Keiner werfe den ersten Stein - Elizabeth George - E-Book

Keiner werfe den ersten Stein E-Book

Elizabeth George

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Beschreibung

"Elizabeth George ist die Meisterin des englischen Spannungsromans." New York Times

In den schottischen Highlands herrscht tiefster Winter, und Westerbrae, ein Country-House wie aus dem Bilderbuch, ist von der Welt abgeschnitten - ideale Voraussetzung für eine prominente Londoner Theatergruppe, um ungestört ein neues Stück zu proben. Doch schon am ersten Morgen wird aus den Proben tödlicher Ernst: Joy Sinclair, die junge Autorin, wurde kaltblütig erdolcht. Und die Ortspolizei weigert sich, die Untersuchungen zu übernehmen. Ein Fall für Inspector Lynley von New Scotland Yard, stammen doch fast alle Beteiligten aus den ihm wohlvertrauten, besten Kreisen der englischen Gesellschaft. Aber er findet nur Fragen ohne Antworten, unausgesprochene Geheimnisse und Halbwahrheiten. Zum ersten Mal gerät Lynley mit den Prinzipien in Konflikt, die für ihn selbst die Welt bedeuten: den festgefügten Regeln der Oberschicht, der Tradition, Stolz und Familienbande mehr bedeuten als ein Menschenleben. Immer tiefer gerät er in ein Labyrinth aus zwischenmenschlichen Beziehungen, die weit in die Vergangenheit und hinauf in höchste Regierungskreise reichen. Doch die bittere Wahrheit hinter der blutigen Scharade entdeckt erst seine Assistentin, der Adel, Konventionen und Privilegien von Haus aus zutiefst suspekt sind.

Der dritte Fall für Inspector Lynley.

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Seitenzahl: 580

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Buch

In den schottischen Highlands herrscht tiefster Winter, und Westerbrae, ein Country-House wie aus dem Bilderbuch, ist von der Welt abgeschnitten – ideale Voraussetzungen für eine prominente Londoner Theatergruppe, um ungestört ein neues Stück zu proben. Doch schon am ersten Morgen wird aus den Proben tödlicher Ernst: Joy Sinclair, die junge Autorin, wurde kaltblütig erdolcht. Da sich die Ortspolizei weigert, die Untersuchungen zu übernehmen, kommt Inspector Lynley von New Scotland Yard zum Einsatz. Aber er findet nur Fragen ohne Antworten, unausgesprochene Geheimnisse und Halbwahrheiten. Zum ersten Mal gerät Lynley mit den Prinzipien in Konflikt, die für ihn die Welt bedeuten: den festgefügten Regeln einer Oberschicht, der Tradition, Stolz und Familienbande mehr bedeuten als ein Menschenleben. Immer tiefer gerät er in ein Labyrinth aus zwischenmenschlichen Beziehungen, die weit in die Vergangenheit und hinauf in höchste Regierungskreise reichen. Doch die bittere Wahrheit hinter der blutigen Scharade entdeckt erst seine Assistentin, der Adel, Konventionen und Privilegien von Haus aus zutiefst suspekt sind.

Elizabeth George

Keiner werfe den ersten Stein

Ein Inspector-Lynley-Roman

Deutsch von Mechtild Sandberg-Ciletti

Die Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel »Payment in Blood« bei Bantam Books, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 1989 by Susan Elizabeth George

Published by arrangement with Bantam Books, a divison of

Bantam Doubleday Dell Publishing Group, Inc., New York

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1991

by Blanvalet Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: corbis / © John Short

Gestaltung der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur, München

Motiv der Umschlaginnenseiten: corbis / © John Short

Th · Herstellung: AS

Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-12027-6V006

www.goldmann-verlag.de

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In Erinnerung an John Biere

Wenn eine gute Frau vor lauter Liebe närrisch wird, Durch falschen Männerschwur vom Pfad der Tugend irrt, Kann kein Zauberspruch ihr Leid mehr lindern, Kein Kunstgriff ihre Schuld mehr mindern. Will sie dennoch diese Schuld verdecken, Die große Schmach vorm Aug’ der Welt verstecken, Wünscht sie dem ungetreuen Mann Gewissensnot,

1

Gowan Kilbride, sechzehn Jahre alt, war nie ein begeisterter Frühaufsteher gewesen. Solange er auf dem Hof seiner Eltern gelebt hatte, war er morgens stets nur unter Murren aus dem Bett gekrochen und hatte jeden in Hörweite durch lautes Stöhnen und vielfältige Klagen wissen lassen, wie wenig dieses bäuerliche Leben seinem Geschmack entsprach. Als daher Francesca Gerrard, die jüngst verwitwete Eigentümerin des größten Landguts der Gegend, beschloss, ihr schottisches Herrenhaus in ein Hotel umzuwandeln, um wenigstens einen Teil der exorbitanten Erbschaftssteuern aufzufangen, bot Gowan ihr sogleich seine Dienste an, überzeugt, genau der richtige Mann zu sein, um bei Tisch zu servieren, an der Bar den Cocktailshaker zu schütteln und die Schar junger Damen im heiratsfähigen Alter zu beaufsichtigen, die sich zweifellos in Bälde als Zimmermädchen oder für den Service bewerben würden.

Leider alles nur schöne Phantasien, wie Gowan bald entdeckte. Noch keine Woche war er auf Westerbrae angestellt, als ihm klar wurde, dass der gesamte Betrieb des neuen Hotels in den Händen einer Vierermannschaft ruhen sollte: Mrs. Gerrard persönlich, einer ältlichen Köchin mit allzu üppigem Haarwuchs auf der Oberlippe, Gowan und einem frisch aus Inverness eingetroffenen siebzehnjährigen Mädchen namens Mary Agnes Campbell.

Gowans Tätigkeit besaß gerade so viel Glanz, wie es seiner Stellung in dieser Hierarchie entsprach – praktisch keinen. Er war »Mädchen für alles«, ob es nun darum ging, den weitläufigen Park in Ordnung zu halten, die Zimmer zu fegen, die Wände zu malern, zweimal wöchentlich den altertümlichen Boiler zu reparieren oder die zukünftigen Gästezimmer zu tapezieren. Sehr ernüchternd für einen jungen Mann, der sich stets als kommender James Bond gesehen hatte! Die Unbilden des Lebens auf Westerbrae wurden einzig gemildert durch die ungemein verlockende Anwesenheit Mary Agnes Campbells.

Nicht einmal mehr das frühe Aufstehen war nach weniger als einem Monat Zusammenarbeit mit Mary Agnes eine Last, denn je eher Gowan morgens aus seinem Bett sprang, desto früher bekam er ja Mary Agnes zu sehen, konnte mit ihr schwatzen und ihren betörenden Duft atmen, wenn sie an ihm vorüberging. Und innerhalb von lachhaften drei Monaten waren alle Träume, in denen er als wodkaschlürfender Held mit einer Vorliebe für maßgefertigte italienische Faustfeuerwaffen fungierte, vergessen; verdrängt von der Hoffnung, ein sonniges Lächeln von Mary Agnes, einen Blick auf ihre hübschen Beine zu erhaschen, in diesem oder jenem engen Korridor im Vorübergehen wie zufällig ihren wohlgerundeten Körper streifen zu können.

All diese qualvollen süßen Hoffnungen waren berechtigt, ihre Erfüllung möglich erschienen, bis gestern die ersten Gäste auf Westerbrae eingetroffen waren: eine Gruppe Schauspieler aus London, die mit ihrem Produzenten, dem Regisseur und mehreren Gefolgsleuten gekommen waren, um einer neuen Produktion in gemeinsamer Arbeit den letzten Schliff zu geben. Das Erscheinen dieser Londoner Theatergrößen in Verbindung mit dem, was Gowan an diesem Morgen in der Bibliothek gefunden hatte, hatte die Erfüllung seiner Träume vollkommenen Glücks mit Mary Agnes schlagartig in weite Ferne gerückt. Darum machte er sich, nachdem er den zerknüllten Bogen Papier mit dem Briefkopf von Westerbrae aus dem Papierkorb in der Bibliothek gezogen hatte, unverzüglich auf die Suche nach Mary Agnes. Er fand sie allein in der großen Küche, wo sie die Tabletts für den Morgentee richtete.

Die Küche war von Anfang an Gowans Lieblingsaufenthalt gewesen, vor allem deshalb, weil sie im Gegensatz zu den übrigen Räumen des Hauses nicht in ihrer Eigenart gestört, nicht verändert und durch Renovierung verdorben worden war. Es bestand keine Notwendigkeit, sie dem Geschmack und den Vorlieben zukünftiger Gäste anzupassen. Die würden kaum hier hereinkommen, um eine Soße zu kosten oder über die Qualität des Fleisches zu fachsimpeln.

Die Küche war also unverändert, immer noch genau so, wie Gowan sie aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte. Der alte Boden aus mattroten und cremefarbenen Fliesen, wie ein großes glänzendes Schachbrett. An einer Wand unter den eisernen Leuchten, die sich dunkel von der gesprungenen Kachelfläche abhoben, hingen wie eh und je Töpfe und Pfannen aus blitzendem Messing in langer Reihe an den Haken. Auf einem vierstöckigen Regal aus Fichtenholz über einer der Anrichten stapelte sich das Geschirr für alle Tage, und darunter stand unter der Last von Geschirrtüchern und Spüllappen schwankend ein dreieckiges Trockengestell. Auf den Fensterbrettern reihten sich tropische Pflanzen in Keramiktöpfen mit großen, palmwedelähnlichen Blättern – Pflanzen, die im eisigen Klima des schottischen Winters eigentlich hätten sterben müssen, in der Wärme der Küche jedoch prächtig gediehen.

Im Augenblick allerdings war der Raum noch eiskalt. Als Gowan hereinkam, war es fast sieben Uhr, aber der große Heizofen hatte die eisige Morgenluft noch nicht erwärmt. Ein großer Kessel dampfte auf einer der Herdplatten. Durch die Sprossenfenster sah Gowan die Rasenflächen, die sanft gewellt zum Loch Achiemore abfielen, nach den Schneefällen der vergangenen Nacht unter einer weißen Decke liegen. Normalerweise hätte ihn der Anblick vielleicht erfreut. In diesem Augenblick jedoch hinderte ihn selbstgerechte Entrüstung daran, irgendetwas anderes zu sehen als das hübsche Mädchen, das am Arbeitstisch in der Mitte der Küche stand und Deckchen auf die Tabletts breitete.

»Erklär mir das mal, Mary Agnes Campbell.« Gowans Gesicht wurde fast so rot wie sein Haar, und seine Sommersprossen verdunkelten sich merklich. Er hielt den zerknitterten Briefbogen hoch, den schwieligen Daumen genau auf dem Wappen von Westerbrae.

Mary Agnes’ unschuldsvolle blaue Augen streiften das Papier nur mit einem flüchtigen Blick. Nicht im Geringsten verlegen ging sie in die Geschirrkammer und nahm Teekannen, Tassen und Untertassen von den Borden. Sie verhielt sich ganz so, als hätte eine ganz andere mit ungeübter Hand geschrieben, was da auf dem Briefbogen stand: »Mrs. Jeremy Irons, Mary Agnes Irons, Mary Irons, Mary und Jeremy Irons, Mary und Jeremy Irons mit Familie.«

»Was denn?«, fragte sie und warf das lange rabenschwarze Haar in den Nacken. Ihr weißes Häubchen, das keck auf ihren dunklen Locken saß, rutschte dabei schräg über das Auge. Sie sah aus wie eine reizende kleine Piratin.

Eben das war das Problem. Nie war Gowans Herz für ein weibliches Wesen so heiß entbrannt wie für Mary Agnes Campbell. Er war ein Bauernjunge, mit fünf Geschwistern auf der Hillview Farm aufgewachsen, die sein Vater von Westerbrae gepachtet hatte, und nichts in seinem jungen Leben, in dem bisher die Schafherden seines Vaters und seine Bootsfahrten auf dem Loch das Wichtigste gewesen waren, hatte ihn auf das vorbereitet, was jedes Mal mit ihm geschah, wenn er nur in Mary Agnes’ Nähe kam. Nur der Traum, dass sie eines Tages ihm gehören würde, hatte verhindert, dass er ihretwillen völlig den Verstand verlor.

Immer hatte er an die zukünftige Erfüllung dieses Traums geglaubt, trotz der Existenz von Jeremy Irons, dessen schönes Gesicht mit den seelenvollen Augen, aus Filmzeitschriften ausgeschnitten, die Wände von Mary Agnes’ Zimmer im unteren Nordwestkorridor des großen Hauses zierte. Mädchenschwärmerei für das unerreichbare Idol war schließlich etwas ganz Normales – oder nicht? Das jedenfalls erklärte Mrs. Gerrard Gowan, wenn er ihr sein Herz ausschüttete und sie ihm zusah, wie er sich bemühte, den Wein in die feinen Gläser zu gießen, ohne die Hälfte auf das Tischtuch zu verschütten.

Das war sicher richtig, solange der Unerreichbare unerreichbar blieb. Jetzt aber, wo das Haus voller Londoner Schauspieler war, mit denen man täglich in Berührung kommen würde, sah Mary Agnes ihre große Chance, das war Gowan klar. Ganz sicher kannte einer von diesen Leuten Jeremy Irons persönlich, würde sie mit ihm bekannt machen, und alles andere würde sich von selbst ergeben. Dass sie so dachte, bewies das Papier, das Gowan in der Hand hielt; es zeigte deutlich, was Mary Agnes von der Zukunft erwartete.

»Was denn?«, wiederholte er empört. »Du hast das hier in der Bibliothek liegengelassen, darum geht’s.«

Mary Agnes riss ihm den Briefbogen aus der Hand und stopfte ihn in ihre Schürzentasche. »Nett, dass du’s mir nachgetragen hast«, sagte sie.

Ihre Unerschütterlichkeit war zum Verrücktwerden. »Und eine Erklärung findest du wohl überflüssig?«

»Übung, Gowan.«

»Übung?« Er explodierte fast. »Wofür soll das denn Übung sein? Was hast du denn davon, wenn du ›Jeremy Irons‹ schreiben kannst? Noch dazu, wo der verheiratet ist.«

Mary Agnes wurde blass. »Verheiratet?« Sie stellte heftig eine Untertasse auf die andere. Das Porzellan klirrte.

Gowan bedauerte seine impulsiven Worte sofort. Er hatte keine Ahnung, ob Jeremy Irons verheiratet war, aber er wurde fast wahnsinnig bei dem Gedanken, dass Mary Agnes nachts in ihrem Bett von dem Schauspieler träumte, während er selbst in seinem Zimmer nebenan sich nach einem Kuss von ihr verzehrte. Es war gemein. Es war unfair. Sollte sie ruhig dafür leiden.

Aber als er das Zittern ihrer Lippen sah, ärgerte er sich über seine Dummheit. Sie würde ihn hassen, nicht Jeremy Irons, wenn er nicht vorsichtig war. Und das hätte er nicht ertragen können.

»Ach was, ich weiß nicht genau, ob er verheiratet ist«, bekannte er.

Mary Agnes hob die Nase in die Luft, sammelte ihr Geschirr ein und kehrte in die Küche zurück. Gowan folgte ihr wie ein treues Hündchen. Sie stellte die Kannen auf die Tabletts, gab Tee hinein, zog die Deckchen gerade, legte silberne Löffel auf und ignorierte Gowan demonstrativ. Tief zerknirscht überlegte Gowan, wie er ihre Gunst wiedergewinnen könne. Als sie sich vorbeugte, um Milch und Zucker aus dem Schrank zu nehmen, spannte sich das weiche Wollkleid über ihren vollen Brüsten.

Gowan wurde der Mund trocken. »Hab ich dir erzählt, wie ich zur Grabinsel rübergerudert bin?«

Sehr geistvoll war dieser Versuch, wieder anzubändeln, nicht. Die Grabinsel war ein baumbestandener Hügel im Loch Achiemore, etwa einen Kilometer vom Ufer entfernt. Von einem merkwürdigen Bauwerk gekrönt, das aus der Ferne aussah wie eine extravagante Ausgeburt viktorianischen Geschmacks. Sie war die letzte Ruhestätte Phillip Gerrards, des kürzlich verstorbenen Ehemanns der gegenwärtigen Eigentümerin von Westerbrae. Dorthin zu rudern, war gewiss keine sportliche Heldentat für einen Jungen wie Gowan, der harte körperliche Arbeit gewöhnt war. Und Mary Agnes, die wahrscheinlich auch mühelos eine solche Exkursion geschafft hätte, konnte man damit bestimmt nicht beeindrucken. Darum bemühte er sich, die Sache etwas interessanter zu gestalten.

»Kennst du die Geschichte nicht, Mary?«

Mary Agnes zuckte nur die Achseln, während sie die Teetassen auf die Untertassen stellte. Doch sie warf ihm immerhin einen kurzen Blick zu, und das war für Gowan Ermunterung genug, seinen Bericht weiter auszuschmücken.

»Du hast’s wohl noch gar nicht gehört? Dabei ist es im ganzen Dorf bekannt, dass Mrs. Gerrard bei Vollmond immer splitternackt an ihrem Schlafzimmerfenster steht und winkt, damit Mr. Phillip zu ihr zurückkommt.«

Das fand nun doch Mary Agnes’ Aufmerksamkeit. Sie legte ihre Arbeit nieder, lehnte sich an den Tisch und verschränkte die Arme, während sie auf die Fortsetzung der Geschichte wartete.

»Ich glaub dir kein Wort«, warnte sie vorbeugend, doch ihr Ton sprach eine andere Sprache, und sie versuchte gar nicht ein spitzbübisches Lächeln zu unterdrücken.

»Ich hab’s auch nicht glauben wollen. Drum bin ich das letzte Mal bei Vollmond selber rausgerudert.« Gowan wartete gespannt auf ihre Reaktion. Das Lächeln wurde breiter. Die Augen blitzten. Ermutigt fuhr er zu sprechen fort. »Du hättest sie sehen sollen, Mary, wie sie da am Fenster stand. Ganz nackt, ehrlich, und mit ausgestreckten Armen. Und ich sag’s dir, der Busen hing ihr bis auf den Bauch. Einfach schlimm!« Er schauderte theatralisch. »Kein Wunder, dass der alte Mister Phillip sich nicht von der Stelle rührt.« Gowan warf einen sehnsüchtigen Blick auf die wohlgerundete Mary Agnes. »Aber wenn eine Frau einen schönen Busen hat, weißt du, dann tut ein Mann einfach alles.«

Mary Agnes ignorierte diese letzte, wenig subtile Anspielung und widmete sich wieder ihren Tabletts. Seinen aufregenden Bericht tat sie mit den ernüchternden Worten ab: »Mach dich lieber an deine Arbeit, Gowan. Solltest du heute Morgen nicht nach dem Boiler sehen? Der hat gestern Nacht wieder gekeucht wie meine Urgroßmutter.«

Gowan war tief enttäuscht. Diese Geschichte von Mrs. Gerrard hätte doch Mary Agnes’ Phantasie weit lebhafter anregen, sie vielleicht sogar zu der Bitte veranlassen müssen, das nächste Mal bei Vollmond mitkommen zu dürfen. Mit mutlos hängenden Schultern schlurfte er davon, um nach dem altersschwachen Boiler zu sehen.

Als hätte Mary Agnes Mitleid mit ihm, sagte sie: »Aber selbst wenn Mrs. Gerrard es wirklich wollte, würde Mister Phillip nie zu ihr zurückkommen.«

Gowan blieb stehen. »Warum nicht?«

»Und ich wünsche nicht, in der verfluchten Erde von Westerbrae begraben zu werden«, zitierte Mary Agnes. »So steht es in Mister Phillips Testament. Mrs. Gerrard hat’s mir selbst erzählt. Wenn deine Geschichte wirklich wahr ist, kann sie am Fenster stehen, bis sie schwarz wird, und er wird doch nie zurückkommen. Er wandelt bestimmt nicht übers Wasser wie der Herr Jesus. Und wenn sie den schönsten Busen der Welt hätte, Gowan Kilbride.«

Mit einem unterdrückten Kichern nahm sie den Kessel vom Herd, und als sie an den Tisch zurückkam, um den Tee aufzugießen, drängte sie sich so nahe an ihm vorbei, dass sein Blut von neuem aufs heftigste in Wallung geriet.

Mrs. Gerrards mitgerechnet, waren zehn Tabletts nach oben zu bringen. Mary Agnes war fest entschlossen, sie alle hinaufzutragen und in die Zimmer zu bringen, ohne zu stolpern, ohne einen Tropfen zu verschütten und ohne sich in eine peinliche Situation zu bringen, indem sie etwa einen der Herren beim Anziehen überraschte. Oder Schlimmeres.

Sie hatte ihren ersten Auftritt als Zimmermädchen oft genug geprobt. »Guten Morgen. Ein schöner Tag heute«, würde sie sagen, rasch zum Tisch gehen, das Tablett abstellen und dabei den Blick sorgsam vom Bett abgewandt halten. »Nur für den Fall«, hatte Gowan lachend gemeint.

Sie ging durch die Geschirrkammer, durch das Speisezimmer, dessen Vorhänge noch zugezogen waren, hinaus in die große Eingangshalle von Westerbrae. Hier gab es, wie auf der Treppe gegenüber, keine Teppiche, und die hohen Wände waren mit Eichenholz getäfelt, das im Lauf der Jahre einen dunklen Glanz bekommen hatte. Von der Decke hing ein Lüster aus dem achtzehnten Jahrhundert, dessen Prismen das milde Licht der Lampe auf dem Empfangstisch, die Gowan stets am frühen Morgen einschaltete, einfing und brach. Es roch nach Öl, frischem Holz und Terpentin, Nachwehen der Renovierungsarbeiten, die Francesca Gerrard hatte durchführen lassen, um das Haus als Hotel akzeptabel zu machen.

Überlagert jedoch wurden diese feinen Dünste von einem besonderen Geruch, der noch heute Morgen von dem heftigen und unerklärlichen Streit zeugte, der am vergangenen Abend plötzlich aufgeflammt war. Gowan war gerade mit einem Tablett voller Gläser und fünf Flaschen Likör in die Halle getreten, um die Gäste zu bedienen, als Francesca Gerrard schluchzend auf ihren kleinen Salon zugestürmt und in ihrer blinden Hast mit dem Jungen zusammengestoßen war. Gowan war gestürzt, und von dem sorgsam zusammengestellten Getränketablett war nichts übrig geblieben als ein Haufen Scherben und eine Likörlache, die sich von der Salontüre bis zum Empfangstisch unter der Treppe ausbreitete. Gowan hatte fast eine Stunde gebraucht, um die Bescherung zu beseitigen – wobei er jedes Mal, wenn Mary Agnes an ihm vorüberkam, mitleidheischend zeterte –, und die ganze Zeit waren irgendwelche Leute schreiend und weinend durch die Halle gerannt, die Treppe hinaufgepoltert und durch die Korridore gelaufen.

Den Grund der ganzen Aufregung hatte Mary Agnes nicht eindeutig zu ergründen vermocht. Sie wusste nur, dass die Schauspielertruppe mit Mrs. Gerrard in den Salon gegangen war, um ein Theaterstück zu lesen, und dass das gesellige Beisammensein innerhalb einer Viertelstunde zum wütenden Streit ausgeartet war, bei dem eine Vitrine mit kostbaren Antiquitäten zu Bruch gegangen war, ganz zu schweigen von der Katastrophe mit dem Likör und dem Kristall.

Mary Agnes ging durch die Halle zur Treppe und stieg vorsichtig die Stufen hinauf, bemüht, ihre Schritte auf dem nackten Holz zu dämpfen. Ein Schlüsselbund, der leise klirrend an ihrer rechten Hüfte hing, gab ihr ein angenehmes Gefühl von Wichtigkeit.

»Erst klopfst du leise«, hatte Mrs. Gerrard sie angewiesen. »Wenn sich nichts rührt, machst du die Tür auf – nimm den Hauptschlüssel, wenn es sein muss – und stellst das Tablett auf den Tisch. Dann machst du die Vorhänge auf und sagst, was für ein schöner Tag es sei.«

»Und wenn der Tag gar nicht schön ist?«, hatte Mary Agnes verschmitzt gefragt.

»Dann tu so, als wär er’s.«

Mary Agnes erreichte das Ende der Treppe, holte einmal tief Luft und musterte die Reihe geschlossener Türen. Im ersten Zimmer wohnte Lady Helen Clyde; aber obwohl Mary Agnes am Abend beobachtet hatte, dass Lady Helen Gowan beinahe kameradschaftlich beim Aufsammeln der Scherben in der Halle geholfen hatte, fühlte sie sich nicht selbstsicher genug, um ihre morgendliche Runde mit den Teetabletts bei der Tochter eines Grafen zu beginnen. Zu groß war die Gefahr, einen Fehler zu machen. Sie ging also weiter zum zweiten Zimmer, dessen Bewohnerin es wahrscheinlich nicht so genau nehmen würde, wenn ein paar Tropfen Tee auf die Leinenserviette fielen.

Auf ihr Klopfen blieb es still. Die Tür war abgeschlossen. Stirnrunzelnd stemmte Mary Agnes das Tablett gegen die linke Hüfte und hantierte mit dem Schlüsselbund, bis sie den Hauptschlüssel für die Gästezimmer gefunden hatte. Sie sperrte die Tür auf, öffnete sie und trat ein, während sie im Stillen noch einmal wiederholte, was sie zu sagen hatte.

Das Zimmer war sehr kalt, sehr dunkel und völlig ruhig, obwohl man wenigstens das leise Zischen und Knacken des Heizkörpers zu hören erwartet hätte. Aber vielleicht hatte sich die Bewohnerin ins Bett verkrochen, ohne die Heizung überhaupt einzuschalten. Oder vielleicht, dachte Mary Agnes mit einem Lächeln, war sie nicht allein in ihrem Bett, sondern kuschelte sich unter der Daunendecke an einen der Herren. Und vielleicht kuschelte sie ja auch nicht nur. Mary Agnes unterdrückte ein Kichern.

Sie ging zum Tisch unter dem Fenster, stellte das Tablett nieder und zog die Vorhänge auf, wie Mrs. Gerrard befohlen hatte. Es war erst kurz nach Tagesanbruch, die Sonne nur ein heller Schimmer über den dunstigen Bergen jenseits des Loch Achiemore. Der Loch selbst leuchtete silbern, eine seidenglatte Fläche, in der sich Berge, Himmel und die Bäume des nahen Waldes spiegelten. Es waren kaum Wolken da, nur einige ausgefranste Fetzen wie schmale Rauchfahnen. Der Tag versprach schön zu werden, anders als der gestrige.

»Ein schöner Tag«, erklärte Mary Agnes heiter. »Guten Morgen, Madam.«

Sie drehte sich um, straffte die Schultern, machte sich auf den Rückweg zur Tür und blieb stehen.

Irgendetwas stimmte nicht. Vielleicht kam der Eindruck daher, dass es so still war, als hätte das Zimmer selbst den Atem angehalten. Oder vielleicht lag es an dem Geruch, der in der Luft hing, aufdringlich und widerlich süß, ähnlich wie der Geruch, der aufstieg, wenn ihre Mutter Fleisch klopfte. Oder an dem aufgebauschten Bettzeug, das dalag, als wäre es in aller Eile hochgezogen und so gelassen worden. Oder an der völligen Reglosigkeit darunter. Als rührte sich da niemand. Als atmete da niemand …

Mary Agnes stand wie angewurzelt da.

»Miss?«, flüsterte sie schwach. Dann ein zweites Mal, ein klein wenig lauter, denn es konnte ja sein, dass die Frau sehr fest schlief. »Miss?«

Alles blieb still.

Zögernd trat Mary Agnes einen Schritt näher ans Bett. Ihre Hände waren kalt, ihre Finger steif, aber sie zwang sich, den Arm auszustrecken. Sie rüttelte vorsichtig am Bett.

»Miss?« Aber wieder bekam sie keine Antwort.

Wie von selbst umfassten ihre Finger die Daunendecke und begannen, vorsichtig daran zu ziehen. Die Decke, klamm von der Kälte, hing einen Moment fest, dann glitt sie herab. Und Mary Agnes sah etwas Entsetzliches.

Die Frau lag wie erstarrt auf ihrer rechten Seite, der Mund verzerrt, Kopf und Schultern in einer braunroten Blutlache. Ein Arm war ausgestreckt, mit offener Hand, wie in einer Gebärde des Flehens. Der andere war zwischen den Beinen eingebettet, als suche er Wärme. Das lange schwarze Haar war über das Kopfkissen gebreitet und lag zum Teil zu einer verfilzten Masse verklebt in dunklem Blut. Das Blut war schon leicht geronnen, so dass die roten, von Schwarz umrandeten Tropfen wie Blasen eines zähen Teufelstranks aussahen. Und die Frau selbst war, wie ein Insekt auf einer Schautafel, aufgespießt von einem Dolch mit Horngriff, der die linke Seite ihres Halses durchbohrt hatte und tief in die Matratze hineingetrieben war.

2

Inspector Thomas Lynley erhielt die Nachricht kurz vor zehn am selben Morgen. Er war mit dem Landrover zur Castle Sennen Farm hinausgefahren, um sich die neuen Rinder anzusehen, und befand sich auf der Rückfahrt, als sein Bruder ihm auf dem Pferd entgegenkam und ihm zuwinkte. Es war bitter kalt, weit kälter, als für Cornwall selbst um diese Jahreszeit normal war, und Lynley kniff schützend die Augen zusammen, als er das Wagenfenster herunterkurbelte.

»Superintendent Webberly hat angerufen«, berichtete Peter Lynley, während er die Zügel geschickt um seine Hand wickelte. Die Stute warf den Kopf zurück und wich zu der Mauer aus, die die Straße vom Feld abgrenzte. »Irgendwas von der Kriminalpolizei Strathclyde. Du sollst ihn so bald wie möglich zurückrufen.«

»Das ist alles?«

Die Stute tänzelte im Kreis, als wolle sie sich der Last auf ihrem Rücken entledigen, aber Peter lachte nur über diese Widerspenstigkeit. Einen Moment kämpften Pferd und Reiter miteinander, jeder entschlossen, den anderen zu beherrschen, doch Peter wusste mit sicherem Instinkt, wann er hart zupacken musste und wann Härte ein Übergriff gewesen wäre. Er zog die Stute auf dem brachliegenden Feld herum, als wäre es zwischen beiden ausgemacht gewesen, einen kleinen Kreis zu drehen, und brachte sie dann vor der Mauer zum Stehen.

»Hodge hat das Gespräch angenommen.« Peter grinste. »Du kennst ihn ja. ›Scotland Yard für seine Lordschaft. Soll ich ihm Bescheid sagen, oder tun Sie es?‹ Und dabei trieft er vor Missbilligung aus sämtlichen Poren.«

»Ja, da hat sich nichts geändert«, meinte Lynley. Der alte Butler, der seit mehr als dreißig Jahren im Dienst der Familie war, weigerte sich seit nunmehr zwölf Jahren hartnäckig, »die Marotte seiner Lordschaft«, wie er es nannte, zu akzeptieren; er schien immer noch zu erwarten, dass Lynley jeden Moment zur Vernunft kommen und im Licht dieser Vernunft endlich ein standesgemäßes Leben beginnen würde, an das er sich, wie Hodge inbrünstig hoffte, gewöhnen würde – in Cornwall, in Howenstow, so weit wie möglich entfernt von New Scotland Yard. »Was hat Hodge ihm denn gesagt?«

»Wahrscheinlich, dass du damit beschäftigt seist, die Ehrenbezeigungen unserer Pächter entgegenzunehmen. Du weißt schon, ›Seine Lordschaft ist im Augenblick auf den Feldern‹.« Peter imitierte die salbungsvolle Stimme des Butlers nicht schlecht. Die beiden Brüder lachten. »Willst du zurückreiten? Es geht schneller als mit dem Wagen.«

»Danke, nein. Dazu ist mir mein Hals zu lieb.« Lynley legte geräuschvoll den Gang ein. Erschrocken bäumte sich das Pferd auf und brach seitlich aus. Lynley beobachtete, wie sein Bruder mit dem Tier kämpfte; er wusste, dass es sinnlos war, ihm zur Vorsicht zu raten. Gerade das Risiko, die Gefahr, durch eine einzige falsche Bewegung einen Knochenbruch zu provozieren, reizten Peter, dieses Pferd zu reiten.

Peter sprühte vor Vitalität und wirkte über die Maßen jung. Lynley fühlte sich weit mehr als zehn Jahre älter als er.

»Los, Saffron«, rief Peter, zog die Stute herum und galoppierte mit einem Winken über das Feld davon. Er würde Howenstow in der Tat lange vor seinem Bruder erreichen.

Als Pferd und Reiter hinter einer Reihe Platanen am Ende des Feldes verschwunden waren, gab Lynley Gas, schimpfte ungeduldig, als der Gang aus dem alten Getriebe sprang, und zuckelte dann auf der schmalen Straße zurück zum Haus.

Er setzte sich in den kleinen Alkoven neben dem Wohnzimmer, um seinen Anruf zu machen. Dies war sein ganz persönlicher Zufluchtsort, direkt über der Veranda des alten Hauses gelegen und um die Jahrhundertwende von seinem Großvater eingerichtet, einem Mann, der gewusst hatte, was das Leben lebenswert machte. Ein niedriger Mahagonischreibtisch stand unter zwei schmalen, vielfach unterteilten Fenstern. Auf den Borden drängten sich zahlreiche Bücher, meist Leichtes, und mehrere gebundene Jahresausgaben des Punch. Eine Ormolu-Uhr tickte auf dem Sims über dem Kamin, vor dem ein bequemer Lesesessel stand. Immer war dieser Raum Lynley nach einem anstrengenden Tag willkommene Zuflucht gewesen.

Während er darauf wartete, dass Webberlys Sekretärin den Superintendent aufstöberte, und sich fragte, was die beiden an einem Wochenende in New Scotland Yard zu tun hatten, sah er zum Fenster hinaus in den großen Garten. Seine Mutter stand unten, eine große, schlanke Frau, in eine dicke Jacke vermummt, mit einer amerikanischen Baseballmütze auf dem rotblonden Haar. In ein Gespräch mit einem der Gärtner vertieft, merkte sie nicht, dass ihr Retriever sich einen ihrer Handschuhe geschnappt hatte und ihn zum zweiten Frühstück zu verspeisen drohte. Lynley lachte leise, als er sah, wie seine Mutter auf das Treiben des Hundes aufmerksam wurde. Mit einem schrillen Entsetzensschrei riss sie ihm den Handschuh aus dem Maul.

Als Webberly sich endlich meldete, klang seine Stimme atemlos, als sei er zum Telefon gerannt. »Wir haben hier eine kitzlige Situation«, erklärte er ohne Umschweife. »Eine Theatergruppe aus London, eine Leiche, und die zuständige Polizei benimmt sich, als handle es sich um einen Ausbruch der Beulenpest. Sie haben bei der zuständigen Kripo in Strathclyde angerufen. Strathclyde will nichts damit zu tun haben. Also gehört die Sache uns.«

»Strathclyde?«, wiederholte Lynley verständnislos. »Aber das ist doch in Schottland.«

Schottland hat seine eigene Polizei. Höchst selten nur bat man das Yard um Beistand. Und wenn es der Fall war, so machten es die komplizierten schottischen Gesetze der Londoner Polizei schwer, dort wirksame Arbeit zu leisten, und unmöglich, bei nachfolgenden Gerichtsverfahren aufzutreten. Da war etwas im Busch! Lynley war augenblicklich argwöhnisch, doch er begnügte sich zunächst mit einer kurzen Frage: »Hat denn dieses Wochenende nicht jemand anderer Dienst?« Er wusste, dass ihm Webberly auf diese Bemerkung hin die restlichen Details liefern würde; es war das vierte Mal in fünf Monaten, dass er Lynley während seiner freien Zeit in den Dienst zurückgerufen hatte.

»Ich weiß, ich weiß«, antwortete Webberly brüsk. »Aber es geht nicht anders. Wir klären das alles, wenn die Sache vorbei ist.«

»Wenn welche Sache vorbei ist?«

»Ach, es ist eine verteufelte Geschichte.« Webberlys Stimme wurde schwächer, als in seinem Büro jemand in gebieterischem Ton zu sprechen begann.

Lynley kannte die dröhnende Baritonstimme. Das war Sir David Hillier, der Chief Superintendent. Da musste ja wirklich was los sein. Während er die Ohren spitzte, um Hilliers Worte zu verstehen, kamen die beiden Männer offenbar zu einem Entschluss, denn Webberly wandte sich nun wieder an ihn, sprach allerdings plötzlich sehr gedämpft, als fürchte er unbefugte Lauscher.

»Wie ich schon sagte, eine knifflige Sache. Stuart Rintoul, Lord Stinhurst, steckt mit drin. Kennen Sie ihn?«

»Stinhurst? Der Produzent?«

»Richtig. Der Theatermidas.«

Lynley lächelte über die Bemerkung. Sie passte gut. Lord Stinhurst hatte sich in der Londoner Theaterwelt durch die Finanzierung vieler erfolgreicher Produktionen einen Namen gemacht. Nicht nur besaß er einen Riecher dafür, was das Publikum wollte, und war bereit, ein hohes finanzielles Risiko einzugehen, sondern er zeichnete sich auch durch eine einzigartige Fähigkeit aus, neue Talente zu erkennen und preisverdächtige Bücher von den Banalitäten zu unterscheiden, die ihm jeden Tag angeboten wurden. Das neueste Wagnis, das er, wie jeder Times-Leser wusste, auf sich genommen hatte, waren der Kauf und die Renovierung des alten Londoner Agincourt Theatre; er hatte weit über eine Million Pfund in dieses Projekt investiert. Das neue Agincourt sollte in knapp zwei Monaten mit einer Uraufführung eröffnet werden. In Anbetracht dieser Tatsache hielt es Lynley für undenkbar, dass Stinhurst London auch nur für einen Kurzurlaub verlassen hatte. Der Siebzigjährige war ein ehrgeiziger Perfektionist, ein Mann, der sich seit Jahren keinen freien Tag mehr gegönnt hatte. Eben das war Teil der Legende, die sich um ihn rankte. Was also tat er um diese Zeit in Schottland?

Webberly sprach weiter, als ahnte er Lynleys unausgesprochene Frage. »Offenbar ist Stinhurst mit einer Gruppe Leuten da rauf gefahren, um an dem Stück zu arbeiten, das die ganze Stadt im Sturm erobern soll, wenn das Agincourt eröffnet wird. Ein Journalist ist auch dabei – irgendein Bursche von der Times. Theaterkritiker, glaube ich. Anscheinend hat er von der Stunde null an über das Agincourt-Unternehmen berichtet. Aber nach dem, was ich heute Morgen gehört habe, ist er im Augenblick fuchsteufelswild, weil er unbedingt an ein Telefon kommen will, ehe wir ihm einen Maulkorb umlegen.«

»Warum?«, fragte Lynley, und erfuhr im nächsten Moment, dass Webberly sich den saftigsten Happen bis zuletzt aufgehoben hatte.

»Weil Joanna Ellacourt und Robert Gabriel die Stars von Lord Stinhursts neuer Produktion sein werden. Und sie sind auch in Schottland.«

Lynley stieß unwillkürlich einen leisen Pfiff aus. Joanna Ellacourt und Robert Gabriel. Zwei Stars des Theaters, im Augenblick die gesuchtesten Schauspieler in ganz England. In den Jahren ihrer Zusammenarbeit hatten sie das Publikum in jedem der von ihnen gespielten Stücke, ob von Shakespeare, Stoppard oder O’Neill, zu Begeisterungsstürmen hingerissen. Sie arbeiteten häufig auch getrennt, jeder für sich ein glänzender Schauspieler, aber absolut faszinierend, wenn sie als Paar auf der Bühne standen. Die Kritiken hatten immer den gleichen Tenor: Elektrisierend, intelligent, knisternd von erotischer Spannung, die sich jedem Publikum mitteilt. Zuletzt, erinnerte sich Lynley, hatten sie in Othello zusammen gespielt. Das Stück war monatelang Tag für Tag ausverkauft gewesen, bis es schließlich vor drei Wochen abgesetzt worden war.

»Und wer ist getötet worden?«, fragte Lynley.

»Die Autorin des neuen Stücks. Ein neues Talent anscheinend. Sie heißt – warten Sie mal …«, im Hintergrund raschelte Papier, »Joy Sinclair.« Lynley hörte Webberlys Räuspern, stets Vorbote unangenehmer Neuigkeiten. »Die Leiche ist leider schon weggebracht worden.«

»Verdammt!«, brummte Lynley. Das würde seine Arbeit erschweren.

»Ich weiß. Aber es ist jetzt nicht mehr zu ändern. Sergeant Havers erwartet Sie jedenfalls in Heathrow. Ich habe Sie beide auf der Einuhrmaschine nach Edinburgh gebucht.«

»Nicht Havers, Sir. Für diesen Fall nicht. Ich brauche St. James, wenn die Leiche schon weg ist.«

»St. James gehört nicht mehr zum Yard, Inspector. So kurzfristig kann ich das nicht durchsetzen. Wenn Sie einen Sachverständigen mitnehmen wollen, dann einen unserer Leute.«

Lynley, der ahnte, warum man gerade ihm und nicht einem der Männer, die an diesem Wochenende Dienst hatten, den Fall übertragen hatte, war nicht bereit, diese Absage als endgültig hinzunehmen. Stuart Rintoul, Earl of Stinhurst, gehörte in diesem Mordfall offensichtlich zu den Verdächtigen, aber man wünschte, ihn mit Glacéhandschuhen anzufassen, und da kam Lynley, Earl of Asherton, wie gerufen. Er konnte ihm von Aristokrat zu Aristokrat begegnen, während er mit aller gebotenen Delikatesse die Wahrheit zu ergründen suchte. Das alles war ja gut und schön, aber wenn Webberly bereit war, den ganzen Dienstplan umzustoßen, nur um die Herren Stinhurst und Asherton unter einen Hut zu bringen, musste er auch einsehen, dass er – Lynley – nicht gewillt war, sich die Arbeit durch Sergeant Barbara Havers erschweren zu lassen, die sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als die Erste aus ihrer Gesamtschule im Kleineleuteviertel von London zu sein, die einem Grafen Handschellen verpasste.

Nach Sergeant Havers’ Auffassung entsprangen die Grundprobleme des Lebens – von der Wirtschaftskrise bis zu AIDS – sämtlich dem Klassensystem, und zwar gleich in voll entwickeltem Zustand, ähnlich wie Athene einst dem Haupt ihres Vaters Zeus entsprungen war. Die Frage der Gesellschaftsklassen war in der Tat das heikelste Thema zwischen ihnen und war ausnahmslos Anfang und Ende jeglicher Verbalschlacht gewesen, die sie in den Monaten, seit Havers mit ihm zusammenarbeitete, geschlagen hatten.

»Dieser Fall ist nichts für Havers, so sehr ich ihre Fähigkeiten zu schätzen weiß«, sagte Lynley eindringlich. »Ihre ganze Objektivität wird zum Teufel gehen, sobald sie hört, dass Lord Stinhurst möglicherweise in die Sache verwickelt ist.«

»Unsinn, das hat sie überwunden. Und wenn nicht, dann wird es Zeit, dass sie es jetzt tut. Sonst kommt sie bei Ihnen nie weiter.«

Lynley überlegte, wie er Webberlys Entscheidung, ihm Havers aufzubrummen, zu einem Kompromiss ausnützen könnte, der seinen eigenen Vorstellungen entgegenkam. Die Möglichkeit bot sich im Rückgriff auf eine frühere Bemerkung.

»Wenn das Ihre Entscheidung ist, Sir«, sagte er ruhig, »muss ich mich wohl fügen. Aber Sie wissen, dass durch die Entfernung der Leiche zusätzliche Komplikationen geschaffen worden sind. Und Sie wissen wie ich, dass St. James in der Spurensicherung weit mehr Erfahrung hat als jeder im Haus. Er war schon damals unser bester Mann und …«

»Und ist es auch jetzt noch. Ich weiß, das servieren Sie mir immer wieder, Inspector. Aber wir stehen hier vor einem Zeitproblem. St. James kann unmöglich …«

Aus dem Hintergrund erscholl laut und scharf die Stimme Hilliers und verklang sofort, als – so vermutete Lynley – Webberly die Hand auf die Muschel legte. Es dauerte einen Moment, ehe der Superintendant sagte: »Also gut, St. James ist genehmigt. Aber jetzt machen Sie sich auf die Socken, fliegen Sie da rauf, und kümmern Sie sich um die Bescherung.« Er hustete, räusperte sich und sagte abschließend: »Mir ist das Ganze genauso wenig angenehm wie Ihnen, Tommy.«

Ohne weitere Fragen zuzulassen, legte er auf. Erst jetzt kam Lynley dazu, sich über zwei merkwürdige Details des Gesprächs Gedanken zu machen. Webberly hatte ihm praktisch nichts über das Verbrechen berichtet, und zum ersten Mal in den zwölf Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte er ihn beim Vornamen genannt. Seltsamer Anlass, Unbehagen zu verspüren, gewiss. Und doch schoss ihm plötzlich die Frage durch den Kopf, wo bei diesem Mordfall in Schottland wirklich der Hund begraben lag.

Auf dem Weg aus dem Wohnzimmer zu seinen eigenen Räumen im Ostflügel von Howenstow stieß ihm plötzlich der Name auf. Joy Sinclair. Er kannte ihn von irgendwoher. Er hatte ihn kürzlich gesehen. Er blieb im Flur vor einer alten Truhe stehen und starrte nachdenklich auf die Porzellanschale, die auf ihr stand. Sinclair. Sinclair. Das schien so vertraut, gleich musste es ihm einfallen. Das zartblaue Muster auf dem Weiß der Schale verwischte sich vor seinem Blick, die Figuren überschnitten sich, kreuzten sich, kehrten sich um …

Das war es. Nicht Joy Sinclair hatte er gelesen, sondern Sinclair’s Joy – Sinclairs Freude. Es war eine Überschrift im Sonntagsmagazin der Zeitung gewesen. Ein nicht sonderlich originelles Wortspiel, dem der etwas rätselhafte Satz folgte: »Durch Finsternis zum ersten großen Triumph und auf dem Sprung zum Ruhm!«

Er erinnerte sich, gedacht zu haben, dass sich das anhörte, als handle es sich um eine blinde Hochleistungssportlerin mit Olympiaambitionen. Er hatte immerhin genug von dem Bericht gelesen, um zu entdecken, dass sie keine Sportlerin war, sondern eine Autorin, deren erstes Stück von Kritik und Publikum mit Respekt aufgenommen worden war und deren zweites anlässlich der Neueröffnung des Agincourt Theatre uraufgeführt werden sollte; aber weiter war er nicht gekommen. Ein Anruf aus New Scotland Yard hatte ihn in den Hyde Park gerufen, wo man im Gebüsch in der Nähe der Serpentine Bridge die nackte Leiche eines fünfjährigen Mädchens gefunden hatte.

Kein Wunder, dass er sich nicht sofort an Joy Sinclairs Namen erinnert hatte.

Er hatte den Fall gerade erst abgeschlossen. Erschöpft von endlosen Tagen und Nächten, wünschte er sich nur noch Ruhe, um zu dem Mord und der Unmenschlichkeit, auf die er gestoßen war, Abstand zu bekommen.

Aber es sollte nicht sein. Jedenfalls nicht hier und jetzt. Seufzend richtete er sich auf und ging in sein Zimmer, um zu packen.

Constable Kevin Lonan hasste es, seinen Tee aus der Thermosflasche trinken zu müssen. Stets bildete sich auf dem Getränk ein ekelhafter Film, der ihn an den Schaum nach einem Bad erinnerte. Darum konnte er, als ihn die Umstände zwangen, sich die langersehnte Tasse Tee aus der verbeulten Thermosflasche einzuschenken, auch nur einen Schluck hinunterwürgen. Den Rest goss er auf den Betonstreifen hinaus, der als Flugfeld diente. Er verzog sein Gesicht und wischte sich mit der Hand, die in einem dicken Handschuh steckte, den Mund ab. Dann schlug er ein paarmal kräftig mit den Armen, um sich warm zu machen. Im Gegensatz zu gestern war die Sonne herausgekommen und lag glitzernd, trügerische Frühlingsverheißung, auf den Schneewällen. Die Temperatur jedoch war immer noch weit unter null. Und die dichte Wolkenwand, die von Norden herantrieb, versprach einen weiteren Schneesturm. Wenn die Truppe von New Scotland Yard hier noch landen will, muss sie sich beeilen, dachte Lonan grimmig.

Wie zur Antwort hörte er gleich darauf von Osten das eintönige Knattern eines Hubschraubers, und einen Augenblick später kam eine Maschine der Royal Scottish Police in Sicht. Sie kreiste einmal über der Ardmucknish-Bucht, um das Terrain zu sondieren, ging dann tiefer und senkte sich langsam auf den Betonstreifen hinunter, den ein keuchender Schneepflug eine halbe Stunde vorher freigeschaufelt hatte. Die Rotorblätter drehten sich noch einen Moment unter ohrenbetäubendem Getöse, dass der Schnee von den Wechten am Rand des Flugfelds in Wirbeln in die Höhe stob.

Eine dickliche, kleine Gestalt, von Kopf bis Fuß mumienhaft eingepackt, schob mit einem Ruck die Passagiertür des Hubschraubers auf. Sergeant Barbara Havers, sagte sich Lonan. Sie stieß die Bordtreppe hinunter, wie man eine Strickleiter von einem Baumhaus wirft, schleuderte drei Gepäckstücke abwärts, wo sie knallend auf den Beton schlugen, und stieg dann selbst die Treppe hinunter. Ein Mann folgte ihr. Er war sehr groß, sehr blond, trug trotz der Kälte keine Kopfbedeckung, jedoch einen vorzüglich sitzenden Kaschmirmantel, einen dicken Schal und Handschuhe. Das, dachte Lonan, musste Inspector Lynley sein. Lonan beobachtete, wie er mit seiner Mitarbeiterin einige Worte wechselte. Sie wies zu dem Lieferwagen, und Lonan erwartete, dass sie jetzt zu ihm kommen würden. Stattdessen jedoch drehten sich beide zur Bordtreppe um, wo nun eine dritte Person mühsam Schritt für Schritt die Stufen herunterkam. Der Mann trug am linken Bein eine schwere Stahlschiene. Wie der Blonde hatte auch er nichts auf dem Kopf, und sein schwarzes Haar – lockig, viel zu lang, ungebärdig – flatterte im Wind um sein blasses Gesicht. Er hatte scharfe, sehr kantige Gesichtszüge und den Blick eines Menschen, dem kaum etwas entgeht.

Constable Lonan erstarrte beinahe vor Ehrfurcht beim Anblick des Mannes. London hielt es offensichtlich für nötig, schwere Geschütze aufzufahren: Man hatte ihnen den renommierten St. James geschickt. Der Constable, der bis jetzt wartend am Wagen gelehnt hatte, lief aufgeregt zum Hubschrauber, wo jetzt die Bordtreppe hochgezogen wurde, während die drei Ankömmlinge ihre Sachen nahmen.

»Haben Sie mal dran gedacht, dass mein Koffer vielleicht etwas Zerbrechliches enthalten könnte, Havers?«, erkundigte sich Lynley.

»Flaschen, meinen Sie?«, versetzte sie schnippisch. »Wenn Sie Ihren eigenen Whisky mitgebracht haben, kann ich nur sagen, schön dumm. Das hieße Eulen nach Athen tragen.«

»Das klingt, als hätten Sie seit Monaten darauf gewartet, diesen Spruch anbringen zu können.« Lynley nickte kurz zu dem Hubschrauberpiloten hinauf, dann wandte er sich Lonan zu.

Nachdem alle miteinander bekannt gemacht waren, sagte Lonan mit Begeisterung: »Ich hab in Glasgow mal einen Vortrag von Ihnen gehört«, und gab St. James die Hand. Selbst durch den Handschuh konnte er fühlen, wie dünn diese Hand war. Dennoch war der Griff überraschend kräftig. »Es ging um die Cradley-Morde.«

»Ah ja«, murmelte Barbara, »wie man einen Mann am Schamhaar ins Gefängnis schleift.«

»Ein starkes Bild«, bemerkte Lynley.

Es war offensichtlich, dass St. James den verbalen Schlagabtausch seiner beiden Begleiter gewohnt war. Er lächelte nur und sagte: »Wir konnten von Glück reden, dass wir wenigstens das hatten. Sonst war ja wirklich nichts da außer einem schlechten Zahnabdruck an der Leiche.«

Lonan hätte liebend gern die labyrinthischen Verwirrungen dieses alten Falles mit dem Mann diskutiert, der ihn vor vier Jahren vor zwölf staunenden Geschworenen aufgelöst hatte. Doch gerade als er eine messerscharfe Bemerkung dazu machen wollte, fiel ihm ein, dass Inspector Macaskin sie sicher voll Ungeduld auf der Dienststelle erwartete.

»Der Wagen steht hier«, sagte er deshalb nur kurz und wies mit dem Kopf auf das Polizeifahrzeug, wobei er in wortloser Entschuldigung das Gesicht verzog. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass sie St. James mitbringen würden. Sonst hätte er darauf bestanden, sie in einem angemessenen Fahrzeug abzuholen, vielleicht in Inspector Macaskins neuem Volvo, der wenigstens einen richtigen Rücksitz hatte und eine Heizung, die funktionierte. Der alte Klapperkasten, zu dem er die drei jetzt führte, hatte nur vorn zwei Sitze – beide gründlich durchgesessen, so dass die Federn zu spüren waren – und hinten einen Klappsitz, der zwischen zwei Gerätekästen der Spurensicherung, drei Rollen Seil, mehreren gefalteten Zeltbahnen, einer Leiter, einem Werkzeugkasten und einem Haufen nach Öl stinkender alter Lumpen eingepfercht war. Es war wirklich peinlich. Aber die drei aus London schienen nicht erschüttert, sondern stiegen ganz gelassen ein: St. James vorn, die beiden anderen hinten, Lynley auf Barbaras Drängen hin auf dem Klappsitz.

»Wär doch schade, wenn Ihr hübsches Mäntelchen einen Fleck kriegt«, sagte sie, ehe sie sich auf die Zeltbahnen plumpsen ließ und sich aus ihrem Schal wickelte.

Lonan nützte die Gelegenheit, um sich Sergeant Havers genauer anzusehen. Unscheinbare Kröte, dachte er, während er ihr plattes Gesicht betrachtete, die dichten Augenbrauen und die runden Wangen. Ihrer Attraktivität wegen hatte man sie bestimmt nicht in diese illustre Gesellschaft aufgenommen. Sie musste also ein kriminologisches Wunderkind sein. Er nahm sich vor, ihr genau auf die Finger zu sehen. Vielleicht konnte er was lernen.

»Danke, Havers«, sagte Lynley friedfertig. »Ja, ein Ölfleck würde mich in der Tat zu totaler Untauglichkeit reduzieren.«

Havers prustete. »Okay, darauf rauchen wir eine.«

Lynley zog entgegenkommend ein goldenes Zigarettenetui heraus, gab es ihr und reichte sein silbernes Feuerzeug nach. Lonan stöhnte innerlich. Raucher, dachte er und machte sich resigniert auf Augenbrennen und Hustenreiz gefasst. Havers jedoch zündete sich ihre Zigarette gar nicht erst an. St. James hatte bei ihren letzten Worten wortlos sein Fenster geöffnet, und der bitterkalte Luftzug, der hereindrang, wehte ihr direkt ins Gesicht.

»Schon gut. Ich hab kapiert«, brummte sie. Schamlos steckte sie sechs Zigaretten aus dem Etui ein, ehe sie es Lynley zurückgab. »War St. James immer schon so subtil?«

»Von Geburt an«, antwortete Lynley.

Lonan fuhr mit einem Ruck an, und schon waren sie auf dem Weg zur Dienststelle der Kriminalpolizei in Oban.

Für Inspector Ian Macaskin von der Kriminalpolizei Strathclyde gab es im Leben nur eine Triebkraft: stolz sein zu können. Und sein Stolz bezog sich auf mehrere Bereiche, die nichts miteinander zu tun hatten. Zunächst einmal war da der Stolz auf die Familie: Er ließ seine Umwelt gern wissen, dass er die Statistik geschlagen hatte. Mit zwanzig hatte er seine siebzehnjährige Jugendliebe geheiratet und war auch heute noch, siebenundzwanzig Jahre später, mit ihr verheiratet. Er hatte zwei Söhne großgezogen und beide studieren lassen. Der eine arbeitete jetzt als Tierarzt, der andere war Meeresbiologe. Dann kam der Stolz auf den eigenen Körper. Einen Meter dreiundsiebzig groß, wog er heute nicht mehr als vor sechsundzwanzig Jahren bei Dienstantritt. Er war schlank und topfit dank dem allabendlichen Rudertraining, das er im Sommer auf dem Sound of Kerrera und im Winter in seinem Wohnzimmer auf der Rudermaschine hinter sich brachte. Sein Haar war seit zehn Jahren fast völlig ergraut, doch es war immer noch voll und dicht. Seine Arbeit war die dritte Quelle seines Stolzes. In seiner ganzen Laufbahn hatte er nicht ein einziges Mal einen Fall unerledigt zu den Akten legen müssen, und er verwendete beträchtliche Energie darauf, dass seine Leute von sich das Gleiche sagen konnten. Er führte ein strenges Regiment und verlangte von seinen Beamten gründliche Arbeit, die niemals auch nur das kleinste Detail außer Acht ließ. Um sicherzustellen, dass alles in seinem Sinne geschah, war er fast rund um die Uhr auf der Dienststelle anzutreffen. Immer lutschte er Pfefferminzbonbons oder kaute Kaugummi oder Kartoffelchips, um das Einzige zu bekämpfen, worauf er nicht stolz war: seine schlechte Angewohnheit, Fingernägel zu beißen.

Inspector Macaskin empfing die Gruppe aus London nicht in seinem Büro, sondern im Sitzungszimmer, einem engen, kleinen Raum mit unbequemen Stühlen, kümmerlicher Beleuchtung und schlechter Lüftung.

Macaskin war überhaupt nicht erfreut über die Entwicklung der Dinge in diesem Fall. Er sah immer gern alles wohlgeordnet und sauber eingeteilt. Jeder hatte gefälligst seine ihm zukommende Rolle zu spielen. Opfer sterben, Polizeibeamte fragen, Verdächtige antworten, Spurensicherer sichten. Aber in diesem Fall war gleich von Beginn an alles auf den Kopf gestellt worden. Zwar hatte das Opfer sich an das Drehbuch gehalten und war kooperativerweise tot gewesen, doch statt der Polizei hatten die Verdächtigen die Fragen gestellt, und statt der Verdächtigen hatte die Polizei antworten müssen. Und was das Beweismaterial anging, so war das wieder eine ganz andere Sache.

»Erklären Sie mir das noch einmal.« Lynleys Stimme war ruhig, enthielt jedoch einen tödlichen Unterton, der Macaskin verriet, dass Lynley von den sonderbaren Umständen, die zu seinem Einsatz in diesem Fall geführt hatten, nichts wusste. Das war gut. Es machte Macaskin den Mann von New Scotland Yard augenblicklich sympathisch.

Sie hatten alle ihre Mäntel und Schals abgelegt und saßen um den Konferenztisch aus Fichtenholz. Nur Lynley nicht. Der stand, die Hände in den Taschen, in den Augen ein gefährliches Glimmen.

Macaskin war nur zu gern bereit, seinen Bericht zu wiederholen. »Keine halbe Stunde war ich auf Westerbrae, da erhielt ich die Nachricht, meine Leute hier anzurufen. Der Chief Constable teilte mir mit, dass New Scotland Yard den Fall übernehmen würde. Das ist alles. Mehr war nicht aus ihm herauszukriegen. Abgesehen von der Anweisung, ein paar Leute auf Westerbrae zurückzulassen, hierher zu kommen und auf Sie zu warten. Wenn Sie mich fragen, hat da irgendein hohes Tier auf Ihrer Seite entschieden, dass der Fall Sache des Yard ist. Dann hat er unserem Chief Constable entsprechende Weisung gegeben, und, um den Schein zu wahren, haben wir um Hilfe ersucht. Die Hilfe sind Sie.«

Lynley und St. James tauschten einen Blick. Dann sagte St. James: »Aber warum haben Sie die Tote weggebracht?«

»Das war Teil der Anweisung«, antwortete Macaskin. »Verdammt merkwürdig, wenn Sie mich fragen. Die Zimmer versiegeln, die Leiche mitnehmen und zur Autopsie an den Pathologen übergeben, nachdem unser Amtsarzt den Totenschein ausgestellt hatte.«

»Geteiltes Leid ist halbes Leid?«, fragte Barbara ironisch.

»Sieht so aus, nicht?«, meinte Lynley. »Strathclyde nimmt sich die Leiche vor und London die Verdächtigen. Und wenn einer Glück hat und was entdeckt und die Kommunikation nicht richtig klappt, wird alles unter den Teppich gekehrt.«

»Aber unter wessen Teppich?«

»Ja, das ist die Kernfrage, nicht?« Lynley starrte auf den Konferenztisch, wo unzählige Kaffeeringe sich in einem Ringelmuster über das braune Holz zogen. »Was ist eigentlich passiert?«, fragte er Macaskin.

»Das Mädchen, Mary Agnes Campbell, fand die Tote heute Morgen um zehn vor sieben. Wir wurden um zehn nach sieben angerufen. Um neun waren wir dort.«

»Fast zwei Stunden?«

Lonan antwortete: »Westerbrae ist ungefähr acht Kilometer vom nächsten Dorf entfernt, Inspector. Die Straßen waren nach dem Schneesturm gestern Nacht noch nicht alle frei.«

»Wieso haben sich diese Leute aus London ausgerechnet so ein gottverlassenes Nest für ihren Wochenendurlaub ausgesucht?«

»Francesca Gerrard – eine Witwe, die Eigentümerin von Westerbrae – ist Lord Stinhursts Schwester«, antwortete Macaskin. »Sie hat anscheinend vor, aus dem Gästehaus ein elegantes Landhotel zu machen. Es steht direkt am Loch Achiemore. Wahrscheinlich meint sie, das wäre genau das Richtige für einen romantischen Urlaub in der Natur. Oder für die Flitterwochen. Sie wissen schon.« Macaskin schnitt eine Grimasse. »Einen Teil des Hauses hat sie schon renovieren lassen, und soweit ich heute Morgen hörte, kam Stinhurst mit seinen Leuten zu einer Art Probelauf herauf, damit sie eventuelle Mängel noch ausbügeln kann, ehe sie den Betrieb offiziell eröffnet.«

»Was wissen Sie über die Tote, Joy Sinclair?«

Macaskin verschränkte stirnrunzelnd die Arme und wünschte, er hätte der Truppe in Westerbrae mehr Informationen herauskitzeln können, ehe er Befehl erhalten hatte, das Feld zu räumen. »Nicht viel. Sie war die Autorin des Stücks, an dem sie dieses Wochenende arbeiten wollten. Eine literarisch begabte Dame nach dem, was Vinney sagte.«

»Vinney? Wer ist das?«

»Jeremy Vinney, Theaterkritiker bei der Times. Er scheint mit der Sinclair gut befreundet gewesen zu sein. Und über ihren Tod betroffener als alle anderen, soweit ich feststellen konnte. Schon seltsam.«

»Wieso?«

»Weil ihre Schwester auch auf Westerbrae ist. Aber während Vinney sofortige Verhaftung verlangte, hüllte sich Irene Sinclair in völliges Schweigen. Sie fragte nicht einmal, wie ihre Schwester umgekommen sei. Meiner Ansicht nach war’s ihr völlig egal.«

»Ja, das ist wirklich seltsam«, meinte Lynley.

St. James mischte sich wieder ins Gespräch. »Sagten Sie, dass mehrere Zimmer eine Rolle spielen?«

Macaskin nickte. Er ging zu einem zweiten Tisch und griff nach mehreren Ordnern und einer Papierrolle. Die Rolle breitete er auf dem Konferenztisch aus. Es war ein Lageplan des Hauses, der in Anbetracht der knappen Zeit, die ihm am Morgen in Westerbrae zur Verfügung gestanden hatte, ungewöhnlich genau und detailliert war. Macaskin betrachtete mit einem Lächeln der Befriedigung sein Werk, dann beschwerte er das Papier an beiden Enden mit den Heftern und zeigte mit dem Finger auf die rechte Seite.

»Das Zimmer der Toten befindet sich auf der Ostseite des Hauses.« Er schlug einen der Ordner auf und warf einen Blick hinein, ehe er fortfuhr. »Im Nebenzimmer auf der einen Seite wohnt Joanna Ellacourt mit ihrem Mann – David Sydeham; auf der anderen Seite wohnt eine junge Frau – ah, da haben wir’s schon. Lady Helen Clyde. Dieses Zimmer wurde ebenfalls versiegelt.« Als er aufsah, bemerkte er gerade noch die Überraschung auf den Gesichtern der drei Besucher aus London. »Kennen Sie die Leute?«

»Nur Lady Helen Clyde. Sie arbeitet mit mir zusammen«, antwortete St. James. Er sah Lynley an. »Wusstest du, dass Helen nach Schottland wollte, Tommy? Ich dachte, sie hatte vor, mit dir nach Cornwall zu fahren.«

»Sie hat letzten Montag abgesagt, darum bin ich allein gefahren.« Lynley betrachtete den Lageplan und tippte nachdenklich mit dem Finger darauf. »Warum wurde Lady Clydes Zimmer versiegelt?«

»Es schließt an das Zimmer der Toten an«, antwortete Macaskin.

»Das nenne ich Glück«, sagte St. James lächelnd. »So was bringt nur Helen fertig, sich direkt neben einem Zimmer einzumieten, in dem ein Mord passiert. Da müssen wir gleich mit ihr sprechen.«

Macaskin runzelte die Stirn, als er das hörte. Er beugte sich zwischen den beiden Männern weit über den Tisch, um auf diese Weise ihre Aufmerksamkeit zu erhalten. »Inspector«, sagte er. »Wegen Lady Clyde.« Der Ton seiner Stimme veranlasste die beiden Männer, ihr Gespräch zu unterbrechen. Verwundert sahen sie ihn an, und er fügte hinzu: »Was ihr Zimmer betrifft …«

»Was ist damit?«

»Der Mörder scheint von dort gekommen zu sein.«

Lynley versuchte zu begreifen, was Helen mit einer Gruppe Schauspieler in Schottland tat, als Inspector Macaskin diese neue Information auftischte.

»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte er, in Gedanken noch bei seinem letzten Zusammentreffen mit Helen vor weniger als einer Woche in der Bibliothek seines Hauses in London. Sie hatte ein hinreißendes jadegrünes Kleid getragen, hatte seinen neuesten spanischen Sherry probiert – auf die ihr eigene unbekümmerte und witzige Art geplaudert und gelacht – und war dann sehr pünktlich gegangen, weil sie zum Abendessen verabredet gewesen war. Mit wem?, fragte er sich jetzt. Sie hatte es ihm nicht gesagt, und er hatte nicht gefragt.

Macaskin, bemerkte er, beobachtete ihn mit der Miene eines Mannes, der eine Menge Neuigkeiten auf Lager hat und nur auf den richtigen Moment wartet, sie anzubringen.

»Weil die Flurtüre zu Miss Sinclairs Zimmer abgeschlossen war«, sagte Macaskin jetzt. »Als Mary Agnes heute Morgen bei ihr klopfte und sich nichts rührte, musste sie mit dem Hauptschlüssel öffnen.«

»Wo wird der aufbewahrt?«

»Im Büro.« Macaskin deutete auf den Plan. »Im Erdgeschoss im Nordwestflügel.« Er blickte wieder auf. »Sie sperrte die Tür auf und fand die Tote.«

»Wer hat Zugang zu den Hauptschlüsseln? Gibt es mehrere?«

»Nein, von jedem nur einen. Sie sind nur Francesca Gerrard und dem Mädchen, Mary Agnes, zugänglich. Sie liegen in der untersten Schublade von Mrs. Gerrards Schreibtisch, zu der wiederum nur sie und die kleine Campbell einen Schlüssel haben.«

»Sonst niemand?«, fragte Lynley.

Macaskin blickte nachdenklich auf den Plan. Sein Blick wanderte langsam den unteren Nordwestkorridor des Hauses entlang. Er war Teil eines Gevierts, möglicherweise eines späteren Anbaus, und zweigte unweit der Treppe von der großen Eingangshalle ab. Er wies auf das erste Zimmer in diesem Flur.

»Da wohnt Gowan Kilbride«, meinte er gedankenvoll. »So eine Art Laufbursche. Er könnte an die Schlüssel rangekommen sein, wenn er gewusst hätte, dass sie da liegen.«

»Und wusste er es?«

»Kann sein. Soviel ich weiß, hat Gowan in den oberen Räumen des Hauses im Allgemeinen nichts zu tun. Er würde also die Hauptschlüssel nicht brauchen. Aber es kann natürlich sein, dass Mary Agnes ihm erzählt hat, wo sie liegen.«

»Halten Sie das für möglich?«

Macaskin zuckte die Achseln. »Möglich ist alles. Die beiden sind ja noch halbe Kinder. In dem Alter versucht man sich gegenseitig mit den komischsten Dingen zu imponieren.«

»Hat Mary Agnes Ihnen gesagt, ob die Hauptschlüssel heute Morgen an ihrem gewohnten Platz lagen? Oder ist es möglich, dass jemand sie herausgenommen und wieder zurückgelegt hatte?«

»Anscheinend nicht. Der Schreibtisch war abgesperrt wie immer. Aber dem Mädchen wäre es wahrscheinlich sowieso nicht aufgefallen, wenn jemand die Schlüssel entwendet und wieder hineingelegt hätte. Sie sperrte die Schublade auf, griff hinein und holte den Schlüsselbund heraus. Ob er genau an der Stelle lag, wo sie ihn zuletzt hingelegt hatte, weiß sie nicht. Sie hat ihn, wie sie sagte, das letzte Mal einfach hineingeworfen, die Schublade zugeschoben und abgesperrt.«

Lynley war erstaunt über die Menge von Informationen, die Macaskin in der kurzen Zeit in dem Haus zusammengetragen hatte. Er musterte den Mann mit wachsendem Respekt. »Diese Leute kennen sich doch alle, nicht wahr? Wieso hatte Joy Sinclair da ihre Tür abgeschlossen?«

»Da hat’s gestern Abend böses Blut gegeben«, warf Lonan ein, der etwas abseits in einer Ecke saß.

»Böses Blut? Wieso denn?«

»Ja. Das ist leider das Einzige, was wir darüber von Gowan Kilbride erfahren konnten«, sagte Macaskin entschuldigend, »ehe Mrs. Gerrard ihn mit dem Befehl hinausschickte, auf New Scotland Yard zu warten. Er konnte uns nur berichten, dass es am Abend zu einer Auseinandersetzung gekommen war, an der offenbar alle Anwesenden beteiligt gewesen waren. Dabei scheint einiges in die Brüche gegangen zu sein. Einer meiner Männer fand im Müll Glas- und Porzellanscherben. Muss ziemlich heftig hergegangen sein.«

»Und Lady Clyde war auch in den Streit verwickelt?« St. James wartete nicht auf eine Antwort. »Wie gut ist sie mit diesen Leuten bekannt, Tommy?«

Lynley schüttelte langsam den Kopf. »Ich wusste nicht, dass sie sie überhaupt kennt.«

»Sie hat dir nicht gesagt …«

»Sie sagte nur, sie könne nach Cornwall nicht mitkommen, weil sie andere Pläne habe, St. James. Was für Pläne das waren, sagte sie mir nicht.« Als Lynley aufsah, fiel ihm eine plötzliche Veränderung in Macaskins Gesichtsausdruck auf. Sie zeigte sich nur in einer kaum wahrnehmbaren Bewegung der Augen und des Mundes.

»Was ist?«

Macaskin schien einen Moment zu überlegen, ehe er nach einem Ordner griff, ihn aufschlug und ein Blatt Papier herauszog. Es war kein Bericht, sondern eine Nachricht, eine vertrauliche Notiz. »Fingerabdrücke«, erläuterte er. »Auf dem Schlüssel der Verbindungstür zwischen den Zimmern Helen Clydes und Joy Sinclairs.« Er schien zu wissen, dass er sich auf schmalem Grat zwischen Ungehorsam gegen den eigenen Vorgesetzten und Hilfsbereitschaft gegenüber einem Kollegen bewegte, denn er fügte hinzu: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie in Ihrem Bericht nicht erwähnen würden, dass Sie das von mir haben, aber als wir sahen, dass die Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern wichtig ist, nahmen wir den Schlüssel zur Untersuchung mit hierher – heimlich, muss ich dazu sagen – und verglichen die Abdrücke darauf mit einigen anderen, die wir von den Wassergläsern in den übrigen Zimmern abgenommen hatten.«

»Dann stammen die Abdrücke auf dem Schlüssel nicht von Lady Clyde?«, fragte Lynley.

Macaskin schüttelte den Kopf. Als er wieder sprach, war seine Stimme betont neutral. »Nein. Sie stammen vom Regisseur des Stücks. Einem Waliser namens Rhys Davies-Jones.«

Lynley begriff nicht sogleich, sondern sagte nach einem Moment des Schweigens: »Dann müssen Lady Clyde und Davies-Jones in der vergangenen Nacht die Zimmer getauscht haben.«

Er bemerkte, wie Havers zusammenzuckte, aber sie sah ihn nicht an. Sie hielt den Blick starr auf St. James gerichtet, während sie einen ihrer kurzen Finger auf der Tischkante hin und her bewegte. »Inspector …«, begann sie vorsichtig, doch Macaskin unterbrach sie.

»Nein. Mary Agnes Campbell sagte uns, dass in Davies-Jones’ Zimmer in der letzten Nacht überhaupt niemand geschlafen hat.«

»Ja, aber wo hat denn dann Helen …« Lynley brach ab, als plötzlich ein entsetzliches Gefühl ihn überkam, einer Krankheit gleich, die mit einem Schlag seinen ganzen Körper überwältigte. »Oh«, sagte er, und dann, »Entschuldigung. Ich weiß gar nicht, wo ich meine Gedanken hatte.« Er richtete seinen Blick auf den Plan des Hauses.

Er hörte, wie Havers einen unterdrückten Fluch ausstieß. Sie griff in ihre Tasche und zog die sechs Zigaretten heraus, die sie ihm auf der Fahrt stiebitzt hatte. Eine war abgebrochen. Sie warf sie in den Papierkorb und nahm eine andere. »Rauchen Sie eine, Sir«, sagte sie seufzend.

Eine Zigarette, stellte Lynley fest, konnte die Situation kaum erträglicher machen. Helen ist dir zu nichts verpflichtet, sagte er sich scharf. Euch verbindet nichts als Freundschaft, eine lange gemeinsame Geschichte, Jahre gemeinsamer Fröhlichkeit. Und sonst nichts. Sie war eine amüsante Begleiterin, seine Vertraute, seine Freundin. Aber nie war sie seine Geliebte gewesen. Dazu waren sie beide zu vorsichtig gewesen, zu sehr auf der Hut voreinander.

»Haben Sie mit der Autopsie schon begonnen?«, fragte er Macaskin.

Es war offensichtlich die Frage, auf die Macaskin schon seit ihrer Ankunft gewartet hatte. Mit schwungvoller Geste zog er aus einem seiner Ordner mehrere Kopien eines Berichts, verteilte sie und wies dabei zugleich auf die wichtigste Information hin: Joy Sinclair war mit einem fünfundvierzig Zentimeter langen schottischen Dolch getötet worden, der ihren Hals durchbohrt und die Halsschlagader durchtrennt hatte. Sie war verblutet.

»Aber wir sind mit der Untersuchung noch nicht fertig«, fügte er bedauernd hinzu.

Lynley drehte sich nach St. James um. »Wäre sie fähig gewesen zu schreien?«

»Bei einer solchen Verletzung nicht. Es wäre höchstens ein Röcheln herausgekommen. Im anderen Zimmer hätte man das gewiss nicht hören können.« Sein Blick wanderte über das Papier. »Haben Sie schon eine Untersuchung auf Betäubungsmittel gemacht?«, fragte er Macaskin.

»Seite drei. Negativ. Keine Barbiturate, keine Amphetamine, keine toxischen Drogen.«

»Sie haben die Todeszeit zwischen drei und sechs fixiert?«

»Das ist nur ein vorläufiger Befund. Wir haben Magen- und Darminhalt noch nicht analysiert. Aber wir haben Gewebefasern an der Wunde sichergestellt. Leder und Kaninchenhaare.«

»Der Mörder trug Handschuhe?«

»Offenbar. Aber sie sind noch nicht gefunden worden, und wir hatten keine Zeit, eine große Suchaktion zu starten. Wir können lediglich sagen, dass die Lederfasern und die Kaninchenhaare nicht von der Waffe stammen. An der Waffe ließ sich im Übrigen außer dem Blut der Toten überhaupt nichts feststellen. Der Griff wurde abgewischt.«

Barbara blätterte den Bericht durch und warf ihn auf den Tisch. »Ein fünfundvierzig Zentimeter langer Dolch«, sagte sie nachdenklich. »Wo findet man denn so was?«