unerträglich gefunden. Deswegen hatte er vor einigen Jahren seine Firma ausgebaut. Er wollte mehr in die Forschung investieren. Ein Mittel gegen den Tod finden. Bisher hatte sein Engagement allerdings einzig Dr. Kat auf den Plan gerufen. Sie war an einem Projekt der Europäischen Union beteiligt, wo Pawel sie abwarb. Damals hatte er seine Pläne noch mit ihr besprochen, dachte Vita. Sie erinnerte sich genau daran, wie begeistert er über Dr. Kats Zusage war.
Irina, die Vitas Sorgen auf Andrejs Tod zurückführte, sah sie mitfühlend an. »Hat man seine Leiche immer noch nicht gefunden?«
Vita senkte den Blick. »Nein.«
»Schätzchen«, wiederholte Irina. »Hör auf, dir Gedanken zu machen. Das beschleunigt bloß den Alterungsprozess. Lass uns lieber über die nächste Behandlung reden. Ich könnte wieder einmal ein Hydra-Facial gebrauchen. Bist du dabei?«
Eine Gesichtsbehandlung würde ihre Probleme kaum lösen, dachte Vita. Diese Zeiten waren vorbei.
»Schluss mit dem Selbstmitleid!«, rief Irina. »Ich melde uns an.«
»Meinetwegen«, seufzte Vita.
Auf Fashion TV lief ein Model aus Kiew über den Laufsteg. Sie trug ein Kimono-Spitzenkleid von Dior, das mehr zeigte als es verhüllte.
Irina deutete auf den Bildschirm. »Luba hört auch bald auf.«
»Hat sie einen Mann kennengelernt?«
Irina, die Klatsch liebte, beugte sich vor. »Einen chinesischen Investor. Er soll eine ganze Insel besitzen. Sie werden heiraten! Nächste Woche gehen wir zusammen essen, und sie wird mir alles erzählen. Kommst du mit? Luba würde sich bestimmt freuen, dich wiederzusehen.«
Vita lehnte ab. Sie konnte sich nicht vorstellen, in ihrer jetzigen Verfassung einem jungen Model gegenüberzusitzen. Ein Spiegel all dessen, was sie einmal war.
Er kam nicht. Das Auditorium war bis auf den letzten Platz mit Fakultätsmitgliedern und ihren Angehörigen besetzt, aber Michael befand sich nicht unter ihnen. Julia hatte sich so hingesetzt, dass sie den Eingang während der Veranstaltung im Auge behalten konnte. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, keimte Hoffnung in ihr auf. Jedes Mal wurde sie enttäuscht.
»Henry Sanders ist weit über die Columbia University hinaus bekannt für seinen Einsatz für Chancengleichheit«, sagte der Direktor des Department of Astronomy am Rednerpult. »Ihm ist es zu verdanken, dass heute mehr Angehörige von ethnischen Minderheiten Naturwissenschaften, Mathematik, Ingenieurwissenschaften und Informatik studieren.«
Michaels Abwesenheit nahm so viel Raum ein, dass Julia sich darin zu verlieren drohte. Doch Henry verdiente ihre ganze Aufmerksamkeit. Nicht nur sie, auch Michael verdankte ihm viel. Henry hatte sein Talent früh erkannt und sein Interesse an den Naturwissenschaften gefördert. Das Teleskop, das sie gemeinsam gebaut hatten, stand immer noch am Fenster im Dachgeschoss ihres Hauses. Im Wald hatten sie die Himmelskörper des Sonnensystems nachgestellt. Julia liebte es, mit Sam zum steinernen Neptun oder durch den Kuipergürtel zu den Zwergplaneten zu spazieren, einer Ansammlung von Baumstümpfen in unterschiedlichen Größen. Dahinter hatten Henry und Michael wilde Brombeeren gepflanzt, sie bildeten den Teilchenstrom der Sonne, der sich verlangsamte und verdichtete.
Verdammt, Michael, du schuldest es ihm, hier zu sein!
Applaus füllte den Saal. Henry trat auf die Bühne und nahm seine Auszeichnung entgegen. In einer kurzen Rede bedankte er sich für die Unterstützung der Fakultät und lobte die Studierenden.
»Nicht ich bin es, der diese Auszeichnung verdient, sondern die angehenden Naturwissenschaftler, die hart für ihren Studienplatz gekämpft haben und täglich Höchstleistungen erbringen. Es ist mir eine Ehre, mit ihnen zusammenzuarbeiten.«
Es waren keine Floskeln, das wusste Julia. Henry begegnete den Menschen, die ihn umgaben, mit Neugier und Wärme. Auch sie war mal offen und vertrauensvoll gewesen, inzwischen war ihr Misstrauen aber zu einer zweiten Haut geworden. Ohne diese wäre sie sich ungeschützt vorgekommen. Darunter litt auch ihre Beziehung zu Henry. Er teilte seine Gefühle und Gedanken mit ihr, auch wenn er sich dadurch verwundbar machte. Sie hingegen wog ab, wie viel sie von sich preisgab. Nicht nur aus Angst, sondern auch, weil ihre Liebe zu Andrej nie ganz erloschen war. Nach seiner Ermordung hätte sie sich am liebsten zu ihm ins Grab gelegt. Stattdessen hatte sie ihre Gefühle begraben.
Das Publikum hatte aufgehört zu klatschen. Es wurde hell im Saal, und der Lärmpegel schwoll an. Jetzt kam der schwierigste Teil des Abends. Hände schütteln, während Henry Glückwünsche entgegennahm, Small Talk mit seinen Arbeitskollegen, Worte abwägen, Informationen dosieren.
Eine rundliche Frau kam auf sie zu, um den Hals trug sie eine Goldkette, an der eine Lesebrille hing. »Wir haben dich bei der Abschlussfeier im Sommer vermisst!«
»Margaret«, lächelte Julia.
»Ich freue mich so für Henry«, strahlte die Professorin. »Es gibt niemanden, der diese Auszeichnung mehr verdient als er. Wie läuft es mit den Übersetzungen? Arbeitest du gerade an einem spannenden Text?«
»Wenn du Montageanleitungen für Waschraumausstattungen spannend findest …«, antwortete Julia trocken.
»Ich wollte schon immer wissen, wie eine Hygieneschleuse funktioniert.« Margaret zwinkerte ihr zu.
»Mir gefiel das Datenschutzkonzept besser.«
Vor einigen Monaten hatte Julia für eine internationale Firma ein IT-Sicherheitskonzept vom Deutschen ins Englische übersetzt. Margaret, die an der Columbia University eine Professur für Cybersecurity innehatte, hatte ihr einige Fachbegriffe erläutert.
»Wie geht es deiner Tochter?«, fragte Julia. »Arbeitet sie immer noch in Hongkong?«
Margaret faltete die Hände vor der Brust. »Sie wird heiraten!«
»Wer ist der Glückliche?«
»Der Bruder einer Arbeitskollegin.«
»Ist er auch Banker?«
»Um Gottes willen, nein. Er ist für eine NGO tätig. Die beiden könnten nicht unterschiedlicher sein. Vince meint, er werde ihr guttun. Er begreift immer noch nicht, wie sie eine Laufbahn als Bankerin einschlagen konnte.«
Margarets Mann Vince arbeitete in einem Institut für ABC-Schutz. Auch für ihn hatte Julia schon Texte übersetzt.
Hinter Margaret tauchte ein Doktorand auf. Julia entschuldigte sich und machte sich auf die Suche nach Henry. Das Publikum drängte in die Eingangshalle, wo sich das Buffet befand. Julia entdeckte Henry bei den Häppchen. Sie sah sein breites Lachen, und ihr wurde warm ums Herz. Sie schob sich an zwei Frauen vorbei, die stehen geblieben waren, um sich zu begrüßen. Sie war fast bei Henry angelangt, als ein Gesicht vor ihr aufblitzte. Helle Augen. Eine breite Stirn. Andrej? Julias Herz setzte einen Schlag aus. Sie kämpfte sich durch die Menschenmenge. Das Gesicht war verschwunden.
Julia fächerte sich Luft zu. Unmöglich, dass Andrej hier war. Oder in einem Auto vor Henrys Wohnung gesessen hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Henry neben ihr.
»Mir ist nur etwas heiß.«
»Möchtest du an die frische Luft?«
Sie schüttelte den Kopf.
Immer wieder kamen Kollegen, um Henry zu gratulieren. Julia blieb an seiner Seite, bis die letzten Gäste gegangen waren. Kurz vor Mitternacht saßen sie in einem Taxi nach Inwood. Vor ihnen leuchteten die Tragseile der George-Washington-Brücke, die Lichter spiegelten sich im Hudson River.
»Es tut mir leid, dass Michael nicht gekommen ist«, sagte Julia.
Sie hatte erwartet, dass Henry Michaels Fernbleiben herunterspielen würde, stattdessen blickte er sie nachdenklich an.
»Es passt nicht zu ihm, ein Versprechen nicht einzuhalten«, sagte er.
»Er war furchtbar wütend, als er ging«, gab Julia zu bedenken.
»Er hätte sich entschuldigt.«
Normalerweise war sie es, die sich Sorgen um Michael machte. Henrys Worte beunruhigten sie deshalb umso mehr.
»Vielleicht ist es Zeit, seine Fragen zu beantworten«, sagte Henry unvermittelt.
Julia rutschte ein wenig von ihm weg. Er traute sich nur selten, seine Meinung zu diesem Thema zu äußern.
»Hast du nie daran gedacht, dass sich Michael auch ohne deine Hilfe auf die Suche nach Antworten machen könnte?«, fuhr Henry fort. »Er ist nicht dumm.«
Natürlich hatte Julia daran gedacht. Seit jenem verhängnisvollen Tag, an dem sie mit Michael gesprochen hatten, malte sie sich alle denkbaren Szenarien aus.
In Gedanken saß sie wieder am Esstisch in Upstate New York. Die blasse Wintersonne schien durch das Fenster; auf dem Sims lag ein verschrumpelter Kürbis, den sie an Halloween zusammen geschnitzt hatten, und warf einen unförmigen Schatten auf den Holzboden.
»Ich möchte den Führerschein machen«, sagte Michael, während er sich Ketchup auf den Teller drückte.
»Wozu brauchst du ein Auto?«, wich Julia aus.
»Ich will ja kein Auto, sondern einen Führerschein.«
»Das hat noch Zeit.«
Michael beugte sich vor, er merkte nicht, dass die Kordel seines Hoodies im Ketchup gelandet war. »Alle in meiner Klasse machen den Führerschein!«
»Lass uns im Sommer darüber reden«, sagte Julia. »In den Semesterferien kann Henry mit dir üben.«
Michael war entsetzt. »Im Sommer? Dann bin ich fast siebzehn!«
»Das ist früh genug.« Julia sah Henry Hilfe suchend an, doch der hatte den Blick abgewandt.
Michael legte seine Gabel zurück. »Aber die Theorieprüfung, zumindest die kann ich jetzt schon machen, oder?«
Julia schwieg.
Michael sah von ihr zu Henry. »Was ist los? Warum schaut ihr so komisch?«
Eine Krähe landete auf dem Fenstersims, pickte am Kürbis und flog davon.
Michael wurde ungeduldig. »Was ist?«
Henry räusperte sich.
Julia schüttelte kaum merklich den Kopf, aber er war bereits aufgestanden, rückte seinen Stuhl neben den von Michael und nahm wieder Platz. Jede Zelle in ihrem Körper wehrte sich gegen das, was nun kommen würde. Julia hatte diesen Moment immer wieder hinausgeschoben, denn sie wusste, waren die Worte einmal ausgesprochen, gab es kein Zurück.
»Sohn«, begann Henry in väterlichem Ton. »Es gibt etwas, das wir dir sagen müssen.«
Michael sah ihn neugierig an.
»Ich habe deine Mutter in Rockaway Beach kennengelernt«, erzählte Henry langsam.
»Ich weiß«, antwortete Michael. »Sie saß am Strand und las ein Buch, und die Sonne schien auf ihr blondes Haar, und sie wirkte zerbrechlich –«
»Nein.«
»So hast du es aber immer erzählt.«
»Sie saß am Strand, ja.« Henrys Stimme zitterte leicht. »Aber sie las kein Buch. Sie spielte mit dir.«
Michael schüttelte den Kopf. »Ich war noch gar nicht geboren.«
»Du warst fünf Monate alt«, sagte Henry.
Julia beobachtete, wie die Veränderung einsetzte. Aus Michaels Verwirrung wurde Verwunderung, dann Betroffenheit und schließlich Fassungslosigkeit.
»Dann … kannst du gar nicht mein Vater sein«, brachte er hervor.
»Ich bin nicht dein leiblicher Vater, nein.« In Henrys Augen standen Tränen.
Michael schaute ihn mit offenem Mund an. »Wer dann?«, stotterte er.
Julia mied seinen Blick. »Dein Vater ist tot.«
»Tot?« Michael schob den Stuhl zurück.
»Setz dich, Sohn«, sagte Henry sanft.
Michael wirbelte herum. »Ich bin nicht dein Sohn!«
»Natürlich bist du das.« Henry erhob sich ebenfalls und breitete die Arme aus, doch Michael wich zurück.
»Meine Geburtsurkunde!« Trotz des Schocks war Michael in der Lage, klar zu denken. »Deshalb darf ich den Führerschein nicht machen. Ich brauche dazu meine Geburtsurkunde. Darauf steht der Name meines Vaters. Ich will sie sehen!«