Kalte Strömung - Mary-Jane Riley - E-Book

Kalte Strömung E-Book

Mary-Jane Riley

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die 17-jährige Elena, Tochter der prominenten Politikerin Cat Devonshire, wird in Norfolk tot am Fuß einer Klippe aufgefunden – Selbstmord laut Polizei. Cat plagen Gewissensbisse, da sie und ihr neuer Ehemann Elena in ein Internat abgeschoben hatten, um ihr junges Eheglück ungestört genießen zu können. Verzweifelt bittet sie die Journalistin Alex, die Hintergründe zu Elenas Tod herauszufinden. Bei ihren Recherchen stößt Alex jedoch auf großes Misstrauen, die Mitarbeiter und Schüler feinden sie an und bedrohen sie. Bald wird klar, dass sich hinter der Fassade des Elite-Internats tiefe Abgründe verbergen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 424

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die 17-jährige Elena, Tochter der englischen Politikerin Catriona Devonshire, wird in North Norfolk tot am Fuß einer Klippe aufgefunden. Elena hatte nach dem Tod ihres Vaters unter Depressionen und Bulimie gelitten, weshalb die Polizei von Selbstmord ausgeht und den Fall bald zu den Akten legt. Ihre Mutter Cat wird von Gewissensbissen geplagt, da sie und ihr neuer Ehemann Elena auf das Eliteinternat »The Drift« abgeschoben hatten, um sich um ihr junges Eheglück und ihre Karrieren zu kümmern. Sie glaubt nicht an einen Selbstmord und bittet ihre Jugendfreundin Alex, die als Journalistin arbeitet, die Hintergründe des tragischen Ereignisses zu ermitteln. In dem kleinen Städtchen Hallow’s Edge, in dem die Schule liegt, stößt Alex auf Ablehnung und Misstrauen, Mitarbeiter und Schüler feinden sie an und bedrohen sie sogar. Schnell wird Alex klar, dass sich hinter der Fassade des Internats tiefe Abgründe verbergen …

Weitere Informationen zu Mary-Jane Riley sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Mary-Jane Riley

Kalte Strömung

Roman

Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »After She Fell« bei Killer Reads, an imprint of HarperCollins Publishers, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2018

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Mary-Jane Riley

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München // Haus: mauritius images / David Moore / Happisburgh / Alamy

Redaktion: Friederike Arnold

em · Herstellung: kw

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-22286-4V002www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für meine Brüder: Patrick, Robert und Francis

DEZEMBER

Zuerst bemerkte er die Leiche gar nicht, weil er gebückt ging, damit ihm der schneidende feuchte Wind vom Meer nicht ins Gesicht peitschte.

Der Alte hatte den abgewetzten, alten Mantel dicht um sich gezogen und blickte auf seine Füße, deren Abdrücke im nassen Sand sich mit Wasser füllten. Als er aufschaute, sah er im grauen Morgenlicht Algen in den gischtenden Wellen. Der Alte blinzelte. Es waren keine Algen, sondern Haare. Er trat näher. Ein junges Mädchen, das fahle Gesicht verquollen bis zur Unkenntlichkeit. Ein Teil des Schädels fehlte, der Kopf war abgeknickt wie bei einer zerbrochenen Puppe, ein Auge starrte blicklos zum Himmel auf. Armes Ding, dachte der Alte. Armes, armes Mädchen. Als er zu der Klippe hinaufblickte, die jäh zum Meer abfiel, meinte er, dort eine Gestalt zu sehen, war jedoch nicht sicher. Über ihm kreischte schrill eine Möwe.

Fünf Monate später

Daily Courier

Die Tochter einer Spitzenpolitikerin hat sich das Leben genommen, wie bei einer Gerichtsanhörung festgestellt wurde. Das Mädchen litt an Depressionen und einer Essstörung.

Die Leiche von Elena Devonshire, der siebzehnjährigen Tochter von MdEP Catriona Devonshire, wurde im Dezember am Fuße einer Klippe in Hallow’s Edge in North Norfolk gefunden, unweit des Internats, das sie besuchte.

Bei der Obduktion wurden zahlreiche für einen Sturz typische Verletzungen festgestellt. Weitere Untersuchungen ergaben Hinweise auf eine geringe Menge Cannabis im Blut.

Bei der gestrigen Gerichtsanhörung wurde bekannt, dass Elena zwischen ihrem vierzehnten und sechzehnten Lebensjahr an Depressionen und einer Essstörung litt.

Laut Vic Spring von der Kriminalpolizei in Norfolk entdeckte man im Handy von Elena, das in ihrem Zimmer im Internat The Drift gefunden wurde, eine Nachricht an ihre Mutter, die »stark vermuten lässt«, dass Elena Suizid begangen habe. »Es gibt keinerlei Hinweise auf verdächtige Umstände im Zusammenhang mit Elenas Tod und keinerlei Aufsichts­pflichtsverletzungen seitens des Internats«, sagte Spring.

Untersuchungsrichterin Sarah Knight aus Norfolk erklärte den Fall für abgeschlossen, bei dem es sich zweifelsfrei um einen Suizid gehandelt habe.

Nach der Gerichtsanhörung sagte Mrs Devonshire, ihre Tochter sei wegen ihrer Depression und ihrer Essstörung in Behandlung und vollständig genesen gewesen. »Meine Tochter freute sich darauf, an Weihnachten nach Hause zu kommen.«

Ingrid Farrar von der Schulleitung des Internats sagte: »Mrs Devonshire und Elenas Stiefvater Mark Munro gilt unser tiefstes Mitgefühl in dieser schlimmen Zeit. Das Internat kümmert sich eingehend um die seelischen Belange der Schüler und Schülerinnen, und wir sind froh, dass wir Elena zur Seite stehen konnten.«

Catriona Devonshire wurde vor eineinhalb Jahren für den Süden und Osten Englands ins Europaparlament gewählt und ist eine engagierte Kämpferin für Menschenrechte.

1

MAI

Trotz der Hitze draußen war das einzige Fenster im Raum fest geschlossen. Alex Devlins Schwester saß auf einem Stuhl und starrte hinaus in den Garten, wo andere Patienten rauchend herumstanden oder auf Bänken Platz genommen hatten. Eine Frau redete lebhaft auf eine Pflegerin ein, die nickte und in die Ferne schaute. Der Garten sah um diese Jahreszeit bezaubernd aus. Der üppige Rasen war leuchtend grün, die Rosen begannen zu blühen, und die Birken entfalteten ihre Blätter. Alex kam es beinahe vor, als könne sie den süßen Duft des Geißblatts riechen, das sich an einem Ende des Gartens durch den Bambus rankte, und sie wäre liebend gerne nach draußen geflüchtet.

»Sash? Wollen wir vielleicht in den Garten gehen? Es ist ein wunderschöner Tag.«

Seit fünfzehn Minuten war Alex hier, und ihre Schwester hatte bislang noch kein einziges Wort gesprochen. Alex unterdrückte ein Seufzen. Munter zu plaudern, wenn keinerlei Reaktion kam, war schwierig. Und es gab nicht das geringste Anzeichen dafür, dass Sasha die Worte ihrer Schwester überhaupt wahrnahm.

Alex sah sich um. Trotz der Umstände konnte man das Zimmer durchaus als behaglich bezeichnen. Es war in Pastelltönen eingerichtet, auf dem Bett lag Sashas Patchworkdecke. An den Wänden hingen zwei Bilder, allerdings ohne Glas im Rahmen: eine Szene mit Strandhütten und Möwen und ein kleines Foto von Sashas Zwillingen im Sonnenschein und mit einem Eis in der Hand. Die Regale waren angefüllt mit Sashas Lieblingsbüchern, von Enid Blyton bis Kate Atkinson. Brauchte Sasha irgendetwas? Die Seife, die Alex beim letzten Besuch mitgebracht hatte, war noch nicht einmal ausgepackt. Alex unternahm einen weiteren Versuch.

»Liebes, es ist wunderschön draußen und für Ende Mai richtig warm. Weißt du noch, wie sehr du den Sommer immer geliebt hast?«

»Harry und Millie haben den Sommer geliebt.« Eine Trä­ne rann über Sashas Wange.

Alex’ Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Endlich Worte, aber so voller Schmerz. Sie wollte ihre Schwester umarmen, aber Sasha schob sie weg und knurrte: »Geh jetzt.«

Doch Alex wollte noch nicht aufgeben. »Bitte, Sasha, lass uns ein Weilchen rausgehen. Ein bisschen spazieren gehen. Die Sonne im Gesicht spüren. Uns daran freuen, dass wir zusammen sind, für ein paar Minuten zumindest.«

»Freuen?« Sasha rührte sich nicht, und ihre Stimme klang gedämpft. »Ich kann mich nicht mehr freuen, Alex, das weißt du doch. Ich habe alles verloren. Harry. Millie. Jez. Mir ist nichts geblieben.« Ein Schluchzen erschütterte ihren Körper. »Bitte geh«, flüsterte sie.

»Du hast dich doch schon genug bestraft, Sasha«, erwiderte Alex beschwörend. »Lass uns rausgehen. Bitte. Nur dieses eine Mal.«

Stille. Sasha starrte reglos zum Fenster hinaus. Alex wusste, dass es heute sinnlos war. Sie beugte sich zu ihrer Schwester hinunter und küsste ihre kalte Wange. »Alles Gute, Sash. Ich komm dich so bald wie möglich wieder besuchen.«

Keine Reaktion.

Leise zog Alex die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. War dieser Besuch besser verlaufen als der letzte? Zumindest hatte Sasha gesprochen. Bislang hatte sie meist nur geschwiegen, da konnten ein paar bittere Worte bereits als Fortschritt betrachtet werden. Aber der Schmerz in Sa­­shas Augen war kaum auszuhalten. Alex konnte sich nicht vorstellen, was sich in ihrem Kopf abspielte. Wie es sich anfühlte, seine eigenen Kinder getötet zu haben. Sie dachte an ihren Sohn, der jetzt achtzehn war. Er hatte die letzten Jahre beachtlich gut durchgestanden, und sie war stolz auf ihn. An ein Leben ohne ihn mochte sie gar nicht denken.

»Ah, hallo, Alex. Ich wollte gerne mit Ihnen sprechen, be­­vor Sie aufbrechen.« Heather McNulty, die Stationsschwester, kam den Flur entlanggeeilt. Sie war etwas älter als Alex, wirkte sehr gepflegt und trug immer eine heitere Miene zur Schau, obwohl sie den ganzen Tag von teilnahmslosen oder zutiefst verstörten Patienten umgeben war. Heather hatte keine Schwesterntracht an, sondern einen langen wehenden Rock mit Rosenmuster und eine gestärkte weiße Bluse. Glück­licherweise durfte das Pflegepersonal eigene Kleidung bei der Arbeit tragen, so wirkte die geschlossene psychiatrische Abteilung weniger bedrückend. Und Alex fühlte sich weniger schlecht, weil Sasha hier eingesperrt war. Zwei Jahre zuvor hatte ein betagter, gütig blickender Richter verfügt, dass Sasha genug gelitten habe; über fünfzehn Jahre hatte sie mit dem Wissen gelebt, ihre vierjährigen Zwillinge im Meer ertränkt zu haben. Doch es hieß, Sasha müsse in einer geschlossenen Abteilung untergebracht werden. Über Jez, Sashas Mann, der selbst bei der Polizei war, hatte der Richter ein weniger mildes Urteil gefällt. Weil Sashas Mann über den verhängnisvollen Abend jede Menge Falschaussagen gemacht hatte und Schuld daran trug, dass zwei unschuldige Menschen ins Gefängnis gesteckt worden waren, verbüßte er jetzt eine Haftstrafe. Deshalb war Alex dankbar, dass Sasha nur in Leacher’s House gelandet war. Es hätte viel schlimmer kommen können.

Alex rieb sich die Stirn. »Ist so weit alles okay mit Sasha? Sie hat doch hoffentlich nicht wieder angefangen, sich selbst zu verletzen, oder?«

»Nein, nein. Ich würde nur gerne kurz mit Ihnen sprechen. Gehen wir doch in mein Büro.«

Sie folgte der Stationsschwester und fühlte sich dabei zurückversetzt in ihre Schulzeit, als sie hinter der Direktorin hertappen musste, um sich eine Strafpredigt anzuhören. Alex’ Magen zog sich zusammen.

»Nehmen Sie doch Platz, Alex.«

Sie setzte sich.

Heather ging um ihren Schreibtisch herum, ließ sich nieder und faltete die Hände auf dem Tisch. Dann holte sie tief Luft, und Alex spürte einen heftigen Anflug von Angst.

»Ist Sasha krank?« Nervöses Lachen. Lass das, Alex. »Ich meine, noch kränker als sowieso schon?«

Heathers Hände schienen sich zu verkrampfen. »Sasha spricht nicht so gut auf die Behandlung an, wie wir uns das erhofft hatten.«

»Was meinen Sie damit?«

Ein Schatten huschte über Heathers Gesicht, bevor es wieder so heiter wie immer wirkte. »Nun, sie hat … ähm … seit einiger Zeit Wahnvorstellungen.«

Alex blinzelte. »Wahnvorstellungen?«

»Sie bildet sich ein, Jackie Wood ermordet zu haben«, sagte Heather behutsam.

Alex stockte der Atem. Jackie Wood hatte fünfzehn Jahre im Gefängnis gesessen, weil sie fälsch­licherweise wegen Beihilfe zum Mord an Sashas Zwillingen verurteilt worden war. Erst nachdem man Wood aus der Haft entlassen hatte, weil die Beweise von damals für ungültig erklärt wurden, war die Wahrheit über den Tod der beiden Kinder ans Licht gekommen. Doch dann war Jackie Wood umgebracht worden, und der Mord an ihr konnte bis zum heutigen Tag nicht aufgeklärt werden. Alex selbst hatte eine Zeit lang in Erwägung gezogen, ob nicht vielleicht Sasha Jackie Wood getötet hatte, wollte sich jetzt aber nicht mehr damit befassen.

»Da wir natürlich verhindern wollen«, fuhr Heather fort, »dass sich Sashas Zustand verschlechtert, sind wir – das Pflegeteam – zu dem Schluss gekommen, eine andere Behandlungsstrategie anzuwenden.«

»Was soll das bedeuten? Was für eine Behandlung denn? Sie kann aber doch hierbleiben, oder?« Alex merkte, dass sie unwillkürlich lauter sprach, weil sie Horrorvisionen hatte, wie man ihrer Schwester Drogen zwangsverabreichte oder sie einer Elektroschocktherapie unterzog, nach der Sasha nur noch eine leere Hülle war …

»Alex«, sagte Heather fest. »Sie brauchen sich nicht zu ängstigen. Sasha ist hier in guten Händen.«

»Aber es wird ihr doch wieder besser gehen, oder?«

»Wie ich sagte: Sie ist in guten Händen. Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Solche Anpassungen gehören zum Heilungsprozess. Und wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, wissen Sie. Vieles hat sich geändert.« Heather stand auf, das Treffen war beendet. »Wir halten Sie über jeden einzelnen Schritt auf dem Laufenden.«

Auch Alex erhob sich. »Ich danke Ihnen«, sagte sie, obwohl sie eigentlich nicht wusste, für was.

Wahnvorstellungen. Behandlungsstrategie. Jackie Wood. Die Worte kreisten in Alex’ Kopf, als sie in die klare milde Luft hinaustrat und tief einatmete, um den medizinischen Geruch loszuwerden und sich zu beruhigen. Die Sonne strahlte am wolkenlosen Himmel, der so blau war wie auf einer Kinderzeichnung. Wunderschönes Wetter. An solch einem Tag dachte Alex oft an den kleinen Harry. Von Sasha ertränkt, von Jez ans Ufer geholt. Und auch an Millie, die von den Wellen der Nordsee davongetragen worden war. Ob man die Leiche je finden würde? Noch immer betrachtete Alex junge Mädchen in Millies Alter sehr aufmerksam, hielt noch immer unwillkürlich Ausschau nach ihrer Nichte.

Auf dem Weg zum Parkplatz drehte sie sich noch einmal um. Sasha saß immer noch reglos am Fenster. Alex hatte schon lange gewusst, dass es ihrer Schwester nicht gut ging und sie eigentlich professionelle Hilfe brauchte. Doch in all den Jahren war Alex selbst so belastet gewesen von ihrer Trauer um die Zwillinge und von Schuldgefühlen, weil sie eine Affäre mit dem Mann gehabt hatte, der wegen des mutmaß­lichen Mordes an den Zwillingen im Gefängnis gesessen hatte. Aber nun versuchte sie, etwas wiedergutzumachen.

Sie blickte noch einmal zu ihrer Schwester hinauf und wurde mit einer winzigen Bewegung belohnt, die eine Art Winken sein mochte. Seit einer Ewigkeit war so etwas nicht mehr vorgekommen, und Alex spürte eine Aufwallung von Liebe für ihre arme, gequälte Schwester. Nie wieder durfte Sasha im Stich gelassen werden.

2

Das kleine Haus, eine einstige Remise, war nicht weit entfernt von Harrods und dem wohlhabenden Teil von Knightsbridge. In dieser Gegend roch es förmlich nach Geld, fand Alex, als sie vor der blutroten Tür stand, zwischen Rosenstöcken in quadratischen Blumentöpfen. Die Blüten waren lachsrosa und verströmten einen schweren süßen Duft. Fensterrahmen und Garagentor waren im selben Blutrot gestrichen. Dieser Farbton oder ein kräftiges Grün fand sich auch bei den anderen Reihenhäusern. Drei Stockwerke makellose Perfektion. Nicht schlecht, einstmals waren die Häuser Stallungen gewesen.

Alex klopfte an die Haustür.

Die Frau, die vor ihr stand, sah aus, als habe sie tagelang kein Auge zugetan. Auch das starke Make-up konnte die fahle Haut, die tiefen dunklen Schatten unter den Augen nicht verbergen. Catriona Devonshire trug Jeans und T-Shirt, in den Ohren glitzerten Diamantstecker. Der Duft ihres teuren Parfums war überlagert von Zigarettenrauch.

»Alex. Danke, dass du gekommen bist.« Catriona hielt sich so krampfhaft am Türrahmen fest, als fürchte sie umzufallen.

»Cat«, sagte Alex und umarmte die Frau, die früher einmal ihre beste Freundin gewesen war. »Das ist doch selbstverständlich.«

Alex hatte keinen Moment gezögert herzukommen, obwohl sie eigentlich auf der Jagd nach Stoff für Reportagen, nach Aufträgen und Honoraren hätte sein müssen.

Als sie heute dem Nachrichtenredakteur eine Idee für eine Reportage über illegalen Organhandel dargelegt hatte, hatte Bud sich in seinem Bürostuhl zurückgelehnt und sie unter seinen buschigen Augenbrauen hervor fixiert. »Hatte heute Morgen einen Anruf.«

»Aha«, erwiderte sie und fragte sich, was das mit ihr zu tun haben sollte.

»Jemand hat nach dir gefragt.«

»Ach ja?« Wie üblich glaubte Bud, er könne die Spannung steigern, erreichte damit jedoch nur, dass Alex ungeduldig wurde. Sie hatte aber nicht die Absicht, sein Spielchen mitzumachen. »Jedenfalls, Bud, was die Organraubstory angeht. Ich bin noch am Anfang mit den Recherchen, habe aber von einer zuverlässigen Quelle gehört …«

»Willst du gar nicht wissen, wer es war?«

Alex sah ihren Redakteur an, der wie üblich in seinem Kabuff in einer dunklen Ecke des Büros hockte, »damit die Erbsenzähler mich nicht finden«, wie er immer sagte. Buds Wampe ruhte beinahe auf dem Schreibtisch. Der PC war nach hinten geschoben, davor türmten sich hohe Stapel der Post aus vergangenen Jahren. Rundherum ein Tohuwabohu aus Pressemitteilungen, Zeitungsausschnitten, Notizen und weiß der Himmel was noch. Auch Kaffeebecher, einige davon bereits mit einer schleimigen Schicht am Boden. Das Einzige, was Bud Evans noch fehlte, um das Klischee vom Zeitungsmann alter Schule zu vervollkommnen, war ein Stirnband mit grünem Schirm. Bud war ein harter Brocken. Aber er war gut zu Alex gewesen; hatte sie als Einziger eingestellt, nachdem alles über Sasha an die Öffentlichkeit gedrungen war und Alex Sole Bay verlassen wollte, um in der Anonymität von London unterzutauchen. Als blutjunge Anfängerin hatte Bud sie vor vielen Jahren unter seine Fittiche genommen und nun ein weiteres Mal gerettet. Dafür war sie dankbar und fühlte sich ihm verpflichtet.

Alex grinste. »Was, wenn ich jetzt nein sage?«

Bud stieß einen Laut aus, der eine Mischung aus Schnauben und Husten war. »Du willst es aber wissen.«

Sie verdrehte die Augen. »Na, dann lass hören.«

»Mitglied des Europaparlaments«, verkündete er gewichtig. »Wollte nur dich persönlich sprechen. Du seist angeblich eine alte Freundin von ihr. Wusste gar nicht, dass du dich in so illustren Kreisen bewegst. Oder verheimlichst du was vor mir? Turtelst du mit dem Feind?«

»Europaparlament?« Da kam nur eine einzige Person infrage: Catriona Devonshire.

Während ihrer gesamten Schulzeit waren die beiden Mädchen unzertrennlich gewesen. Cat hatte für Alex die Schwester verkörpert, die Sasha nicht sein konnte. Die Freundinnen hatten einander ihre Geheimnisse, Probleme und Sorgen anvertraut und geschworen, immer füreinander da zu sein. Obwohl sie später an unterschied­lichen Universitäten studierten, blieben sie immer in Kontakt. Als Gus geboren wurde, ließ Cat ihren just geehelichten Mann allein zu Hause zurück, legte in ihrer gerade aufblühenden politischen Laufbahn eine Pause ein und wohnte eine Zeit lang bei Alex, ohne über deren Situation zu urteilen. Cats Anwesenheit war damals Balsam für Alex’ Seele gewesen.

Nach dem Tod der Zwillinge verengte sich Alex’ Welt, und ihr Leben war von Schuldgefühlen und ihrer Sorge um Sasha bestimmt. Weil in Alex’ Kopf nur noch Platz für ihre Schwester war, kümmerte sie sich um niemand anderen mehr, auch nicht um Cat. Und als wenige Wochen später Cats Tochter Elena geboren wurde, brach Alex jeg­lichen Kontakt zu ihrer Freundin ab.

»Aber ich wünsche mir, dass du Elenas Patin wirst«, hatte Cat damals flehentlich gesagt.

Alex bemühte sich um einen nüchternen Tonfall, als sie erwiderte: »Cat, du hast deine Familie und deine Karriere. Jeg­liche Verbindung mit mir würde das alles zerstören. Wir müssen Abstand voneinander halten.«

»Aber, Al…«

»Nein, Cat. Ich muss bei meiner Familie sein.« Und dann der Satz, der ihrer Freundschaft damals den Todesstoß zu versetzen schien: »Ich brauche dich nicht mehr, Cat. Ich muss mich um Sasha und Gus kümmern. Das ist meine Familie. Diese Menschen brauchen mich jetzt.« Obwohl es Alex damals fast umgebracht hatte, diese zerstörerischen Sätze auszusprechen, wollte sie unter allen Umständen verhindern, dass Cats Leben durch die unheilvollen Ereignisse beeinträchtigt wurde.

Danach war Cat aus Alex’ Leben verschwunden.

Doch sie hatte Cats Karriere weiter verfolgt und war stolz auf ihre Freundin, die auf der politischen Karriereleiter immer höher kletterte. Und aus der Ferne hatte Alex mit Cat getrauert, als ihr Mann Patrick plötzlich verstarb. Und noch mehr, als ihre Tochter Elena tot am Fuße einer Klippe aufgefunden wurde. Alex hatte zur Beerdigung gehen wollen, war aber zu dem Zeitpunkt wegen einer Reportage in Spanien gewesen.

Und nun meldete sich Cat bei ihr, und Hoffnung keimte in ihr auf. Vielleicht bot sich jetzt die Gelegenheit, die Beziehung zu kitten. Vielleicht würde Cat ihr die harten Worte von damals verzeihen. Es kam Alex vor, als habe sie eine zweite Chance bekommen.

»Alex? Alex? Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

Sie blinzelte. »Entschuldige, Bud. Was hast du gesagt?«

»MdEP? Will persönlich mit dir sprechen, hat aber keine Nummer von dir. Möchte dir vielleicht eine Story anbieten.«

»Okay, wer ist denn das …«

»Catriona Devonshire. Ist sie eine Freundin von dir?«

»War sie früher mal.«

»Sie sprach von einer Exklusivstory. Für die Zeitung, bei der du arbeitest.«

Schlauer Zug.

»Hast du ihre Nummer?«, fragte Alex so gelassen wie möglich.

»Jawoll. Privatnummer, sagte sie. Keine Ahnung, warum sie mir die anvertraut hat.« Bud gab wieder sein schnaubendes Lachen von sich. »Scheint vollkommen versessen darauf zu sein, mit dir zu reden.« Er griff nach seiner E-Zigarette und saugte wie wild daran. »Verflucht, wie ich diese Dinger hasse«, murmelte er verdrossen, als Dampfwolken aufstiegen. »Warum muss die Scheißregierung uns allen Spaß versauen?« Er nahm die E-Zigarette aus dem Mund und betrachtete sie schwermütig. »Gar nicht zu vergleichen mit einer echten.« Bud steckte sich das Ding erneut in den Mund.

»Aber uns geht es doch jetzt hier im Büro gesundheitlich viel besser, nicht wahr?«, wandte Alex freundlich ein. »Und, gibst du mir Cats Nummer?«

»›Cat‹ heißt sie jetzt schon, wie? Warte. Hab sie hier irgendwo notiert.« Bud begann, in den zahllosen Papieren herumzukramen. Das wird doch nie was, dachte Alex frus­triert und hielt gespannt die Luft an.

»Ha! Wer sagt’s denn!« Triumphierend wedelte er mit einem Zettel.

»Danke dir.« Sie atmete wieder ein, schnappte sich den Zettel und wollte sich vom Acker machen.

»Und, Alex?«

»Ja?« Sie musste sich das Lachen verkneifen. Bud sah mit seiner komischen E-Zigarette wirklich alles andere als cool aus.

»Die Lady hörte sich ziemlich verzweifelt an. Ich weiß nicht, worum es geht, aber Storys mit korrupten Politikern verkaufen sich immer. Am allerbesten Sexskandal. Hat sie nicht unlängst diesen viel jüngeren Mann geheiratet?«

»Mark Munro?«

»Genau den. Irgend so einen Senkrechtstarter aus der Wirtschaft.«

»Die beiden haben letztes Jahr geheiratet. Hals-über-Kopf-Romanze und Hochzeit im Ausland.«

»Und er ist viel jünger als sie«, sagte Bud nachdenklich. »Vielleicht …«

Alex zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte, die Post sei eine seriöse Zeitung, kein Revolverblatt mit Schmuddelreportagen. Und wenn ein Mann eine viel jüngere Frau heiratet, kräht doch heutzutage kein Hahn mehr danach.«

»Ach, Schluss mit deinem feministischen Genörgel. Wir haben sinkende Auflagenzahlen und sind dankbar für alles.« Bud grinste. »Beinahe alles. Sofern du es auf die richtige Art schreibst. Also, wenn du da eine Story witterst …«

Alex erwiderte das Grinsen. »Keine Sorge. Dann erfährst du es als Letzter.« Sie zwinkerte Bud zu, bevor sie die Tür hinter sich schloss. Die Story über den Organhandel würde wohl noch eine Weile warten müssen.

Deshalb saß Alex am nächsten Tag auf dem weißen Ledersofa im Haus der Devonshires. Bei der Einrichtung hatte man Wert auf Behaglichkeit gelegt: dicke flauschige Teppichböden, bequeme Sofas, einer dieser künst­lichen Kamine, die ein Vermögen kosteten. Geschmackvolle Gemälde, vermutlich von angesagten jungen Künstlern. Ein Tisch, eine große Hängeleuchte. Ein mit Papieren übersäter Schreibtisch, der Alex an den ihres Redakteurs erinnerte, war das Einzige, was nicht zum Gesamtstil passte. Und deutlich spürbar war die traurige Atmosphäre.

Catriona Devonshire saß auf dem Rand des Sofas und zog an ihrer Zigarette, als hinge ihr Leben davon ab. Ihre Hände mit den abgekauten Fingernägeln zitterten, der Lack war abgeplatzt. Cats Mann Mark, ein großer dunkelhaariger Mann um die dreißig mit der jungenhaften Attraktivität eines Filmschauspielers stand an dem wandhohen Fenster. Er strahlte eine Angespanntheit aus, die Alex schwer deuten konnte. Machte er sich Sorgen, oder war er wütend? Sie erinnerte sich noch an die spöttischen Kommentare der Presse über den Altersunterschied der beiden. Es war sicher nicht leicht für Mark Munro gewesen: Schlagzeilen über die Heirat mit ­Catriona und Schlagzeilen über den Tod ihrer Tochter.

»Kaffee?«, fragte Cat, sprang abrupt auf und drückte hastig ihre Zigarette in dem Ascher auf der Lehne des Sofas aus. Er wackelte, blieb aber stehen.

»Nein danke«, antwortete Alex. Sie hätte durchaus etwas zu trinken brauchen können, fühlte sich aber von dem penetranten Weiß überall so bedrängt, dass sie fürchtete, das Getränk zu verschütten. »Aber trink du ruhig einen.«

»Hab ich schon.« Cat wies auf ein Tischchen neben sich. »Jeder, der herkommt, macht mir Kaffee. Sogar Mark. Als würde das irgendwas helfen.« Sie setzte sich wieder. »Danke übrigens für deinen Brief. Wegen Elena.« Cats Augen schimmerten.

»Das war ja das Mindeste, was ich tun konnte. Es tut mir so leid.«

»Ja.« Cat starrte ins Leere, rang die Hände. Dann wandte sie den Kopf und sah Alex an. »Du hast mir gefehlt.«

»Cat …«

»Du warst nicht da, als ich dich gebraucht hätte.«

»Es tut mir leid. Es tut mir so leid.« Alex wollte noch viel mehr sagen; sie wollte erzählen, wie sehr sie ihre beste Freundin vermisst hatte, wollte von ihrem eigenen Leben und von Sasha berichten. Aber das war heute nicht das Thema. Heute ging es um Cat. Darum, wie Alex ihr helfen konnte. Sie blinzelte die Tränen weg und beugte sich vor. »Cat«, sagte sie sanft. »Du hast mich gebeten herzukommen.«

»Ja.« Cat begann, nervös mit dem Fuß zu tippen.

»Gegen meinen Rat.« Mark drehte sich jetzt um und warf Alex einen Blick zu, in dem sie sowohl Trauer als auch Ärger zu erkennen glaubte. Interessant.

»Mark, bitte …«

Er seufzte. »Ach, Cat, du weißt doch, wie ich darüber denke.«

»Ja. Aber ich muss einfach versuchen zu verstehen, begreifst du das nicht? Sie war meine Tochter.« Cat tastete neben dem weißen Lederkissen herum, förderte ein zerdrücktes Zigarettenpäckchen zutage, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie mit zitternden Händen an. Marks missbilligender Blick entging Alex nicht. Cats Mann missgönnte ihr das anscheinend.

Er sah Alex an. »Aber wenn man eine Journalistin auf den Plan ruft, handelt man sich doch in jedem Fall Stress ein.«

Alex überlegte, was damit wohl gemeint war. War sie als Freundin oder als Journalistin hergebeten worden? Mark machte keinen Hehl daraus, auf welcher Seite er stand.

Cat blickte Mark bittend an. »Alex kann helfen. Sie ist meine älteste Freundin, und ich habe Vertrauen zu ihr.«

Mark schüttelte den Kopf. »Ach, wie du willst, Cat. Ich merke, dass du kein Einsehen hast.«

Cat warf Alex ein trauriges Lächeln zu. »Mark meint, dass ich nicht mit dir sprechen, sondern die Polizei einschalten sollte. Aber die würden gar nichts unternehmen. Als es passiert ist … als Elena starb … habe ich der Polizei schon gesagt, dass Elena sich nie und nimmer das Leben genommen hat. Sie war weder depressiv, noch litt sie an Bulimie oder Anorexie. Das hätte sie mir gesagt. Sie freute sich darauf, an Weihnachten nach Hause zu kommen. Im neuen Jahr wollten wir mit einem anderen Paar und deren zwei Töchtern Ski laufen gehen. Elena dachte über ein Studium nach und so fort. Sie wollte leben.« Cat zog an ihrer Zigarette. »Meine Tochter hat sich nicht umgebracht. Das weiß ich einfach.«

Alex bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Darum ging es also: um Cats Tochter. Der Fall war als Suizid eingestuft worden.

»Cat«, sagte sie, »bei der Gerichtsanhörung …«

Ihre Freundin sprang auf und stieß dabei ihre Tasse um. Kaffee tropfte auf den Boden. »Die Gerichtsanhörung ist mir scheißegal!«

Alle drei sahen zu, wie die braune Flüssigkeit sich auf dem weißen Leder verteilte. Unwillkürlich fragte sich Alex, ob der Kaffee wohl Flecken hinterlassen und wie teuer es sein würde, sie entfernen zu lassen.

Gedankenverloren starrte Cat Richtung Fenster. »Die Gerichtsanhörung ist mir scheißegal«, wiederholte sie, diesmal ruhiger.

»War es ein Unfall?«, fragte Alex in sach­lichem Tonfall.

Cat rieb sich mit den Handrücken die Augen.

Mark, der noch immer reglos am Fenster stand, seufzte. »Meine Frau glaubt, dass Elena ermordet wurde«, sagte er.

3

ELENA

MAI, neunundzwanzig Wochen vor ihrem Tod

Vor den Sommerferien fing es an.

An einem Mittwoch um zwei Uhr mittags. Noch Wochen später habe ich mich genau an den Moment erinnert, als ich merkte, dass ich beobachtet werde. Eigentlich total komisch. Hatte die Behauptung, dass man dann so ein Kribbeln im Nacken spürt, immer für Blödsinn gehalten. Aber genau so war es.

Zupfe grade die Blütenblätter von einem Gänseblümchen. Vollidiot. Zupf. Arschloch. Zupf. Vollidiot. Zupf. Arschloch. Aber es ist auch egal. Mein Stiefvater, der neue Mann meiner Mutter, ist beides – und nicht nur das. Ich feuere die Blume auf den Boden. Wie konnte meine Mutter das nur tun? Meinen Vater einfach so ersetzen? Und der Typ ist auch noch viel jünger als sie. Würde am liebsten heulen.

Ich schaue mich um, ziehe das Gummiband vom Handgelenk und binde meine blonden Haare zum Pferdeschwanz. Sitze grade beim Tennisplatz auf dem Rasen und büffle für die Klausuren. Für alle vier. Das ist der Mist bei dieser Scheißschule: Die machen einem so viel Druck, dass man glaubt, der Kopf explodiert bald. Das Hirn kann ja wohl nur ein bestimmtes Maß an Wissen aufnehmen! Und mein Hirn will es außerdem nicht mal speichern. Ich mag Kunst und Englisch, aber meine Lehrer wollen, dass ich auch in Mathe und Physik eine Eins bekomme. Aber wozu, verflucht? Mathe und Physik brauche ich nicht, sondern Englisch und Kunst. Und das werd ich auch als Prüfungsfach nehmen. Ist mir egal, was meine Mutter und mein Stiefvater davon halten. Mein Stiefvater. Ich kann das immer noch nicht fassen. Warum hat Mum das gemacht? Wegen Sex? Iiiiih, bitte nicht. Daran will ich gar nicht denken. Mark Munro verdient Geld ohne Ende. Ist so ein Bankfuzzi. Und die blöden Schlagzeilen, als die beiden geheiratet haben! Nee, oder! Man hätte glauben können, noch nie hätte jemand einen Jüngeren geheiratet. Wurde jede Menge Scheiß über die beiden geschrieben und gelabert, vor allem weil Mum ziemlich bekannt und eben älter ist. Manchmal tun mir die beiden auch ein bisschen leid. Aber trotzdem …

»Wenn du deinen Abschluss in der Tasche hast, kannst du selbst entscheiden«, hat Mark nach der Hochzeit zu mir gesagt, als er offenbar noch glaubte, er könnte sich wie eine Art Vater aufführen.

Verpiss dich, hätte ich ihm am liebsten gesagt. Du bist nicht mein Vater.

Wenn ich an meinen echten Papa denke, zieht sich immer irgendwas in mir zusammen. Er ist an einem Asthmaanfall gestorben, als ich zehn war. Ich kann mich aber noch an ihn erinnern. Und an die schöne Zeit mit ihm, wenn wir nur zu zweit ans Meer gefahren sind, weil Mum zu Hause netzwerken oder mit Obama telefonieren musste oder irgendwas. Dann sind Dad und ich gepaddelt und geschwommen, haben Sandburgen gebaut, auf der Kaimauer gesessen, Fish and Chips und Eis gefuttert und die Leute beobachtet.

Dad hätte mich niemals auf dieses Internat geschickt.

Ich schirme mit der Hand die Augen ab. Die Tussen sind etwa fünfzig Meter weiter zum Sonnenbaden am Strand. Haben die T-Shirts unter die BHs gesteckt und die Röcke weit hochgezogen. Die Schulbücher rühren sie nicht an, scheinen keinen Wert aufs Lernen zu legen. Liegen da aufgereiht wie Sardinen. Naomi Bishops dicke Lippen (die sie einem sogenannten »Schönheitschirurgen« in der Harley Street verdankt) bewegen sich. Wahrscheinlich quatscht die dar­über, wie toll es doch ist, sich in der Sonne zu bräunen. Aber vielleicht labert sie auch über was viel Bedeutsameres, die Nagellackfarbe fürs Wochenende zum Beispiel. Ihr Gefolge lauscht wie üblich andächtig. Als ich damals im Internat eintraf, stinksauer, weil Mum auf Mark gehört und mich weggeschickt hatte, stieß ich als Erstes auf die Tussenclique.

»Komm schon, Süße«, sagte Naomi damals. Bei der klingt jede Äußerung wie ein Befehl. »Schließ dich uns an. Wir haben immer die schärfsten Jungs zum Vögeln, das beste Zeug zum Highwerden und den meisten Spaß. Und wir nehmen nicht jede auf, weißt du. Nur Girls von unserer Sorte.«

Obwohl mein Herz hämmerte wie blöde, habe ich ihr damals wohl einen ziemlich herablassenden Blick zugeworfen (Tara meint, ich hätte total cool ausgesehen) und gesagt: »Nee danke.« Einfach so.

Naomi lachte, aber ich fand, es hörte sich ziemlich verkrampft an.

»Das wirst du noch echt übel bereuen«, sagte Jenni Lewis, Naomis engste Vertraute. »In diesem Laden hier kannst du allein nicht überleben.«

»Ich werd’s versuchen«, sagte ich. Nachts kichernd rumhängen und rausschleichen, um sich mit Jungs aus der Oberstufe einzulassen, ist echt so gar nicht mein Ding.

Als ich jetzt zu denen rüberschaue und hoffe, dabei nicht auszusehen wie eine von ihnen, setzt Natasha Wetherby sich auf, wirft ihre Haare zurück, schaut sich um und pustet mir lächelnd einen Kuss zu. Ja, klar. Ich verdrehe die Augen. Helen Clements, die graue Maus aus der Gruppe, die Haare wie ein Vorhang und Augenbrauen so dick wie Frida Kahlo hat, kichert; ein schriller Laut, der bis zu mir zu hören ist.

Auf der anderen Seite vom Tennisplatz hockt noch eine Gruppe Mädchen zusammen, schwatzend und lachend. Zwei aus meinem Jahrgang sitzen auf einer Bank und lernen. Kaum zu fassen. Und ein Stück weiter weg liegen unter einer großen alten Eiche vier Jungs aus der Oberstufe im Gras oder haben sich auf die Ellbogen gestützt und reden. Einer von ihnen – Felix – hält eine Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen und raucht großspurig, schaut sich aber so unruhig um, als fürchte er, erwischt zu werden. Theo, der gegenwärtige Schwarm der Tussen, ist auch dabei, in Skinny Jeans und knallengem T-Shirt. Ich mag keinen von denen sonderlich. Felix sieht dauernd irgendwie so wütend aus, als könne er jeden Moment explodieren, und hat einen fiesen Blick. Und Theo? Schleimig. Weiß, dass er gut aussieht, und die Hälfte der Mädchen hier himmelt ihn an. Mich lässt der kalt.

Max ist auch dabei. Der sollte lieber vor seiner Konsole sitzen, Hausaufgaben machen oder mit gleichaltrigen Jungs rumhängen, nicht mit denen aus der Oberstufe. Die behandeln Max wie eine Art Maskottchen und lassen ihn Botengänge erledigen. Ich seufze, als er zu mir rüberschaut. Fehler. Er lächelt wieder so zittrig und unsicher, als hätte er Angst, gleich verhauen zu werden. Max ist ein bisschen anhänglich, seit ich mal mitgekriegt habe, wie er von Naomi, Natasha und den anderen fertiggemacht wurde. Sie hatten ihm in der Umkleide aufgelauert, ihm die Kleider weggerissen und sich über seinen Schwanz lustig gemacht und so. Max ist ein Junge, der leicht zum Opfer wird. Aber ich wollte das nicht zulassen und habe es geschafft, ihn da rauszuhauen. Seither hat er wohl eine Schwäche für mich.

Jetzt schaut er sich um, um sicherzugehen, dass die anderen ihn nicht beobachten – tun die nie, die beachten ihn gar nicht –, und winkt mir scheu zu. Ich lächle auch, was soll ich sonst tun?

»Hey, Lee«, ruft Naomi mir zu. »Was machst du denn da? Komm rüber zu uns.«

Meine beste Freundin, Tara Johnson, die grade nach einem Grashalm sucht, der breit genug ist, um darauf Quietsch-Furz-Geräusche zu machen, schaut mich fast bittend an. Sie will, dass ich rübergehe, damit sie mitkommen kann. Tara will unbedingt zu dieser Clique gehören. Ich seufze. Kann Tara schon verstehen. Sie will eben dazugehören, will gemocht werden, Teil der Gang sein. Wünscht sich das so sehr, aber es klappt nie richtig. Sie wird gehänselt, weil sie zu dick und unscheinbar ist, nicht hübsch, modisch oder interessant genug. In unserer alten Schule konnte ich Tara noch beschützen, aber hier im Internat The Drift ist das viel schwieriger. Da muss sie im Piranhabecken schwimmen. Trotzdem bemühe ich mich, sie abzuschirmen und vor dem Schlimmsten zu bewahren, aber Tara bleibt einfach eine Außenseiterin. Ich letztlich auch, kann aber immerhin noch so tun, als sei es nicht so. Tara dagegen ist so arglos. Aber sie ist eine liebe und treue Freundin, die immer zu mir steht. Sie kennt all meine Geheimnisse – die Depressionen, die Magersucht, den harten Schutzpanzer, den ich mir nach Mums Heirat mit Mark zugelegt habe. Die Therapeuten sagen, ich hätte eine Essstörung und Depressionen bekommen, weil ich nach Dads Tod nicht genügend getrauert hätte. Mum ist völlig zusammengebrochen. Ich musste stark sein. Damals waren wir nur zu zweit, bis Mark Munro auftauchte. Dann kriegte Mum ihr Leben wieder auf die Reihe, und ich bin kollabiert. Weil ich das Gefühl hatte, nichts in meinem Leben kontrollieren zu können außer meinem Essverhalten.

Da mag schon was dran sein.

War auch so leicht, mich in meinem Zimmer einzuschließen und diese ganzen Pro-Ana-Websites zu lesen und zu glauben, der ganze Scheiß würde so stimmen. Diese armen Opfer. Ich hatte Glück. Mum hat mir eine Therapie besorgt, und ich konnte geheilt werden. Ich glaube, ich bin durch das alles stärker geworden. Was einen nicht umbringt und so.

Aber dann machte Mum Karriere, und alle mög­lichen Leute wollten ständig was von ihr. Sie wurde dauernd zu irgendwelchen Events eingeladen, und bei einer Wohltätigkeitsgala für die Krebshilfe lernte sie Mark kennen, und bumm, da war’s passiert. Ich war nicht mehr das Wichtigste in ihrem Leben, sondern landete auf Platz drei. Außerdem weiß ich nicht recht, was Marks Motive für seine Heirat mit Mum sind. Er ist zu jung für sie, also will er sich wahrscheinlich in ihrem Ruhm sonnen oder so. Und ich glaube, es sagte ihm sehr zu, als Mum auf die Idee kam, mich in dieses Internat zu schicken. »Es ist eine gute Schule, und du bist sehr intelligent«, sagte sie damals zu mir. »Außerdem möchte ich nicht, dass du ständig allein bist, wenn ich weg bin. Und Mark kann sich auch nicht um dich kümmern.«

Wohl nicht.

Und sie sagte, sie hätte mit Taras Mum gesprochen (die Liebesschnulzen schreibt und damit ein Vermögen verdient), und die hätte auch nach einer neuen Schule für Tara Ausschau gehalten. Dann einigten sich die beiden darauf, dass The Drift hier mitten in der Walachei gut geeignet wäre.

Deshalb bin ich nun hier.

Manchmal möchte ich Mark die Schuld daran geben und hoffe, dass Mum noch zur Vernunft kommt. Manchmal denke ich, dass Mum wirklich meint, in meinem Interesse zu handeln. Manchmal glaube ich, dass die beiden sich tatsächlich lieben. Und manchmal höre ich die Flöhe husten.

Jedenfalls habe ich Sehnsucht nach meiner früheren Schule mitten im quirligen London. Ich vermisse den Lärm, die Buntheit, die unterschied­lichen Menschen. Die endlosen Autoschlangen, die Straßenlaternen, die nachts den Himmel überblenden, die grünen Parks, diese Oasen der Ruhe inmitten des tobenden Irrsinns. Hier dagegen gibt es nur stockdunkle Nächte, Sternenhimmel, Käuzchen und reiche verzogene Sprösslinge von abgetakelten TV-Stars oder bescheuerten Fußballern. Diese reichen Kids, die sich alle seit jeher zu kennen scheinen – »Wir waren schon zusammen in der Vorschule, Schätzchen« –, interessieren sich nur für Mode und Aussehen. Tara hat da nicht die geringste Chance. Und ich will kein Klon der Tussen werden. Ich habe diesen ganzen Abnehmscheiß hinter mir und bin dabei fast draufgegangen. Nie wieder. Und was Jungs betrifft: Keine Ahnung, was das ganze Theater soll. So sieht’s aus. Deshalb hab ich nicht das Geringste gemein mit den Tussen und mit allen anderen auch nicht. Tara ebenso wenig, aber das will sie nicht wahrhaben.

»Na los, Lee, komm rüber. Lass Fettklops da, wo sie ist.« Naomi lacht, und die anderen Mitglieder der Gang tun es ihr folgsam gleich.

»Nee danke, Naomi«, rufe ich zurück. »Ich bleib bei meiner Freundin. Die ist spannender als ihr.« Dabei grinse ich wie eine Irre.

Naomi winkt, scheinbar ungerührt über den Sarkasmus. »Wie du willst.«

Taras Unterlippe zittert. »Ach, komm schon, Tara«, sage ich, »die sind es doch echt nicht wert.«

»Das sagst du so leicht«, schnieft meine Freundin. »Du könntest doch jederzeit dazugehören. Aber um mich scheren sich die einen Scheiß.«

»Hey, Tar, ich hab dich noch nie fluchen hören«, sage ich anerkennend.

»Jetzt schon«, murmelt sie mürrisch.

Mein Handy macht ping.

Hey, du Hübsche

Ich sehe mich um. Mädchenschwarm Theo mustert mich unverhohlen. Es muss sein Blick gewesen sein, den ich gespürt habe.

Oh Mann, da kann ich locker drauf verzichten. Wie gesagt: Der und seine Freunde interessieren mich einen Dreck. Für die hab ich keine Zeit. Mag ja der schärfste Typ der Stadt sein, aber ich überlass ihn gerne den Tussen. Als ich mein Handy grade wieder ins Gras legen will, kommt mir eine Idee – ich könnte ja ein bisschen mit Theo rumflirten, nur um die Tussen zu ärgern. Ja, das könnte ganz lustig sein. Ich verkneife mir das Grinsen und schreibe zurück.

Hi

Muss nicht lange warten.

Später treffen?

Ein Ausbund an Charme.

Vielleicht

Im alten Sommerhaus?

Wirklich originelle Ortswahl. Der weiß, wie man ein Mädchen umwirbt.

Vielleicht

So um 8?

Vielleicht. Wenn ich wegkann

Kannst du bestimmt. Bis dann

Ich komme mir ganz normal vor bei dem Ganzen. Habe allerdings nicht die Absicht hinzugehen. Ich schaue zu Theo rüber. Er winkt mir kurz, wendet mir dann den Rücken zu, um mit seinen Freunden zu quatschen.

Sie lachen, und mein Gesicht brennt.

Mein Nacken kribbelt. Jemand beobachtet mich. Und es ist nicht Theo.

Hey, du, ich bin’s.

So hat alles begonnen, nicht wahr? Du auf dem Rasen, die langen sonnengebräunten Beine ausgestreckt. Du hast mit Tara geredet und diesem Jungen gesimst. Und ich schaute dich an. Ich konnte nicht damit aufhören, weißt du. Dich anzuschauen und an dich zu denken. Zu denken, dass du gar nicht weißt, wie wunderschön du bist. Zu überlegen, ob du mich wohl in deine Nähe lassen würdest oder ob du nichts von mir wissen willst. Und da dachte ich mir: Ich will es versuchen. Diese Gelegenheit konnte ich mir einfach nicht entgehen lassen. Weißt du, ich glaubte mein Leben verloren, glaubte, ich säße in der Falle. Aber ich hatte Angst davor, wie du reagieren würdest, wenn ich mich offenbare. Dann sagte ich mir, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche, sondern ganz behutsam vorgehen muss. Und ich sah dich wieder an. Du hast es gespürt, nicht wahr? Du hast dich sogar umgedreht und mich angeschaut, mich aber nicht gesehen.

Doch da wusstest du ja auch nicht, dass ich es bin.

4

JUNI

Ermordet.

Das brutale Wort hing in der Luft.

»Cat«, sagte Alex sanft, »ist das wahr?« Sie wusste, wie es sich anfühlte, damit leben zu müssen, dass jemand, den man liebte, ermordet worden war. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit verschwand nie mehr ganz, ebenso wenig wie die »Was wäre gewesen, wenn«-Gedanken mitten in der Nacht. Damit kämpfte Alex nach all den Jahren noch immer.

Cat seufzte tief. Dann richtete sie sich mit entschlossener Miene auf. »Ja. Ich spüre, dass es so ist. Hier drin.« Sie schlug sich mit der Faust aufs Schlüsselbein. »Elena hätte mir das niemals angetan. Wir haben so viel zusammen durchgemacht, vor allem nach dem Tod ihres Vaters. Niemals hätte sie mich auf diese Weise verlassen.«

Alex nickte. Die Siebzehnjährige war wenige Tage vor den Weihnachtsferien am Fuße der Klippen unweit des exklusiven Internats tot aufgefunden worden. Wie das Weihnachtsfest für die Familie gewesen sein mochte, konnte sie sich nur allzu gut vorstellen. Sie selbst hatte solche furchtbaren Weihnachtsfeste erlebt, nachdem die Zwillinge verschwunden waren. Alex runzelte die Stirn. »Entschuldige, Cat, aber die Polizei hat eine SMS von Elena an dich auf ihrem Handy gefunden, nicht wahr?«

»Ja. Aber …«

»Und Elena war depressiv und litt an Magersucht oder Bulimie oder an beidem«, warf Mark Munro ein.

»Nein, das stimmt nicht.« Cat ballte die Fäuste. »Elena ging es gut. Sie war geheilt.« Sie war so angespannt, dass sich die Falten um ihre Augen vertieften.

Alex betrachtete Mark Munro forschend. »Wieso glauben Sie, dass Elena krank war, Mark?«

»Weil …« Er wich ihrem Blick aus.

»Mark?«, sagte Cat scharf.

»Catriona. Können wir das bitte unter uns klären?« Er hatte sich wieder im Griff, und seine Stimme klang harsch.

Cat schüttelte den Kopf. »Nein. Alex soll mir helfen. Uns. Ich möchte nichts vor ihr verbergen. Aber wenn du etwas vor mir verbirgst …«

Mark starrte Cat ein paar Sekunden an, dann strich er sich erschöpft mit der Hand übers Gesicht. »Gut. Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich habe mit Elena gesprochen. Ein paar Wochen bevor … bevor sie starb.«

»Was? Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Ich hätte nicht geglaubt, dass so etwas passieren würde.« Er ging zu einem Schrank in der Ecke und nahm eine Whiskyflasche heraus. »Möchtest du?«

»Mark, du kannst das nicht mit Alkohol lösen«, zischte Cat.

»Das tue ich auch nicht. Ich möchte einfach einen Whisky, mehr nicht. Das ist schließlich kein Verbrechen.« Er stellte ein Glas auf das Schränkchen. »Alex?«

»Nein danke.«

»Mark.« Schmerz lag in Cats Augen. »Was soll das bedeuten? Warum hast du mir verschwiegen, dass du mit Elena gesprochen hast?«

»Ich wollte dich nicht beunruhigen.«

»Hat Elena damals gesagt, dass sie krank ist?«, schaltete sich Alex ein. Sie musste mehr Klarheit haben, bevor sie sich darauf einlassen konnte.

Mark schenkte sich Whisky ein und leerte das Glas in einem Zug. »Nicht so deutlich, nein.« Er goss sich nach.

»Was soll das heißen?«, fragte Cat scharf. »Warum hast du das nicht schon früher erwähnt? Bei der Gerichtsanhörung?«

»Niemand hat mich gefragt, und wie du weißt, war ich während der Anhörung im Ausland, und niemand hat es für nötig gehalten, mir Bescheid zu sagen«, antwortete Mark. »Und ich wollte nicht, dass alles noch schlimmer wurde, als es ohnehin schon war. Die SMS haben sie ja gefunden, und damit schien alles geklärt.«

Alex hatte das Gefühl, dass Mark auswich.

»Dachtest du«, erwiderte Cat bitter.

»Mark«, sagte Alex entschieden, »warum glaubten Sie, dass Elena krank war?«

Er zuckte die Achseln. »Weil sie irgendwie hilflos und verloren wirkte. Sie sagte, es liefe nicht gut mit der Schule. Ich habe dann vorgeschlagen, dass sie mit ihrer Vertrauenslehrerin sprechen sollte, oder wie das heißt. Die sind ja für so etwas zuständig.«

»Ich wäre für so etwas zuständig gewesen«, sagte Cat mit rauer Stimme. »Ich bin Elenas Mutter.«

»Aber du warst nicht da, Liebling«, entgegnete ihr Mann behutsam. »Du warst in Brüssel. Bei irgendeiner wichtigen Konferenz, ich weiß es nicht mehr. Elena sagte, sie hat versucht, dich anzurufen, aber dein Handy war die ganze Zeit ausgeschaltet.«

Wie konnte er nur so grausam sein?, dachte Alex. Merkte er nicht, was er seiner Frau antat?

»Die Flüchtlingskrise. All diese verlorenen Menschen da­­mals. Ich wollte helfen. Aber ich …« Cat sah verwirrt aus. »Wenn Elena mir eine Nachricht hinterlassen hätte, dann hätte ich sie doch zurückgerufen. Das wusste sie auch. Ich habe das immer gemacht.«

»Aber stattdessen hat sie mich angerufen«, sagte Mark.

»Und du hast mir nichts davon gesagt?«

»Wir hielten es für das Beste. Du hattest so viel um die Ohren, und wir wollten dich nicht beunruhigen.«

»Meine Tochter war selbstmordgefährdet, und du hast es für das Beste gehalten, mich nicht zu beunruhigen?«, fragte Cat wutentbrannt.

Mark schüttelte den Kopf. »Nein, nein, du hörst mir nicht zu.« Mit ruhiger Stimme fuhr er fort: »Elena sagte nichts von Selbstmord. Nur dass es in der Schule nicht gut läuft und sie nicht richtig essen kann.«

»Aber …«

»Mark. Cat«, griff Alex ein, weil sie nicht wollte, dass die beiden sich endlos im Kreis drehten. »Wir werden nie erfahren, was Elena empfunden hat, bevor sie starb. Aber ich würde jetzt gerne wissen, warum du glaubst, dass sie ermordet wurde.«

Cat atmete tief aus und lehnte sich zurück. »Dann hilfst du mir also?« Sie nahm Alex’ Hände und drückte sie fest. »Ich wusste, dass du mich verstehen würdest. Dass ich dir vertrauen könnte. Wir haben das immer noch, nicht wahr? Diese Bindung, diese Nähe?«

Alex nickte. Das stimmte wirklich. Es kam ihr so vor, als hätten sie sich gestern zuletzt gesprochen.

»Und du weißt, wie es ist, wenn man Menschen verliert, die einem nahestehen. Du kannst verstehen, wie mir zumute ist.«

»Um Himmels willen, Catriona.« Mark verlor die Beherrschung. »Ich weiß sehr wohl, wie dir zumute ist. Lass mich nicht außen vor.«

»Das tue ich nicht, Mark. Aber du glaubst noch immer, dass Elena sich umgebracht hat. Ich dagegen nicht.« Cat sah Alex an. »Letzte Woche hat die Gerichtsanhörung stattgefunden.« Sie schauderte. »Es war grauenhaft. Das alles noch einmal durchleben, die Lügen über Elena anhören zu müssen. Die schreck­lichen Details. Der mitleidige Blick der Untersuchungsrichterin, als sie erklärte, Elena habe sich von der Klippe gestürzt. Die Reporter von diesen schmierigen Revolverblättern.« Ihre Augen glitzerten. »Und diese SMS. Die in Elenas Handy gefunden wurde. Ich habe sie nie bekommen.«

»Bist du ganz sicher?«

»Selbstverständlich. So eine Nachricht hätte ich doch nicht vergessen. Wir haben uns immer SMS geschrieben, weißt du. Die letzte habe ich zehn Tage vor Elenas Tod bekommen, aber die habe ich gelöscht.« Cat begann zu weinen und wiegte sich vor und zurück. »Weil der Speicher auf meinem Handy fast voll war. Ich behalte die SMS von meiner Sekretärin. Aber die von meiner Tochter habe ich gelöscht.«

Alex legte ihrer Freundin die Hand auf den Arm. »Das lässt sich jetzt nicht mehr ändern, Cat.«

»Nein, aber es ist so schlimm.« Sie schluchzte laut.

»Sag mir, was in den Nachrichten stand.«

»Müssen wir das jetzt alles wieder ans Licht zerren?«, sagte Mark.

Cat blickte ruckartig auf. »Ja, das müssen wir, Mark.« Sie sah Alex an. »In ihrer letzten SMS hat Elena geschrieben, dass sie sich darauf freut, nach Hause zu kommen. In der Schule gingen anscheinend beunruhigende Dinge vor sich, von denen sie mir erzählen wollte. Und …« Cat rang um Atem, »sie müsste mit mir reden. Ich schlug vor, das gleich zu machen, aber das wollte sie nicht.« Cat warf Mark einen Blick zu. »Kein Wort davon, dass sie Essprobleme hatte oder depressiv war.«

Alex merkte, dass Mark sie von der Seite ansah, als wolle er sagen »Na bitte, keinerlei Beweis«.

»Und du weißt nicht, was Elena damit gemeint haben könnte?«, fragte sie.

»Nein. Aber dann habe ich das hier bekommen.« Cat nahm ihr Handy und zeigte Alex das Display. »Schau dir das an.«

Es war eine Facebook-Gedenkseite; Alex hatte schon einige zu Gesicht bekommen, als sie über früh verstorbene Menschen geschrieben hatte. Die üb­lichen Kommentare. Werde dich immer lieben, Süße; Du warst die Beste, wir vermissen dich; Du bist jetzt ein Engel im Himmel.

Sie blickte auf. »Es ist schön, dass Elenas Freunde ihr Andenken wahren, aber …«

»Ach, herrje.« Cat riss ihr das Handy aus der Hand und scrollte rasch nach unten. »Hier. Das hier meine ich.« Sie hielt Alex das Handy hin.

Elena hat sich nicht umgebracht

Darüber ein Standardprofilbild, das verwendet wurde, wenn jemand kein Foto von sich veröffent­lichen wollte, und der Name »Kiki Godwin«.

»Und darunter noch mal.« Cats Hände zitterten, und ihr Gesicht wirkte beinahe fiebrig. »Hier.«

Es ist wahr. Elena hat sich nicht umgebracht

Wieder von Kiki Godwin.

»Wenn du dir das genau anschaust«, sagte Cat aufgeregt, »alle anderen haben ihre Kommentare direkt nach Elenas Tod und in den Wochen danach gepostet. Aber diese beiden hier wurden vor vier Tagen gepostet, nach der Gerichtsanhörung.«

Als Alex auf den Namen klickte, landete sie auf einer Facebook-Seite mit demselben Standardprofilbild, die aber keine weiteren Informationen enthielt. Sie nahm ihr Handy aus der Handtasche, öffnete Facebook und schickte Kiki Godwin eine Freundschaftsanfrage. Mal schauen, was passiert, dachte Alex.

»Du weißt nicht, wer das ist?«, fragte sie und packte das Handy wieder weg.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Vielleicht eine von Elenas Freundinnen. Aber warum ist die Facebook-Seite nicht gestaltet?«

»Hast du das der Polizei gezeigt?«

»Nein. Noch nicht«, antwortete Cat. »Ich vertraue der Polizei nicht so wie dir. Die trampeln doch nur herum, ermitteln ohne jeg­liches Feingefühl und schrecken alle ab. Niemand würde denen was erzählen, und ganz sicher auch nicht Kiki Godwin, wer das auch immer sein mag. Und man würde mir auch nicht glauben. Nicht mal mein eigener Mann glaubt mir. Nein, ich möchte, dass du hier ermittelst, Alex. Bitte.«

»Aber, Cat, die Polizei hat ganz andere Möglichkeiten. Personal, Technik, Erfahrung et cetera.«

»Das sage ich ihr auch ständig«, warf Mark ein, der inzwischen beim dritten – oder schon beim vierten? – Whisky angelangt war. »Das sollen die Cops machen. Zeig ihnen die Posts. Obwohl ich persönlich ja glaube, dass es sich um einen Troll handelt. Die treiben sich überall im Internet rum. Wir können von Glück sagen, dass da nicht mehr passiert ist. Teilweise wird furchtbarer Schmutz verbreitet. Man kann manchmal kaum glauben, wie Menschen sich benehmen.«

»Mark, bitte.«

»Tut mir leid, Cat, aber das stimmt nun mal. Die Angelegenheit sollte der Polizei übergeben werden.«

»Die denkt, dass es Selbstmord war.«

»Aber du willst das ja nicht glauben.« Mark kippte den Whisky hinunter.