Kasachisches Tagebuch - Gabriele Berghoff - E-Book

Kasachisches Tagebuch E-Book

Gabriele Berghoff

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Beschreibung

Wer aus Deutschland nach Kasachstan reist, tut dies selten aus touristischen Motiven. Manchmal geht es um familiäre Bindungen, manchmal ums Geschäft. Nichts davon trifft für die Autorin dieses Tagebuchs zu, die sich ganz im Osten des ihr unbekannten Lands als Seniorexpertin für Bildung und das Erlernen von Fremdsprachen einsetzen soll. In diesem Buch hält sie fest, was sie dabei von Tag zu Tag selber lernt über ein Land voller Widersprüche und Menschen, die zwischen Vergangenheit und Zukunft ihren Weg suchen.

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Seitenzahl: 174

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Bildungslücke Kasachstan

Deutsche Bahn und Air Astana

Astana, die zweitkälteste Hauptstadt der Welt

Zurück in die Siebziger oder Studentenheimidylle

Graffiti und Quentin Tarantino

Pferdefleisch und Stutenmilch

Grau in grau

Stärker als der Tod

Der polnische Tourist

Seminar mit Hindernissen

Fragestunde mit Boxern und zwei Museen

I don’t know!

Friedensmissionen und Turnvater Jahn

Wochenende mit Dostojewski

Wo ist der Basar?

Heute mal in der Lehrerrolle

Russen, Kasachen, Deutsche und Türken

Die große Moschee und der große Abai

Examinierte Expertin und bellende Hunde

Auf Wiedersehen!

Auf dem Heimweg

Fast zu Hause

Was noch zu sagen wäre

Bildungslücke Kasachstan

Wenn man, wie ich, 70 Jahre alt ist und gerne reist, hat man schon ein paar Länder gesehen. Die meisten als Touristin. Die meisten in Europa. Seit meiner Pensionierung aber auch einige als ehrenamtliche Seniorexpertin im außereuropäischen Ausland.

So schickte mich meine Organisation, die ehrenamtliche „Seniorexperten“ ins Ausland vermittelt, schon nach Sri Lanka, wo ich zusammen mit Salesianer-Patres an der Entwicklung des Englischunterrichts in Don Bosco Zentren gearbeitet habe. Danach ging es in den äußersten östlichen Zipfel Usbekistans, wo die englische Sprache auch der Entwicklung bedurfte.

Und nun soll es also Kasachstan sein. Von Kasachstan wusste ich bislang nur, dass es ein Land nördlich von Usbekistan ist, dass die Steppe dort so groß und unbewohnt ist, dass gefahrlos Kosmonauten in ihren Raumkapseln darauf landen können, und dass unser Gärtner von dort kommt, der einen deutschen Namen trägt, aber Deutsch nur mit Akzent spricht und der ein unheimlich gutes handwerkliches Improvisationsgeschick hat.

Vage Vorstellungen von der politischen Situation der ehemalige Sowjetrepublik hatte ich auch, aber bislang nicht das Bedürfnis, Genaueres zu erfahren. Geschweige denn, das Land zu bereisen.

Dass mein Einsatzort Semey das ehemalige Semipalatinsk ist, das nah an der Grenze zu Sibirien liegt und bis in die 1980er Jahre wegen der dortigen Atomversuche Sperrgebiet war, erfuhr ich erst, nachdem ich den Namen gegoogelt hatte.

Dorthin führt mich mein Einsatz also in diesem Jahr. Wieder geht es um Englischunterricht, diesmal an einer Universität. Doch was ist damit gemeint, dass ich Didaktik und Methodik des Englischunterrichts in nicht-philologischen Fächern vermitteln soll? Erwartet man von mir Vorträge? Oder wird es so etwas wie Seminarsitzungen geben? Werde ich Unterrichtsveranstaltungen sehen und besprechen? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Immerhin werden mir 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmer angekündigt, deren Sprachkompetenz auf dem Niveau C1 liege. Auf jeden Fall eine Herausforderung!

So fahre ich hin mit meinem Laptop, auf dem sich allerlei Materialien zum Thema befinden, nicht zuletzt solche, die sich in Usbekistan und Sri Lanka schon bewährt haben. Und mit einer Auswahl von Lehrwerken. Mal sehen, was sich damit zu Wege bringen lässt. Improvisation scheint – mal wieder! – gefragt zu sein.

Das nun folgende Tagebuch schildert einen Lernprozess: Ganz langsam und nur ansatzweise lerne ich ein Land kennen, das voller Widersprüche und Ungereimtheiten ist, das stolz ist auf seine Geschichte und seine Kultur und doch auch mit der Vergangenheit und der Gegenwart hadert. Die Begegnung mit Menschen innerhalb und außerhalb der Universität ist auf jeden Fall bereichernd. Ihre Namen habe ich zum Schutz von Persönlichkeitsrechten geändert. Auch habe ich nicht alles aufgeschrieben, was mir zu Ohren gekommen ist - besonders, wenn es um Politik, Korruption und Vetternwirtschaft ging. Schließlich möchte ich niemanden kompromittieren.

Ansonsten hat sich alles genau so zugetragen.

Deutsche Bahn und Air Astana

Montag, 10.04.2023

Der ICE nach Köln ist brechend voll. Nur mit Mühe kann ich meine beiden Koffer – den großen mit 20 kg (auf der Badezimmerwaage grammgenau abgewogen) und den kleinen mit immerhin auch 10 kg – durch den Gang schieben. Überall sind Menschen und Taschen im Weg, aber mein reservierter Platz direkt neben der Gepäckablage ist tatsächlich noch frei. Doch was nützt es? Das Kofferregal ist berstend voll, keine Chance, meine Sachen loszuwerden.

Als ich mich noch suchend umschaue, bittet mich eine junge Frau, die Plätze zu tauschen. Sie wolle gern neben ihren Kindern sitzen – zwei ganz niedliche Zwillingsmädchen von etwa fünf Jahren, die sich auf dem Sitz neben meinem zusammendrängen und in ein Computerspiel vertieft sind. Der Platz, den sie mir anbietet, ist auch nicht schlecht und so stimme zu und könnte mich eine Reihe weiter vorn hinsetzen, wenn ich denn eine Lösung für mein Gepäck finden würde. „Ihr kleiner Koffer passt noch oben auf die Gepäckablage“, stellt die Mutter hilfsbereit fest, macht aber keinerlei Anstalten, mir beim Hochheben behilflich zu sein. „Der ist zu schwer“, sage ich und deute an, dass ich ihn nicht mal auf Schulterhöhe heben kann. Sie fühlt sich dennoch nicht berufen mit anzufassen, räumt aber immerhin ein paar Taschen ihrer Familie so zur Seite, dass der kleine Koffer noch daneben gequetscht werden kann. Der große muss halt im Gang stehen bleiben.

Immerhin fährt der Zug pünktlich ab und der Zugbegleiter hat sich ausnahmsweise nur für die ausgefallene Klimaanlage und die daraus folgende Sperrung des Wagens 35 zu entschuldigen. Auch die Erstattungsmodalitäten für nicht einlösbare Platzreservierungen werden ausführlich erläutert. Zum Glück sitze ich im Wagen 33 und weiß jetzt, warum der so übervoll ist.

In Köln brauche ich die kompletten 18 Minuten Umsteigezeit, um aus der Sardinenbüchse wieder herauszukommen, einen Platz im Aufzug zu ergattern, der immer nur wenige Reisende zugleich befördern kann, und Gleis 4 zu erreichen.

Endlich dort angekommen, steht der Zug nach Frankfurt schon zur Abfahrt bereit. Vor mir rennen einige andere Reisende auf der Suche nach dem richtigen Waggon den Bahnsteig entlang. Zu dumm, dass man von außen die Wagennummern nicht erkennen kann. Ich laufe mit meinen beiden Koffern hinterher, am Abschnitt der 1. Klasse vorbei, traue mich aber dann nicht mehr weiter, denn alle anderen sind inzwischen eingestiegen. Nachdem ich unter den Augen interessierter Mitreisender, die im Durchgang stehen oder sitzen, mein schweres Gepäck umständlich in den erstbesten Waggon bugsiert habe (leider ist auch noch der Handgriff an meinem Koffer abgerissen), stelle ich fest, dass dieser die Nr. 26 trägt. Bis zu meinem Platz im Wagen 23 werde ich mich also noch ein beträchtliches Stück durch den Gang arbeiten müssen. Zum Glück komme ich halbwegs gut voran. Hinter dem Bordrestaurant, das leicht zu durchqueren ist, da es nur noch aus einer Theke und ein paar Stehtischen besteht, folgt offenbar der zweite Teil des Wagens 26. Nun setzt sich der Zug auch schon in Bewegung. Wie weit muss ich wohl noch? Ich suche die nächste Anzeigetafel und lese zu meinem Erstaunen: Wagen 22! Auf 26 folgt 22? Tatsächlich habe ich Wagen 23 bereits unmerklich passiert und die Wagen 24 und 25 existieren offenbar nicht. Eine Mitreisende hinter mir ist ebenso irritiert. Also zurück. Nachdem ich endlich meinen Platz gefunden und sogar das Gepäck verstauen konnte, kann ich endlich etwas entspannen. Dass es über meinem Sitz keinen Haken für meine Jacke gibt, ist nun ein wirklich geringes Problem, obwohl das Kleidungsstück auf meinem Schoß die unnötige Funktion einer Wärmflasche übernimmt.

Als ich am Frankfurter Flughafen, Terminal 1, aussteige, wird mir noch heißer. Gern würde ich mich meines Anoraks entledigen, aber ich habe ja alle Hände voll. Ich mache mich also auf den Weg zum Terminal 2 und bin schneller als erwartet am Shuttle, das die beiden Flughafenbereiche miteinander verbindet. Im Bus lasse ich mich erschöpft auf einen freien Sitz fallen und freue mich, dass es auch gleich weiter geht. In der ersten Kurve macht sich mein großer Koffer allerdings auf seinen Rollen selbstständig und fährt munter den Gang entlang. Ein freundlicher Passagier hält ihn jedoch auf und deutet mir, sitzen zu bleiben. Er nimmt sich des Gepäckstücks an und hält es für den Rest der Fahrt fest. Ich bin ihm sehr dankbar.

Der Check-in Schalter macht gerade auf, als ich ankomme. Hier geht alles wie am Schnürchen. Mein Koffer wiegt 19,8 kg, und ich bin erleichtert. Zwar erlaubt Air Astana die Mitnahme von 23 kg, aber auf meinem Anschlussflug mit FlyArystan darf mein Gepäck nur 20 kg wiegen. Aber jetzt bin ich erst einmal froh, den unhandlichen Ballast endlich los zu sein.

Dann geht es überaus zügig weiter. Warteschlagen sind nirgendwo zu sehen. Nicht an der Passkontrolle und erst recht nicht am Sicherheitscheck. Dort ist genau genommen überhaupt niemand. Offenbar werden die weit entlegenen Gates im Bereich E nur selten genutzt.

Da ich noch viel Zeit habe, freue ich mich darauf, vor meinem Abflug noch etwas zu essen und zu trinken. Sicherheitshalber frage ich einen Uniformierten am Security Check, ob es hinter der Sicherheitskontrolle noch Gelegenheiten zum Kaffeetrinken gäbe, was er bejaht.

Danach öffnet er eigens für mich eine Absperrung, sodass ich direkt weitergehen kann. Außer den Kontrolleuren ist hier weit und breit kein Mensch. In aller Ruhe lege ich mein Handgepäck aufs Band, dazu gesondert Anorak, Jackett, Schal, Laptop und E-Reader. Meinen Gürtel darf in anbehalten. Dann werde ich ganzkörpergescannt und anschließend noch abgetastet. Entspannt sammele ich danach meine Siebensachen wieder ein. Jetzt ein Croissant und dazu Kaffee!

Nur leider gibt es nichts dergleichen. An einem kleinen Kiosk finde ich ein Kühlregal mit Getränken und diversen Süßigkeiten, sonst nichts. Ich entscheide mich für eine Flasche Mineralwasser (500 ml zum Preis von 4,50 Euro!). Dann begebe ich mich viel zu früh zum Gate. Immer noch kein Mensch weit und breit. Hinter der Bordkartenkontrolle – auch hier ist niemand – suche ich mir einen Platz mit Stromanschluss und stelle mich auf zwei Stunden Lesen und Schreiben ein. Ab und zu schaue ich mich um, ob nicht einer der Menschen, die mit mir eingecheckt haben, irgendwo zu sehen ist, aber nichts. Ein Flughafenmitarbeiter in Warnweste kommt vorbei, grüßt freundlich und fragt, ob ich nach Astana wolle. Als ich ja sage, versichert er mir, dass ich hier richtig sei. Ich hatte nichts anderes erwartet. Schließlich entdecke ich einige Mitreisende hinter einer Glasscheibe. Offenbar warten sie darauf, dass sich die Absperrung vor der Sicherheitskontrolle auch für sie auftut.

Was dann auch bald geschieht, denn nun füllen sich die Plätze. Man spricht allenthalben Russisch. Deutsche Touristen zieht es offenbar nicht nach Astana.

Zum Pre-boarding müssen wir den Wartebereich dann wieder verlassen, nur um nach Vorzeigen von Pass und Bordkarte die vorigen Plätze wieder einzunehmen.

Über den Flug ist nichts Besonderes zu berichten: Die Plätze sind einigermaßen bequem, der Service freundlich, das Essen eher mittelmäßig. Getränke gibt es reichlich, auch Alkohol.

Ich schaue mir den Film “The Secret Life of Walter Mitty“ an und verschlafe den Rest der Zeit.

Astana, die zweitkälteste Hauptstadt der Welt

Dienstag, 11.04.2023

Pünktlich um 05.50 Uhr landen wir in am Nursultan-Nasarbajev-Airport in Astana. An der Passkontrolle bin ich fasziniert von zwei bildschönen großen Hunden: Ein deutscher Schäferhund und ein anderes, dunkelbraunes Tier, dessen Rasse ich nicht identifizieren kann. Ganz diensteifrig beschnüffeln sie unser Handgepäck. Ob sie enttäuscht sind, dass nichts zu finden ist?

An der Gepäckausgabe laufen schon die Bänder und ich kann mir gleich meinen Koffer schnappen, der als allererster erscheint. So bin ich auch flugs draußen und entdecke gleich einen Jungen, der ein Schild mit meinem Namen hochhält. Ich schätze ihn auf etwa 15 Jahre, aber, wie sich herausstellt, ist er mein Taxifahrer. Eigentlich hätte mich Alessya, die Repräsentantin meiner Organisation in Kasachstan in Empfang nehmen sollen, aber sie ist gerade in Urlaub und hat deshalb meine Abholung per Taxi organisiert. Schnell wechsele ich noch 150 Euro in die Landeswährung Tenge um, dann geht es schon los. Der junge Mann erweist sich als sehr kommunikativ und erzählt mir in passablem Englisch, dass er vorhabe, Türkisch zu studieren. Vielleicht wolle er Lehrer oder Sozialarbeiter werden. Seine Muttersprache sei Kasachisch, aber natürlich spreche er auch fließend Russisch.

Unterwegs weist er auf diese und jene Sehenswürdigkeit hin und bietet mir zum Schluss eine Stadtführung für 6000 Tenge (ca. 12 Euro) pro Stunde an. So verabreden wir uns für zehn Uhr am Hotel für eine Rundfahrt von zwei Stunden.

Das Hotel Duman liegt am Rande des Stadtzentrums und ist ein imposantes Hochhaus, dessen Eingangsbereich nach oben über 18 Stockwerke offen ist. Vier gläserne Aufzüge sind ständig in Bewegung und führen zu den Zimmern, die von umlaufenden Galerien zu betreten sind. Mein Zimmer liegt im 14. Stock und ist beachtlich groß. Vom Balkon aus hat man einen tollen Blick bis zum Khan Shatyr, dem von Norman Foster entworfenen größten Zelt der Welt mit transparentem Dach.

Zuerst aber lege ich mich aufs Bett, denn der Schlaf im Flugzeug war doch nicht so erholsam, und zu Hause ist es auch gerade erst drei Uhr nachts. Als ich zwei Stunden später aufwache, weiß ich zuerst nicht, wo ich bin. Selbst als ich das Zimmer wiedererkenne, muss ich noch länger darüber nachdenken, in welcher Stadt es sich befindet.

Nachdem ich einigermaßen wieder bei Besinnung bin, fahre ich in den 16. Stock, wo es einen Frühstücksraum gibt mit gelb-grünen Plüschsesseln an großen Tischen vor einer mit rotem Samt verkleideten Wand. An der Decke deuten gewebte Bänder die Dachkonstruktion einer traditionellen kasachischen Jurte an. Das Buffet bietet das Übliche: Kaffee und Tee, Saft, Wurst, Käse, Gurken, Tomaten, viel süßes Gebäck und natürlich auch Brot, das ich aber erst suchen muss. Offenbar gehört es nicht zu den Hauptbestandteilen des Frühstücks. An einer offenen Küche werden Eierspeisen frisch zubereitet, aber am besten ist der Tisch mit den Trockenfrüchten. Hier bekomme ich wieder die leckeren blauen Rosinen, die ich in Usbekistan so geliebt habe.

Pünktlich um zehn Uhr ist Alisher, so heißt der Taxifahrer, zur Stelle. Unser erstes Ziel ist der Bajterek-Turm, das Wahrzeichen der Stadt. In der Morgensonne wirkt das schlanke weiße Konstrukt vor strahlend blauem Himmel sehr filigran. Dass der Turm den Baum des Lebens symbolisieren soll, in den ein legendärer Vogel sein goldenes Ei gelegt hat, ist nachzuvollziehen. Unwissende kommen aber vielleicht eher auf die Idee, einen übergroßen Fußballpokal vor sich zu haben. Von langen Warteschlangen, die im Reiseführer beschrieben werden, ist keine Spur. So bin ich schnell oben in der goldenen Kuppel, von wo man tatsächlich einen herrlichen Rundblick hat. Der Turm steht in der Mitte des Boulevard Nurzhol, einer kilometerlangen Blickachse, die vom Khan Shatyr bis zum aktuellen Präsidentenpalast reicht, den der Taxifahrer “White House“ nennt. An den Rändern der überaus großzügigen Anlage stehen fantasievolle futuristische Bauten, die ein wenig an Dubai erinnern, darunter ein Hochhaus, das oben wie ein chinesischer Palast aussieht. Zwei goldene Zwillingstürme, die Bürobauten und Hotels beherbergen, fallen ebenfalls wegen ihrer extravaganten Form ins Auge. Schade, dass die Blumenbeete noch nicht bepflanzt und die Springbrunnen noch im Winterschlaf sind. So überwiegt farblich das Betongrau der Gebäude und Wege.

Auf die Möglichkeit, meine Hand in den goldenen Handabdruck des omnipräsenten Ex-Präsidenten Nursultan Nasarbajev zu legen, was andere Besucher eher amüsiert als ehrfürchtig tun, verzichte ich großzügig.

Auf Alishers besondere Empfehlung geht es dann zur Großen Moschee, der größten in Zentralasien, deren Kuppel sogar die größte der Welt sein soll. Das imposante weiße Gebäude mit fünf hohen Minaretten liegt auf einem weitläufigen Areal mit Bänken und fein ziselierten schattenspendenden Konstruktionen aus weißem Metall. Alisher scheint auf diese Sehenswürdigkeit besonders stolz zu sein, verschweigt aber nicht, dass man in Kasachstan durchaus kritisch fragt, ob die riesigen Summen, die für dieses Prestigeobjekt ausgegeben wurden, nicht anderweitig dringender benötigt worden wären.

Leider geht es nicht über die riesige Freitreppe und das große hölzerne Eingangstor in die Moschee, sondern ganz profan durch eine geräumige Tiefgarage, an deren Eingang sich noch ein Haufen schmutziger Schneereste auftürmt. Durch mehrere marmorverkleidete Räume und Gänge kommen wir dann in einen Garderobenraum, wo die Schuhe in Regalen abgestellt werden und für Frauen lange blaue Gewänder bereit liegen. So vorbereitet, betreten Alisher und ich den riesigen Gebetsraum. Angeblich können hier 35 000 Menschen gleichzeitig beten, darunter 5000 Frauen auf der Empore. Heute sitzen aber sowohl Männer als auch Frauen, sogar ganze Familien auf dem großgemusterten blau-weißen Teppich, teils ins Gebet, teils in die Bewunderung des Raumes vertieft. Der handgeknüpfte Teppich soll der größte der Welt sein, was man in Abu Dhabi allerdings auch vom dortigen sagt. Auch alles andere ist blau-weiß, mit gelegentlichen goldenen Verzierungen: Auf dem blau-goldenen Mosaik der gläsernen Stirnwand leuchten in weiß die 99 Namen Allahs. Im Zentrum wirkt der goldene Mihrab fast klein. Der riesige Kronleuchter sieht aus wie eine aus hellblauen gläsernen Blättern zusammengesetzte Blüte. Alles sehr stimmig.

Beim Verlassen des Gebetsraums geht Alisher zu einem Opferstock, um ein Almosen zu hinterlassen. Ich mache es ihm nach.

Unser nächster Stopp ist am Gelände der Expo 2017. Dort befindet sich in einer riesigen achtstöckigen Kugel mit 80 Metern Durchmesser das Nur Alem Future Energy Museum, auch “The Sphere“ genannt. Leider hat es heute geschlossen, aber es reicht mir auch, staunend außen unter der Kugel zu stehen, in der sich die Skyline von Astana eindrucksvoll spiegelt. Lange können wir uns hier aber nicht aufhalten, denn auf dem leicht erhöhten, exponierten Gelände bläst ein sehr unangenehmer kalter Wind. Alisher nimmt das zum Anlass mir zu erklären, dass Astana nach Ulan Bator die zweitkälteste Hauptstadt der Welt sei. Das will ich gern glauben.

Dann geht die Fahrt gleich an zwei Präsidentenpalästen vorbei, und ich erfahre, dass der „alte“ Präsident sich einen supermodernen Glaspalast hat errichten lassen, weil es ihm wichtig gewesen sei, aus seinem Büro den Himmel zu sehen. Der neue Präsident residiert dagegen in einem eher klassizistischen, aber nicht weniger protzigen Gebäude, das zufällig oder absichtlich Ähnlichkeiten mit dem Weißen Haus in Washington aufweist. Desweiteren werden mir Theater, Konzerthallen, Universitätsgebäude und sogar ein Triumphbogen gezeigt, ein Bauwerk imposanter als das andere.

Die letzte Station ist dann das Nationalmuseum, auch dies ein riesiger futuristischer Bau, der in merkwürdigem Kontrast steht zu seinem Vorplatz, auf dem ein Brunnen mit überlebensgroßen Bronzestatuen kasachischer Reiterfürsten an die glorreiche Vergangenheit des Landes erinnert. Hier wird mich Alisher in zweieinhalb Stunden wieder abholen und zum Hotel fahren. So unsere Verabredung.

Innen beeindruckt mich gleich eine über mehrere Stockwerke reichende riesige Halle mit einer glänzenden blauen Glaswand, vor der Rolltreppen in die oberen Etagen führen. Über allem schwebt eine goldene Erdkugel mit einem gewaltigen Adler, dem kasachischen Wappentier.

Die Ausstellung der alten und neuen Geschichte des Landes ist sehr ansprechend, und mir wird bewusst, dass es in diesem Land schon im Altertum eine hochstehende Kultur gab, von der kunstvoller Goldschmuck für Menschen und Pferde Zeugnis ablegen. Besonders informativ ist der Saal mit einer Nachbildung des Hügelgrabs, in dem 1969 der „goldene Mann“ gefunden wurde. Eine Figur des Skyten-Prinzen aus dem 4. oder 3. Jahrhundert v.Chr. bildet mit seinem prächtigen goldbesetzen Gewand und dem üppigen Geschmeide den Mittelpunkt der Ausstellung.

Aber auch die Räume, in denen es um die sowjetische und post-sowjetische Geschichte des Landes geht, sind hochinteressant. Selbst eine kritische Auseinandersetzung mit den Atomwaffenversuchen in Semipalatinsk – einschließlich verstörender Bilder von entstellten Säuglingen – fehlt nicht. Von der unrühmlichen Vergangenheit dieser Stadt hatte ich natürlich schon gelesen und kurz darüber nachgedacht, wie riskant eine Reise in das angeblich nun nicht mehr verseuchte Gebiet wohl sein würde. Nun wird mir aber doch ein wenig mulmig bei dem Gedanken, morgen in Semey, dem ehemaligen Semipalatinsk, und damit am Ort des Grauens anzukommen.

Danach erübrigt sich eine Besichtigung der Abteilung für zeitgenössische Kunst. Mir fehlt einfach die physische und psychische Kraft, mich auf die auf den ersten Blick unverständlichen Exponate einzulassen. Ich setzte mich stattdessen mit einer Tasse Kaffee und etwas Gebäck ins Museumskaffee in der Eingangshalle und lasse die Atmosphäre des imposanten Gebäudes auf mich wirken. Ein guter Einstieg in ein mir noch ganz unbekanntes Land, in dem Pracht und Elend offenbar nah beieinander liegen.

Da anschließend immer noch mehr als eine halbe Stunde Zeit ist, beschließe ich, einen kleinen Spaziergang zu machen. Dieser führt mich auf die andere Seite einer mehrspurigen Straße, wo sich weitere imposante Gebäude befinden. Linkerhand fällt ein silbrig glänzender Bau auf, von dem ich erst später erfahre, dass es sich um die „Pyramide des Friedens“ handelt, ein ebenfalls von Norman Foster entworfenes Konferenzgebäude, in dem sich alle zwei Jahre Vertreter der Weltreligionen versammeln. Das architektonisch nicht weniger interessante Gebäude rechts, das wie ein verbeulter Fußball aussieht, ist die Universität für Kunst, und in der Mitte des Platzes steht auf einem riesigen, begehbaren Plateau das Denkmal für das kasachische Volk: Von einer gewaltig hohen Säule grüßt der ehemalige Präsident Nursultan Nasarbajev. Wer auch sonst? Auch eine große Moschee ist in einiger Entfernung zu sehen, aber bis dorthin ist es zu weit, zumal es trotz des Sonnenscheins eisig kalt ist.