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„Kenelm Chillingly“ von Edward Bulwer-Lytton ist die Geschichte eines jungen Aristokraten im 19. Jahrhundert auf der Suche nach Selbstfindung. Kenelm, der Protagonist, ist eine ungewöhnliche Figur, die von einer Mischung aus Melancholie und Witz geprägt ist. Er widersetzt sich den konventionellen Erwartungen der Gesellschaft und begibt sich nach einer tiefen existenziellen Krise auf eine Reise durch England. Auf seinem Weg trifft er verschiedene Charaktere aus unterschiedlichen Lebensbereichen, wobei jede Begegnung sein Verständnis von der Welt und sich selbst bereichert. Insbesondere seine Begegnung mit der jungen und schönen Cecilia hat großen Einfluss auf Kenelms Denken und Empfinden. Dieser Roman ist nicht nur eine Geschichte über persönliches Wachstum, sondern auch ein Kommentar zur viktorianischen Gesellschaft, ihren Normen und dem Konflikt zwischen traditionellen Werten und modernen Ideen. Kenelms Reise ist auch eine Liebesgeschichte, die von seinen tiefen und komplexen Gefühlen für Cecilia geprägt ist, einem Symbol für die ideale viktorianische Frau. Die Erzählung, die reich an philosophischen Dialogen und scharfen Beobachtungen ist, bietet einen satirischen und doch aufschlussreichen Einblick in die menschliche Natur und Gesellschaft. Letztendlich gipfelt die Geschichte darin, dass Kenelm seinen Platz in der Welt findet, nicht durch Konformität, sondern durch ein tieferes Verständnis der Komplexität des Lebens. Dies ist der dritte von drei Bänden.
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Seitenzahl: 359
Veröffentlichungsjahr: 2024
Edward Bulwer-Lytton
Kenelm Chillingly
Roman
Band 3
In der überarbeiteten Übersetzung
von
Emil Lehmann
KENELM CHILLINGLY wurde in der englischsprachigen Originalfassung zuerst 1873 veröffentlicht.
Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
2024
V 1.0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
Band 3
ISBN 978-3-96130-654-1
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
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Inhaltsverzeichnis
Kenelm Chillingly. Band 3
Impressum
Dritter Band
Sechstes Buch.
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Elftes Kapitel.
Zwölftes Kapitel.
Dreizehntes Kapitel.
Vierzehntes Kapitel.
Fünfzehntes Kapitel.
Sechzehntes Kapitel.
Siebentes Buch.
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Buch.
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Elftes Kapitel.
Zwölftes Kapitel.
Dreizehntes Kapitel.
Vierzehntes Kapitel.
Fünfzehntes Kapitel.
Schlußkapitel.
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Zu guter Letzt
Kenelm Chillingly. Dritter Band
Sechstes Buch.
Erstes Kapitel.
Auf seinem Rückwege nach Moleswick langte Kenelm kurz vor Sonnenuntergang an den Ufern des geschwätzigen Baches, dem von Lily Mordannt bewohnten Hause fast gegenüber, an. Lange und schweigend stand er an dem Rasenrande und warf seinen dunklen, durch die Strömung gebrochenen Schatten auf das Wasser. Seine Blicke ruhten auf dem gegenüberliegenden Hause und Garten. Die Fenster im obern Stock waren geöffnet. »Ich möchte wohl wissen, welches ihr Fenster ist«, dachte er bei sich. Endlich wurde er des Gärtners ansichtig, der sich eben mit seiner Gießkanne über ein Blumenbeet beugte und dann langsam durch das kleine Gebüsch, vermutlich nach seinem eigenen Häuschen, ging. Jetzt war der Grasplatz leer bis auf ein paar Drosseln, die sich plötzlich auf den Rasen niederließen.
»Guten Abend, Herr«, ließ sich eine Stimme vernehmen, »ein prächtiger Platz für Forellen.«
Kenelm wandte sich um und gewahrte auf dem Fußwege dicht hinter sich einen respectabel aussehenden ältlichen, allem Anscheine nach zur Klasse der kleinen Ladeninhaber gehörenden Mann mit einer Angel in der Hand und einem Fischkorbe.
»Für Forellen?« sagte Kenelm. »Das wundert mich nicht, es ist ja eine höchst anziehende Gegend.«
»Darf ich mir die Frage erlauben, ob Sie selbst gern angeln, Herr?« fragte der ältliche Mann, der vielleicht nicht recht wußte, wie er den Fremden taxieren sollte, wenn er einerseits seine Kleidung und seine Haltung, andererseits aber das abgetragene schäbige Ränzel auf seinem Rücken, das Kenelm auf seinen Reisen im In- und Auslande während eines vollen Jahres benutzt hatte, in Betracht zog.
»Ja, ich angle gern.«
»Dann finden Sie hier die beste Stelle im ganzen Strome. Sehen Sie, Herr, da ist Isaak Walton's Pavillon, und sehen Sie, da weiter unten jenes weiße nette Häuschen, das ist mein Haus, Herr, und ich habe Zimmer, die ich an Herren, die hier angeln wollen, vermiete. Während der Sommermonate sind sie meistens besetzt. Ich erwarte jeden Tag einen Brief von jemand, der sie haben will, aber augenblicklich stehen sie leer. Ein sehr hübsches Logis, Herr, Wohn und Schlafzimmer.«
» Descende coelo et dic age tibia«, sagte Kenelm.
»Was beliebt, Herr?« fragte der ältliche Mann.
»Ich bitte tausendmal um Vergebung! Ich habe das Unglück gehabt, die Universität zu besuchen und ein wenig Latein zu lernen, das sich bisweilen zu sehr ungelegener Zeit wieder bei mir einstellt. Aber was ich sagen wollte, ist in einfachen Worten Folgendes: Ich rief die Muse an, vom Himmel herabzusteigen und, das Original sagt, eine Flöte, ich aber sagte, eine Angel mitzubringen. Ich sollte meinen, Ihr Logis müßte mir grade convenieren, bitte, zeigen Sie es mir doch.«
»Mit dem größten Vergnügen«, sagte der ältliche Mann. »Die Muse braucht keine Angel mitzubringen; Sie finden bei uns alle Arten von Fischgeräten zu Ihrer Verfügung und auch ein Boot, wenn Sie es wünschen. Hier in der Nähe ist der Strom so schwach und eng, daß ein Boot Ihnen wenig nützen kann, wenn Sie nicht weiter hinunter wollen.«
»Ich will nicht weiter hinunter; aber wenn ich ans andere Ufer hinüber wollte, ohne durchwaten zu müssen, würde ich dazu das Boot benutzen können, oder ist da eine Brücke?«
»Das Boot kann Sie hinübersetzen; es ist ein Fahrzeug mit glattem Boden; grade meinem Hause gegenüber ist aber auch eine Brücke für Fußgänger und zwischen hier und Moleswick, da wo der Strom sich erweitert, ist eine Fähre und ganz am Ende der Stadt eine steinerne Brücke für Fuhrwerke.«
»Gut; lassen Sie uns doch jetzt gleich nach Ihrem Hause gehen.«
Die beiden Männer gingen zusammen fort.
»Beiläufig«, sagte Kenelm im Gehen, »wissen Sie viel von der Familie, welche das Landhaus am andern Ufer bewohnt, das wir eben hinter uns gelassen haben?«
»Da wohnt Frau Cameron. Ja gewiß, eine sehr gute Dame, und der Maler, Herr Melville – gewiß kenne ich ihn, denn er hat oft bei mir logiert, wenn er herkam, Frau Cameron zu besuchen. Er empfiehlt meine Zimmer seinen Freunden und das sind meine besten Einlogierer. Ich habe die Maler gern, Herr, obgleich ich nicht viel vom Malen verstehe. Es sind liebenswürdige Herren und immer zufrieden mit meiner bescheidenen Wohnung und meiner Kost.«
»Sie haben ganz Recht. Ich verstehe auch nicht viel von der Malerei, aber ich bin, nicht aus eigener Erfahrung, denn ich habe keinen Bekannten unter den Malern, sondern nach den Biographien von Malern, die ich gelesen habe, zu glauben geneigt, daß sie im Allgemeinen nicht nur liebenswürdige, sondern auch edelgesinnte Menschen sind. Sie sind beständig bestrebt, die uns im täglichen Leben umgebenden Dinge zu verschönern und zu erheben, und sie können dieses Streben nur erreichen, indem sie unablässig darüber nachdenken, was schön und erhaben ist. Ein fortwährend mit solchen Gedanken beschäftigter Mensch muß edel sein, wenn er auch nur der Sohn eines Schuhputzers wäre. Und ich begreife sehr wohl, daß die Maler, die in einer höhern Welt als wir leben, wie Sie sagen, mit der Kost und dem Logis, das sie in der von uns bewohnten Welt finden, sehr leicht zufrieden gestellt sind.«
»Ganz richtig, Herr, ich verstehe, obgleich Sie die Sache in einer Weise auffassen, an die ich bisher nie gedacht habe.«
»Und doch«, sagte Kenelm, indem er den alten Mann mit einem wohlwollenden Blicke ansah, »scheinen Sie mir ein wohlerzogener und intelligenter Mann zu sein, der gern über die Dinge im Allgemeinen nachdenkt, ohne seine Privatinteressen zu verabsäumen, namentlich wenn er Zimmer zu vermieten hat. Nichts für ungut! Ein solcher Mann ist vielleicht nicht geboren, ein Maler zu sein, ich schätze ihn aber hoch. Wie die Welt einmal beschaffen ist, muß die überwiegende Mehrzahl ihrer Bewohner nicht nur auf ihr, sondern auch von ihr leben. Jeder für sich und Gott für uns alle. Das größte Glück der größten Zahl ist am besten gesichert, wenn jeder sich klüglich als Nummer eins betrachtet.«
Kenelm war einigermaßen überrascht, denn er hatte jetzt das Leben hinreichend kennen gelernt, um gelegentlich überrascht zu sein, als der ältliche Mann hier plötzlich still stand, ihm herzlich die Hand entgegenstreckte und rief: »Oho! ich sehe, daß Sie gleich mir ein entschiedener Demokrat sind.«
»Demokrat? Darf ich fragen, nicht warum Sie einer sind, denn damit würde ich mir eine Freiheit gegen Sie erlauben, und Demokraten sind sehr empfindlich in Bezug auf Freiheiten, die man sich gegen sie herausnimmt, aber warum Sie mich für einen halten?«
»Sie sprachen von dem größten Glück der größten Zahl. Das heißt gewiß demokratisch denken. Sagten Sie nicht überdies, Herr, daß Maler, selbst wenn sie die Söhne von Schuhputzern wären, die wahren Gentlemen, die wahren Edelleute seien?«
»Ich habe das nicht eigentlich gesagt, um andere Gentlemen und Edelleute herabzusetzen. Aber wenn ich es gesagt hätte, was dann?«
»Herr, ich bin Ihrer Meinung. Ich verachte Alles, was vornehm ist, ich verachte Herzoge, Grafen und Aristokraten. Ein rechtschaffner Mensch ist die edelste Schöpfung Gottes, sagt ein Dichter, ich glaube, Shakespeare. Ein herrlicher Mann, Shakespeare. Der Sohn eines Handwerkers, ich glaube, eines Schlächters. O mein Onkel war auch ein Schlächter und hätte Alderman werden können. Ich schließe mich Ihnen von Herzen, von ganzem Herzen an. Ich bin ein Demokrat; geben Sie mir die Hand, Herr, geben Sie mir die Hand. Wir sind alle gleich. Jeder für sich und Gott für uns alle.«
»Ich will Ihnen gern die Hand geben«, sagte Kenelm, »aber ich fürchte, Sie gründen Ihre freundlichen Gesinnungen für mich auf falsche Voraussetzungen. Obgleich wir vor dem Gesetze alle gleich sind, außer daß ein Reicher wenig Aussicht hat, vor einer englischen Jury gegen einen Armen zu seinem Rechte zu kommen, so muß ich doch durchaus in Abrede stellen, daß je zwei Menschen einander völlig gleich seien. Der eine muß dem andern in irgend etwas überlegen sein, und wenn ein Mensch dem andern überlegen ist, so hört die Demokratie auf und beginnt die Aristokratie.«
»Aristokratie – das sehe ich nicht ein. Was verstehen Sie unter Aristokratie?«
»Den größern Einfluß der besseren Männer. In einem rohen Staate ist aber der stärkere Mann der bessere, in einem corrumpierten Staate vielleicht der spitzbübischere; in modernen Republiken haben die Börsenspeculanten das Geld und die Advocaten die Macht. Nur in wohlgeordneten Staaten erscheint die Aristokratie in ihrem wahren Werte. Hier besteht sie aus den durch ihre Geburt besseren Männern, weil der Respekt für die Vorfahren die Gewähr für einen höhern Ehrbegriff bietet, den durch ihren Reichtum besseren Männern, weil reiche Männer, wenn sie ihren natürlichen Neigungen folgen, von außerordentlichem Nutzen für die Förderung des Unternehmungsgeistes, die Entwickelung einer energischen Tätigkeit und die Pflege der schönen Künste sein müssen, endlich den durch ihren Charakter und den durch ihre Fähigkeiten besseren Männern, aus Gründen, die zu nahe liegen, um der Erörterung zu bedürfen; und diese beide Klassen werden den Vorrang in der Regierung des Staates haben, wenn der Staat blühend und frei ist. Alle diese vier Klassen besserer Männer bilden zusammen die wahre Aristokratie, und wenn erst einmal der menschliche Witz eine bessere Regierung als die einer wahren Aristokratie ersonnen haben wird, werden wir nicht mehr weit von dem tausendjährigen Reiche und der Herrschaft der Heiligen sein. Aber hier sind wir vor dem Hause – das ist doch Ihr Haus? Es gefällt mir ungemein.«
Der ältliche Mann trat jetzt voran in die kleine Tür, an der sich Geißblatt und Epheu in einander verflochten emporrankten, und führte Kenelm in ein freundliches Wohnzimmer mit einem Bogenfenster, hinter welchem sich ein ebenso freundliches Schlafzimmer befand.
»Wird Ihnen das genügen, Herr?«
»Vollkommen; ich nehme die Zimmer auf der Stelle. Mein Ränzel enthält Alles, was ich für die Nacht brauche. In dem Laden bei Somers steht mein Koffer, der morgen früh hergeschickt werden kann.«
»Aber wir haben noch nichts über die Bedingungen abgemacht«, sagte der ältliche Mann, dem einige Bedenken darüber aufzusteigen anfingen, ob er Recht daran getan habe, einen breitschultrigen Fremden, von dem er nichts wisse und der bei all seinem Redefluß über andere Dinge doch ein ominöses Schweigen über den Punkt der Bezahlung beobachtet hatte, in sein Haus aufzunehmen.
»Ja so! Das ist wahr. Sagen Sie mir Ihre Bedingungen.«
»Die Kost mit einbegriffen?«
»Gewiß. Chamäleons leben von der Luft, Demokraten von Windbeuteln. Ich habe einen gemeineren Appetit und brauche Hammelfleisch zu meiner Ernährung.«
»Das Fleisch ist jetzt sehr teuer«, sagte der ältliche Mann, »und ich fürchte, ich kann Ihnen für Kost und Logis nicht weniger berechnen als drei Pfund die Woche. Meine Einlogierer pflegen eine Woche im voraus zu bezahlen.«
»Abgemacht«, sagte Kenelm, indem er drei Sovereigns aus seiner Börse zog. »Ich habe schon zu Mittag gegessen. Ich brauche heute Abend nichts mehr. Ich will Sie nicht länger aufhalten. Haben Sie die Güte, die Tür hinter sich zu schließen.«
Als Kenelm allein war, setzte er sich in die Nische des Bogenfensters und blickte scharf spähend hinaus. Ja, er hatte Recht, er konnte von dort Lily's Daheim sehen. Von dem Hause freilich sah er nur einen weißen Schimmer zwischen Bäumen und Gebüsch hindurch, deutlich aber sah er den nach dem Bache sich sanft hinneigenden Rasen mit der großen Weide, die ihre Zweige ins Wasser tauchte und jede Aussicht über sie hinaus durch ihr Laubdach versperrte. Kenelm stützte den Kopf in die Hände und überließ sich einem träumerischen Sinnen. Die Nacht brach herein; die Sterne gingen auf und die Strahlen des Mondes drangen jetzt schräg durch die bogenförmig gewölbten Zweige der Weide hindurch auf das Wasser, auf welchem eine silberne Spur ihren Weg bezeichnete.
»Soll ich Licht bringen, Herr? Was ziehen Sie vor, eine Lampe oder Wachskerzen?« fragte eine Stimme hinter ihm, die Stimme der Frau des ältlichen Mannes. »Soll ich die Laden schließen?«
Die Fragen erschreckten den Träumer. Sie schienen ihn mit seinem eigenen früheren Spott über die Romantik der Liebe zu verspotten. Lampe oder Kerzen, Licht für prosaische Augen und Mond und Sternenlicht durch geschlossene Laden ausgesperrt!
»Ich danke Ihnen, Madame, noch nicht«, sagte er, stand ruhig auf, legte die Hand auf den Fenstersims und schwang sich zum offenen Fenster hinaus. Draußen schritt er langsam am Rande des Flüßchens auf einem Fußsteige dahin, auf welchem Schatten und Sternenlicht wechselten, während der Mond noch langsamer über den Weiden aufstieg und mit noch längerer Silberspur über die kleinen Wellen dahinzog.
Zweites Kapitel.
Obgleich Kenelm es nicht für notwendig hielt, seinen Eltern und Londoner Bekannten seine letzten Bewegungen und seinen gegenwärtigen Ruheaufenthalt mitzuteilen, kam es ihm doch nicht in den Sinn, in der unmittelbaren Nähe von Lily's Hause auf der Lauer zu liegen und Gelegenheiten zu suchen, sie heimlich zu treffen. Er ging am nächsten Morgen zu Frau Braefield, fand sie zu Hause und sagte in einem etwas suffisanteren Ton, als er ihm sonst eigen war: »Ich habe in Ihrer Nähe am Ufer des Flusses, um Forellen zu fangen, eine Wohnung gemietet. Sie werden mir erlauben, Sie bisweilen zu besuchen, und nächstens werden Sie mir hoffentlich das Diner geben, das ich vor einigen Tagen so unhöflich abgelehnt habe. Ich wurde damals sehr gegen meinen Willen plötzlich abgerufen.«
»Ja, mein Mann hat mir erzählt, daß Sie plötzlich mit einem wilden Ausruf über Pflicht von ihm wegliefen.«
»Ganz richtig. Meine Vernunft und, ich kann wohl sagen, mein Gewissen waren durch eine mir äußerst wichtige und ganz neue Angelegenheit in Verwirrung gebracht. Ich ging nach Oxford, dem Orte, wo Fragen der Vernunft und des Gewissens gründlicher als irgendwo anders in Erwägung gezogen und vielleicht am wenigsten befriedigend gelöst werden. Als ich mein Gemüt durch einen Besuch bei einer der größten Zierden dieser Universität erleichtert hatte, glaubte ich mir einige Sommerferien gönnen zu dürfen, und da bin ich!«
»O ich verstehe, Sie hatten religiöse Skrupel, dachten vielleicht daran, katholisch zu werden. Ich hoffe, Sie werden das nicht tun?«
»Meine Skrupel waren nicht von der Art, daß man sie notwendig religiös nennen müßte. Auch die Heiden nährten sie.«
»Worin sie auch bestanden haben mögen, jedenfalls sehe ich mit Vergnügen, daß sie Sie nicht verhindert haben, zu uns zurückzukehren«, sagte Frau Braefield mit anmutiger Freundlichkeit. »Aber wo haben Sie eine Wohnung gefunden? Warum sind Sie nicht zu uns gekommen? Mein Mann würde sich kaum weniger gefreut haben als ich, Sie bei uns aufzunehmen.«
»Sie sagen das so aufrichtig und herzlich, daß ein kurzes ›Ich danke Ihnen‹ als eine steife und herzlose Antwort erscheinen würde. Aber es gibt Zeiten im Leben, wo man sich danach sehnt, allein zu sein, mit seinem eigenen Herzen zu verkehren und sich womöglich ruhig zu verhalten; ich bin eben in einer solchen Stimmung. Haben Sie Nachsicht mit mir.«
Frau Braefield sah ihn mit freundlich zärtlichem Interesse an. Auch sie hatte ihrer Zeit die Last einer jungen romantischen Liebe in der Einsamkeit getragen. Sie erinnerte sich ihrer träumerischen und ihr so gefährlichen Mädchenjahre, wo auch sie sich danach gesehnt hatte, allein zu sein.«
»Mit Ihnen Nachsicht haben? Als ob es dessen bedürfte! Ich wollte, Herr Chillingly, ich wäre Ihre Schwester und Sie vertrauten sich mir an. Etwas quält Sie.«
»Quält mich? Nein. Ich trage mich mit glücklichen Gedanken, und wenn sie mich auch bisweilen verwirren mögen, so quälen sie mich doch nicht.«
Kenelm sagte das in einem sehr milden Ton, und in dem warmen Ausdruck seiner sinnenden Augen, dem anmutigen Spiel seines ruhigen Lächelns lag etwas, das seine Worte nicht Lügen strafte.
»Sie haben mir noch nicht gesagt, wo Sie eine Wohnung gefunden haben«, sagte Frau Braefield etwas abrupt.
»Nicht?« erwiderte Kenelm, indem er unwillkürlich zusammenfuhr, wie wenn er plötzlich aus einer tiefen Träumerei aufgerüttelt würde. »Ich wohne, glaube ich, bei einem recht distinguierten Mann, denn als ich ihn diesen Morgen nach der genauen Adresse seines Hauses fragte, um mein weniges Gepäck hinbringen zu lassen, gab er mir seine Karte mit einer großartigen Miene und sagte: ›Ich bin ziemlich bekannt in Moleswick und Umgegend.‹ Ich habe seine Karte noch nicht angesehen. Ah, da habe ich sie! Algernon Sidney Gale Jones, Cromwell-Lodge. Sie lachen? Was wissen Sie von ihm?«
»Ich wollte, mein Mann wäre hier, der würde Ihnen mehr von ihm erzählen können. Herr Jones ist eine ganz originelle Persönlichkeit.«
»Das merke ich.«
»Ein großer Radicaler und ein sehr geschwätziger Kannegießer; aber unser Pfarrer, Herr Emlyn, sagt, er sei im Grunde ein harmloser Mensch, sein Bellen sei schlimmer als sein Beißen, und seine republikanischen oder radicalen Ideen kämen auf Rechnung seines Gevatters! Zu seinem Namen Jones erhielt er in der Taufe unglücklicherweise den Namen Gale, weil Gale Jones ein zur Zeit seiner Geburt bekannter radicaler Redner war. Und ich denke mir, die Namen Algernon Sidney wurden dem Namen Gale noch vorangestellt, um den Neugeborenen noch entschiedener dem Dienste republikanischer Principien zu weihen.«
»Sehr natürlich taufte daher Algernon Sidney Gale Jones sein Haus Cromwell-Lodge, in Betracht, daß Algernon Sidney einen besondern Abscheu vor dem Protectorat hegte und daß der originale Gale Jones, wenn er ein ehrlicher Radicaler war, im Hinblick auf die unsanfte Behandlung, welche den Fürsprechern parlamentarischer Reformen von Seiten seiner Hoheit widerfuhr, denselben Abscheu hegen mußte. Aber wir müssen nachsichtig gegen Leute sein, welche zu ihrem Unglück getauft worden sind, ehe sie eine Wahl in Betreff der Namen treffen konnten, welche bestimmend für ihr Schicksal werden sollten. Ich selbst würde weniger grillenhaft geworden sein, wäre ich nicht nach einem Kenelm genannt worden, der an sympathetische Pulver glaubte. Abgesehen von seinen politischen Doctrinen gefällt mir mein Hauswirt, er hält seine Frau vortrefflich in Ordnung. Sie scheint bei dem Klang ihrer eigenen Fußtritte zu erschrecken und schleicht, ein bleiches Bild demütiger Weiblichkeit, in Pantoffeln aus Tuchflecken durchs Haus.«
»Sicherlich eine große Empfehlung und Cromwell-Lodge liegt sehr hübsch. Beiläufig, es liegt sehr in der Nähe von Frau Cameron's Haus.«
»Ja, es ist wahr, es fällt mir jetzt ein, daß Sie Recht haben«, sagte Kenelm in einem ganz unschuldigen Ton.
O mein lieber Kenelm, du Feind alles Scheins, du Wahrheitsfreund par excellence, wohin ist es mit dir gekommen! Wie sind die Mächtigen gesunken!
»Wenn Sie bei uns essen wollen, lassen Sie uns für übermorgen verabreden, und ich will Frau Cameron und Lily einladen.«
»Übermorgen – mit dem größten Vergnügen.«
»Paßt Ihnen eine frühe Zeit?«
»Je früher, desto besser.«
»Ist sechs Uhr zu früh?«
»Zu früh? Gewiß nicht, im Gegenteil. Leben Sie wohl, ich muß jetzt zu Frau Somers, sie hat meinen Koffer in Gewahrsam.«
Mit diesen Worten stand Kenelm auf.
»Das liebe Kind, die arme Lily«, sagte Frau Braefield, »ich wollte, sie wäre weniger Kind.«
Kenelm setzte sich wieder.
»Ist sie ein Kind? So kommt sie mir nicht vor.«
»Nicht an Jahren, sie ist zwischen siebzehn und achtzehn; aber mein Mann sagt, sie sei zu kindisch, und bittet mich immer, sie ihm abzunehmen; er unterhält sich lieber mit Frau Cameron.«
»So?«
»Ich finde aber doch etwas an ihr.«
»Wirklich?«
»Ich finde sie nicht grade kindisch und auch nicht ganz wie ein erwachsenes Mädchen.«
»Wie denn?«
»Ich kann es nicht recht definieren. Aber wissen Sie, welchen Lieblingsbeinamen Herr Melville und Frau Cameron ihr geben?«
»Nein.«
»Fee! Feen haben kein Alter; eine Fee ist weder ein Kind noch erwachsen.«
»Fee! Wird sie Fee von denen genannt, die sie am besten kennen? Fee!«
»Und sie glaubt an Feen.«
»So? Ich auch. Verzeihen Sie, ich muß fort. Auf übermorgen also um sechs Uhr.«
»Warten Sie einen Augenblick«, sagte Elsie, an ihren Schreibtisch tretend. »Sie kommen auf Ihrem Rückwege bei Grasmere vorüber, wollen Sie die Freundlichkeit haben, dieses Billet abzugeben?«
»Ich meinte, Grasmere sein ein im Norden gelegener See?«
»Ja, aber Herr Melville hat dem Landhause den Namen des Sees gegeben. Ich glaube, das erste Bild, das er je verkauft hat, war eine Ansicht von dem am See gelegenen Wordsworth-House. In dem Billet lade ich Frau Cameron ein, mit Ihnen bei uns zu essen; wenn Sie aber meine Botschaft nicht übernehmen wollen –«
»Nicht übernehmen wollen! Liebe Frau Braefield, ich komme ja, wie Sie sagen, dicht an dem Landhause vorüber.«
Drittes Kapitel.
Kenelm ging raschen Schrittes von Frau Braefield nach dem in der Highstreet gelegenen Somers'schen Laden. Jessie stand hinter dem Ladentisch, vor dem sich die Kunden drängten. Kenelm sagte ihr kurz, wohin sie seinen Koffer schicken solle, und ging in das hinter dem Laden gelegene Zimmer, wo ihr Mann mit Korbflechten beschäftigt war, während das Baby in seiner Wiege lag, wo die Großmutter es mechanisch schaukelte und dabei ein herrliches Missionärtractätchen, voll von Erzählungen wunderbarer Bekehrungen – zu was für Christen, wollen wir hier nicht näher untersuchen – las.
»Sie sind also glücklich, Will?« sagte Kenelm, indem er sich zwischen den Korbmacher und die Wiege setzte, neben sich die gute alte Mutter, welcher beim Lesen des Tractätchens ihre Träume vom ewigen Leben mit dem eben erwachenden Leben in der Wiege, die sie schaukelte, verschmolzen. Er sollte nicht glücklich sein! Wie bedauerte er den Mann, der solche Frage tun konnte!
»Ob ich glücklich bin, Herr? Ich sollte es meinen! Es vergeht fast kein Abend, wo nicht Jessie und ich und auch Mutter beten, Sie möchten noch einmal ebenso glücklich werden. Nach und nach wird auch das Baby beten lernen: Gott segne Papa und Mama, Großmama und Herrn Chillingly.«
»Es gibt einen, der Eurer Gebete viel würdiger ist als ich, wenn er ihrer auch weniger bedarf. Sie werden es noch einmal erfahren – lassen wir es jetzt auf sich beruhen. Um auf unsern Gegenstand zurückzukommen, Sie sind glücklich; und wenn ich Sie fragte, warum, würden Sie nicht sagen: Weil ich das Mädchen geheiratet habe, das ich liebe, und weil es mich nie gereut hat?«
»Nun ja, Herr, ungefähr so ist es; obgleich ich, wenn Sie es nicht übel nehmen wollen, glaube, es könnte noch etwas hübscher ausgedrückt werden.«
»Darin haben Sie Recht. Aber vielleicht hat noch nie jemand die rechten Worte für Liebe und Glück gefunden. Für heute leben Sie wohl.«
Ah, wenn es wahr wäre was reine Materialisten sagen, daß die Hauptbedingung des Glücks in Gesundheit und Kraft des Körpers bestehe, so würde jene Frage, ob Will glücklich sei, sinnlos oder kränkend erscheinen müssen, wenn man sich die Personen des Fragestellers und des Befragten vergegenwärtigt. Jener ein Mann von der seltensten körperlichen Ausstattung, wie sie die Natur nur zu Genüssen geschickt machen kann, ein Mann, der, solange er denken konnte, nie gewußt hatte, was es heißt, unwohl sein, und der es kaum verstand, wenn man ihm sagte, daß einem der Finger wehe tue, ein Mann, den die Verfeinerungen geistiger Bildung, welche die sinnlichen Genüsse vervielfältigen, in seltenem Grade in den Stand gesetzt hatten, das Glück, welches die bloße Natur und ihre Instinkte gewähren können, zu begreifen; dieser ein bleicher Krüppel, der, wenn sich auch sein Gesundheitszustand seit kurzem sehr gebessert hatte, doch dazu verurteilt war, sein Lebelang kränklich und leidend zu sein. Aber Will fand die Frage weder sinnlos noch beleidigend. Er, der arme Krüppel, hielt sich für viel glücklicher als den hochgebornen, gebildeten und reichen jungen Hercules, der so wenig vom Glück wußte, daß er den verkrüppelten Korbmacher fragen konnte, ob er glücklich sei – er, der glückliche Gatte und Vater!
Viertes Kapitel.
Lily saß unter einem Kastanienbaum im Grase. Eine weiße Katze, die noch kürzlich ein Kätzchen gewesen war, lag neben ihr in sich zusammengerollt und schlummerte. Auf ihrem Schooß hatte Lily ein offenes Buch, in welchem sie mit Entzücken las.
Frau Cameron trat aus dem Hause, sah sich um, bemerkte Lily und näherte sich ihr. Ging sie so leise oder war Lily so vertieft in ihr Buch, sie wurde sie erst gewahr, als sich eine sanfte Hand auf ihre Schulter legte und sie, sich umsehend, in das sanfte Gesicht ihrer Tante blickte.
»O Fee, Fee, das alberne Buch! Und Du solltest doch Deine französischen Verbes lernen. Was wird Dein Vormund sagen, wenn er herkommt und findet, wie schlecht Du Deine Zeit angewandt hast!«
»Er wird sagen, daß Feen ihre Zeit nie schlecht anwenden, und wird Dich schelten, daß Du das zu mir sagst.« Mit diesen Worten warf Lily ihr Buch weg, sprang auf, umschlang Frau Cameron und küßte sie zärtlich. »So, heißt das meine Zeit schlecht anwenden? Ich habe Dich so lieb, Tante. An einem Tage, wie der heutige, ist mir, als müßte ich alle Menschen und alle Dinge lieb haben!« Bei diesen Worten richtete sie ihre geschmeidige Gestalt auf, schaute zu dem blauen Himmel empor und schien mit geöffneten Lippen Luft und Sonnenschein einzuschlürfen. Dann weckte sie die schlummernde Katze und fing an, sie um den Grasplatz herumzujagen.
Frau Cameron stand still und sah ihr mit feuchten Augen zu. Grade in diesem Augenblick trat Kenelm durch die Gartenpforte ein. Auch er stand still und verfolgte mit seinen Blicken die Wellenbewegungen der reizenden Feengestalt. Sie hatte ihren Liebling gefangen und spielte jetzt mit ihm, nahm ihren Strohhut ab und zog das an demselben hängende Band neckend auf dem Rasen hinter sich her. Ihr reiches, so freigewordenes und durch die Bewegung aufgelöstes Haar fiel ihr zum Teil in leicht geringelten Löckchen über das Gesicht und ihr melodisches Lachen und ihre der Katze im neckischen Spiel gegebenen Namen klangen für Kenelm's Ohr heiterer als das Trillern der Lerche, anmutiger als das Girren der Turteltaube.
Er näherte sich Frau Cameron. Lily wandte sich plötzlich um und wurde seiner ansichtig. Instinctiv strich sie ihre aufgelösten Flechten zurück, setzte ihren Strohhut wieder auf und trat mit ernster Miene an seine Seite, grade in dem Augenblick, wo er ihre Tante angeredet hatte.
»Verzeihen Sie meine Zudringlichkeit, Frau Cameron. Ich habe Ihnen dieses Billet von Frau Braefield zu überbringen.« Während die Tante das Billet las, wandte er sich an die Nichte.
»Sie haben mir versprochen, mir das Bild zu zeigen, Fräulein Mordannt.«
»O, das ist lange her.«
»Zu lange, als daß man noch auf die Erfüllung des Versprechens einer Dame rechnen dürfte?«
Lily schien über diese Frage nachzudenken und zögerte mit ihrer Antwort.
»Ich will Ihnen das Bild zeigen. Ich glaube nicht, daß ich schon je ein gegebenes Versprechen nicht erfüllt habe, aber ich werde mich doch in Zukunft mit dem Versprechen noch mehr in Acht nehmen.«
»Warum denn das?«
»Weil Sie, als ich mein Versprechen gab, keinen Wert darauf legten, und das verletzte mich.« Lily blickte mit einer bezaubernden Miene von hoher Würde auf und fügte hinzu: »Ich war beleidigt.«
»Frau Braefield ist sehr gütig«, sagte Frau Cameron; »sie ladet uns auf übermorgen zu Tische ein. Möchtest Du hingehen, Lily?«
»Vermutlich lauter erwachsene Leute? Nein, ich danke, liebe Tante. Geh Du allein, ich möchte lieber zu Hause bleiben. Darf ich mir nicht die kleine Clemmy einladen und mit ihr spielen? Sie bringt dann Juba mit und Blanche liebt Juba sehr, obgleich sie ihn kratzt.«
»Gut, liebes Kind, Du sollst Deine Spielkameradin haben und ich werde allein gehen.«
Kenelm stand bestürzt da. »Sie wollen nicht kommen, Fräulein Mordannt? Das wird Frau Braefield außerordentlich leid tun. Und wenn Sie nicht kommen, mit wem soll ich mich dann unterhalten? Ich mag erwachsene Leute ebenso wenig leiden wie Sie.«
»Gehen Sie denn hin?«
»Gewiß.«
»Und wenn ich komme, wollen Sie sich mit mir unterhalten? Ich fürchte mich vor Herrn Braefield, er ist so weise.«
»Ich will Sie vor ihm retten und kein weises Wort soll über meine Lippen kommen.«
»Tante, ich will hingehen.«
Mit diesen Worten machte Lily einen Sprung und ergriff Blanche, die sich ihre Küsse resigniert gefallen ließ und mit ersichtlicher Neugierde Kenelm anstarrte.
In diesem Augenblick erklang in dem Hause eine Glocke, die das zweite Frühstück ankündigte. Frau Cameron lud Kenelm ein, an dieser Mahlzeit Teil zu nehmen. Ihm war zu Mute, wie Romulus zu Mute sein mochte, als er zum ersten Mal eingeladen wurde, das Ambrosia der Götter zu kosten. Und doch war das Frühstück nicht der Art, wie es Kenelm Chillingly in jenen Tagen des Mäßigkeits-Hotels gefallen haben möchte. Aber seit kurzem hatte er seinen Appetit verloren und heute genügten ihm eine sehr bescheidene Portion von einem kleinen Gericht Hühnerfricassée und ein paar mit Weinblättern hübsch aufgeputzte Kirschen, welche Lily für ihn ausgesucht hatte, wie wahrscheinlich auch Romulus, während er seine Augen an Hebe weidete, sich mit sehr wenig Ambrosia begnügte.
Nachdem das Frühstück beendet war, führte Lily, während Frau Cameron ihre Antwort an Elsie schrieb, Kenelm in ihr Zimmer, gewöhnlich ihr Boudoir genannt, obgleich es nicht aussah, als ob jemals jemand darin boudiert hätte. Es war allerliebst, nicht wie eine Frau, sondern wie ein Kind es sich erträumen würde, wunderbar zierlich und kühl und rein; das Tapetenmuster war ein Spalier von Rosen und Geißblatt mit Vögeln und Schmetterlingen; an den Fenstern hingen mit zierlichen Quasten und Bändern geschmückte Mullgardinen; in dem Zimmer stand ein winziges Bücherschränkchen, das, nach den hübschen Einbänden zu urteilen, wohl ausgestattet war, und ein kleiner Schreibtisch von französischer Marqueterie-Arbeit, der zu frisch und fleckenlos aussah, als daß man hätte glauben können, er habe schon schwere Dienste geleistet. Das Fenster war geöffnet und im Einklang mit der Tapete rankten Geißblatt und Rosen an dem Fensterrahmen empor und erfüllten, von lauen Sommerwinden bewegt, das kleine Zimmer mit lieblichen Düften.
Kenelm trat ans Fenster und warf einen Blick auf die Aussicht. »Ich hatte Recht«, sagte er zu sich, »ich habe erraten.« Aber obgleich er die Worte nur leise und wie nach innen vor sich hin flüsterte, hörte Lily, die seinen Bewegungen mit Staunen gefolgt war, sie doch.
»Sie haben es erraten? Was haben Sie erraten?«
»Nichts, nichts; ich sprach nur mit mir selbst.«
»Sagen Sie mir, was Sie erraten haben, ich bestehe darauf!« Und dabei stampfte die kleine Fee mit ihren zierlichen Füßchen auf den Boden.
»So? Da muß ich wohl gehorchen. Ich habe mir für kurze Zeit in Cromwell-Lodge am andern Ufer des Flüßchens eine Wohnung gemietet, und als ich von dort Ihr Haus liegen sah, erriet ich, daß Ihr Zimmer hier liegen müsse. Wie lieblich ist hier der Blick aufs Wasser! Ah! Da drüben ist Isaak Walton's Pavillon.«
»Reden Sie nicht von Isaak Walton, oder ich zanke mich mit Ihnen, wie ich es mit Löwe getan habe, als er einmal von mir verlangte, ich solle das grausame Buch gern lesen.«
»Wer ist Löwe?«
»Löwe? Natürlich mein Vormund. Ich habe ihm den Namen als kleines Kind gegeben, als ich in einem seiner Bücher das Bild eines Löwen sah, der mit einem kleinen Kinde spielt.«
»O, ich kenne die Zeichnung sehr gut«, sagte Kenelm mit einem leichten Seufzer. »Das Original befindet sich auf einer antiken griechischen Gemme. Aber der Löwe spielt nicht mit dem Kinde, sondern das Kind bemeistert den Löwen und die Griechen nannten das Kind Liebe.«
Diese Idee schien Lily's Fassungskraft etwas zu übersteigen. Nach einer kleinen Pause antwortete sie mit der Naivetät eines sechsjährigen Kindes:
»Jetzt verstehe ich, warum ich Blanche, die sonst von niemand etwas wissen will, bemeistern kann – ich liebe Blanche. O, da fällt mir ein, kommen Sie und sehen Sie sich das Bild an.«
Sie trat an die Wand über dem Schreibtisch, zog einen seidenen Vorhang von einem kleinen, in zierlichem Sammtrahmen befindlichen Bilde zurück und rief, indem sie auf dasselbe hindeutete, triumphierend:
»Sehen Sie da! Ist das nicht schön?«
Kenelm hatte sich darauf gefaßt gemacht, eine Landschaft, eine Gruppe oder irgend etwas zu sehen, nur nicht das, was er zu sehen bekam – Blanche in ihrer Jugend.
Wenig erhaben wie der Gegenstand war, war er doch mit phantasievoller Grazie behandelt. Das Kätzchen hatte ersichtlich aufgehört mit einem Baumwollenknäuel, der zwischen ihren Pfoten lag, zu spielen und heftete ihren Blick mit gespannter Aufmerksamkeit auf einen Buchfinken, der sich auf einem für sie erreichbaren Zweig niedergelassen hatte.
»Sie verstehen«, sagte Lily, indem sie ihre Hand auf Kenelm's Arm legte und ihn an eine Stelle zog, von der aus er nach ihrer Meinung das Bild im besten Lichte sehen konnte. »Es ist der Moment, wo Blanche zum ersten Mal eines Vogels ansichtig wird. Sehen Sie nicht, wie sie halb vor Freude, halb vor Furcht plötzlich überrascht ist? Sie hört auf mit ihrem Knäuel zu spielen. Ihr Verstand oder, wie Herr Braefield sagen würde, ihr Instinkt wird zum ersten Mal wach. Von diesem Augenblick war Blanche kein Kätzchen mehr und es bedurfte der sorgfältigsten Erziehung, um sie zu lehren, die kleinen Vögel nicht mehr zu tödten. Jetzt tut sie das nicht mehr, aber es hat mir unsägliche Mühe gekostet.«
»Ich kann offen gestanden nicht behaupten, daß ich in dem Bilde alles das sehe, was Sie darin sehen. Aber es scheint mir sehr hübsch gemalt und war ohne Zweifel Blanche in ihrer Jugend sprechend ähnlich!«
»Ja, das war es. Löwe machte seine erste Bleistiftskizze nach dem Leben, und als er sah, wie sehr sie mir gefiel, malte er sie – ach, es war so lieb von ihm! – auf die Leinwand und ließ mich bei ihm sitzen, während er daran arbeitete. Dann nahm er das Bild mit und brachte es mir vorigen Mai fertig und eingerahmt, wie Sie es da sehen, als Geschenk zu meinem Geburtstag.«
»Sie sind also im Mai geboren – mit den Blumen.«
»Die besten aller Blumen, die Veilchen, sind vor mir geboren.«
»Aber sie sind im Schatten geboren und hängen ihm an. Sie aber als Kind des Mai lieben sicherlich die Sonne!«
»Ich liebe die Sonne, sie ist nie zu hell, nie zu warm für mich. Aber ich glaube nicht, daß ich, obgleich im Mai geboren, im Sonnenlicht geboren bin. Ich fühle mich mehr als mein eigenes ursprüngliches Selbst, wenn ich in den Schatten krieche und einsam dasitze. Dann kann ich weinen.«
Bei diesen letzten, schüchtern ausgesprochenen Worten hatte sich der Ausdruck ihres Gesichtes ganz verändert; die kindliche Heiterkeit war verschwunden. Ein feierlicher, nachdenklicher, ja trauriger Ausdruck hatte sich auf die zärtlichen Augen und um die zitternden Lippen gelagert.
Kenelm war so gerührt, daß er keine Worte finden konnte, und einige Augenblicke schwiegen beide. Endlich sagte Kenelm langsam:
»Sie sagen, Ihr eigenes ursprüngliches Selbst. Fühlen Sie denn, wie ich oft tue, daß es ein zweites, vielleicht ursprüngliches Selbst gibt, das tief unter dem Selbst verborgen liegt, nicht blos dem, welches wir der Welt gewöhnlich zeigen – das kann eine bloße Maske sein – sondern dem Selbst, das wir gewöhnlich, auch wenn wir allein sind, als unser eigenes gelten lassen; ein allerinnerstes Selbst, das, von dem ersten ganz verschieden, so selten aus seinem Versteck herauskommt, dann aber sein Herrscherrecht geltend macht und das andere Selbst verdunkelt, wie die Sonne einen Stern verdunkelt?«
Wenn Kenelm so zu einem gescheidten Weltmann, zu einem Chillingly Mivers, zu einem Chillingly Gordon gesprochen hätte, würden sie ihn gewiß nicht verstanden haben. Aber zu solchen Männern würde er auch nicht so gesprochen haben. Er wagte zu hoffen, daß dieses kindische Mädchen trotz ihres vielen kindischen Geredes ihn verstehen würde. Und sie verstand ihn sofort.
Sie trat dicht an ihn heran, legte wieder ihre Hand auf seinen Arm, schaute mit erstaunten, nicht mehr traurigen, aber auch nicht heitern Augen zu seinem gesenkten Antlitz auf und sagte:
»Wie wahr! Haben Sie das auch empfunden? Wo liegt aber dieses innerste Selbst? So tief unten, so tief! und ist doch, wenn es hervortritt, so viel höher, so unendlich viel höher als unser tägliches Selbst? Dieses Selbst zähmt nicht die Schmetterlinge, es verlangt zu den Sternen aufzusteigen. Und dann, dann, ach! wie bald sinkt es wieder zusammen! Sie haben das empfunden! Macht es Ihnen nicht zu schaffen?«
»Sehr viel.«
»Gibt es keine weisen Bücher darüber, die uns das erklären helfen?«
»Soweit meine sehr beschränkte Kenntnis reicht, gibt es keine weisen Bücher, die dieses Rätsel auch nur berühren. Ich denke mir, daß das eine jener Fragen ist, die zwischen dem Kinde und seinem Schöpfer ungelöst bleiben. Geist und Seele sind nicht dasselbe und die von Ihnen und mir so genannten weisen Männer vermengen diese beiden beständig.«
Zum Glück für alle Teile, namentlich für den Leser, denn Kenelm hatte eben eins seiner besondern Steckenpferde, den Unterschied zwischen Psychologie und Metaphysik, die wissenschaftliche oder logische Betrachtung von Seele und Geist, bestiegen, trat in diesem Augenblick Frau Cameron ins Zimmer und fragte Kenelm, wie ihm das Bild gefalle.
»Sehr. Ich verstehe nicht viel von der Kunst. Aber es gefiel mir gleich, und jetzt, nachdem Fräulein Mordannt mir die Intentionen des Malers erklärt hat, bewundere ich es noch mehr.«
»Lily liebt es, seine Intentionen auf ihre eigene Weise auszulegen, und beharrt dabei, daß sich in Blanche's Gesichtsausdruck die Fähigkeit kundgibt, ihren Zerstörungstrieb zu beherrschen und sich die Überzeugung beibringen zu lassen, daß es unrecht sei, Vögel zum bloßen Spaß zu tödten. Zu ihrer Ernährung braucht sie sie nicht zu tödten, da sie sieht, wie Lily dafür sorgt, daß sie reichlich zu fressen hat. Aber ich glaube nicht, daß Herr Melville die leiseste Ahnung davon hatte, daß er diese Fähigkeit Blanche's in diesem Bilde ausgedrückt habe.«
»Er muß es aber getan haben, gleichviel, ob er eine Ahnung davon hatte oder nicht, sonst würde es nicht wahr sein«, sagte Lily sehr positiv.
»Warum nicht wahr?« fragte Kenelm.
»Sehen Sie nicht? Wenn Sie aufgefordert würden, den Charakter eines kleinen Kindes wahr zu schildern, würden Sie da nur von seinen unartigen Trieben, welche allen Kindern gemein sind, und nicht einmal andeutungsweise von der Fähigkeit des Kindes reden, besser zu werden?«
»Vortrefflich!« sagte Kenelm. »Es leidet keinen Zweifel, daß viel wildere Tiere als eine Katze, zum Beispiel ein Tiger oder ein erobernder Held, gelehrt werden können, auf dem denkbar freundschaftlichsten Fuße mit den Geschöpfen zu leben, über welche ihr natürlicher Instinkt sie würde haben herfallen lassen.«
»Ja, ja. Hörst Du, Tante? Erinnerst Du Dich noch der ›glücklichen Familie‹, die wir vor acht Jahren in Moleswick sahen, wo sich eine Katze, die nicht halb so niedlich war wie Blanche, von einer Maus ruhig ins Ohr beißen ließ? Nun denn, würde Löwe nicht schmählich unwahr gegen Blanche gewesen sein, wenn er nicht –«
Lily hielt inne und sah Kenelm halb schüchtern, halb verschmitzt an; dann aber fuhr sie langsam, in tiefgezogenen Tönen fort: »ihr innerstes Selbst hätte durchschimmern lassen?«
»Innerstes Selbst?« wiederholte Frau Cameron betroffen und lächelnd.
Lily schlich sich näher an Kenelm heran und flüsterte:
»Ist nicht unser innerstes Selbst unser bestes Selbst?«
Kenelm lächelte zustimmend. Die kleine Fee bannte ihn immer tiefer in ihren Zauberkreis. Wenn Lily seine Schwester, seine Braut, sein Weib gewesen wäre, wie zärtlich würde er sie geküßt haben! Sie hatte einen Gedanken ausgesprochen, über den er oft unhörbar gebrütet, und sie hatte denselben mit allem Zauber ihrer kindlichen Phantasie, ihrer weiblichen Zärtlichkeit bekleidet! Goethe hat irgendwo gesagt oder soll gesagt haben: »In jedes Menschen Herz ist etwas, das, wenn wir es kennten, uns ihn hassen machen würde.« Was Goethe gesagt hat, noch mehr, was Goethe gesagt haben soll, ist nie ganz buchstäblich zu nehmen. Kein umfassender Genius, der zugleich Dichter und Denker ist, darf je so aufgefaßt werden. Die Sonne bescheint einen Düngerhaufen, aber sie hat keine Vorliebe für ihn. Sie umfaßt nur den Düngerhaufen, wie sie die Rose umfaßt. Aber doch hatte Kenelm diesen verlorenen Strahl von Goethe's reich leuchtendem Stern immer mit einem Abscheu betrachtet, den man für einen Philosophen von so jugendlichem Alter, daß er von Rechtswegen auf die Worte eines so großen Meisters hätte schwören müssen, als höchst unphilosophisch bezeichnen mußte. Kenelm war der Meinung, daß die Wurzel alles persönlichen Wohlwollens, jedes erleuchteten Fortschrittes auf dem Wege socialer Reformen in der Umkehr jenes Satzes liege, daß in jedes Menschen Natur etwas sei, das, könnten wir es nur erfassen, es reinigen, es uns klar vor die Augen führen, uns ihn lieben machen würde. Und bei der ihm hier entgegentretenden spontanen, unreflectierten Sympathie mit dem Ergebnis so vieler mühsamer Kämpfe seines eigenen geschulten Geistes gegen das Dogma des deutschen Riesen war ihm zu Mute, als habe er eine jüngere, aber eben deshalb um so siegreicher kämpfende Schwester seiner eigenen männlichen Seele gefunden.
Dann überkam ihn das Gefühl ihrer Sympathie mit seinem innersten Selbst, das ein Mann nie mehr als einmal im Leben für ein Weib empfindet, so mächtig, daß er sich nicht zu reden getraute. Er verabschiedete sich bald.
Als er durch den Hintergarten auf die Brücke zuging, welche zu seiner Wohnung führte, sah er am gegenüberliegenden Ufer, an der andern Seite der Brücke, Herrn Algernon Sidney Gale Jones friedlich Forellen angeln.
»Wollen Sie es nicht heute einmal mit dem Fischen versuchen, Herr? Nehmen Sie meine Angel.«
Kenelm erinnerte sich, daß Lily Isaak Walton's Buch ein grausames genannt hatte, und ging freundlich kopfschüttelnd seines Weges nach Hause weiter.
Hier setzte er sich schweigend ans Fenster und schaute nach dem grünen Rasen, der über das Wasser geneigten Weide und den durch die umgebenden Bäume hindurchschimmernden weißen Mauern hinüber, wie er es am Abend zuvor getan hatte.
»O«, murmelte er endlich, »wenn, ein nur leidlich guter Mensch unbewußt, nur vermöge seines Daseins Gutes t