Keine halben Sachen - Clover Beck - E-Book

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Clover Beck

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Beschreibung

Nikolas und Jakob, Jakob und Nikolas - so ist es und so soll es auch immer bleiben.

 

Als der Vater der Zwillinge versucht, sie zu trennen, flüchten die rebellischen Brüder unbemerkt. Zunächst genießen sie ihre Freiheit, doch schnell holt die Realität sie ein. Sie geraten an eine Jugendbande, wo sie sich erst einmal zuhause fühlen, doch Nikolas’ Liebe zu einem ihrer neuen Mitstreiter entfacht Eifersucht in Jakobs Herzen - ihr Paradies droht zu zerfallen.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Clover Beck

Keine halben Sachen

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Keine halben Sachen

gay romance

 

Clover Beck

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hinweis zu sensiblen Inhalten und Triggern

Informationsbedürftige finden im Anhang eine Auflistung zu Gewaltdarstellungen in diesem Buch.

 

 

 

Nicht auszuhalten

Jakob

Ein klarer Pluspunkt für diesen Tag war, dass wir Papa morgens nicht begegnen konnten. Er war Chefarzt der Chirurgie im Städtischen Krankenhaus und fuhr freitags noch früher zum Dienst als an anderen Wochentagen.

Von Montag bis Donnerstag mussten wir uns schon vor der Schule auf Streit einstellen. Keine große Sache, aber mich nervte dieses Herumgehacke. Nikolas konnte ihm kaum etwas recht machen. Papa meinte, er wäre schwierig – was auch immer das heißen sollte. Wir hatten schon vor Jahren aufgehört, darüber nachzudenken, warum Papa uns nicht gleichbehandelte. Es war nicht mehr wichtig. Wichtig waren andere Dinge. Wichtig waren wir.

Mama hob den Kopf, als wir in die Küche traten, und lächelte. »Guten Morgen, ihr Beiden. Gut geschlafen?« So entspannt, ihren großen Teepott in den Händen, saß sie nur am Tisch, wenn Papa weg war. Und dann hatte sie auch Augen für uns.

»Danke, ja.« Ich setzte mich.

Nikolas brachte nicht mehr als ein zustimmendes Brummen zustande.

»Ich habe heute am frühen Nachmittag noch einen Termin. Macht euch bitte etwas zu essen warm. Oder soll …?«

»Das kriegen wir hin, Mama.«

Nikolas schenkte mir Orangensaft ein, butterte meinen Toast, bestrich ihn mit Marmelade und schob mir dann Saft und Teller zu. Wie immer kümmerte ich mich um sein Frühstück.

Mama beobachtete uns verstohlen. Sie war stolz darauf, dass wir uns so gut verstanden, Nikolas und ich. Zwillinge eben. Das war schließlich, was die Menschen erwarteten: Zwillinge mögen sich, verstehen sich blind, lieben sich.

»Schreibt ihr nicht heute die Mathearbeit?«

Nikolas antwortete nicht. Mein Job. »Nein, Mama, das war Mittwoch.«

»Ach ja. Und wie ist es gelaufen?«

Ich schaute Nikolas an. »Ganz gut?«

Er nickte.

Mama trank vorsichtig einen Schluck Tee. »Ist doch gemein, so kurz nach den Ferien gleich eine Arbeit zu schreiben, oder?« Ihr Blick schweifte zum Fenster. »Am nächsten Wochenende bekommen wir Besuch. Habt ihr das noch auf dem Plan?«

Ich tastete nach Nikolas’ Hand. Schnell drückte er meine Finger, hielt sie aber nicht fest.

»Müssen wir wieder artige Kinder spielen?«

Mama musterte ihn. »Ihr seid doch immer artig, oder?« Sie lächelte. »Meine beiden Großen.« Ihre Hand fuhr über Nikolas’ Haar, brachte es durcheinander. Danach war meine Frisur dran. Strubbel wuschel.

Nikolas sprang auf. »Komm, Jakob, wir müssen los.«

Nikolas ging rückwärts vor mir her zur Garage und äffte Mama nach: »So, meine beiden Großen, macht mich stolz und geht schön brav in die Schule.« Er wirbelte herum, öffnete das Garagentor und klemmte seine Schultasche auf den Gepäckträger seines Fahrrads. »Mann, wie mich das ankotzt. Die merkt doch gar nicht, ob wir da sind oder nicht. Ich werde heute jedenfalls nicht zur Schule gehen.« Er wartete, bis ich mein Fahrrad geholt hatte.

»Aber wir können doch nicht schon wieder …«

»Es ist doch Freitag. Wir haben nur fünf Stunden und zwei davon sind auch noch Sport. Komm schon. Ob wir da sind oder nicht, merkt eh kein Mensch.«

Ganz wohl war mir nicht. Sport hatten wir in den ersten beiden Stunden, das könnten wir doch noch mitmachen? Und dann würde mir schlecht werden und wir müssten leider dem Unterricht fernbleiben. Mein Bruder könnte mich nach Hause bringen. Nichts davon sagte ich. »Was machen wir denn stattdessen?«

»Weiß ich noch nicht.« Nikolas betrachtete mich nachdenklich. »Mir wird schon etwas einfallen.«

»Lass uns doch lieber zur Schule.«

Wir schoben die Räder zum Tor, Nikolas hielt es mir wortlos auf. Ich wartete auf dem Bürgersteig, bis er es wieder hinter uns geschlossen hatte.

Die Straße lag verlassen da. Eine Straße wie in einem amerikanischen Film, hatte einmal eine Freundin unserer Mutter gemeint. Eine ordentliche noble Wohngegend ohne Ausländer und Kleinkriminelle. Auf beiden Seiten standen große Bäume zwischen Straße und Bürgersteig. Die Häuser standen hinter Hecken, Mauern oder hohen Zäunen auf Grundstücken, die eine beeindruckende Größe hatten. Was den meisten Besuchern sofort auffiel, war, dass es keine Parkplätze an den Straßenrändern gab. Wer nicht auf einem Grundstück parken konnte, musste seinen Wagen auf der Straße abstellen, misstrauisch beäugt von den Anwohnern.

Wir schoben unsere Fahrräder bis zur Einfahrt von Brauers, weil wir nie sicher sein konnten, dass das Tor geschlossen war. Wenn wir bei geöffnetem Tor vorbeifahren würden, könnte es sein, dass einem von uns nach wenigen Metern ein hässlicher schwarzer Mischling an der Hose hing. Das Tor war zu, wir konnten losfahren.

Wieder einmal waren wir spät dran. Am Fahrradständer an der Schule war schon niemand mehr, als wir unsere Räder anketteten. Kein frisch zusammengekommenes Pärchen, das wild knutschend um Aufmerksamkeit bettelte, keine kettenrauchenden Achtklässler.

»Ups, wir haben die Sportsachen gar nicht mit.« Nikolas sah nicht gerade betroffen aus. »Das ist ein Wink des Schicksals. Wir lassen es sein und gehen in die Stadt.«

»Aber wenn uns jemand sieht?«

»Dann habe ich dich eben zum Arzt begleitet. Dir ist doch schlecht geworden, oder?«

Wir machten die Räder wieder los und schoben sie langsam Richtung Innenstadt.

»Gott sei Dank muss ich jetzt Kevins blöde Fresse nicht sehen.« Nikolas grinste. »Mach dir keine Sorgen, Jakob. Es wird uns schon keiner erwischen.«

Trotzdem wird es auffallen, dachte ich. Und wir werden Ärger bekommen. Immerhin ist es heute das vierte Mal, dass wir unentschuldigt fehlen.

Wir ließen die Fahrräder an einer Bushaltestelle in der Innenstadt stehen und gingen zu Fuß weiter. Nachdem wir uns in einer Bäckerei mit einem Milchkaffee versorgt hatten, setzten wir uns draußen an einen der Tische, obwohl es nur um die zehn Grad waren. Immerhin regnete es nicht, obwohl die Wolken schon drohend über der Stadt hingen.

Wir fielen auf, natürlich. So häufig waren Zwillinge nicht. Und wir zogen uns immer sehr ähnlich an. So, wie es Mütter mit ihren kleinen Zwillingen machten. So, wie es ältere Zwillinge oft nicht mehr taten.

Ich betrachtete Nikolas‘ Haar, seine dunklen, leicht gewellten Haare, die wie meine waren. Seine dunklen Augenbrauen, die sich über den gleichen langen dichten Wimpern wölbten. Die braunen Augen. Und den Mund. Ich konnte mich in seinen Anblick hineinsteigern, bis mir schwindelig wurde, weil ich nicht mehr wusste, wo er anfing oder wo ich aufhörte. Ich war er, er war ich.

Nikolas musterte mich. »Du hast Milchschaum am Mund.« Er beugte sich vor und wischte mir mit dem Daumen über den Mundwinkel.

Seufzend lehnte ich mich an die Rückenlehne meines Stuhles und betrachtete das Schaufenster gegenüber. Ein Zeitschriften- und Tabakladen. In der Auslage standen Pfeifen in seltsamen Halterungen, Feuerzeuge lagen hübsch angeordnet dazwischen. Ein paar verblasste Zeitschriften vervollständigten das Bild einer Minimalausstattung des Mannes von Welt.

»Scheiß-Laden«, murmelte ich.

Nikolas legte den Arm auf die Rückenlehne meines Stuhles. Er schlug die Beine übereinander, den Knöchel des einen Beines über dem Knie des anderen, und wippte mit dem Fuß. »Wenn dir der Laden nicht gefällt, dann tu was.«

Wie war das gemeint? Konnte ich mir eine Belohnung verdienen? »Was bekomme ich dafür, wenn ich etwas unternehme?«

Nikolas’ schiefes Lächeln forderte mich heraus. Ich schaute mich um, stand auf und ging auf das Geschäft zu. Als würde er mich berühren, spürte ich seine Blicke, seine Neugier, seine Anspannung. Ladendiebstahl würde ihn nicht vom Hocker hauen. Das hatten wir schon. Ich musste mir etwas einfallen lassen.

Vor dem Laden stand ein Fahrrad. Ich drehte es auf dem Vorderreifen und ließ es gegen die Scheibe fallen. Es klirrte, quietschte, aber das Glas hielt stand.

»He!« Der Ladenbesitzer kam zur Tür gerannt und schrie mich an. »Bist du bescheuert? Da steht doch, dass du dein Fahrrad nicht an die Scheibe lehnen sollst.«

»Oh, Entschuldigung.«

Fluchend und Verwünschungen murmelnd verzog er sich wieder in seine Höhle.

Ich drehte mich zu Nikolas, der vorgebeugt auf dem Stuhl saß, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Er nickte mir zu. Langsam wandte ich mich zu dem Fahrrad um, strich sanft mit der Hand über den Sattel. Wenn ich Nikolas‘ Anerkennung haben wollte, musste ich schon etwas mehr leisten. Entschlossen packte ich den Lenker und den Sattel, hob das Fahrrad hoch. Beinahe bis über meinen Kopf.

Meine Arme zitterten.

Diesmal hielt die Scheibe nicht stand.

Nikolas

Keuchend und lachend fanden wir uns am Ende einer Seitengasse wieder, die von der Fußgängerzone abging. Jakob konnte sich kaum beruhigen. Er beschrieb mir mehrmals, wie seine Arme gezittert hatten, als er das Fahrrad hochgehoben hatte, wie seltsam verspätet das Klirren dem Zerspringen der Scheibe gefolgt war. Immer wieder flammte sein Lachen auf, zerhackte seine Sätze in Triumphgeschrei.

»Komm runter.« Ich legte die Hände an seine Wangen. »Das war cool. Und wahnsinnig laut. Hättest du das erwartet?«

Jakob stützte die Hände auf seine Knie, versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Ich musste ihn einfach berühren, packte ihn am Arm und zog ihn in eine Buchhandlung.

Wir gingen, immer noch leicht außer Atem, zum Hinterausgang und standen kurz darauf auf dem Parkplatz eines Discounters. Jakob fing schon wieder an zu kichern.

»Weiter!«

Auf Höhe des Kinos bemerkte ich aus dem Augenwinkel ein unverkennbares blaues Geflimmer und manövrierte Jakob in das Gebäude. Wir blieben vor einem der Glaskästen stehen, in denen Filmplakate hingen. Im Spiegel der Scheibe sah ich hinter uns einen Polizeiwagen mit Blaulicht, allerdings nicht sehr eilig, in Richtung der Fußgängerzone fahren.

Jakob stand dicht neben mir. Er zitterte vor Ungeduld. Grinsend legte ich den Arm um seine Taille. »Das verdient eine Belohnung. Gehen wir in einen Film?«

»Ich würde mir etwas Anderes wünschen.« Er schmollte. Was hatte er denn erwartet? Wieder einen Kuss? Oh Mann …

»Wir können doch trotzdem ins Kino, oder? Die Belohnung kriegst du einfach später. Heute Abend.«

»Ist doch noch viel zu früh fürs Kino.« Jakob stupste mich mit dem Ellenbogen an. »Die erste Vorstellung ist um halb fünf. Und ich habe außerdem keine Lust, zwischen fünfhundert Kindern zu hocken. Lass uns gehen.« Er drehte sich weg und marschierte aus dem Gebäude.

»Warte. Wo willst du denn hin?«

Er drehte sich u mir um, ging ein paar Schritte rückwärts und blieb stehen. »Was hältst du davon, wenn wir einkaufen gehen?«

Die Verkäuferin erkannte uns sofort. »Oh nee«, jammerte sie, »nicht ihr schon wieder.« Sie fasste ihre langen blonden Haare mit den Händen zusammen, warf sie über die Schulter auf ihren Rücken und sandte einen verzweifelten Blick zu ihrer Kollegin, die im hinteren Teil des Ladens Kleidungsstücke aufhängte.

Jakob ging zu einem Regal mit Jeanshosen, ich steuerte auf einige Sweatshirts zu. Die zweite Verkäuferin, eine kleine Brünette, kam nach vorne und drückte sich in Jakobs Nähe herum. Aha, die Mädchen hatten dazu gelernt. Sie teilten sich auf. Diesmal würden wir es nicht so leicht haben.

Wer hat jetzt nach dem Shirt, wer nach der Jeans gefragt? Wem soll ich was heraussuchen? Es war immer wieder spaßig, wie leicht sich manche Menschen von unserem Aussehen verwirren ließen.

Die Blonde ging zum Angriff über und fixierte mich. »Kann ich dir helfen?«

»Danke, ich schau nur.« Mein strahlendes Lächeln entlockte ihr nur ein leicht säuerliches Grinsen; sie wich mir allerdings nicht von der Seite.

Der Zufall kam uns zu Hilfe. Es bimmelte und ein weiterer Kunde betrat das Geschäft. Er steuerte sofort auf die kleine Brünette zu und verwickelte sie in ein Gespräch. Blondie verzog den Mund. Jakob stand zwischen den Kleidungsständern. Er zwinkerte mir zu, schnappte sich eine schwarze Jeans und trug sie zu der Blonden. Der Kampf begann.

Nein, ich suche nach einem Sweatshirt.

Ich? Nein, ich habe dich nach einer größeren Jeans gefragt.

Was? Wieso? Ich sagte Sweatshirt.

Nach nicht einmal einer halben Stunde war der Spaß vorbei. »Ihr kriegt das schon alleine hin.« Die Brünette verschränkte die Arme und betrachtete uns feindselig. Blondie tat es ihr gleich. »Ihr seid ja Brüder. Die helfen sich gegenseitig.«

Jakob zuckte die Schultern. Der Spaß war vorbei. Wir verkrümelten uns in eine Umkleidekabine. »Hast du noch Lust?«, flüsterte er.

»Nein. Wir müssen wohl einen neuen Laden finden.«

Jakob stand sehr dicht vor mir. Seine Blicke tasteten durch mein Gesicht. »Mir ist die Lust am Einkaufen vergangen.«

»Hunger?«

»Nee. Mir ist langweilig.«

Seine Finger berührten meine Hand. Ich griff zu, hielt sie fest. »Wären wir bloß zur Schule gegangen, hm?«

Er nickte. »Wäre besser gewesen.«

»Können wir immer noch.«

»Nee. Komm, wir setzen uns in den Park und überlegen.« Er ließ meine Finger los, aber sein Fingerknöchel klopfte gegen meine locker herabhängende Hand.

»Bei dem Wetter?« Ich pustete die Luft aus, drehte mich weg und riss den Vorhang zur Seite. Nichts wie raus hier.

Im Park erging es uns nicht besser. Gähnende Langeweile. Ich lag auf einer Bank, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und betrachtete die Wolken. Der Boden war eindeutig zu kalt für ein Picknick. Es war halt kein Sommer mehr. Statt auf dicke bauschige Klumpen, die regungslos an das Blau gepinnt waren, blickte ich auf dahinfliegende dunkelgraue Fetzen.

Jakob saß mit dem Hintern auf der Rückenlehne, die Füße auf der Kante der Sitzfläche. Er schaute zu mir herunter und deutete mit dem Kopf.

Ein Pärchen lag auf der Wiese. Das Mädchen war halb unter ihrem Lover verborgen – immerhin lag sie auf einer Jacke – und hatte die Arme unter sein Shirt geschoben, die Beine angezogen. Sie knutschten herum, als gäbe es kein Morgen. Und keine unsommerliche Außentemperatur.

Mein Magen zog sich zusammen. Ich musste schlucken und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass mich das Herumgeknutschte nervös machte.

Jakob hatte wohl keine Probleme. Er beobachtete die beiden, dass man den Eindruck gewinnen könnte, er wolle von ihnen lernen.

»Jakob! Benimm dich mal.« Mein Lachen klang selbst in meinen Ohren nicht echt.

Mein Bruder warf einen Blick auf seine Uhr. Offenbar wollte er nach Hause, aber zu früh konnten wir da auch nicht auftauchen. Aber hatten wir eine Wahl? Sollten wir uns allen Ernstes hier den Hintern abfrieren? »Gehst du schon mal zu den Rädern? Ich besorge noch was und komme gleich.«

»Was denn?«

»Geheimnis.«

Jakob

Nikolas würde nie darauf kommen, dass ich so etwas Profanes wie zwei Berliner mit Puderzucker besorgen würde. Lächelnd trug ich meine Beute aus dem Laden. Diese Berliner waren etwas Besonderes, sie waren meine Belohnung.

In einiger Entfernung zum Zeitschriftenladen blieb ich stehen. Ein Glaser war dabei, die Scheibe provisorisch auszubessern. Der Besitzer des Ladens stand mit zwei Kunden in der Tür, die Arme verschränkt, und sah richtig böse aus.

Nachdem die Kunden sich verabschiedet hatten, beobachtete er den Glaser noch einen Moment. Schließlich wandte er sich wieder seinem Geschäft zu.

Wäre ich doch bloß nicht stehen geblieben.

Sein Blick streifte mich. Er zögerte. Starrte mich an. Öffnete den Mund. Das alles dauerte nur Sekunden. Von einem Moment zum anderen war sein fassungsloser Gesichtsausdruck verschwunden und machte einer wütenden Grimasse Platz.

Der Mann setzte sich so plötzlich in Bewegung, dass ich regelrecht zusammenzuckte. Ich wirbelte herum und rannte.

»Haltet den Kerl fest!«, schrie er hinter mir.

Kaum zu glauben – es stellte sich mir doch tatsächlich ein älterer Herr in den Weg. Das ewige Gerede von Zivilcourage schien Früchte zu tragen. Ich rempelte ihn an und er fiel gegen einen Kleiderständer, der vor einem Geschäft stand.

»Tschuldigung!«, schrie ich, vergewisserte mich aber nicht, ob er sich hatte fangen können. Keine Zeit, tut mir leid. Schon rannte ich in eine Seitenstraße.

»Bleib stehen, du … Mistkerl!«

Mein Verfolger pfiff bereits aus dem letzten Loch. Ich riss die Tür eines Lokals auf, von dem ich wusste, dass es einen zweiten Eingang hatte. Betont langsam, mit rasend klopfendem Herzen, ging ich durch den Raum, vorbei an den Toiletten. Meine Nerven vibrierten und ich musste meine Beine zwingen, nicht wieder Tempo aufzunehmen.

»Wo ist das Arschloch?«, schrie mein Verfolger. Ein Stuhl fiel polternd um.

Ein blonder Junge stand auf und verließ seinen Platz. Wir sahen uns kurz in die Augen, als er an mir vorbei zum Ausgang ging. Er grinste schief und rief dann: »Da runter! Da ist jemand zu den Toiletten gerannt.« Und – wusch – war ich draußen. Cooler Typ.

Nikolas stand neben unseren Fahrrädern. »Wo warst du so lange?«

»Der Schaufenstermann war hinter mir her.« Er schaute die Straße entlang und ich drehte mich automatisch um. Nein, kein Verfolger. »Ich fürchte, wir müssen die nächste Zeit woanders unseren Tabak holen, Nikolas.«

»Tragisch.« Lächelnd musterte er mich. »Alles klar bei dir?« Sein Blick fiel auf die leicht ramponierte Papiertüte.

»Ja.«

»Hätte nicht gedacht, dass der dich wiedererkennt.«

Jetzt musste ich grinsen. »Wirklich nicht?« Nikolas‘ Blick wurde weich. Ich mochte das. So müsste mich der Mensch ansehen, den ich lieben würde. Obwohl ich bezweifelte, dass jemals jemand mir so nahe sein könnte wie mein Bruder.

Wir trödelten nach Hause. Falls wir Mama in die Arme laufen würden, würde sie schon schlucken, dass die letzte Schulstunde ausgefallen war. Aber wir hatten Glück: Mama war nicht da.

Nikolas ging in die Küche und öffnete die Kühlschranktür. »Salat!« Er knallte die Tür zu und öffnete den Gefrierschrank. »Wie sieht es aus, Jakob? Pizza?«

Langsam hing mir das ewig gleiche Essen zum Hals heraus.

Nikolas wirkte auch nicht gerade begeistert. »Wird die jemals kapieren, dass wir auch andere Sachen essen?«

»Soll ich Nudeln kochen?«, bot ich an.

Er klappte die Tür des Gefrierschrankes zu. »Mir ist der Appetit vergangen.«

»Ich mach uns einfach ein paar Scheiben Brot. Geh schon mal in dein Zimmer. Bin gleich da.«

Nikolas nahm Gläser aus dem Schrank, griff nach einer Flasche Cola und ging vor.

Der Kühlschranksalat war doch noch zu etwas Nütze: ich suchte mir Tomaten und anderes Grünzeug heraus, um damit die Käse- und Schinkenbrote zu dekorieren. Mit einem großen Teller in der einen Hand und der Tüte vom Bäcker in der anderen, marschierte ich in Nikolas‘ Zimmer.

Wir legten uns auf den Teppich und aßen unser Mittagessen. Nikolas musterte immer mal wieder die Papiertüte, fragte aber nichts.

Schließlich griff er nach dem leeren Teller, um ihn für die geheimnisvolle Tüte zur Seite zu stellen, aber ich hielt ihn auf.

Nikolas beobachtete, wie ich ihn erneut zwischen uns platzierte und die beiden Berliner darauf legte. »Aha, unser Nachtisch.«

»Nicht ganz. Das ist nicht nur einfach Nachtisch, sondern auch meine Belohnung.«

»Echt?« Nikolas lachte. »Da komme ich ja richtig günstig weg.«

»Abwarten.« Ich griff zu und biss in das Gebäck.

Nikolas ließ mich nicht aus den Augen, während er seinen Berliner aß.

»Du darfst dir nicht den Puderzucker ablecken«, sagte ich nach meinem dritten Bissen. »Das mache ich.«

Mitten in der Bewegung hielt Nikolas inne. Er starrte mich an, die Oberlippe bereits mit wenig Zucker gepudert.

»Einverstanden?«

Er nickte.

Ich hatte mit Gegenwehr gerechnet. Schließlich legte er sonst immer fest, was wir zur Belohnung bekommen würden. Aber meine Idee schien ihm zu gefallen.

Wir aßen schweigend weiter, ohne uns dabei anzusehen. Seit ich gemeint hatte, dass uns ein wenig Übung nicht schaden könnte, küssten wir uns immer mal wieder. Der eigene Bruder – Zwillingsbruder – wäre das unverfänglichste Übungsobjekt überhaupt, fand ich. Mich wurmte es einfach, dass wir mit beinahe achtzehn Jahren weniger Erfahrung hatten, als die meisten Sechzehnjährigen in unserer Klasse. Warum ihn diese Kinder interessieren sollten, wollte Nikolas wissen. Keine Ahnung, aber mich störte das einfach.

Endlich schob ich den leeren Teller zur Seite und holte zwei Kissen. Ich legte mich meinem Bruder gegenüber auf den Bauch, ein Kissen unter meinen Ellenbogen.

Er tat es mir gleich und grinste kurz. Seine Zunge kam zwischen seinen Lippen hervor, zog sich aber schnell wieder zurück. »Ups, das war knapp. Ich wollte gerade …«

»… meine Arbeit erledigen? Geht gar nicht.« Entschlossen rückte ich vor und drehte den Kopf.

Nikolas machte einen langen Hals und streckte mir seinen Mund entgegen.

Was dann folgte, war das Beste, was wir uns bisher für unsere Furchtlosigkeit gestattet hatten. Ich leckte an seinen Lippen wie ein Kätzchen, das Milch schleckt. Sie waren süß und weich. Meine Zunge glitt mit langsamen sanften Strichen seine Lippen entlang, um auch noch die letzte Süße zu erwischen. »Jetzt du«, flüsterte ich.

Nikolas leckte den Puderzucker von meinem Mund. Seine Zunge glitt in langen gewellten Linien meine Lippen entlang. Hin und her.

Ich öffnete ein wenig meinen Mund, als Nikolas in der Mitte war, und wie erhofft schnappte die Falle zu. Seine Zunge rutschte zwischen meine Lippen, berührte meine Schneidezähne.

Nikolas stöhnte auf. Ein Geräusch, das mir dermaßen heftig in den Unterleib fuhr, als hätte mich ein Pferd getreten.

Ich öffnete meinen Mund weiter und legte ihm eine Hand in den Nacken. Spätestens jetzt hätte ich damit gerechnet, dass er mich zurückstoßen würde, aber er schob mir nur seine Zunge tiefer in den Mund. Meine Lippen wurden gegen meine Zähne gedrückt, was ein bisschen wehtat. Obwohl ich doch eigentlich genau das gewollt hatte, versuchte ich jetzt, seine Zunge mit meiner aus meinem Mund zu schieben.

Nikolas machte ein Geräusch, das irgendwo zwischen Stöhnen und Seufzen lag. Und dann lagen unsere Münder aufeinander und unsere Zungen spielten herum. Ich erforschte seinen Mund, seine Zähne, die Innenseite seiner Lippen.

Seine Zunge drang im Gegenzug beinahe bis zu meinem Gaumen vor und ich musste den Kopf wegdrehen. Sofort versuchte ich, unseren Kuss fortzusetzen, aber Nikolas hatte sich schon auf den Rücken fallen lassen und lag da wie ein Toter, die Augen geschlossen.

»Fuck, was war das denn?«, flüsterte er.

Meine Stimme war einfach weg. Was sollte ich auch sagen? Jetzt wissen wir, was die beiden im Stadtpark gemacht haben? So gerne wollte ich ihn weiter küssen, aber der Moment war vorbei.

Nikolas stand auf. »Ich hol uns noch eine Cola.«

Mein Blick fiel auf die halb volle Flasche und ich nickte.

Nikolas

Ich wusste nicht, ob ich sauer sein sollte oder nicht. Jakob hatte mich total überrumpelt. Mann, mir gleich die Zunge in den Hals zu stecken!

Langsam ging ich die Treppe hinunter und in die Küche. Was wollte ich noch? Ach ja, Cola holen. Die Flasche in der Hand, blieb ich in der Küche stehen. Meine freie Hand hob sich, meine Fingerspitzen legten sich auf meine Lippen. Keine Ahnung, wie lange ich so dastand. Ewigkeiten.

Was war da eben passiert? Mein Herz raste immer noch. Meine Haut glühte. Ich schmeckte Zucker. Mir ging es beschissen. Verdammt … Ich war hart geworden.

»Nikolas? Kommst du?« Jakobs Stimme klang besorgt. Oder nach schlechtem Gewissen.

»Ja!« Mir war nach Laufen zumute, aber das war gerade nicht möglich. Ich hatte einen Steifen. Und das nur, weil mein Bruder …

Am Fuß der Treppe blieb ich erneut stehen. Jakob und ich, wir hatten uns gerade geküsst. Und wie. So richtig … als wären wir … Wieder wanderten meine Finger zu meinen Lippen. Verdammte Scheiße.

Jakob tauchte oben an der Treppe auf. »He, komm schon. Ich habe Durst.«

Mechanisch nickte ich und setzte konzentriert einen Schritt vor den anderen. Ruhig bleiben, nichts anmerken lassen.

Wieder im Zimmer, fiel mein Blick auf die leere Flasche. Jakob hatte entweder die halbe Cola auf einmal geleert oder den Inhalt weggeschüttet. Das war süß von ihm.

Er streckte die Hand aus und nahm mir die Flasche ab.

Wie ferngesteuert tapste ich zu meinem Bett und ließ mich darauf sinken.

Jakob trank und ließ mich dabei nicht aus den Augen. Er drehte die Flasche zu und lächelte. »He, mach doch nicht so ein Gesicht. Das war doch nur die Belohnung für die Scheibe.«

Ich schaute in meinen Schoß. »Weiß ich.«

Ging es ihm wie mir? Ich wagte nicht, ihm dahin zu gucken.

Bevor wir nach dem Abendessen – Mama hatte Pizza mitgebracht – nach oben in unsere Zimmer entkommen konnten, fragte sie: »Habt ihr noch Hausaufgaben zu erledigen?«

Das hatte sie schon lange nicht mehr gefragt. Sie verließ sich darauf, dass wir uns selbstständig um die Schularbeiten kümmerten.

Ich schaute zu Jakob, der genauso alarmiert aussah, wie ich mich fühlte. Wir witterten eine Falle.

»Machen wir sofort«, sagte er und winkte mir, ihm zu folgen.

Mamas Blick konnten wir nicht abschütteln.

»Was war das denn?«, zischte Jakob mir auf der Treppe zu. »Meinst du, sie ahnt was?«

Ich legte ihm eine Hand an den Rücken und schob ihn weiter. »Ewig kann es ja kein Geheimnis bleiben, dass wir …«

»Jungs?« Mamas Stimme nagelte uns auf der Treppe fest.

Ich blieb stehen und drehte mich um.

Sie stand auf der untersten Stufe, in jeder Hand eine Schultasche.

Scheiße, vergessen. Langsam ging ich nach unten und nahm ihr die Taschen aus der Hand. Schnell war ich wieder oben und folgte Jakob in sein Zimmer.

Lustlos schoben wir unsere Hefte und Bücher umher. Jakob sah ratlos aus. »Hättest du gedacht, dass wir schon so sehr den Faden verloren haben?«

Ich fühlte mich nicht gut. Ehrlich gesagt, ich war dabei, in Panik auszubrechen. »Meinst du, wir können jemanden aus der Klasse fragen, ob …«

»Niko!«

Oh nein, wenn Jakob mich Niko nannte, stand es schlecht um uns.

»Sehen wir doch mal den Tatsachen ins Gesicht, Nikolas. Das holen wir nicht mehr auf. Und aus unserer Klasse wird niemand bereit sein, sich … uns aus der Scheiße zu ziehen. Wir haben nun mal nach der Ehrenrunde keinen Draht zu unseren neuen Mitschülern bekommen. Wir müssten alles – alles – durchgehen und abgleichen und nachholen. Oder abschreiben. Und das vermutlich nicht nur in ein oder zwei Fächern.« Er klappte das Mathebuch zu. »Vergiss es.« Seine Hand lag auf dem Buch, als hielte sie den Deckel eines Fasses kochenden Öls zu.

»Was schlägst du vor?«

»Kleine Brötchen backen. Große Beichte und Zerknirschung.« Er hob den Kopf und betrachtete mich besorgt. »Kriegst du das hin?«

Ich zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Wenn Papa mich wieder so anschaut, brennen bei mir alle Sicherungen durch.«

»Versuch es. Bitte. Mann, du musst nur durchhalten und ruhig bleiben. Ich rede. Ich bettle. Ich bin zerknirscht. Für uns beide, verstehst du. Ich krieg das hin. Notfalls heule ich.«

»Und dann?«

»Egal. Wir lassen den Sturm vorbeiziehen und wiederholen die Klasse. Oder wir gehen schon zum Halbjahr zurück in die …«

»Scheiße, da habe ich gar keinen Bock drauf. Noch mal eine Klasse wiederholen? Mich nervt die Schule sowas von.« Mit einem Ruck schob ich den Stuhl zurück, dass er fast umkippte. Ich ging zum Bett und ließ mich darauf fallen.

Jakob kam zu mir und legte sich neben mich. Wir drehten uns beide gleichzeitig einander zu und sahen uns schweigend in die Augen.

»Weißt du eine andere Lösung?« Seine Hand streichelte meinen Oberarm.

»Nee, keine Idee.« Sein Gesicht ähnelte meinem so sehr und wiederum auch nicht. Keine Ahnung, warum uns manche Menschen nicht auseinanderhalten konnten. Wir waren schließlich keine eineiigen Zwillinge. Jakob konnte so anders sein als ich. Da war seine ganz eigene Art, den Mund zu verziehen, wenn er sich wehgetan hatte. Das Leuchten in seinen Augen, wenn ich ihm sagte, dass ich ihn liebhatte. Die sanfte Röte, die seine Haut überzog, wenn wir uns nahe waren. »Willst du wirklich Abi machen?«, fragte ich mit kratziger Stimme.

»Warum nicht? Wir könnten dasselbe Fach studieren. Oder zumindest in derselben Stadt zur Uni.« Jakob umfasste meine Finger und drückte kurz. »Willst du lieber eine Ausbildung machen? Da brauchen wir aber auch ein gutes Zeugnis.«

Wir rückten dichter zusammen und meine Stirn berührte seine. »Du darfst dich nicht immer mit Papa anlegen«, flüsterte Jakob. Seine Hand streichelte meinen Arm.

»Wir könnten ein soziales Jahr einschieben. Oder wir überfallen eine Bank und hauen dann ab«, schlug ich vor.

Jakob drückte mich auf den Rücken und legte sich an meine Schulter. »Mit dir gehe ich überall hin.«

»Das sagst du so.« Sanft nahm ich eine Haarsträhne auf und versuchte, sie um meinen Finger zu wickeln.

»Nein, ehrlich wahr. Und das weißt du genau.« Er drückte sein Gesicht an meinen Körper, sein Mund berührte meinen Hals. »Für immer und ewig gehöre ich dir«, flüsterte er.

Meine Finger wanderten zu seinem Ohr und zupften sanft am Ohrläppchen. »Ich gehöre dir auch«. Jakob konnte das nicht oft genug hören.

Er entspannte sich und sein Kopf lag schwer auf meiner Brust. Vorsichtig zog er an meinem Shirt, zupfte es von meinem Körper weg, bis er einen Streifen Haut über dem Hosenbund freigelegt hatte.

Meine Finger wühlten durch sein Haar, als wären sie Regenwürmer in satter dunkler Erde. Ich zitterte innerlich. Was würde er tun? Mein Körper sehnte sich danach, dass er meine Haut küssen, dass er seinen warmen Atem darüber streifen lassen würde. Was war nur mit mir los? Wir waren uns schon immer nahe gewesen, auch körperlich, aber vor einiger Zeit hatte sich bei mir eine Schraube gelockert. Irgendetwas in meinem Inneren lief nicht mehr rund.

»Überall hin folge ich dir«, flüsterte Jakob und tat genau das, was ich mir gewünscht hatte.

Ich schloss die Augen. »He, keine Belohnung ohne …« Meine Stimme versagte.

Sein Mund berührte meinen Bauch, warm und feucht. Diese verdammte Hitze schoss in meinen Unterleib und ich bekam Angst, dass er es merken würde. Merken würde, dass ich ganz unbrüderlich auf seine Zärtlichkeiten reagierte. Ich legte mir locker die Hand zwischen die Beine, um möglichst viel zu verdecken.

Spürte seine Zunge.

Registrierte, wie dunkel es bereits in seinem Zimmer geworden war.

Ich konnte mich nicht bewegen.

»Hör auf.«

Jakob

Keine Ahnung, was jetzt schon wieder los war. Nikolas musste plötzlich unbedingt die Teller und Gläser nach unten bringen.

War ich etwa zu weit gegangen? Was war da nur mit mir durchgegangen? »Nikolas?« Ich biss mir auf die Unterlippe. Nein, ich würde ihn jetzt nicht anbetteln. Wir hatten seit einiger Zeit getrennte Zimmer, aber verbrachten trotzdem noch jede Nacht zusammen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das nun anders sein würde. Warum auch? Es würde also noch genug Gelegenheit geben, die Stimmung zwischen uns zu retten. Missmutig tapste ich hinter ihm her die Treppe nach unten.

Mama saß am Küchentisch und blätterte in einer Zeitschrift.

Ihr gegenüber stocherte Nikolas in den Resten des Kühlschranksalats herum. Er grinste und deutete auf die zweite Gabel auf dem Tisch.

Ich atmete tief durch und ein Felsen polterte auf den Fußboden.

Wir aßen schweigend, raubten uns gegenseitig die besten Stücke. Eine ganze Weile hörte man nur das Klappern des Bestecks und unser unterdrücktes Lachen.

Plötzlich sprang Mama auf und wie ein Schauspieler aus den Kulissen trat Papa in die Küche. Hatte sie ihn gerochen wie ein Hund sein Herrchen?

Er nahm den Begrüßungskuss entgegen und setzte sich uns gegenüber. Sofort lief Mama hin und her und deckte für Papa den Tisch. Er saß nur still da, ein paar Bögen Papier in der Hand und las.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass Nikolas Mama mit seinem Kannst-du-das-mal-lassen-Gesicht beobachtete. Hoffentlich würde sich daraus kein handfester Streit mit unserem Vater entwickeln.

Als Mama endlich wieder saß, legte Papa seine Unterlagen zur Seite. Ohne einen Blick von der Zubereitung seines Abendessens zu wenden, fragte er uns nach der Schule – Alles gut! – und dann waren wir endgültig abgemeldet. Er erzählte von der Arbeit, sprach nur noch zu Mama, und ich konnte mich auf Nikolas‘ Bein konzentrieren, das an meines drückte.

Das Telefon klingelte. Mama legte ihr Brot ab, von dem sie gerade hatte abbeißen wollen, und ging auf den Flur. Ein zähes Schweigen legte sich über den Tisch. Nikolas’ Bein zappelte.

Papas Blick wanderte zu ihm. »Habt ihr noch Hausaufgaben?«

»Mmh …«

»Was heißt Mmh, Nikolas?«

Mein Bruder hob den Kopf. »Nicht viel.«

»Es heißt nicht viel oder dass ihr nicht viel Hausaufgaben habt?« Papas Ton veränderte sich bereits. Er klang gereizt.

Nikolas grinste und mein Herz begann zu rasen. »Mmh«, machte er.

»Nur Mathe«, warf ich ein.

Papa, der schon tief Luft geholt hatte, schaute mich an. Ich lächelte ihm zu. Ein Lächeln, das schnell verrutschte, als Nikolas mir in den Oberschenkel kniff. Gerade noch konnte ich mir auf die Lippe beißen, um einen erschrockenen Quietscher zu unterdrücken.

Papa hatte das bemerkt. »Was ist, Jakob?«

»Bauchweh.«

»Dann leg dich hin.«

Wir erhoben uns gleichzeitig. Nichts wie weg hier! Nikolas war noch imstande, einen Streit mit Papa anzuzetteln. Als wäre es nicht ausreichend, dass sie morgens immer aneinandergerieten.

Schon zog Papa unheilverkündend die Augenbrauen zusammen. »Nikolas …«

»Kann Nikolas nicht mitkommen, Papa?« Ich legte eine Hand auf meinen Bauch und krümmte mich leicht nach vorne.

Nachdenklich musterte er uns, aber schließlich hob Papa kurz die Schultern. »Okay.«

»Wartet bitte kurz.« Mama stand im Türrahmen. »Wir müssen noch etwas mit euch besprechen.« Sie reichte das Telefon an Papa weiter, der sie überrascht ansah. »Die Schule«, informierte sie ihn.

Wir saßen nebeneinander wie zwei Angeklagte vor Gericht – nur hatten wir keinen Verteidiger. Mama würde uns in dieser Angelegenheit sicher nicht beistehen.

Papa stand vor dem Fenster, den Blick zur Küche gerichtet und telefonierte. Seine Stimme klang hart, aber nicht zornig. Den Zorn hob er sich für seine Söhne auf.

Mama saß uns am Tisch gegenüber und hielt ihren Teebecher in den Händen. Sie trank Schlückchen für Schlückchen und betrachtete uns mit traurigen Augen.

Es war mäuschenstill, wenn man von Papas Stimme absah.

Tick, tick, stupste ich mit einem Finger an Nikolas’ Bein und neigte mich zu ihm. »Lass mich reden, okay? Ich rede.«

Papa legte auf und kam zu uns.

Nikolas‘ Atem streifte mein Ohr. Ich musste grinsen, weil es kitzelte.

Papa blieb neben Mama stehen und starrte uns an. Mein Lächeln verblasste. Hoffentlich war es noch nicht zu spät, einen ernsten Eindruck zu machen.

»Ich liebe dich«, flüsterte Nikolas.

»Ich dich auch«, sagte ich ebenso leise.

»Was habt ihr zu flüstern?« Papa zog sich den Stuhl heran und setzte sich. Starrte uns weiter an. Er verschränkte die Arme und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. Starrte uns weiter an. »Habt ihr mir nichts zu sagen?«

»Ihr wolltet doch mit uns sprechen«, platzte Nikolas heraus.

Ich schlug leicht mit der Hand auf sein Bein. Verdammt, ich wollte doch reden! Jetzt hatte er uns einen richtig miesen Start beschert.

Papa räusperte sich. »Eine andere Antwort hätte ich von dir auch nicht erwartet, Nikolas.« Er lehnte sich zurück. »Ihr wisst genau, um was es geht. Euer Klassenlehrer hat angerufen. Ihr habt mit Heute in diesem Halbjahr bereits vier Fehltage, genauer gesagt in diesen zwei Monaten zwischen Ende der Sommerferien und Anfang der Herbstferien. Alle unentschuldigt. Ihr schwänzt die Schule. Und eure Leistungen sind nun wirklich Lichtjahre davon entfernt, so etwas verkraften zu können. Von den fehlenden Hausaufgaben, die euer Lehrer erwähnt hat, reden wir noch nicht einmal. Ihr habt bereits die neunte Klasse wiederholt. Warum also strengt ihr euch nicht an und holt auf? Ihr geht nächstes Jahr in die Oberstufe.« Er verzog den Mund zu einem unechten Lächeln. »Theoretisch.«

Beschämt senkte ich den Kopf. »Ich weiß auch nicht, warum wir das gemacht haben. Ich … wir haben nicht gedacht, dass es so schlimm ist. Wir dachten, das kriegen wir schon wieder hin. Und …« Schnief. War das zu dick aufgetragen?

Mama setzte ihre Tasse ab und legte ihre Hände auf meine, die ich ineinander gefaltet hatte, als würde ich beten. Sie nickte mir aufmunternd zu.

»Wirklich, Papa. Wir haben das unterschätzt.«

Papas Blick schwenkte zu Nikolas.

Ich schaute meinen Bruder an. Oh nein, das sah nicht gut aus. Bitte, Nikolas, nicht dickköpfig sein …

Er lächelte mir zu. »So ist es. Jakob hat recht. Wir haben das vollkommen unterschätzt.« Seine Hand lag auf meinem Oberschenkel und er streichelte mich mit den Fingerspitzen. Winzig kleine Bewegungen, die unsere Eltern nicht erahnen konnten.

»Und was, bitte schön, gedenkt ihr zu tun?«

Nikolas drehte den Kopf. Er sah hilflos aus. »Ähm …«

Ich war besser auf diese Frage vorbereitet als er. »Wir entschuldigen uns bei Herrn Wessel. Wir gucken, wo wir Lücken haben. Und außerdem wäre es toll, wenn wir Nachhilfeunterricht nehmen dürften.«

Wir wechselten einen Blick. Ich konnte in Nikolas’ Augen lesen, was er dachte: Spinnst du?

»Das hört sich gut an, Jakob.« Papa lehnte sich zurück. »Aber mir geht das nicht weit genug.«

»Was willst du denn noch?« Nikolas beugte sich angriffslustig vor.

Ich schlug ihm auf die Hand.

»Ihr habt erst einmal Ausgangssperre. Dieses Wochenende bleibt ihr im Haus. In der Woche seid ihr um zwanzig Uhr, am Wochenende um zweiundzwanzig Uhr daheim. Ist das klar?«

»Ja.«

»Nein.«

Ich drückte Nikolas‘ Finger, er zog seine Hand weg.

»Was soll das heißen, Nikolas?« Papas Augen sprühten Blitze. »Meinst du, euer Verhalten sollte ich einfach so hinnehmen? Meinst du, ihr habt keine Strafe verdient? In Ordnung.« Die kleine Pause, die er in seine Rede einflocht, ließ mich Böses ahnen. »Dieses Wochenende schläft jeder in seinem eigenen Zimmer. Schluss mit diesem Gemeinsam-in-einem-Bett-schlafen.«

Nikolas zog scharf die Luft ein.

Mir war elend zumute, weil ich wusste, dass er alles noch verschlimmern würde. Aber ich liebte ihn auch dafür, dass er unser Ritter war und den Kampf aufnahm.

»Das hört sich an, als würden wir aneinander herumfummeln.«

Mama wurde rot.

»Du hast echt keine Ahnung, Papa. Wir sind Zwillinge, verdammt. Wir …«

Papa stand auf.

»Wir ticken anders. Aber du …«

Und klatsch, hatte Nikolas seine Ohrfeige bekommen.

»Du Arschloch!«

Klatsch, die nächste.

Die Tränen, die jetzt aus meinen Augen strömten, waren echt. Es tat mir körperlich weh, dass Papa ihn geschlagen hatte. Es tat mir weh, dass Nikolas so unbeherrscht gewesen war. Und es tat mir weh, dass wir diese Nacht und die nächste nicht beieinander sein würden.

Papa schaute mich an. Ich wich seinem Blick nicht aus. Er sah betreten aus. Und irritiert. Er fragte sich sicher, warum der eine Sohn weinte, wenn er doch den anderen schlug.

Nikolas legte den Arm um meine Schulter. »Schsch«, machte er dicht an meinem Ohr. »Ist nicht schlimm, Jakob.«

»Doch«, schluchzte ich, »das ist schlimm.« Mein Körper sackte gegen seinen. Die Tränen flossen. »Niemand darf dich schlagen. Und ich kann nicht schlafen, wenn du nicht da bist.«

Papa lief zwischen dem Tisch und der Kochinsel hin und her. »Es bleibt dabei«, sagte er laut. »Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe.« Er fixierte mich. »Affentheater …«

Nikolas

Nein, alter Mann, das kannst du dir abschminken. Niemals werde ich Jakob im Stich lassen. Ich starrte meine Zimmertür an. Abgeschlossen hatte Papa immerhin nicht. Er hatte ausführlich über die Notwendigkeit unserer Inhaftierung monologisiert. Klar, er hatte von Erziehungsaufgabe, von Einsicht und späterer Dankbarkeit gefaselt und uns darauf hingewiesen, dass es sich um einen offenen Vollzug handeln würde. Wir könnten unsere Zimmer verlassen oder ihm beweisen, dass wir sein Vertrauen verdient hätten und es eben nicht tun. Aber im Grunde war seine Maßnahme genau das: eine Inhaftierung.

Ich öffnete mein Fenster und lehnte mich hinaus. Was Jakob wohl machte? Ob er auf dem Bett lag, die Ohren verstöpselt, und sich von Musik beruhigen ließ? Sein Fenster jedenfalls blieb zu.

Ob ich es wagen konnte, später in der Nacht zu ihm hinüberzuklettern? Drei Meter musste ich dann aber bestimmt überbrücken. Keine Chance, unbeschadet hinüberzugelangen, wenn man nicht gerade Spiderman war.

Also Rückzug. Ob Mama und Papa schon im Bett lagen? Morgen war Samstag, ausgerechnet. Papa würde, wenn überhaupt, spät zum Dienst fahren.

Mitten in meinem Zimmer blieb ich stehen, streckte meine Arme waagerecht aus, die Handflächen nach unten gerichtet. Meine Finger zitterten.

Hasserfüllt starrte ich die Wand, die mich von Jakob trennte. Sollte ich einfach zu ihm gehen? Scheiß auf den Arrest. Aber was würde Papa uns dann aufbrummen?

Langsam ging ich zur Tür und legte mein Ohr daran. Nichts zu hören. Ich öffnete die Tür vorsichtig, warf einen Blick in den Gang. Nichts.

Was hatte ich erwartet? Dass Papa auf einem Stuhl zwischen unseren Zimmern sitzen würde, die Schrotflinte quer auf den Beinen?

Unten quäkte der Fernseher. Ein Vorteil, wenn man so ein locker-luftiges Haus bewohnte, dessen riesiger Wohnraum nicht nur offen zur Küche war, sondern auch zum Flur vor der Treppe.

Ich schlich zur obersten Stufe und ging zwei Schritte abwärts. Lauschte.

Unsere lieben Eltern sprachen kein Wort – sofern beide da unten vor dem Bildschirm saßen. Ich musste warten, musste es genau wissen. Geduld war allerdings nicht gerade meine Stärke.

Meine Gedanken gingen wieder auf Wanderschaft. Ob Jakob auch den Fernseher angeschaltet hatte? Ich schaute auf meine Uhr. Viertel nach neun.

Ein schmaler Lichtschein fiel auf den Läufer, der sich hier oben den ganzen Flur entlang zog. Ein schmaler Lichtschein, der immer breiter wurde.

Jakob huschte aus seinem Zimmer und kam zu mir. »Na, was machen sie?«

»Fernsehen.«

Wir grinsten uns kurz an.

»Kommst du später zu mir?« Jakob ging einen Schritt vor und äugte die Treppe hinunter.

»Klar.«

Er wandte sich mir zu. »Ich schlafe garantiert nicht ein, wenn du nicht da bist, also lass mich nicht so lange warten.« Und schon huschte er wieder davon.

»Willst du das noch sehen?«, erklang Papas Stimme. »War ein langer Tag heute. Ich gehe ins Bett und lese noch ein wenig.«

Schnell weg von der Treppe! In meinem Zimmer blieb ich hinter der Tür stehen. Das Schlafzimmer unserer Eltern lag gegenüber von Jakobs Zimmer, meinem gegenüber war das Bad. Ich lauschte.

Die elektrische Zahnbürste brummte. Da Papa morgens duschte, würde er nach dem Zähneputzen … Die Badezimmertür ging. Ich presste mein Ohr an das Türblatt. Klapp, zu. Anschließend hörte ich die Tür des Schlafzimmers. Sie hing und musste fest zugemacht wer-den, wenn sie nicht wieder von allein aufgehen sollte. Peng, zu.

Ich tigerte in meinem Zimmer hin und her. Sah immer wieder auf die Uhr. Gegen zehn kam auch endlich Mama nach oben. Die gleiche Prozedur: Zahnbürste, Türenklappen, Türenschlagen.

Stille.

Kurz nach Mitternacht schlich ich über den Flur zu Jakob. Er schlief tatsächlich nicht. Eilig schlüpfte ich unter seine Decke.

»Du bist kalt.« Jakob zog mich an sich. »Gehst du nachher wieder weg?«

»Ist wohl besser. Aber erst, wenn du eingeschlafen bist.«

Er rieb meinen Oberarm. »Aber kannst du denn ohne mich einschlafen?«

»Wenn nicht, habe ich Pech gehabt. Wir können uns abwechseln. Morgen musst du dann wach bleiben.«

»So eine Scheiße.«

Jakob lag so eng an meinen Körper gepresst, dass ich mich kaum bewegen konnte. Erstaunlich schnell wurde sein Atem tief, lockerten sich seine Muskeln und er schlief ein.

Seine Wärme machte mich ebenfalls schläfrig. Ich rückte etwas von ihm ab, aber das war noch nicht ausreichend. Ich rutschte an den Bettrand, stand auf und ging leise zum Fenster. Meine Finger glitten über den kühlen Stoff des Vorhanges, der sich leicht im Luftzug bewegte. Das Fenster war gekippt und ich sog die dunkle Nachtluft ein.

Hinter mir knarzte das Bett.

Jakob kam zu mir ohne ein Geräusch zu verursachen und schob vorsichtig die Arme um meine Mitte. »Komm zurück, Nikolas.«

»Moment.« Meine Stimme klang rau, seine weich und warm vom Schlaf. Ich musste mich zusammenreißen, um mich nicht aus seiner Umarmung zu befreien. Jede Faser meines Körpers signalisierte mir Gefahr. Die Bedrohung ging allerdings nicht von Jakob aus, sondern von mir selbst. »Ich muss wach bleiben, Jakob. Papa darf uns morgen Früh nicht beide in einem Bett erwischen.«

Er drückte seinen Kopf an meine Schulter. »Weiß ich doch«, flüsterte er. »Wenn du das willst, gehe ich wieder schlafen.«

Meine Haut kribbelte. Ich liebte es, wenn er so etwas sagte. Wenn er sagte, dass er tun würde, was ich verlangte.

Kurz darauf lag ich im Bett, auf dem Rücken, die Finger ineinander verschränkt. Erwartungsgemäß rückte Jakob an mich heran. Mein Körper kippte minimal in seine Richtung, als die Matratze unter ihm nachgab.

»Schlaf gut. Bis morgen.«

Wie eine beruhigende Hand strich das sanfte Licht des Mondes über die Bettdecke, nahm den Druck von mir und versenkte mich für eine kurze Zeit in einen traumlosen Schlaf. Wirklich nur für kurze Zeit. Plötzlich war ich wieder wach, lag ganz still, um Jakob nicht zu wecken, der dicht hinter mir lag. Schon immer berührte sein Körper mich, wenn wir in einem Bett lagen. Manchmal lag sein Bein über meinem oder sein Unterarm war auf meinem Bauch. Jetzt lagen wir Hintern an Hintern. Ein sehr beruhigendes Gefühl. Als hätte ich meinen Daumen im Mund. Lächelnd fiel ich zurück in die watteweiche Müdigkeit.

So blieb ich länger als geplant.

Mit einem Ruck war ich wach.

»Jakob?«

Lautes Klopfen.

Ich sprang aus dem Bett und schaute mich hektisch um. Wo sollte ich mich verstecken? Jakob scheuchte mich mit einer Handbewegung hinter sein Sofa. Er ging zur Tür und öffnete.

»Morgen, Papa.«

»Ist Nikolas bei dir?«

»Nein? Ist er nicht in seinem Zimmer?«

Papa schnaubte. »Wo treibt der Kerl sich nur rum? Wenn er abgehauen ist, kann er was erleben.«

»Vielleicht ist er schon unten?«

»Ich werde mal sehen.«

Jakob schloss die Tür. Ich kam hinter dem Sofa heraus und lief zu ihm. Jakob kontrollierte mit einem schnellen Blick den Flur, winkte mir und ich flitzte in mein Zimmer.

»Nikolas!«, schrie mein Vater durch das Haus.

»Was ist denn los?«, ließ sich nun auch unsere Mutter hören.

Ich legte mich hinter mein Bett auf den Fußboden. Als sie die Tür öffnete, lugte ich über den Rand meiner Decke.

Meine Mutter starrte mich an. »Was machst du da?«

»Weiß nicht.« Ich rieb meine Schultern. »Bin wohl rausgefallen.«

Sie musterte mich zweifelnd. »Das ist dir doch noch nie passiert.«

»Ich habe ja auch noch nie allein geschlafen.«

Papa stellte sich neben sie und betrachtete mich mit zusammengezogenen Augenbrauen.

Mama lächelte kurz. »Nikolas ist aus dem Bett gefallen.« Eine nüchterne Feststellung. Keine Spur von Mitleid war in ihrer Stimme zu hören. »Kommt ihr dann bitte zum Frühstück?«

Ich rappelte mich auf und blieb hinter meinem Bett stehen wie ein Esel, der sich weigerte, weiterzugehen.

Papa starrte mich an, als hätte er einen kompletten Idioten vor sich. »Voll bekleidet?« Er schüttelte den Kopf und ging zum Badezimmer. Mama lief die Treppe hinab.

Und schon erschien Jakob an der Tür. »Herausgefallen. So, so.«

Ich zuckte die Schultern. »Hast du wenigstens gut geschlafen, Jakob?«

»Aber klar. Tief und fest. Und jetzt habe ich Hunger.«