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Von A wie Afrika bis Z wie Zukunft: Ein vollständiges Alphabet hat Egyd Gstättner als Richtschnur genommen und seine Gedanken zu den wesentlichen wie zu den unwesentlichen Lebensfragen unserer Zeit notiert. Er spannt den Bogen von den Aufgaben eines Altbundespräsidenten über die Bildungspolitik inklusive PISA-Test und Zentralmatura, die alljährliche Fastenzeit, die Schönheit eines Graffitos bis hin zu Facebook und den Tücken des Genderns, der Qualitätssicherung und der Kompetenzorientierung und erzählt von Frauenverstehern, Bademeistern, Pistolenproduzenten und einem Kontinent voll von Friedensnobelpreisträgern. Mit unverwechselbaren Pointen und scharfem Beobachtungssinn lauert Egyd Gstättner dem Zeitgeist auf und stellt ihn an den Pranger. Und dabei gibt es nichts und niemanden, der ungeschoren davonkommt.
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Seitenzahl: 232
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EGYD GSTÄTTNER
KARL KRAUSLERNT DUMMDEUTSCH
für Claudia
Copyright © 2016 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Mathias Nemec, Wien ISBN 978-3-7117-2042-9eISBN 978-3-7117-5330-4
Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at
Egyd Gstättner, geboren 1962, lebt als freier Autor in seiner Heimatstadt Klagenfurt. Ständige Publikationen in »Kleine Zeitung« und »Die Presse« sowie in vielen anderen nationalen und internationalen Medien. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Im Picus Verlag erschienen unter anderem »Ein Endsommernachtsalbtraum«, »Das Geisterschiff«, »Am Fuß des Wörthersees« sowie zuletzt »Das Freudenhaus« (2015).http://members.aon.at/gstaettner/index.html
EGYD GSTÄTTNER
ODER: NEUE WORTEFÜREINENEUE WELT
PICUS VERLAG WIEN
Der tadellose Stil bürgt nicht für einen tadellosen Charakter. Und doch bin ich überzeugt, dass wir uns beim Sprechen und Schreiben verraten, dass Unwissenheit, Halbherzigkeit, Inhaltsleere, Opportunismus und Gemeinheit sich durch eine glatt polierte Oberfläche meist nicht kaschieren lassen. Letzten Endes ist das Engagement gegen das Sprachvergehen ein politisches, ja sogar ein ethisches.
DANIELA STRIGL
»Die Rede ist eine mächtige Herrin!«, lehrte mein Lieblingsphilosoph Gorgias aus Leontinoi, der berühmt dafür war, in ausverkauften antiken Stadien zu jedem beliebigen Thema, das man ihm vorgab, glanzvolle, mitreißende Reden halten zu können. Gorgias galt auch als erster Anwalt der Geschichte: Er konnte einen Beweis führen und anschließend mit ebenso unbestreitbaren Argumenten das exakte Gegenteil beweisen. Mit solchen Schauprozessen wurde Gorgias stinkreich und sehr berühmt. Seine rhetorische Flexibilität haben heutige Talk-Coaches und vor allem Politiker abgekupfert: Ihm, Gorgias, werden Sätze zugeschrieben wie etwa: »Niemand kann mich daran hindern, klüger zu werden« (wenn man ihm einen Irrtum oder einen Widerspruch nachweisen wollte), aber auch solche Sentenz-Evergreens wie: »Wir tun das Richtige, und das ist gut so!« Oder – besonders inhaltsgewichtig: »Wir müssen nach vorne schauen und an die Zukunft denken!«
Man kann diesen Phrasengatsch als »Imponiergewurstel« verbuchen: Der Ausdruck stammt von Eckhard Henscheid, der in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts den Begriff »Dummdeutsch« eingeführt hatte, also das Verschleierungsdeutsch in Politik, Werbung, Wirtschaft, in der »Psychoszene«, in den Massenmedien, im Feuilleton. Ganz schlimme Sprachkrebsgeschwüre der damaligen Intellektuellen waren zum Beispiel »Betroffenheit«, »Befindlichkeit«, »Selbstverwirklichung«et cetera. Mittlerweile hat sich das damalige Dummdeutsch zum Neudummdeutsch, Neudampfdeutsch oder Neudummbösdeutsch ausgewachsen, zum nachhaltig kompetenzorientierten, qualitätsgesicherten Zentralneuhochdummbösdeutsch wohlgemerkt.
Die Sprache hat Erzeugergewalt. Worte sind kleine Dinge, aber sie können Großes bewirken. Worte verändern die Welt! Die Grenzenlosigkeit meiner Sprache ist die Grenzenlosigkeit meiner Welt! Indem ich Worte erfinde, erzeuge ich Welt. In jedem Schöpfungsbericht heißt es dementsprechend: Am Anfang war das Wort. Das Wort ist Fleisch geworden. Genau das bedeutet die lateinische Maxime: »Verba tene! Res sequentur!«Ludwig Wittgenstein sagte, Substantive verleiten uns, etwas zu suchen, das ihnen entspricht. Am Anfang war nicht das Wort, sondern die Worthülse. Und in die Worthülse schütten wir etwas hinein!
Schaffe neue Worte, und du schaffst neue Menschen. Schaffe neue Phrasen, und du schaffst eine neue Gesellschaftsordnung. Ob der neue Mensch, die neue Gesellschaftsordnung besser sind als die alten, sei dahingestellt. Man muss ihn ja nicht unbedingt »liken«. Aber auf jeden Fall funktionieren sie besser im Sinn der Mächtigen. Seit der epochale Redekurarzt und Wortschöpfer Sigmund Freud das Wort »Penisneid« geschaffen hat, gibt es ihn auch (Woody Allen war übrigens einer der ersten Männer, die sich dazu bekannt haben). Manchmal braucht man zum Weltenneubau gar keine Neologismen, es reicht schon, Worte aus dem Englischen zu leasen: Es werde Wellness! Es werde Consulting! Tipp des Tages: Wording! Für die Pessimisten unter uns: Es werde Worst-Case-Szenario! So oder so starten wir zunächst einmal eine Fact-Finding-Mission!
Es gibt Menschen, die leben ihr Leben lang von einem Satz, und anschließend sind sie damit noch eine Ewigkeit lang unsterblich. »I have a dream« ist zum Beispiel traumhaft. »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.« »Yes, we can« – und schon ist die ganze Welt begeistert und sämtliche Weltmedien sind aus dem Häuschen. Nicht auszudenken, wie dieser Planet untergeht, wenn einmal ein amerikanischer Präsident ganz einfach sagen sollte: »No, we can’t! So sorry!« (Aber solche Sätze überlässt er zum Glück in der Regel österreichischen Politikern und Beamten.)
Worte verändern die Menschen: Wie unangenehm und erniedrigend ist es, kritisiert zu werden! Wie angenehm, wie aufbauend ist es, gelobt zu werden! Oft wächst man am Lob, an der positiven Manipulation. Tadel drückt einen oft jahrelang zu Boden. Und das sind alles Worte! Worte, Worte, nichts als Worte. Worte verletzen, Worte heilen, Worte entzweien, Worte vereinen. Worte sind Waffen, Worte sind Medikamente und Segen. Mit Worten berührt man seinen Nächsten, ohne ihn zu berühren. Mit Worten weckt man ihn auf, mit Worten schläfert man ihn ein. Mit Worten wiegelt man ihn auf, mit Worten schreckt man ihn ab. Worte sind das chirurgische Besteck der Seele: Mit Worten operiert man psychisch. Man kann mit Worten Welten erzeugen, aber auch Welten zum Einsturz bringen. Man kann Worte als Kampfkeulen verwenden. Ach, wäre doch nur jeder seiner Worte Herr und jede ihrer Worte Herrin!
Die »mächtige Herrin« leitet sich zwar vom Herrn, also einem Mann, ab, ist aber grammatikalisch und auch sonst natürlich weiblich, also eine Frau. In einer Rezension meines letzten Buches hat ein Rezensent mich mit dem Sprachpolizisten Karl Kraus verglichen, und von dem stammt bekanntlich der Vierzeiler über die Sprache: »Mit heißem Herzen und Hirne/ naht’ ich ihr Nacht für Nacht./ Sie war eine dreiste Dirne,/ die ich zur Jungfrau gemacht.« Damit ist im Grund auch mein Tätigkeitsfeld umschrieben: Aus leichten Mädchen Jungfrauen zu machen: Es ist natürlich eine Sisyphusarbeit. Auf der Suche nach einem Titel für dieses Buch ist mir daher der eingefallen: »Wie ich Jungfrauen produziere«. Freilich hat Karl Kraus auch gesagt, nachts am Schreibtisch, in einem vorgerückten Stadium geistigen Genusses, würde er die Anwesenheit einer Frau störender empfinden als die Intervention eines Germanisten im Schlafzimmer. Also, mir kommt kein Germanist ins Schlafzimmer! Meinetwegen eine Germanistin, aber noch viel lieber eine Buchhändlerin. Von allen Frauen sind mir Buchhändlerinnen naturgemäß am nächsten, außerdem kulturgemäß und literaturgemäß. Deswegen habe ich mir gedacht, ich nenne die Sammlung vielleicht »Der Germanist im Schlafzimmer« oder »Karl Kraus bei der Jungfrauenpolizei«.
Karl Kraus und die Frauen, das war freilich ein eigenes Kapitel. Dass er sich über den Genderstress unserer Tage beschwert oder lustig gemacht hätte, halte ich für ausgemacht. Gendern, hat Karl Kraus mir eines Nachts geflüstert, das ist Christbaumschmuck ohne Christbaum. Und er flüstert mir öfter mal etwas ins Ohr. Manches kann ich brauchen, manches nicht. Polarisiert hat Karl Kraus zeitlebens ebenso wie ich, jedenfalls höre ich das hinter meinem Rücken – ja, so elastisch bin ich nun einmal! Und Karl Kraus war sich seiner Bedeutung auch sehr bewusst, daher ja die Polarisierung: Hier fanatische Anhängerschaft, da erbitterte Gegner … die Hörer seiner Lesungen waren von seiner Persönlichkeit und unfehlbaren Autorität fasziniert. Seinen Widersachern, die er sich durch die Unbedingtheit und Scharfzüngigkeit seiner Parteinahme schuf, war er hingegen ein Misanthrop und ein »armer Möchtegern«. »Hinter Karl Kraus steht keine Religion, kein System, keine Partei, hinter Karl Kraus steht immer wieder immer nur Karl Kraus. Er ist ein in sich geschlossenes System, er ist eine Ein-Mann-Kirche, ist selbst Gott und Papst und Evangelist und Gemeinde dieses Bekenntnisses. Er spricht in eigenem Namen, in eigenem Auftrag und ohne Rücksicht auf Resonanz«, schrieb über ihn ein Ungeheuer mit Namen Hans. Sigmund Freud nannte Karl Kraus einen »tollen Schwachsinnigen«. Allerdings hat Kraus die Psychoanalyse als die Krankheit bezeichnet, für deren Heilung sie sich hält. Man bleibt einander nichts schuldig: Ich kenne das alles nur zu gut. Neuerdings betätigt sich Karl Kraus auch wieder politisch. Anlässlich des Österreichischen Präsidentschaftswahlkampfs 2016 hat er zum Beispiel auf Facebook gepostet, Österreich sei das einzige Land der Welt, das aus Erfahrung dümmer werde. So habe ich mich schließlich entschieden, diese Sammlung »Karl Kraus lernt Dummdeutsch« zu betiteln.
Die größten Kontinente der Wörterwelt sind die Wissenschaft (wozu ich die Lehre, die Juristerei und – ach! – auch die Philosophie zähle), die Kunst (die Literatur, des Weiteren das Zeitungswesen und die Medienlandschaft) und schließlich die Politik (wozu ich auch die Kirchenpolitik rechnen möchte). Die Macht des Wortes ist hinlänglich geklärt – jetzt liegt es doch auf der Hand, dass die Machtmenschen die Machtworte sprechen und darauf aufpassen, dass die Machtworte nicht in die Hände der an sich machtlosen Künstler und Schriftsteller fallen, die an den Machtmenschen herumnörgeln. Und so gab es in der Geistesgeschichte schlimme Showdowns wie Bücherverbrennungen und lange Phasen von Zensur (die manchmal die Fantasie der Künstler anregte, sie möglichst raffiniert zu umgehen, sie oft aber auch verstummen und verhungern ließ).
Der Vatikan wiederum erfand als Reaktion auf die deutschsprachige Lutherbibel den Index librorum prohibitorum (auf dem sich ein respektabler Teil der Weltliteratur befand, Adolf Hitlers Mein Kampf dagegen interessanterweise nicht – insofern war es fast eine Ehre, auf dem Index zu stehen), der erst 1962 abgeschafft wurde. Weil der Spitzenklerus schlau genug war zu wissen, dass auch Negativwerbung Werbung ist, stand übrigens der Index selbst auch auf dem Index! Kurioserweise waren Kirche und Staat in ihrer Geschichte umgekehrt die größten Förderer des Wortes, der Literatur.
Den Machthabern ist es jedenfalls nicht gerade ein besonderes Anliegen, dass die schreibenden Künstler ihres Landes großes Gehör finden. Sollen sie ruhig das Land verlassen, wenn es ihnen nicht passt! Aber wenn einmal beide – Künstler und Mächtiger – tot sind: Von wem wird man dann reden? Dem Künstler bleibt sein Werk für immer, dem Politiker sein Amt höchstens ein paar Jahre. Und wer oder was ist er denn schon ohne sein Amt? Wie viele Kulturreferenten habe ich bereits belanglos werden gesehen. Kein Hahn kräht mehr nach einem Entamteten!
Heute gibt es weder Index noch Zensur, offiziell wenigstens nicht. Es existiert Freiheit der Kunst, der Presse, der Meinung, der Lehre, vergleichbar mit der Freiheit der Stecknadel, im Heuhaufen gefunden zu werden. Es gibt im Kapitalismus eine solche (Sint-)Flut von Büchern, Druckwerken, Worten, dass man Bücher weder verbrennen noch verbieten muss, weil sie in der überquellenden Masse der Neuerscheinungen ohnehin niemand bemerken kann, wenn sie nicht intensiv und nachhaltig promotet und gepusht werden. Die Kunst an der Kunst ist es zunächst einmal, überhaupt den Platz auf dem Verkaufstisch zu erringen und dann zumindest ein paar Wochen dort liegen zu bleiben, ehe sie für immer verräumt oder verramscht wird. Wo sind all die Werke der letzten Saison? Die meisten Bücher (und seien sie auch brisant und gefährlich) erscheinen heute unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wer sich allzu kühn gegen den Common Sense stellt und gegen den Mainstream schwimmt, wird an den Rand gedrängt, ausgeschieden und landet zuerst in einem Special-Interest-Magazin und dann in der Versenkung. In seiner Verzweiflung wendet sich der Ausgeschiedene an einen Kulturpolitiker, und der sagt ihm ohne mit der Wimper zu zucken: »Wir müssen nach vorne schauen und an die Zukunft denken!« Leider hat auch Karl Kraus selbst ein schlimmes Ende genommen. Aber das ist eine andere Geschichte …
Eine Schriftstellerexistenz ist kein leichter Lebensentwurf und bietet viel Anlass zu Gram und Ärger, aber – das muss man zugeben – sie hat mitunter auch angenehme Seiten.
Zum Beispiel komme ich jetzt gerade von der Meeresküste, wo ich in einem erstklassigen Hotel vor großer Kulisse aus meinem Roman Das Geisterschiffgelesen habe, der vom bewegten Schicksal eines Mannes erzählt, der vor hundert Jahren gelebt hat, als Böhmen noch bei Österreich und Österreich noch am Meer war. Dann kamen 1914 und Sarajevo mit all den verhängnisvollen Konsequenzen, dem Krieg und dem Zusammenbruch Österreichs und Europas in der damaligen Form. Plötzlich war nicht nur infolge der großen Politik auch im privaten Leben meines Romanhelden alles anders, alles zerstört …
Er – Josef Maria Auchentaller – lebte mit einem Mal im Ausland, ohne auch nur einen Meter übersiedelt zu sein. Meine Lesung fand ebenso auf ausländischem Boden statt. Das Grand Hotel stand aber unter österreichischer Führung, mein Publikum kam zum Großteil aus Österreich, nur die Hoteldiener, die die Stapel von Stühlen ins Foyer brachten und aufstellten, das waren Einheimische. Der Chef de Cuisine, ein Haubenösterreicher, verwöhnte seine Landsleute (und mich) nicht nur mit Gibanica, sondern mit köstlichen Grießknöderln, wunderbarem Sauerrahmschmarren oder exquisiten Powidlpofesen. Am Hotelzimmerfernseher konnte man den österreichischen Sender empfangen – da allerdings nur amerikanische Serien: Eroberer sind immer auch Eroberte, und die Eroberungen finden nicht mehr militärisch, sondern wirtschaftlich, kulturell, medial statt. Viel praktischer. Viel effizienter.
Nach getaner Arbeit hängte ich einen Urlaubstag an: Ich hatte das beste Zimmer des Hauses bekommen, die Suite in der Villa Neptun, Blick auf Cres und die Bucht und das Meer. Der Wellness-Animateur Ivica war ein Meisters seines Faches, denn er hatte, wie das gerahmte Zertifikat an der Wand bestätigte, bei der »AufgussWM 2013« den neunten Platz in der Kategorie »Pflicht- und Showaufguss« errungen (und beim Wacheln eine Windgeschwindigkeit von 8 m/sec entfacht)! Unglaublich! Ich frage mich seither: Ist ein Aufguss Pflicht, Neigung, Sport, Kunst oder Wissenschaft? Die Konkurrenz schläft nicht, sie heißt »Sisi« und macht den »Sisi«-Aufguss, bei dem sie sich in der Sauna nach einer Choreografie bewegt, die dem Musical »Elisabeth« entnommen ist. Die Kaiserin – und Staatsmeisterin im Sauna-Aufguss – weiß alles über ätherische Öle, Fenchel (wirkt gegen Verlassenheitsängste), Melisse (gut bei Liebeskummer), Waldbeere, Haselnuss, Vanille-Kokos und setzt bei ihren Wohlfühlaufgüssen Düfte ein, die von ihren Reisen inspiriert sind: Fichtennadeln aus Bayern, Rose aus Korfu, Jasmin aus Madeira … Für Sisi ist es wichtig, dass Körper, Geist und Seele im Zug des Aufgusses in Einklang kommen, sagt sie zumindest, und tatsächlich hat die Originalsisi in Schönbrunn beim Glorietteeichhörnchenfüttern manchmal in diesem Sinn gedichtet: »… Am Strande wollte sie steh’n, die Sonne goldig sinken seh’n.« Wäre ich Kaiser gewesen, ich hätte gleich die ganze Auflage gekauft, damit meine depressive Süddeutsche lyrisch eine Ruhe gibt!
Jedenfalls hatte die AufgussWM in Bad Hofgastein stattgefunden – wie praktisch alle AufgussWMs in Österreich! AEIOU! Austria est in orbe ultima! Aber Heldentat ist das noch keine …
Weil Herr und Frau Hausenblas sich getrennt haben, Herr und Frau Lobenwein sich auseinandergelebt haben und infolge Karriereplanung für keimzellenpädagogische Dienste unabstellbar sind, die Magenschwabs in Scheidung leben und die Schimmelpfennigs bereits geschieden sind und neue Partner haben, weiß ich, dass die Hauptstadt von Swasiland Mbabane heißt, die Hauptstadt von Ruanda Kigali und die Hauptstadt von Mosambik Maputo. Die Aussprache muss ich noch üben. Man lernt nicht aus!
Obwohl die Schimmelpfennigs, die Magenschwabs, die Lobenweins und auch Herr und Frau Hausenblas für die Früchte ihrer zerbrochenen Liebe nur das Beste wollten (und in Anbetracht der Pitschpatschpatchworkshop-Selbstverwirklichungsund Befreiungsumstände ist das eben, allein oder hin und her erzogen zu werden), sind Schimmelpfennig jun., Magenschwab jun., Lobenwein jun. sowie Hausenblas jun., als wären sie bloß billige Klischees, unisono verhaltensoriginell (um das Wort »verhaltenskreativ« zu vermeiden) oder eben verhaltenskreativ (um das Wort »verhaltensauffällig« zu vermeiden) oder eben verhaltensauffällig geworden (um die Worte unkonzentriert, laut, vorlaut, renitent, soziophob und geschädigt zu vermeiden).
Die pädagogisch versierten Klassenlehrer ahnen zwar richtig, dass es sich bei Schimmelpfennig, Magenschwab, Hausenblas & Lobenwein jun. selbst um Opfer handelt. Aber vier solche ihre Verletzungen und Verwundungen weiterreichende Opfer reichen aus, um das Unterrichten in einer vierundzwanzigköpfigen Klasse in einem legebatterieartigen Klassenzimmer dauerhaft zur Hölle werden zu lassen. Die armen Lehrer sehen sich nicht raus und haben keine Handhabe. Sie sind ja keine Löwenbändiger! Disziplinieren war gestern. Das Zauberwort heute heißt »motivieren«! Aber motivieren Sie einmal einen Verwundeten, so zu tun, als wäre er gesund! Versuchen Sie einmal, einen Schwerverletzten zu motivieren, still zu sein, damit er mit seinem Geschrei nicht die anderen stört und aus der Konzentration bringt!
Der Klassenvorstand beruft einen Elternabend ein und lamentiert über die miserable Klassengemeinschaft, in der jeder gegen jeden sei und niemand vor niemandem Respekt habe. Dass die miserable Klassengemeinschaft ein Spiegelbild der miserablen Gesellschaft ist, sagt der Klassenvorstand den versammelten Abgesandten dieser Gesellschaft freilich nicht. (Und wer weiß, was er privat selber so treibt …) In einer Wegwerfgesellschaft ist natürlich nur Platz für Wegwerfmenschlichkeit. Schimmelpfennig, Magenschwab, Hausenblas & Lobenwein sen. fehlen unentschuldigt, und es werden täglich mehr. Aber die müssen sich auch nicht entschuldigen.
Aus all dem hier kurz Skizzierten hat der Geografieprofessor die (na ja: ein wenig originelle) Konsequenz gezogen, dass die ganze Klasse bis zum kommenden Montag die Hauptstädte sämtlicher Staaten Afrikas auswendig lernen muss, also auch meine kleine, nicht renitente, bloß ein wenig verträumte Tochter, mit der ich jetzt gerade vor der Afrikakarte sitze (und mich stillschweigend über meine eigenen Bildungsgroßraumlücken wundere). Unfassbar, wie gut ich selbst im Rahmen einer letztlich geistigen Existenz über die Runden gekommen bin, ohne zu wissen, dass die Hauptstadt von Botswana Gaborone heißt, die Hauptstadt von Burkina Faso Ougadougou, die Hauptstadt von Malawi Lilongwe und die Hauptstadt von Mauretanien Nouakchott! Was ich immer schon wissen wollte, aber bisher nicht zu fragen wagte: Wie heißt die Hauptstadt von Lesotho? Jawohl, Maseru!
Der Geografielehrer als Ersatzlöwenbändiger! – Was für eine schöne Geschichte! Natürlich hat meine Tochter recht, wenn sie sagt, dass Hauptstädte Afrikas für uns nicht so wichtig sind, und dass sie sich vom (barbarischen) Motto »mitgefangen, mitgehangen« nicht motivieren lassen will. Aber, sage ich meiner Tochter vor der Karte, in vielen Städten und Landstrichen Afrikas laute das Zauberwort heute nicht »Motivation«. Die Zauberworte lauten »Essen. Trinken. Medizinische Versorgung. Schulen.« Es gibt nämlich zu wenige, mancherorts gar keine. Aber wenn es welche gäbe, wäre die Klassengemeinschaft dort hervorragend. Noch. Mr. & Mrs. Ngobe bleiben zusammen, auch wenn die große Liebe verblasst und der letzte Sexualverkehr mindestens 9 ½ Wochen her ist. Das taugt dem kleinen Ngobe bei allem Elend schon. Der tagtägliche Überlebenskampf hat Mr. & Mrs. Okwarati so zusammengeschweißt, dass sie gar keine Gelegenheit hatten, »sich auseinanderzuleben«. Weggeworfen wird da nichts! Löwen gibt es. Und Löwenbändiger. Aber der kleine Okwarati soll es einmal besser haben.
Und er wird! Afrika arbeitet hart daran, europäischer zu werden. Noch ist es schier unvorstellbar, sage ich meiner Tochter, aber wer weiß, in hundert Jahren wird es in Afrika vielleicht keine Hungersnöte und Seuchen mehr geben, kein Massenelend, keine Bürgerkriege, sondern Massenwohlstand und eine florierende Wirtschaft, Frieden und Fortschritt. Es wird gut besuchte Zirkusvorstellungen mit dem Titel »Europa, Europa!« geben. Krankenhäuser und Schulen werden Selbstverständlichkeiten sein. Nur die Klassengemeinschaften werden leider immer schlechter werden. »Wer weiß«, sage ich meiner staunenden Tochter, »heute in hundert Jahren wird der kleine Ngobe vielleicht mit seinem Opa vor dem Atlas sitzen, weil er die Landeshauptstädte sämtlicher österreichischer Bundesländer auswendig lernen muss! Und er wird seufzen: ›Opa, das interessiert mich nicht! Das ist ja völlig unwichtig!‹«
Hey Alter! Soweit in diesem Kommentar personenbezogene Ausdrücke verwendet werden, umfassen sie Frauen und Männer gleichermaßen. Trotzdem ist die Anrede »Hey Alter!« sprachpolizeilich so was von »uncorrect«! Man sagt »junggeblieben«, »mitten im Leben«, »x plus« oder allerschlimmstenfalls »Senior« (Jungsenior). Einen alten Menschen »alt« zu nennen, ist ein »No-Go«.
Überhaupt darf man aus gut gemeinten gesellschaftspolitischen Gründen viele, viele Worte und Ausdrücke nicht mehr verwenden, die in meiner Kindheit und Jugend noch ganz selbstverständlich – und sozusagen Common Sense – gewesen sind, und manchmal lässt sich nicht mehr eindeutig entscheiden, was noch Sprachhygiene und was schon Sprachwaschzwang ist. Werke durch und durch liberaler AutorInnen und AutorInnen (anything goes …) von Astrid Lindgren bis Klaus und Erika Mann (als Frau »Mann« heißen zu müssen, ist natürlich besonders arg und demütigend …) werden nun nach unkorrekten Ausdrücken durchforstet und postum umgetextet. Und was Pippi Langstrumpf (Josephine Dessous?) recht ist, muss Alois Brandstetter wohl billig sein. Sein Frühwerk wird sicher unter dem neuen Titel »Der erste Österreicher mit Migrationshintergrund meines Lebens« neu aufgelegt werden … Christine Lavant ist noch allen Ernstes ins »Irrenhaus« gegangen. Herausgekommen ist sie aus dem »Zentrum für seelische Gesundheit« – aber besser gegangen ist es ihr dadurch nicht.
Gendern kann man auch übertreiben: Der »Scheidungsratgeber für Frauen«, herausgegeben vom Bundesministerium für Frauen, heißt natürlich »Ratgeberin«.
Das Vorrecht der Jugend ist Renitenz und Widerstand. Eine »Alte« bedeutete in meiner Jugendsprache eine Junge, und das Optimum war eine »lässige Alte«. (In meiner Erzählung Das Mädchen im See habe ich über die vor mehr als hundertfünfzig Jahren im »Alter« von zweiundzwanzig Jahren verstorbene Ottilie von Herbert geschrieben, sie sei »eine ganz alte, junge Alte« gewesen.)
Die Jugend, die »wir« hervorgebracht haben, schert sich aber auch um Gendermetastasen (und Gendermetastasinnen) wenig. Meine große Tochter, sie maturiert heuer, begrüßt ihre beste Schulfreundin jeden Morgen mit »Hey Alter!« »Alter«, unterrichtete sie mich, »ist zeitlos und geschlechtsneutral.« Ich denke, so könnte man auch die problematische Stelle in der Bundeshymne lösen: Heimat bist du großer Söhne und »alter Verwalter« …
Über Amerika soll man sich nicht lustig machen – vor allem dann nicht, wenn man ein so schlechter Westernheld ist wie ich. Wer weiß? Vielleicht haben die Burschen von FBI oder CIA oder was weiß ich einen ganz anderen Humor als ich und … schon funkeln die letzten Strahlen der Abendsonne durch das Loch in meiner Brust … nicht auszudenken! Ich hätte keine Chance!
Ein Terroranschlag bei einem Marathon (der aber nicht aus den USA, sondern aus Hellas, aus Griechenland kommt) ist auch kein Grund für Lustigkeit. Vier Tote sind vier Tote zu viel, hundertsiebzig Verletzte hundertsiebzig Verletzte zu viel! Schon gar nichts halte ich davon, Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern zu machen. Jedenfalls lernen wir aus der Katastrophe, wie schwer es ist, eine so lange Strecke wie zweiundvierzig Komma Josef Kilometer sozusagen bombensicher zu machen. Wäre es eine Lösung für die Sicherheitskräfte, den Marathon einfach in ein Stadion zu verlegen und die Läufer zweiundvierzig Kilometer im Kreis beziehungsweise in der Ellipse laufen zu lassen? Nicht unbedingt. Denn in den Twin Towers waren dreitausend ahnungslose Leute zusammengepfercht, und die sind auf einen, nein auf zwei Streiche, auf zwei Flugzeugstreiche, alle erwischt worden. Und wenn man vor lauter Frustration gar nichts mehr veranstaltet und blaumacht, kommt ein Tsunami daher und fordert zweihundertfünfzigtausend Opfer.
So – und nur so statistisch – gesehen sind die vier Toten von Boston geradezu ein Beleg für die Sicherheit von Marathonläufen in Amerika: Schusswaffentote gibt es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten jeden Tag wesentlich mehr! Ich wage zu behaupten: Wäre derselbe Marathonterroranschlag in derselben Dimension irgendwo anders auf der Welt passiert, in Togo, im Tschad, in Tschetschenien oder Belutschistan, wäre er nicht über eine Woche lang in allen Weltmedien auf der Titelseite abgehandelt worden. Was woanders auf der Welt bloß Barbarei und Vandalismus wäre, ist in Amerika außerdem immer ein potenzielles Weltpolitikum, ein möglicher Aufstand gegen die Weltmachtordnung.
In den States führt so ein Anschlag unwillkürlich zur Johnwaynisierung der Gesellschaft. Die Bevölkerung einer Millionenmetropole verschanzt sich in ihren verbarrikadierten Häusern, denn jetzt macht die Weltmacht Jagd auf zwei halbwüchsige tschetschenische Gewaltwürschtel – und ganz Europa verneigt sich mittels Korrespondenten und Prime-Time-Liveschaltungen. (Schließlich muss man dem mit Respekt und Unterwürfigkeit begegnen, was hier auf unserem Kontinent demnächst die gesellschaftliche Norm sein wird. Es ist ja eine liebe, alte Tradition, dass sich Europa zum Outlet Amerikas erniedrigt hat.)
Es bedurfte keines Marathons, bloß eines Sprints, bis die Schurken zur Strecke gebracht waren. Die erleichterte Bevölkerung verließ jubelnd ihre Häuser und klatschte auf öffentlichen Plätzen in die Hände, als hätte sie gerade einen Weltkrieg gewonnen. Von Journalisten befragt, mit wie vielen Kugeln der Leichnam des ersten Attentäters zum Sieb gemacht worden sei, antwortete der Pathologe: »Es sind so viele, dass es unmöglich ist, sie noch zu zählen!«
Da schau her! Es gibt also doch noch etwas, das unmöglich ist im Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Da lacht die amerikanische Abendsonne durch die unzähligen Löcher des tschetschenischen Siebs!
Meine geliebte Tochter hat heute das erste Mal gearbeitet! Sie ist noch nicht einmal fünfzehn! Nur ein Ferialjob, aber trotzdem! Man fragt sich, wohin das noch führen soll. Für einen Vater ist das natürlich ein fürchterlicher Schock, wenn er dahinterkommt. Er fragt sich: Was habe ich bloß falsch gemacht? Er will ja immer nur das Beste für sein Kind – und dann unvermittelt das! Ich schleppe sie ins Goethehaus am Frauenplan! Ich schleppe sie ins Strindbergsmuseet in der Drottninggatan! Ich schleppe sie ins Centre Dürrenmatt in Neuchâtel! Ich schleppe sie ins Writers Museum in Dublin! Ich schleppe sie sogar in die Berggasse 19! Und was macht sie? Sie geht arbeiten!