Lucretia - Edward Bulwer-Lytton - E-Book

Lucretia E-Book

Edward Bulwer Lytton

0,0

Beschreibung

"Lucretia" von Edward Bulwer-Lytton führt den Leser in die fesselnde und komplexe Welt der Lucretia ein, einer Figur, deren dunkle Intelligenz und Ehrgeiz den Rahmen für eine Geschichte voller Intrigen und moralischer Zweideutigkeit bilden. In diesem Eröffnungsband legt Bulwer-Lytton den Grundstein für Lucretias Charakter und zeichnet das Porträt einer Frau, deren rätselhafter und gerissener Charakter von den Umständen ihrer Jugend und ihren frühen Erfahrungen geprägt ist. Der Roman spielt in der streng strukturierten Gesellschaft des viktorianischen Englands und beschäftigt sich mit Themen wie Macht, Manipulation und den gesellschaftlichen Rollen, die dem Einzelnen auferlegt werden. Lucretias Charakter wird gekonnt entwickelt und zeigt sie als Meisterin der Manipulation, die ihren Intellekt und Charme nutzt, um sich in der komplizierten Gesellschaft zurechtzufinden. Die Erzählung befasst sich mit ihren komplexen Beziehungen und zeigt die Folgen ihres Handelns für ihre Mitmenschen auf. Bulwer-Lyttons reichhaltige und anschauliche Prosa gibt den Ton für eine Geschichte an, in der es ebenso um psychologische Tiefe wie um Spannung und Drama geht. Der Roman ist eine brillante Erkundung der Abgründe der menschlichen Natur, des Strebens nach Ehrgeiz und der moralischen Dilemmata, die sich aus dem Streben nach Macht ergeben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 879

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

Lucretia

oder

Die Kinder der Nacht

 

 

 

Edward Bulwer-Lytton

 

 

 

 

Verlag Heliakon

 

2024 © Verlag Heliakon

Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon

 

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

 

www.verlag-heliakon.de

[email protected]

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Vorwort

Erster Teil

Prolog zum ersten Teil

Eine Familiengruppe

Lucretia

Konferenzen

Guys Eiche

Verrat am eigenen Herd

Das Testament

Susanne

Die Entdeckung

Eine Seele ohne Hoffnung

Die Aussöhnung zwischen Vater und Sohn

Epilog des ersten Teils

Zweiter Teil

Prolog zum zweiten Teil

Die Krönung

Liebe auf den ersten Blick

Jugenderziehung einen wackeren Gentleman

John Ardworth

Der Weber und das Gewebe

Der Rechtsanwalt und der Leichendieb

Der Raub der Matratze

Percival besucht Lucretia

Die Rose unter dem Upas

Das Klappern der Schlange

Liebe und Unschuld

Rasche Berühmtheit und geduldiges Hoffen

Der Verlust des Postens

Nachrichten von Grabman

Verschiedenes

Die Einladung nach Laughton

Das Erwachen der Schlange

Rückblick

Mr. Grabmans Abenteuer

Becks Entdeckung

Das Tapetenzimmern

Erläuternde Briefe

Mehr von Mrs. Joplin

Der Schatten der Sonnenuhr

Mord schleicht wie ein Gespenst nach seinem Opfer

Der Bote eilt — der Spion fliegt

Lucretia findet ihren Sohn wieder

Das Schicksal geht ernst seine Bahn

Epilog des zweiten Teils

 

 

 

Vorwort

Es sind ungefähr vier Jahre verflossen, seit ich vor dem Publikum als Verfasser einer Dichtung auftrat, welche ich damals als meine wahrscheinlich letzte bezeichnete; allein üble Gewohnheiten sind stärker als gute Vorsätze. Gil Blas verlässt Fabricio in dessen Hospital, vollkommen überzeugt von dem Jammer, den sein poetisches Talent ihm bereitete und mit dem feierlichen Versprechen, einem so undankbaren Berufe zu entsagen, um ihn — am nächsten Morgen in voller Glut der Begeisterung zu finden, indem er seine verzweifelte Laufbahn mit einem Lebewohl an die Musen wieder antritt; — die Anwendung ergibt sich von selbst.

Indes muss ich gestehen, dass ich seit längerer Zeit den Wunsch genährt habe, in irgendeinem Werke die seltsamen und geheimen Wege zu schildern, mittelst deren jener Urherrscher der Zivilisation, den man gemeinhin „Geld“ nennt, sich in unsere Gedanken und Motive, unsere Herzen und Handlungen eindrängt, indem er ebenso wohl auf diejenigen, die seinen Werth unterschätzen, als auf jene, die seine Bedeutung überschätzen, einwirkt, und nicht minder im Verschwender Tugenden vernichtet, als im geizigen Laster erzeugt. Allein während ich meinen Abschied vom Beruf eines Novellisten halb andeutete, war ich der Meinung, dass sich die angeführte Idee am beiden zu einer Verarbeitung für die Bühne eignete. Nach einigen unveröffentlichten und unvollkommenen Versuchen, um meinen Plan zu verwirklichen1, fand ich, dass entweder der Gegenstand zu umfangreich für die engen Grenzen des Dramas, war, oder dass mir das Talent für die Konzentration abging, welches allein den Dramatiker befähigt, vielgestaltige und mannigfache Gruppen aus einen engen Raum zusammenzudrängen. Mit diesem Plane wünschte ich eine Darstellung dessen zu vereinigen, was mir ein Hauptfehler in dem heißen und eifersüchtigen Jagen nach Glück oder Ruhm, Vermögen oder Kenntnis zu sein scheint — fast synonym mit der gewöhnlichen Phrase „geistiger Fortschritt“ in der gesellschaftlichen Krisis, zu welcher wir gelangt sind.

Der Fehler, den ich meine, ist Ungeduld. Dieses eifrige Verlangen, vorwärtszudrängen, nicht sowohl, um Hindernisse zu überwinden, als sie zu umgehen; dieses Spiel mit den ernsten Bestimmungen des Lebens, indem man den Erfolg auf den Fall eines Würfels jetzt; dieses Eilen vom Erwachen des Wunsches zum vollendeten Ziel; dieser Durst nach schneller Vergeltung geistiger Mühe; dieses atemlose übereilte Treiben nach dem Ziel, welches wir überall um uns her bemerken in Handel und Wandel, welches in der Erziehung beim Abc-Buch beginnt, und uns mit populären wissenschaftlichen Lehrbüchern überschwemmt; welches die Bücher unserer Schriftsteller, die Reden unserer Staatsmänner nicht minder als das Verfahren unserer Spekulanten bezeichnet: dies scheint mir, ich muss es gestehen, ein sehr missliches und sehr allgemeines Zeichen der Zeit zu sein. Meiner Ansicht nach ist der größte Freund des Menschen Arbeit; und Kenntnis ohne Mühe, wofern überhaupt möglich, würde werthlos sein; Mühe im Streben nach Kenntnis ist die Beste Kenntnis, die wir erlangen können; die fortwährende Bemühung nach Ruhm ist edler, als der Ruhm selbst; und nicht der rasch erworbene Reichthum verdient Bewunderung, sondern vielmehr die Tugenden, die ein Mann, während er allmälig Reichthum erstrebt, ausübt, die Fähigkeith die dabei geweckt, die Entsagungen, die dadurch auferlegt werden — mit einem Wort, Arbeit und Geduld sind die ächten Lehrmeister auf Erden. Während ich mich mit diesen Ideen und dieser Überzeugung, sei sie nun richtig oder irrig, beschäftigte und allmälig einsah, dass ich nur in der Art der Bearbeitung, mit welcher ich am vertrautesten war, einen Teil des Planes, den ich zu bilden begann, ausführen könnte, wurde ich mit der Geschichte von zwei Verbrechern bekannt, die unserem Zeitalter angehören, und die so merkwürdig sind — teils durch die Größe und das Düster der begangenen Verbrechen, teils wegen der glänzenden Eigenschaften und des lebhaften Charakters des Einen, und wegen der tiefen Kenntnisse und geistigen Fähigkeiten des Andern — dass die Prüfung und Analyse so verderbter Charaktere zu einem Studium von starkem, hohem, wenn auch traurigem Interesse ward.

Diesen Personen scheinen so wenige versöhnende Züge eigen gewesen zu sein, als man in der menschlichen Natur finden kann, insofern sich dergleichen Züge in den freundlichen Trieben und edlen Leidenschaften erkennen lassen, welche bisweilen die Verübung großer Verbrechen begleiten und, ohne das Individuum zu entschuldigen, doch die Gattung rechtfertigen. Gleichwohl war anderseits ihre blutgierige Schlechtigkeit nicht die stumpfsinnige Rohheit wilder Thiere; — sie war von Unterricht und Bildung begleitet; ja, mir schien es, während ich ihr Leben studierte und über ihre eigenen Briefe nachdachte, dass wir eben durch ihre Bildung in das Geheimniß der furchtbaren und entsetzlichen Höhe im Bösen, welche diese Kinder der Nacht erreicht hatten, gelangen — und dass sich hier die Erscheinungen, welche Abweichungen von der Natur schienen, erklärten.

Ich vermochte der Versuchung nicht zu widerstehen, die Materialien in einer Erzählung zu verarbeiten, welche mein Interesse so gefesselt und meine Forschung so beschäftigt hatten. Und bei diesem Versuche traten verschiedene zufällige Gelegenheiten ein, um meinen frühern Plan, wo nicht vollständig auszuführen, doch gelegentlich zu erörtern; den Einfluß des Mammons auf unser geheimstes Innere zu zeigen und die Ungeduld zu tadeln, welche durch eine Zivilisation erzeugt wird, die bei vielem Guten auch alle entsprechenden Uebel mit sich bringt; — und in solchen Nebenfällen wird die Moral auch jedenfalls deutlicher hervortreten, als in der Schilderung des düsterern und seltneren Verbrechen, welches den Stoff meiner Erzählung bildet.

Denn bei außerordentlichen Verbrechen erkennen wir nicht leicht gewöhnliche Warnungen, wir sagen vielmehr zu dem ruhigen Gewissen: „das betrifft dich nicht!“ — während wir in jedem Beispiele gewöhnlicher Schuld und häufigen Vergehens eine direkte und merkliche Warnung erkennen. Gleichwohl haben in der Zeichnung gigantischen Verbrechens die Poeten mit Recht ihre Sphäre gefunden und ihre Bestimmung als Lehrer erfüllt. Jene furchtbaren Wahrheiten, die uns in der Schuld Macbeth's oder der Schurkerei Jago’s erschrecken, haben nicht minder ihren moralischen Nutzen, als die gemeinen Schwächen Tom Jones oder die alltägliche Heuchelei Blifils.

So unglaublich es scheinen mag: die hier erzählten Verbrechen fanden während der letzten siebzehn Jahre statt. Man hat ihre Größe nicht übertrieben und ist nur wenig von ihren einzelnen Umständen abgewichen — die angewendeten Mittel, selbst das, welches am weitesten hergeholt scheint (der vergiftete Ring), beruhen auf wahren Thatsachen. Auch habe ich die gesellschaftliche Stellung der Verbrecher nicht sehr verändert, noch im mindesten ihre Talente und Bildung überschätzt. In all den auffälligen Punkten, welche vielleicht am meisten das ungläubige Staunen den Lesers erregen müssten, erzähle ich eine Geschichte und erfinde keineswegs eine Dichtung.2 Alles Romantische, was unsere eigene Zeit bietet, ist nicht mehr das Romantische, als vielmehr die Philosophie der Zeit. Die Tragödie verläßt die Welt nie — sie umgibt uns allenthalben. Wir brauchen nur wach und munter umzuschauen, und vom Zeitalter Pelops bis zu dem Borgia's werden dieselben Verbrechen, nur unter verschiedenen Gewändern, auf unsern Pfaden wandeln. Jedes Zeitalter umfaßt in sich selbst Beispiele von jeder Tugend und jedem Laster, welchen jemals unsere Liebe erweckt oder unsern Abscheu erregt hat.

London, l. November 1846.

 

1Dieser Plan entstand nach der Veröffentlichung des, „Geld“ betitelten Lustspiels, und dieses war demnach trotz seines Namens keineswegs ein Versuch, den oben angedeuteten umfassenderen Gegenstand zu bearbeiten.

 

2Diese Verbrecher waren indes im wirklichen Leben nicht, wie in der Novelle, Vertraute und Mitschuldige. Ihre Verbrechen waren ähnlichen Charakters, ausgeführt durch ähnliche Hilfsmittel und zu solchen Zeiten begangen, das die verschiedene schuldvolle Laufbahn Beider in die nämliche Periode fällt; gleichwohl habe ich keinen Grund, zu vermuten, dass einer dem andern bekannt war. Bei solchen Punkten der Verwickelung, wo zwei verschiedene Geschichten verweht sind, wird der Leser daher zwischen der Wahrheit der einzelnen Tatsachen und der Erfindung, der Bindeglieder, die für die Erzählung nothwendig sind, unterscheiden.

 

 

 

 

 

 

Erster Teil

 

 

 

Prolog zum ersten Teil

In einem Zimmer zu Paris saß eines Morgens während der Schreckensherrschaft ein Mann, dessen Alter etwas unter dreißig sein mochte, vor einem mit Papieren bedeckten Tische, die mit der methodischen Genauigkeit eines ordnungsliebenden und geschäfts-gewohnten Sinnes geordnet und bezeichnet waren. Hinter ihm erhob sich ein hohen Bücherbrett, über welchem eine Büste Robespierres stand, während die Fächer hauptsächlich mit wissenschaftlichen Werken angefüllt waren; die größere Anzahl derselben betraf Chemie und Medizin. Auch sah man da viele seltene Bücher über Alchimie, die großen italienischen Historiker, einige englische wissenschaftliche Abhandlungen und einige arabische Handschriften. Dass in dieser Sammlung die stürmische Literatur des Tages gänzlich fehlte, schien anzuzeigen, dass der Eigentümer ein stiller Gelehrter war, der dem Streit und den Leidenschaften der Revolution fern lebte. Diese Vermutung ward indes durch gewisse Papiere auf dem Tische widerlegt, welche förmlich und lakonisch bezeichnet waren: ,,Berichte über Lyon“, und durch Briefpakete in der Handschrift Robespierres und Couthons. An einem der Fenster war ein junger Knabe eifrig von einer Beschäftigung in Anspruch genommen, welche die Neugier den soeben geschilderten Mannen zu erregen schien; denn nachdem dieser letztere des Kindes Bewegungen einige Augenblicke mit schweigendem Forschen beobachtet, welchen nur wenig von der halb freundlichen, halb melancholischen Teilnahme verriet, mit welcher der geschäftige Mann die spielende Kindheit zu betrachten vermag, erhob er sich geräuschlos von seinem Sitze, näherte sich dem Knaben und blickte ihm unbemerkt über die Schulter. In einem Spalt des Fensterstocks hatte eine große schwarze Spinne ihr Netz angebracht; das Kind hatte soeben eine zweite Spinne entdeckt und in das Gewebe gesetzt; es war den Erfolg seiner Operationen gewärtig. Die eingedrungene Spinne stand regungslos mitten im Gewebe wie fest gezaubert. Der rechtmäßige Besitzer war ebenfalls ruhig; aber ein feinen Ohr hätte einen leisen summenden Ton vernehmen können, welcher wahrscheinlich keine gastfreundlichen Absichten gegen den Eindringling weissagte. Indes schien das fremde Insekt plötzlich aus seiner Betäubung zu erwachen; es zeigte Unruhe und wandte sich zur Flucht; die gewaltige Spinne schoss vorwärts — der Knabe ließ ein frohes Jauchzen vernehmen. Die bleiche Lippe des Mannen verzog sich zu einem unheimlichen Lächeln, und er schlich wieder zu seinem Stuhle. Dort fuhr er, das Gesicht in die Hand gestützt, fort, das Kind zu beobachten.

Das Kind hätte für einen Künstler ein passendes Modell schöner und blühender Kindheit abgeben können. Sein lichtes, allerdings stark mit Roth angeflogenes Haar hing in weicher und glänzender Fülle über Hals und Schultern nieder. Seine Züge waren, im Profil gesehen, sein proportioniert; Gesundheit glühte auf seinen Wangen, und seine Gestalt verhieß, so schlank sie auch war, vorzügliche Gewandtheit und Kraft. Seine Kleidung war phantastisch und zeigte den Geschmack einer übertrieben zärtlichen Mutter; aber die feine, mit Spitzen besetzte Wäsche war zerknickt und befleckt, die Samtjacke ungebürstet; die Schuhe mit Staub bedeckt; — zwar nur leichte Zeichen von Vernachlässigung, lieferten sie doch den Zeichen, dass die törichte Zärtlichkeit, welche das Kleid erfunden, in der letzten Zeit nicht über die Toilette gewacht hatte.

»Kind«, sagte der Mann, zuerst auf Französisch, und als er bemerkte, dass der Knabe nicht darauf achtete, wiederholte er »Kind« auf Englisch, welches er gut, wiewohl mit einem fremden Akzente sprach — »Kind!«

Der Knabe wandte sich rasch um.

»Hat die große Spinne die kleine verzehrt?«

»Nein, Sir«, sagte der Knabe errötend; »die kleine hat den Sieg davon getragen.« Der Ton und die erhöhte Gesichtsfarbe des Kindes schienen seinen Worten eine Bedeutung zu geben — zum wenigsten glaubte der Mann so, — denn ein leichten Zürnen flog über seine hohe gedankenvolle Stirn.

»Spinnen sind also«, sagte er nach einer kurzen Pause, »verschieden von Menschen; bei uns gewinnt der kleine nicht den Vorteil über den großen. Hm! Vermissest du immer noch deine Mutter?«

»O ja!« und der Knabe näherte sich rasch dem Tische.

»Nun. du wirst sie noch einmal sehen.«

»Wann?« 

Der Mann blickte auf eine Uhr über dem Kamin »… bevor diese Uhr schlägt. Nun, gehe zu deinen Spinnen zurück.« Das Kind zeigte sich unentschlossen und nicht zu gehorchen geneigt; aber ein ernster und schrecklicher Ausdruck prägte sich allmählich auf des Mannes Gesicht aus, und der Knabe, der bei diesem Anblick erblasste, schlich zum Fenster zurück.

Der Vater, denn in solchem Verhältnis stand der Eigentümer des Zimmers zu dem Kind, rückte Papier und Tinte vor sich zurecht und schrieb einige Minuten hastig. Dann stand er rasch auf, blickte auf die Uhr, nahm Hut und Mantel, die auf einem Stuhle zur Seite lagen, schlug den Mantelkragen um, dass er das Gesicht fast verbarg, und sagte: »Jetzt, Knabe, komm mit mir, ich habe versprochen, dir eine Hinrichtung zu zeigen. Ich will jetzt mein Versprechen halten. Komm!«

Der Knabe schlug freudig in die Hände; und jetzt konnte man sehen, dass diese schönen Züge, obwohl die eines Kindes, eines grausamen und wilden Ausdrucks fähig waren. Der Charakter des ganzen Gesichts war verwandelt. Er ergriff seine bunt geschmückte Mütze und folgte dem Vater auf die Straße.

Schweigend gingen die beiden ihren Weg nach der Barrière du Trône. In einiger Entfernung sahen sie, wie das Getümmel stärker und dichter ward, wie eine Schar nach der anderen an ihnen vorübereilte und wie sich die schreckliche Guillotine hoch in der klaren blauen Luft erhob. Als sie mitten unter das Gedränge des Pöbels kamen, ergriff der Vater zum ersten Male die Hand des Kindes. »Ich muss dir einen guten Platz zum Zusehen verschaffen«, sagte er mit ruhigem Lächeln.

Es lag etwas in dem ernsten, gesagten, höflichen und doch stolzen Benehmen des Mannes, was die Menge veranlasste, ihm beim durchgehen Platz zu machen. Sie kamen der Schreckensszenen näher und erhielten Zutritt auf einem bereits mit eifrigen Zuschauern erfüllten Wagen.

Und nun vernahmen sie aus der Ferne das raue und polternde Rollen des Karrens, welcher die Opfer trug, und das Getrampel der Reiterei, welche die Todesprozession geleitete. Des Knaben ganze Aufmerksamkeit war in Erwartung des Schauspiels gefesselt, und da sein Ohr vielleicht weniger an das Französische gewöhnt war, obwohl er in Frankreich geboren und erzogen, als an die Sprache von seiner Mutter Lippen — und sie war Engländerin — so hörte oder beachtete er gewisse Bemerkungen der Umstehenden nicht, welche seines Vaters bleiche Wangen noch bleicher machten.

»Was gibts heut für Backwerk?«, fragte ein Fleischer auf dem Wagen.

»Kaum des Backens wert — nur zwei; aber einer, sagt man, ist ein Aristokrat — ein çi-devant Marquis«, antwortete ein Zimmermann.

»Ach! Ein Marquis! — Bon! — und der andere?«

»Nur eine Tänzerin; aber eine hübsche, das ist wahr; ich könnte Mitleid mit ihr haben; aber sie ist Engländerin.«

Und während er dies letzte Wort in einem Tone unaussprechlicher Verachtung aussprach, spuckte der Fleischer aus, als wenn er sich ekelte.

»Mort diable! vermuthlich eine Spionin Pitts. Was entdeckten sie?«

Ein besser als die übrigen gekleideter Mann wandte sich mit einem Lächeln um und antwortete: — nichts Schlimmeres als einen Liebhaber, glaube ich; aber der Liebhaber war ein Proskribirter. Der çi-devant Marquis wurde in ihrem Zimmer verkleidet gefunden. Sie verriet seinetwegen einen guten gefälligen Freund des Volks, der sie lange geliebt hatte, und Rache ist süß.«

Der Mann, welchen wir begleiteten, zog den Kragen seines Mantels hastig empor und seine zusammengedrückten Lippen sagten, dass ihm das Lachen ringsum Qual verursachte.

»Sie kommen! Da sind sie!« rief der Knabe im höchsten Entzücken.

»Auf diese Weise erzieht man Bürger«, sagte der Fleischer, indem er dem Kind auf die Schulter klopfte und ihm eine weit bessere Aussicht am Rande des Wagens öffnete.

Die Menge wich jetzt rasch auseinander. Man erblickte den Karren. Ein Mann, jung und hübsch, stand aufrecht, mit untergeschlagenen Armen in dem verhängnisvollen Fuhrwerk und blickte mit kalter Verachtung über die Pöbelmasse hin. Obwohl er das Kleid eines Arbeiters trug, vermochte doch der ungeübtes Blick in seiner Miene und seinem Benehmen einen von der gehassten „Noblesse“ zu entdecken, deren charakteristische Kennzeichen in der Stunde des Todes nur umso deutlicher hervortraten. Auf der Lippe ruhte das Lächeln des heiteren, trotzigen Leichtsinns, auf der Stirn jenes mutige, ja unbekümmerte Verachten physischer Gefahr, welches die edlen Stutzerhelden des alten Regime ausgezeichnet hatte. Selbst das grobe Kleid ward in einer gewissen gezierten Weise getragen und das schöne Haar war sorgfältig, gleichsam für den Festtag der Henker, geordnet. Während die Augen des jungen Edelmanns über die trotzigen Gesichter dieser schrecklichen Versammlung schweiften und während ein grässliches Triumphgeschrei diesem Blicke antwortete, in welchem der gentil-homme zum letzten Male seine Verachtung der Canaille ausdrückte, zog des Kindes Vater den Kragen seines Mantels herab und schob langsam den Hut von der Stirn. Das Auge des Marquis ruhte auf den ihm so plötzlich gezeigten Gesicht, welches sich aus einmal unter der Menge auszeichnete, — und sofort verlor jenes Auge seine ruhige Verachtung. Ein Schaudern lief sichtbar über seinen Körper und seine Wange ward bleich vor Schrecken. Der Pöbel bemerkte die Veränderung, aber nicht die Ursache, und erhob laut und lauter sein triumphierendes Geschrei. Dieser Ton rief den Stolz des jungen Edelmanns zurück; er richtete sich empor, hob das Haupt und suchte dem Blicke wieder zu begegnen, der ihn erschüttert hatte. Aber er vermochte ihn unter der Menge nicht mehr herauszufinden. Hut und Mantel verbargen wieder das Gesicht des Feindes und ein Gedränge neugieriger Köpfe unterbrach die Aussicht.

Die Lippen des jungen Marquis murmelten; er beugte sich nieder, und nun bekam die Menge seine Gefährtin zu Gesicht, die man vom Boden des Karrens, wohin sie sich vor Entsetzen und Verzweiflung geworfen, emporgehoben hatte. Im Augenblick ward die Menge still, als sich das bleiche Gesicht Einer, das den meisten von ihnen bekannt war, wild von Ort zu Ort auf dem schrecklichen Schauplatz wendete, umsonst und wahnsinnig durch dies Schweigen um Leben und Erbarmung flehend. Wie oft hatte der Anblick dieses Gesichts, damals nicht bleich und eingefallen, sondern mit rosigem Lächeln geschmückt, genügt, um den Applaus des überfüllten Theaters hervorzurufen! — Wie hatten damals alle diese Busen, die jetzt der Blutdurst fieberhaft erfüllte. Herzen geborgen, welche zauberisch gefesselt waren durch die lustigen Bewegungen dieser herrlichen Gestalt, die sich jetzt unter nicht theatralischer Todesangst wand! Spielzeug der Stadt — Liebling der leichten Unterhaltung der Stunde — schwaches Kind Cytherens und der Grazien — welches unerbittliche Geschick hatte dich zur Schlachtbank geführt? Sommerschmetterling, warum musste eine Nation aufstehen, um dich hinzurichten? Ein Gefühl von der Posse einer solchen Hinrichtung, von der entsetzlichen Burleske, den Bedürfnissen eines mächtigen Volkes ein so geringes Opfer darzubringen, regte sich selbst unter der Menge. Es ließ sich ein leises Gemurmel der Scham und des Unwillens vernehmen. Die gefährliche Sympathie wurde vom anwesenden Beamten bemerkt. Hastig gab er den Henker das Zeichen, und als er es gab, hörte man den Ruf eines Kindes in englischer Sprache: »Mutter … Mutter!« Des Vaters Hand packte des Kindes Arm mit eisernem Drucke; das Getümmel schwamm vor des Knaben Augen; die Lust schien ihn zu ersticken und ward blutrot; durch das Stimmengewirr, das Pferdegetrappel das Trommelwirbeln vernahm er nur eine leise Stimme, die ihm ins Ohr flüstert: »Lerne, wie sie sterben, die mich verraten!«

Als der Vater diese Worte sprach, war sein Gesicht wieder frei, und das Weib, deren Ohr bei all dem dumpfen Wahnsinn der Furcht die Stimme ihres Kindes erkannt hatte, sah dies Gesicht und sank bewusstlos in die Arme der Henker.

 

Erstes Kapitel

Eine Familiengruppe

An einem Juliabend zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts waren mehrere Personen ziemlich malerisch auf einer altmodischen Terrasse gruppiert, die an der Gartenseite eines Herrenhauses hinlief, welches bedeutende Ansprüche auf freiherrliche Würde hatte. Die Bauart war im reichsten und sorgfältigsten Style der Regierungszeit Jakobs I.

Das Portal, welches mit seinem verzierten Fenster darüber nach der Terrasse führte, war mit Pfeilern und Reliefs, Schmuck und Festigkeit vereinend, eingefasst, und den großen viereckigen Turm, in welchem es angebracht war, krönte ein steinerner Falke, dessen trotzige Klauen ein Schild mit den fünf spitzigen Sternen hielten, welche von Wappenkundigen für das Wappen St. Johns erkannt würden. Von beiden Seiten dieses Turms erstreckten sich lange Flügel, deren dunkle Ziegelwände durch schöne steinerne Einfassungen und Simse gehoben waren. Das hohe Dach war zum Teil durch eine Balustrade, ziemlich geschmackvoll mit Arabesken durchbrechen, dem Blicke entzogen; die oberste Linie des Daches aber schmückten mit imposantem Effekte hohe  Essen von verschiedener Form und Bauart. Diese Flügel endeten in Ecktürme, ähnlich dem Mittelturm, obwohl in Größe wie in Schmuck demselben gebührend untergeordnet und mit steinernen Kuppeln gekrönt. Eine niedrige Balustrade, aus späterer Zeit als jene, die das Dach, schmückte, umgab, mit Wasen und Statuen besetzt, die Terrasse, von welcher eine doppelte Treppe nach einer Rasenfläche, durchschnitten von breiten Kieswegen und von großen und stattlichen Federn beschattet, hinabführte, welche sanft und allmählich mit der wilden Szenerie des Parks verschmolz, von welchem sie nur durch ein Haha geschieden war. 

Auf der Terrasse und unter einem zeitweiligen Zeltdach saß der Eigentümer, Sir Miles St. John von Laughton, ein hübscher alter Mann, mit gewissenhafter Sorgfalt nach dem Kostüm gekleidet, welches man ihn als geeignet für seinen Herrenrang zu betrachten gelehrt hatte, und welches gleichwohl nicht so ganz veraltet und ungewöhnlich war.

Sein Haar, noch dicht und üppig, war sorgfältig gepudert und hinten in einem Büschel gesammelt. Seine grauen Hosen und perlfarbenen seidenen Strümpfe, ferner die seidene Weste, die sich weit auf der Brust öffnete und eine Fülle von Busenstreif blicken ließ, der leicht mit den duftigen Körnchen seines Lieblings-Martinique befreut war; sein dreieckiger Hut, der nebst goldknöpfigem Krückstock auf einem Stuhl neben ihm lag, und mehr zum Tragen in der Hand als auf dem Kopfe bestimmt war; der Diamant in seinem Vorhemd, der Diamant an seinem Finger, die Manschetten an seiner Hand — alles dies bezeichnete den feinen Mann, der mit Lord Chesterfeld geplaudert und mit Mrs. Clive soupiert hatte. Auf einem Tische vor ihm standen einige Karaffen mit Wein, Früchte der Jahreszeit, eine emaillierte Schnupftabaksdose mit einem eingesetzten weiblichen Porträt — vielleicht der Chloe oder Phyllis seiner frühen Liebesgesänge; eine brennende Kerze, eine kleine Porzellandose mit Tabak und drei bis vier Pfeifen aus heimischem Ton, denn Kirschröhre und Meerschaumköpfe waren damals nicht Mode; Sir Miles St. John, einst ein heiterer und glänzender Stutzer, setzt ein populärer Landedelmanm groß bei Grafschaftsmeeting und Schaafschurfestlichkeiten, hatte sich das Rauchen angewöhnt, ganz in Harmonie mit seiner bukolischen Umbildung; ein alter Jagdhund lag schlafend zu seinen Füßen; ein kleiner — ebenfalls alter — Hühnerhund schlenderte träge in der nächsten Umgebung und schaute ernst nach solchen Zwiebackbissen umher, die man weit fortgeworfen hatte, um ihn zur Bewegung zu reizen, und die seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen waren.

Halb sitzend, halb an der Balustrade lehnend, abseits vom Baronet, aber im Bereich seiner Unterhaltung, ruhte ein jugendlicher Mann von unverkennbarer und höchster Eleganz und Vornehmheit. Mr. Vernon war ein Gast aus London, und der Londoner Mensch, der Mann der Clubs und Gesellschaften, der Mittagsspaziergänge durch Bondstreet und der mit dem Prinzen von Wales verlebten Nächte, schien ebenso sehr ausgeprägt zu sein in der sorgfältigen Nachlässigkeit seiner Kleidung und dem erschöpften Ausdrucke seiner feinen Züge, wie in dem trostlosen Ennui, welches, sein Gesicht wie seine Haltung charakterisierend, mit ihm selbst Mitleid zu empfinden schien, dass er sich hatte aufs Land locken lassen.

Wir würden jedoch Mr. Vernon unrichtig schildern, wenn wir durch die Worte „trostloses Ennui“ die schläfrige Schalheit der mehr modernen Affektion zu malen beabsichtigten — es war nicht das Ennui eines Mannes, dem Ennui angewöhnt ist; es war vielmehr die unempfindliche Niedergeschlagenheit, welche die Zwischenräume der Aufregung ausfüllt. Damals war das Wort blasiert unbekannt; die Menschen hatten nicht genug Gefühl für Übersättigung. Es waltete eine Art bacchantischer Wut in dem Leben, welches jene Leiter der Mode führten, unter denen Mr. Vernon nicht der unbedeutendste war: es war eine Zeit des Trinkens in vollen Zügen, des hohen Spiels, der fröhlichen sorglosen Verschwendung — eines kräftigen Appetits nach Scherz und Lärm — des Fahrens mit Biergespann — des Preiskampfs — die Zeit einer seltsamen Art barbarischer Männlichkeit, die jeden Nerven anspannte; ein Wettrennen des Lebens, in welchem drei Viertel der Teilnehmer halbwegs in der Rennbahn starben. Was jetzt der Dandy, war damals der Buck, und etwas vom Buck, obwohl gedämpft durch einen reineren Geschmack, als er den gemeinen Mitgliedern dieser Masse eigen, war in Mr. Vernons Kostüm und Miene sichtbar. Verwickelte Musselinfalten, in ungeheuren Bogen und Zipfeln geordnet, bildeten die Krawatte, zu deren Reform Brummell noch nicht aufgestanden war; sein sehr eigentümlich geformter Hut, niedrig im Kopf und breit am Rande, ward mit einer Trotzaller-Welt-Miene getragen; seine Uhrkette mit einer Menge Ringen und Petschaften versehen, hing tief aus seiner weißen Weste; und die Schmiegsamkeit seiner Nankin-Inexpressibeln an seine wohlgeformten Glieder war ein Meisterstück der Kunst. Seine ganze Kleidung und Miene war nicht das, was man eigentlich läppisch nennen konnte — es war vielmehr das, was man zu jener Zeit liederlich nannte. Wenige konnten sich der Gemeinheit so dicht nähern, ohne gemein zu sein, und unter diesen privilegierten wenigen war einer der Erwählten Mr. Vernom. Weiter abseits und näher bei den Stufen, die in den Garten hinabführten, stand ein Mann in einer Attitüde tiefen Sinnens; seine Arme waren untergeschlagen, seine Augen zu Boden gesenkt, seine Brauen leicht zusammengezogen; seine Kleidung bestand in einem einfachen schwarzen Überrock und Patalons von derselben Farbe; etwas, sowohl in dem Schnitte der Kleidung, als noch mehr im Gesicht des Mannes, verriet den Fremden.

Sir Miles St. John war eine vollkommene Person für jene Zeit; er hatte die große Tour gemacht; er hatte Gemälde und Statuen gekauft; er sprach und schrieb die modernen Sprachen gut; und da er reich, gastfrei, gesellig war, und den Ruf eines Gönners nicht ungern hatte, so stand sein Haus den Scharen von Emigranten offen, welche die französische Revolution an unsere Küsten getrieben hatte.

Olivier Dalibard, ein Mann von bedeutender Gelehrsamkeit und seltenen wissenschaftlichen Talenten, war Lehrer im Hause des Marquis von G…, eines französischen Edelmannes, gewesen, welcher dem alten Baronet seit Jahren bekannt war. Der Marquis und seine Familie waren unter den ersten Emigrierten beim Ausbruch der Revolution gewesen. Der Hauslehrer war zurückgeblieben; denn damals schien denjenigen keine Gefahr zu drohen, die nach keiner anderen Aristokratie, als jener der Wissenschaften strebten. Seinen eigenen Neigungen entgegen, wie er mit reuiger Bescheidenheit sagte, war er, nicht allein seiner eigenen Sicherheit, sondern auch der seiner Freunde wegen, gezwungen worden, einigen Anteil an den nachfolgenden Ereignissen der Resolution zu nehmen — weit entfernt, es zu sein, hatte er doch den Patrioten so gut gespielt, dass er die persönliche Gunst und Protektion Robespierre's gewonnen hatte; und erst nach dem Falle dieses tugendhaften Vertilgens hatte er sich der Politik entzogen und in Verkleidung seine Flucht nach England bewerkstelligt. Da er, sei es aus freundlichen oder anderen Beweggründen, die Macht seiner Stellung in der Achtung Robespierres dazu verwendet hatte, um gewisse adlige Köpfe — unter andern die beiden Brüder des Marquis von G…, von der Guillotine zu retten, so war er mit dankbarem willkommen von seinen früheren Gönnern aufgenommen worden, die gern seine Jakobinerlaufbahn verziehen, weil sie seinen Entschuldigungen Glauben schenkten und ihm für die Dienste verpflichtet waren, die ihren Verwandten zu leisten ihn dieselbe Laufbahn befähigt hatte. Olivier Dalibard hatte den Marquis und seine Familie bei einem der häufigen Besuche, die sie zu Laughton abstatteten, begleitet; und als der Marquis endlich England verließ und sein Asyl zu Wien bei einigen Verwandten seiner Gemahlin nahm, empfand er eine lebhafte Freude darüber, seinen Freund anständig, wenn auch bescheiden, als Sekretär und Bibliothekar bei Sir Miles St. John versorgt, zurückzulassen. Wirklich hatte der Gelehrte, welcher bedeutende Bezauberungskraft besaß, die Gunst des englischen Baronets nicht minder, als die des französischen Diktators gewonnen. Er spielte ebenso gut Schach als Triktrak; er war ein außerordentlicher Rechner; er besaß eine Fülle von Kenntnissen in allen Dingen, wodurch er noch brauchbarer wurde denn irgendeine Enzyklopädie in Sir Miles Bibliothek, und da er sowohl Englisch als Italienisch so fließend und korrekt sprach, wie es bei einem Franzosen selten anzutreffen, so war er vorzüglich nützlich, um die Sprachen Sir Miles Lieblingsnichte zu lehren, deren allgemeine wissenschaftliche Erziehung er überhaupt leitete, — und welche zu schildern wir bald eine Gelegenheit finden werden.

Gleichwohl hatte der Annahme der Stelle, welche Sir Miles Dalibard bot, für diesen ein ernstes Hindernis im Wege gestanden. Dalibard hatte unter seiner Obhut einen jungen verwaisten Knaben von zehn bis zwölf Jahren — einen Knaben, in welchem Sir Miles des Gelehrten eigenen Sohn vermutete. Dieses Kind war mit Dalibard aus Frankreich gekommen und blieb (während des Marquis Familie in London war) unter der Aufsicht und Pflege seines Vormunds oder Vaters, welches immer das wahre Verhältnis zwischen beiden sein mochte. Allein diese Aufsicht war unmöglich, wenn Dalibard bei Sir Miles St. John in Hampshire wohnte und der Knabe in London blieb; selbst als der freigebige alte Herr sich erbot, den Unterricht zu bezahlen, wollte Dalibard nicht in die Trennung willigen.

Endlich wurde die Sache arrangiert: der Knabe war nach Laughton zu Besuch geladen und war so, munter und gleichwohl so gut geartet, dass man ihn liebgewann, und er nunmehr mit seinem mutmaßlichen Vater ordentlich im Hause einquartiert war; und, um aus diesem Verhältnis kein unnötiges Geheimnis zu machen, es existierte allerdings eine so nahe Verwandtschaft zwischen Olivier Dalibard und Honoré Gabriel Barney — ein Name, welcher den zwiefachen und illegitimen Ursprung andeutet — ein französischer Vater, eine englische Mutter. Auf der Mitte der Treppe saß der Knabe, der sich, Bleifeder und Tafel in der Hand, mit Zeichnen beschäftigte. Blicken wir ihm über die Schulter — es ist seines Vaters Bild — ein Gesicht, welches an sich auf den ersten Blick nicht sehr merkwürdig, denn die Züge waren klein; betrachtete man es aber genau, so war's eines von denen, welches die meisten Personen, namentlich Frauen, hübsch genannt haben würden, und welchem Niemand das höhere Lob des Geistes und der Klugheit versagen konnte. Ein geborener Provenzale, mit etwas italienischem Blut in seinen Adern — denn sein Großvater, ein Kaufmann in Marseille, hatte in eine florentinische Familie die in Livorno wohnte, geheiratet — war die dunkle Gesichtsfarbe, die den Südländern gewöhnlich, wahrscheinlich durch die Lebensweise eines Gelehrten zu einer bronzenen und steten Blässe abgedämpft worden, welche fast schön erschien durch den Kontrast des dunkeln Haare, das er ungepudert trug, und der noch dunkleren Brauen, welche dicht und vorragend über helle graue Augen hingen. Mit den Gesichtszügen verglichen, war der Schädel unverhältnismäßig groß, sowohl hinten als vorn; und ein Physiognomist würde günstigere Schlüsse für die Kraft, als für die Zartheit des Charakters des Provenzalen aus den festgeschlossenen Lippen und der Breite und Fettigkeit der eisernen Kinnlade gezogen haben. Aber des Sohnes Skizze übertrieb jeden Zug und legte in den Ausdruck des Gesichte eine boshafte Ironie, die zum mindesten jetzt nicht in der ruhigen und sinnenden Miene zu entdecken war. Gabriel selbst würde, während er dastand, eine lockende Studie für manchen Künstler gewesen sein. Allerdings war er klein für seine Jahre; allein sein Körper hatte eine Kraft in seinen leichten Proportionen, welche auf einer frühzeitigen und fast erwachsenen Symmetrie der Gestalt und Muskelentwickelung beruhte. Das Gesicht hatte indes viel von weiblicher Schönheit; das lange Haar erreichte die Schultern, lockte sich aber nicht; es war gerade, fein, und glänzend wie das eines Mädchens, und in der Farbe von dem lichten Nussbraun, mit rötlichem Anflug, was sich selten verändert, während die Kindheit zum Manne reift. Die Gesichtsfarbe war außerordentlich rein und schön; indes lag etwas so Hartes in der Lippe, etwas so Kühnes, obwohl nicht offenes, in der Stirn, dass das Mädchenhafte der Farbe und selbst der Umrisse, im Ganzen doch keinen weiblichen Ausdruck gewähren konnte. All' die angeerbte Scharfsicht und Klugheit war in diesem Augenblicke seinem Gesicht aufgeprägt; aber der Ausdruck hatte auch viel von der Ironie und Bosheit, die er in seine Karikatur gelegt hatte. Die Zeichnung selbst war bewundernswert kraftvoll und bestimmt, viel künstlerische Anlage verratend, während die Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit der sie entstanden war, bedeutende Übung anzeigte. Plötzlich wandte sich sein Vater um, und mit ebenso plötzlicher Schnelligkeit barg der Knabe seine Tafel im Kleid und den unheimlichen Ausdruck seines Gesichts unter einem schüchternen Lächeln, während sein Auge Dalibards Blick begegnete. Der Vater winkte dem Knaben, welcher sich behände näherte. »Gabriel«, flüsterte der Franzose in seiner Muttersprache, »wo sind sie in diesem Augenblick?«

Der Knabe zeigte schweigend nach einer der Zedern. Dalibard sann einen Augenblick nach, dann stieg er langsam die Stufen hinab und schritt geräuschlosen Trittes über den weichen Rasen nach dem Baum. Die Zweige desselben fielen tief und breiteten sich weit aus; erst als er sich bis auf wenige Schritte dem Orte genähert, vermochte sein Auge zwei Gestalten, die auf einer Bank unter dem dunkelgrünen Dach saßen, zu bemerken. Darauf blieb er stillstehen und betrachtete sie. 

Die eine war ein junger Mann, dessen schlichtes Kleid und bescheidene Miene seltsam mit dem kunstreichen Anstand und der modischen Trägheit Mr. Vernons kontrastierten; obwohl aber gänzlich ohne jene namenlose Auszeichnung, welche bisweilen diejenigen charakterisiert, die sich reiner Rasse bewusst und an die Atmosphäre der Höfe gewöhnt sind, besaß er zum mindesten das natürliche Gepräge der Aristokratie in einer vorzüglich edlen Gestalt und Zügen von männlicher, aber ausgezeichneter Schönheit, die durch einen Ausdruck bescheidener Schüchternheit nicht minder anziehend wurden. Er schien mit achtungsvoller Aufmerksamkeit seiner Gefährtin, einem jungen Mädchen an seiner Seite, zu tauschen, die mit einem in ihren Gebärden und ihren belebten Zügen sichtbaren Ernste zu ihm sprach. Und obwohl es an den verschiedenen über der Szene zerstreuten Personen viel zu bemerken gab, so würde doch vielleicht keine — nicht der graziöse Vernon — nicht der gedankenvolle Gelehrte, noch dessen schönhaariger hartlippiger Sohn — auch nicht der schöne Lauscher, den sie anredete — nein Niemand würde das Auge, sei es eines Phisiognomen oder zufälligen beobachtete, so gefesselt haben, wie dies junge Mädchen — Sir Miles St. Johns geliebte Nichte und mutmaßliche Erbin.

Aber da in diesem Augenblicke der Ausdruck ihres Gesichts verschieden von dem war, der ihr gewöhnlich, so verschieben wir die Schilderung.

»Beunruhige dich« — so sprach sie zu ihrem Gesellschafter — »beunruhige dich nicht durch Übertreibung der Schwierigkeiten; denke nicht einmal darüber nach — dies sei meine Sorge. Mainwaring, da ich dich liebte, da ich, indem ich sah, dass dein Misstrauen oder dein Stolz dir zuerst zu sprechen verbot, die Sittsamkeit oder die Verstelung meines Geschlechts überschritt, da ich sagte: »vergiss, dass ich die wahrscheinliche Erbin von Laughton bin; sieh in mir nur die Fehler und Verdienste des menschlichen Wesens, des wilden ungebundenen Mädchens; sieh in mir nur Lucretia Clavering (hier erröteten ihre Wangen und ihre Stimme sank zu einem leiseren und bebenderen Flüstern herab) und liebe sie, wenn du kannst! — Da ich so weit ging, glaube nicht, als hätte ich nicht alle die Schwierigkeiten erwogen, die unserer Verbindung in Wege sind, und gefühlt, dass ich sie übersteigen könnte.«

»Aber«, antwortete Mainwaring zögernd, »kannst du es für möglich halten, dass dein Oheim je einwilligen werde? Ist nicht Stolz — der Familienstolz — die Haupteigenschaft seines Charakters? Hat er nicht deine Mutter — seine eigene Schwester — aus seinem Haus und Herzen verbannt, und wegen keines anderen Vergebens, als einer zweiten Vermählung, die er unter ihrem Stande erachtete? Hat er je eingewilligt, deine Halbschwester, das Kind dieser Ehe, nur zu sehen, geschweige denn auszunehmen? Ist nicht selbst seine Liebe zu dir mit seinem Stolz auf dich, mit seinem Glauben auf dein Ehrgefühl verwoben? Hat er nicht deinen Vetter, Mr. Vernon, in der deutlichen Absicht gerufen, um eine Bewerbung zu begünstigen, die er für deiner würdig hält und die, wenn sie glücklich ist, die beiden Zweige seines alten Hauses vereinigen wird? Wie ist möglich, dass er jemals ohne Verachtung und Zorn, die deinem Glücke verderblich sein würden, anhören kann, dass dein Herz in William Mainwaring einen Mann ohne Ahnen und Aussichten zu wählen gewagt hat?«

»Nicht ohne Aussichten!«, unterbrach Lucretia stolz. »Glaubst du nicht, dass deine Laufbahn, wenn du Herr von Laughton wärst, glänzender sein würde, als die jenes müßigen, üppigen Stutzers? Glaubst du, dass ich schwachherzig genug sein würde, dich zu lieben, wenn ich in dir nicht Energie und Talent entdeckt hätte, die meinem eigenen Ehrgeiz entsprechen? Denn ehrgeizig bin ich, wie du weißt, und darum ist mein Geist, so gut wie mein Herz, mit meiner Liebe zu dir im Bunde.«

»Ach, Lucretia! Kann aber Sir Miles St. John meine künftige Erhebung in meiner jetzigen Unbedeutendheit sehen?«

»Ich sage nicht, dass er es kann oder will; aber wenn ich dich liebe, können wir warten. Fürchte nicht die Nebenbuhlerschaft Mr. Vernons. Ich werde mich von einer so leichten Gefahr zu befreien wissen. Wir können warten — mein Oheim ist alt — sein Zustand schließt die Möglichkeit eines viel längeren Lebens aus — er hat bereits schwere Anfälle gehabt. Wir sind jung, lieber Mainwaring: was ist ein Jahr oder zwei für die, welche hoffen?«

Mainwaring Gesicht veränderte sich und ein unangenehmer Schauer rieselte durch seine Adern. Konnte dies junge Wesen, der Liebling des Oheims, dem dieser vertraute und den er mit Zärtlichkeit pflegte, konnte sie, die eine Pflegerin seiner Schwächen, die Stütze seines Alters, die aufrichtigste Trauernde an seinem Grabe sein sollte, konnte sie so kalt die Möglichkeit seines Todes erwägen und zugleich auf den Altar und das Grab zeigen?

Die Verlegenheit um eine Antwort ward ihm durch Dalibards Annäherung erspart.

»Über eine halbe Stunde abwesend«, sagte der Gelehrte in seiner Muttersprache mit einem Lächeln, während er seine Uhr hervorzog und sie ihr vor die Augen hielt; »glauben Sie nicht, dass Sie von allen vermisst werden? Meinen Sie, Miss Clavering, dass ihr Oheim noch nicht nach seiner schönen Nichte gefragt haben wird? Schnell, kommen wir ihm zuvor.« Er bot bei diesen Worten Lucretia seinen Arm. Sie zögerte einen Augenblick und hielt dann Mainwaring ihre Hand hin. Er drückte dieselbe, aber kaum mit der Wärme eines Liebenden; und während sie mit Dalibard zur Terrasse zurückging, schlug der junge Mann langsam die entgegengesetzte Richtung ein, ging durch eine Tür über ein Brückchen, welches vom Haha in den Park führte, und schlug den Weg nach einem See ein, welcher, halb versteckt durch ehrwürdige, reich mit dem sommerlichen Laube geschmückte Baumgruppen, in einiger Entfernung schimmerte. Inzwischen redete Dalibard, noch immer in seiner Muttersprache, während sie nach dem Hause gingen, seine Schülerin in folgender Weise an:

»Sie müssen verzeihen, wenn ich mehr als Sie selbst auf ihr Wohl bedacht bin, und desgleichen verzeihen, wenn ich mich in ihre Geheimnisse schleiche und ihren Stolz verletze. Dieser junge Mann — könnten Sie sich der Torheit schuldig machen, mehr als ein vorübergehendes Gefallen an seiner Gesellschaft zu empfinden? Mehr als die Unterhaltung, mit seiner Eitelkeit zu spielen? Und wofern dies auch alles ist, so hüten Sie sich doch, dass Sie nicht in ihr eigenes Netz fallen.«

»Sie beleidigen mich in der Tat«, sagte Lucretia mit ruhigem Stolz, »und sie haben kein Recht, in dieser Weise mit mir zu sprechen.«

»Kein Recht«, wiederholte der Provenzale traurig; »kein Recht! … Dann habe ich mich freilich in meiner Schülerin geirrt. Meinen Sie, dass ich meinen Stolz erniedrigt haben würde, hier als ein Abhängiger zu bleiben, dass ich, im Bewusstsein meiner Kenntnisse und vielleicht Talente, die sich selbst im Exil ihren Weg zur Auszeichnung bahnen würden, mein Leben unter diesen ländlichen Schatten zugebracht haben würde, wenn ich nicht ein hohes und ausschließendes Interesse an ihnen gewonnen hätte? Aus dieses Interesse gründe ich mein Recht, Sie zu warnen und zu beraten. In ihnen sah, oder glaubte ich wenigstens einen dem meinigen verwandten Geist zu sehen — einen über die Frivolitäten ihres Geschlechts erhabenen Geist — kurz, einen Geist mit der Kraft und Energie eines Mannes. Sie waren damals nur ein Kind; Sie sind jetzt noch kaum ein Weib geworden; noch habe ich ihrem Geiste die kräftige Nahrung nicht gegeben, mit welcher die florentinischen Staatsmänner ihre jungen Fürsten nährten; oder die edlen Jesuiten, die edlen Männer, die bestimmt waren, das geheime Reich des unsterblichen Loyola zu verbreiten.«

»Ich muss gestehen, Sie haben mir Geschmack an einem für mein Geschlecht seltenen Wissen eingeflößt«, antwortete Lucretia, mit einem leisen Anflug von Bedauern in ihrer Stimme; »und in der Kenntnis, die Sie mir mitteilten, habe ich einen Reiz empfunden, der mir bisweilen nur verderblich zu sein scheint. Sie haben in meinem Geiste das Gute und Böse vermischt, oder Sie haben vielmehr beides, das Gute und Böse, als tote Asche, als Staub und erloschene Kohle eines Schmelztiegels zurückgelassen. Sie haben nur das Gewissen klug gemacht. Seit Kurzem wünsch ich, mein Lehrer wär ein Landgeistlicher gewesen.«

»Seit Kurzem! Seit Sie den Hirtengedichten dieses sanften Korydon gelauscht haben?«

»Sie wagen ihn zu schmähen … und warum? Weil er gut und ehrlich ist?«

»Ich verachte ihn nicht, weil er gut und ehrlich ist, sondern weil er zu der gewöhnlichen ziel- und charakterlosen Menschenherde gehört. Und wollen Sie dieses Jünglings wegen ihr Vermögen, ihren Ehrgeiz und die Stellung zum Opfer bringen, zu der Sie geboren und zu deren Erhöhung Sie erzogen sind — dieses Jünglings wegen, der keine andern Verdienste, als die des Schoßhunds hat — Sanftheit und Schönheit. Ach, zürnen — das Zürnen verrät Sie — Sie lieben ihn.«

»Und wenn ich ihn liebe?«, sagte Lucretia, indem sie ihre hohe Gestalt völlig emporrichtete und den Forscher stolz anblickte. »Und wenn ich ihn liebe, was dann? Ist er meiner unwert? Sprechen Sie mit ihm, und Sie werden finden, dass die edle Gestalt einen nicht minder hohen Geist birgt. Es mangelt ihm nur Reichtum; den kann ich ihm geben. Wenn sein Gemüt sanft ist, so kann ich es zu Ruhm und Macht treiben und führen. Er besitzt zum mindesten Erziehung, Beredsamkeit und Geist. Was hat Mr. Vernon?«

»Mr. Vernon, von ihm sprach ich nicht!«

Lucretia blickte fest in des Provenzalen Gesicht, sie sah ihn mit jener erbarmlose Miene des Triumphs an, mit welscher ein Weib, welches eine Gewalt über das Herz entdeckt, das sie nicht zu besiegen wünscht, freudig die Gründe widerlegt, die ihr dieses Herz entgegenzustellen scheint.

»Nein«, sagte sie mit ruhigem Ton, welchem das Gift der geheimen Ironie eine verwundende Bedeutung gab, … »nein, Sie sprachen nicht von Mr. Vernon; Sie meinten, dass ich, wenn ich mich umsähe, wenn ich mich näher umschaute, eine bessere Wahl treffen könnte.«

»Sie sind grausam … Sie sind ungerecht«, sagte Dalibard mit zitternder Stimme. »Wenn ich auch einmal einen Augenblick voreilig war, habe ich mein Vergehen wiederholt? Aber« — fügte er rasch hinzu, »mit mir — so sehr Sie mich zu verachten scheinen … mit mir hätten Sie sich wenigstens keiner der Gefahren ausgesetzt, die ihnen drohen, wenn Sie Mainwaring ernstlich ihr Herz schenken.«

»Sie meinen, der Oheim würde stolz sein, meine Hand Monsieur Olivier Dalibard geben zu können?«

»Ich meine und ich weiß es«, antwortete der Provenzale ernst und ohne des Spottes zu achten, »dass Sie, wofern Sie mich, den armen Verbannten, gewürdigt hätten, um mich zum beneidenswertesten Mann zu machen, dass Sie trotzdem die Erbin von Laughton sein würden.«

»Das haben Sie gesagt und behaupten«, erwidert Lucretia, deren Stimme deutlich ihre Neugierde verriet; — »allein: wie und durch welche Kunst — so weise und fein Sie sind — vermöchten Sie meines Oheims Einwilligung zu gewinnen?«

»Das ist mein Geheimnis«, erwiderte Dalibard finster; »und da der Wahnsinn, dem ich mich überlassen hatte, auf immer vorüber ist, da ich mein Herz so geschult habe, dass trotz ihres Spottes nichts mehr darin wohnt, außer eine zärtliche Teilnahme, die ich wohl eine väterliche nennen kann, so lassen Sie uns von diesem peinlichen Gegenstande abbrechen. O, meine teure Schülerin, lassen Sie sich in Zeiten warnen! Erkennen Sie die Liebe als das, was sie in der dunkeln und verworrenen Geschichte des wirklichen Lebens in Wahrheit ist, ein kurzer Zauber, den man nicht verachten, aber auch nicht für das Höchste von allem halten soll. Schauen Sie in der Welt umher, betrachten Sie alle diejenigen, die sich aus Liebe vermählt haben — wohin ist zehn Jahre später die Liebe geflohen? Bei Einzelnen, wo Gemeinschaftlichkeit des Charakters und Strebens vorhanden ist, erwachen allerdings neue Reize, neue Zwecke und Hoffnungen; und hat dann die Liebe einmal Wurzel gefasst, so fährt sie fort, neue Sprossen und Blüten zu treiben. Allein täuschen Sie sich nicht, eine solche Gemeinschaftlichkeit existiert nicht zwischen ihnen und Mainwaring. Was Sie seine Güte nennen, werden Sie später als Schwäche verachten lernen; und was in Wahrheit ihre geistige Kraft ist, darüber wird er bald, nur allzu bald, als über etwas Unweibliches und Hassenswertes schaudern.«

»Nun«, rief Lucretia zitternd, — »und wenn er es tut, so werde ich ihnen seinen Hass verdanken, ihren Lehren, ihrem tödlichen Einfluss.«

»Nein, Lucretia! — der Same lag in ihnen! Kann Pflege das aus dem Boden herauszwingen, was die Natur des Bodens nicht hervorbringen mag?«

»Ich will das Unkraut ausräumen! Ich will mich umwandeln!«

»Kind, ich gebe Sie auf!«, sagte der Gelehrte mit einem Lächeln, welches seinem Gesicht jenen Ausdruck lieh, mit welchem sein Sohn ihn gezeichnet hatte. »Ich habe Sie gewarnt und mein Werk ist vollbracht.« Mit diesen Worten verbeugte er sich und verließ sie, um bald an der Seite Sir Miles St. John zu stehen. Einige Augenblicke nachher gingen der Baronet und sein Bibliothekar ins Haus und setzten sich zum Schach.

Wir dürfen indes nicht glauben, dass während der Gespräche, welche wir skizzierten, Sir Miles so gänzlich in dem sinnlichen Behagen versunken gewesen sei, welches der unsterbliche Raleigh Europa bereitet hat, um seinen Gast und Verwandten zu vernachlässigen.

»Also, Charley Vernon, Rauchen ist nicht Mode in Lunnun«, (so sprach Sir Miles das Wort nach dem Euphemismus seiner Jugendzeit aus).

»Nein, Sir. Doch dafür sind die meisten anderen Laster bei uns in voller Kraft.«

»Daran zweifle ich nicht. Man sagt, des Prinzen Gesellschaft genießt das Leben sehr rasch.«

»Sicherlich erfordert es das Vermögen eines Grafen und die Konstitution eines Preiskämpfers, um mit ihm zu leben.«

»Aber mich dünkt, Master Charley, du hast weder das eine noch das anderes.«

»Und daher sei’ ich, in nicht großer Ferne, vor mir das Gefängnis und eine Schwindsucht!« antwortete Vernon, ein leichtes Gähnen unterdrückend.

»Es ist wirklich schade; denn du hattest ein schönes, wohlgeordnetes Gut; und bei alle deinen Fehlern hast du das Herz eines echten Gentlemans. Höre an!« setzte der alte Mann in zärtlichem Tone hinzu, »du bist jung genug, um dich zu bessern. Eine kluge Heirat und ein gutes Weib wird sowohl deine Gesundheit, als deine Felder retten.«

»Haben Sie so hohe Meinung von der Ehe, mein teurer Sir Miles, so muss man sich wundern, dass Sie ihre Lehren nicht durch ihr Beispiel bekräftigten.«

»Ei Narr! Ich hatte nicht deine Schwächen! Ich war nie ein Verschwender, und ich habe eine eiserne Konstitution!« Es trat hier eine Pause ein. »Charles«, fuhr darauf Sir Miles sinnend fort, »es gibt manchen Grafen, der weniger Vermögen hat, als die vereinigten Güter von Vernon Grange und Laugthon Hall betragen. Du musst mich schon verstanden haben — ich habe die Absicht, der Lucretia meine Güter zu hinterlassen — indes wünsche ich doch, dass du darum nicht weniger von meinem Testament profitieren möchtest. Offen gestanden, gefällt dir meine Nichte, so wirb um sie; lass dich hier nieder, während ich noch lebe; lass Grange verwalten und stärke dich durch frische Luft und ländliche Vergnügungen. Wahrhaftig, Charles, ich habe dich lieb, du magst dich darauf verlassen! … Gib mir deine Hand!«

»Und zugleich damit ein dankbares Herz«, sagte Vernon mit offenbar affektierter Wärme, als er aus seiner trägen Position emporfuhr, und die dargebotene Hand ergriff. »Glauben Sie mir, ich trachte nicht nach ihrem Reichtum und meine Cousine beneide ich um nichts so sehr, als um die erste Stelle in ihrer Achtung.«

»Hübsch gesagt, mein Junge; und ich traue dir auch keine Unwahrheit zu. Was meinst du also von meinem Plan?«

Mr. Vernon schien verlegen, aber er sammelte sich mit gewohnter Leichtigkeit und erwiderte schlau: »Vielleicht wird es wenig nützen, Sir, wenn ich sage, was ich von ihrem Plan denke: meine schone Nichte kann ihn bereits vereitelt haben.«

»Ha, Sir, lass mich dich ansehen … so … so! … du machst keinen Spaß. Was zum Henker bedeutet das? Nun, Mann, sprich es aus!«

»Meinen Sie nicht, dass Mr. Monderling … Mandolin … hm, wie heißt doch gleich der Name … meinen Sie nicht, dass er ein recht hübscher junger Bursch ist?«, sagte Mr. Vernon, während er seine Tabakdose hervorzog und sie seinen Verwandten bot.

»Zum Henker mit deinem Schnupftabak!« rief Sir Miles in großem Zorn, während er die dargebotene Artigkeit so heftig zurückstieß, dass der halbe Inhalt der Dose auf Augen und Nasen der beiden Hundelieblinge fiel, die zu seinen Füßen schliefen. Der große Hund sprang heftig empor — der Hühnerhund schnaubte und nieste und lief davon, während er jeden Augenblick stillstand, um den Kopf zwischen die Pfoten zu nehmen. Der alte Herr sprach weiter, ohne der Leiden seiner stummen Freunde zu achten, was ein Zeichen war, dass er auf ungewöhnliche Weise aus der Fassung gekommen:

»Willst du andeuten, Mr. Vernon, dass meine Nichte — meine ältere Nichte, Lucretia Clavering — sich herablässt, das gute oder schlechte Aussehen Mr. Mainwarings zu bemerken? Den Teufel, Sie, er ist der Sohn eines Landvermessers! Sir! Er ist für den Handel bestimmt! Sir, sein höchster Ehrgeiz ist, Teilhaber an einem untergeordneten Handelshaus zu werden«!

»Mein teurer Sir Miles«, erwiderte Mr. Vernon, während er fortfuhr, mit seinem duftigen Taschentuch die Portionen des Schnupftabakregens abzustäuben, die seine Nankin-Inexpressibles von den Sinneswerkzeugen Daschs und Pontos abgewendet hatten, — »mein teurer Sir Miles, ça n'empêche pas le sentiment!«

»Empêche den Kuckuck! du kennst Lucretia nicht. Freilich gibt es gar viele Mädchen, die man nicht einem hübschen flötenden Burschen mit schwarzen Augen und weißen Zähnen zu nahe kommen lassen dürfte; aber Lucretia ist nicht von dieser Art; sie besitzt Geist und Ehrgeiz, welche nicht eine Mesalliance gestatten würden; sie hat den Geist und Willen einer Königin — der alten Königin Beß, glaube ich!«

»Das heißt ihre Talente hochstellen, Sir; ist dem aber so, so unterstütze der Himmel ihren Willen. Ich bin gebührend dankbar für das Heil, welches Sie mir in Aussicht stellen.«

Trotz seines Zornes konnte der alte Herr ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Nun, um die Wahrheit zu gestehen, sie ist schwer zu lenken; allein wir, Männer von Welt, wir verstehen hoffentlich Weiber zu regieren, besonders wenn es ein Mädchen zahm zu machen gilt, das kaum aus den seinen heraus ist. Was deinen Einfall anlangt, so ist es damit nichts — Lucretia kennt meine Gesinnung. Sie hat ihrer Mutter Schicksal gesehen; sie hat ihre Schwester aus meinem Hause verbannt gesehen — warum? Nicht aus eigener Schuld, das arme Wesen! Aber, weil sie das Kind der Schmach ist. Und der Mutter Sünde wird heimgesucht auf der Tochter Haupt.

Ich bin ein gutmütiger Mann — aber ich bin auch genügend nach alter Art, um mich um meinen Stamm zu bekümmern. Sollte sich Lucretia selbst so weit erniedrigen, diesen Burschen zu lieben, zu ermutigen — nun, dann würde ich sie aus meinem Testament streichen und deinen Namen hinsetzen, wo ich den ihrigen geschrieben habe.«

»Sir«, sagte Vernon ernst und indem er alle Affektion seines Betragens beiseite warf, »dies wird ernsthaft, und ich habe kein Recht, einen Zweifel auch nur leise anzudenken, aus welchem ich Vorteil zu ziehen scheinen konnte. Ich glaube, es ist unvorsichtig, wenn Sie der Miss Clavering, während sie mich unparteiisch als Bewerber um ihre Hand betrachten soll, bei ihren Jahren einen Mann in den Weg treten lassen, der mir und den meisten Männern an persönlichen Vorzügen weit überlegen ist — einen Mann, der ihren eignen Jahren mehr angemessen, Bildung und Verstand besitzt, und in seinem Äußeren oder seiner Erziehung durch nichts seine niedrige Geburt verrät. Ich habe nicht den geringsten Grund, zu glauben, dass er den leisesten Eindruck auf Miss Clavering gemacht habe, und wäre es der Fall, so würde das vielleicht nur die unschuldige und unbefangene Fantasie eines Mädchens sein, welcher sie sich durch Zeit und verständige Überlegung bald entschlagen würde; aber verzeihen Sie, wenn ich unverholen bemerke, dass Sie auch ist dem angedeuteten Falle sehr unrecht tun würden, sie zu strafen oder auch nur zu tadeln — sich selbst müssten Sie nur tadeln, dass Sie so unbesorgt waren, und sich gegen die menschliche Natur und jugendlichen Gefühle so verblendeten, denn solche Sorglosigkeit und Blindheit, ich muss es gestehen, ist am wenigsten verzeihlich bei einem Manne, welcher die Welt so genau kennengelernt hat.«

»Charles Vernon«, sagte der alte Baronet, »gib mir deine Hand noch einmal! Ich hatte zum wenigsten Recht, wenn ich sagte, du besäßest das Herz eines ächten Gentleman. Lass diesen Gegenstand für jetzt fallen. Wer ist jetzt dort von Lucretia weggegangen?«

»Ihr protegé … der Franzose.«

»Ach, er zum wenigsten ist nicht blind … gehe, und geselle dich zu Lucretia!«

Vernon entfernte sich, leerte den Rest der Madeiraflasche in ein Glas, trank dasselbe aus einen Zug leer und schlenderte zu Lucretia hin; sie aber lenkte, als sie seine Annäherung gewahrte, rasch in eine der Alleen, die nach der anderen Seite des Hauses führten; er seinerseits war entweder zu gleichgültig, oder zu gebildet, um ihr die Gesellschaft aufzudrängen, die sie so offenbar scheute. Er warf sich der Länge nach auf eine der Bänke auf der Rasenfläche und versank, den Kopf in die Hand stützend, in Gedanken, die, wenn er gesprochen hätte, etwa folgendermaßen gelautet haben würden:

»Wenn ich das Mädchen als Preis dieser schönen Erbschaft nehmen muss, werde ich dabei gewinnen oder verlieren? Ich muss zugeben, sie hat den schönsten Hals und die schönsten Schultern, wie ich sie je in Marmor gesehen; allein weit entfernt, sie zu lieben, flößt sie mir vielmehr ein Gefühl wie Furcht und Abneigung ein. Dazu ist zu bedenken, dass sie offenbar gegen mich keine freundlichere Gesinnung hegt, als ich gegen sie; und wofern sie je ein Herz hatte, so hat es jener junge Herr längst weg geschmeichelt.

Schöne Aussichten das aus die Ehe für einen armen Invaliden, der wenigstens in Frieden zu vergehen und zu sterben wünscht! Überdies — wenn ich reich genug wäre, um nach Belieben zu heiraten, — wenn ich wäre, was ich vielleicht sein sollte, Erbe von Laughton — ei, da gibt es eine gewisse süße Mary in der Welt, die sanftere Augen hat als Lucretia Clavering — aber das ist ein Traum! — Wenn ich dagegen dieses Mädchen nicht gewinne und mein armer Vetter gibt ihr alle oder fast alle seine Besitzungen, so kommt Vernon Grange zu den Wucherern und für mich wird der König eine Wohnung ausfindig machen. Was hat's zu bedeuten? Ich kann höchstens zwei oder drei Jahre länger leben und kann daher nur hoffen, dass mich der liebe, wackere alte Sir Miles überleben möge. Mit dreiunddreißig hab ich Vermögen und Leben verwüstet; Laughton vermöchte mir wenig Freude zu geben; das Gefängnis aber nur kurzen Schmerz. Wahrlich, es lohnt im Grunde der Mühe nicht, sich da Sorgen zu machen!« Indem er so den Fortgang seines Sinnens unterbrach, lächelte er und nahm eine andere Lage ein. Die Sonne war untergegangen, die Dämmerung vorüber, der Mond stieg glänzend hinter einem dichten Eiche- und Buchengehölz empor; die vollen Strahlen fielen auf das Gesicht des Träumers, und dies Gesicht schien noch blässer und die Erschöpfung frühzeitigen Verfalls noch deutlicher unter jenem stillen und melancholischen Lichte — alle Ruinen gewinnen im Mondlicht ein erhabeneres Ansehen. Hier war eine edlere Ruine als jene, welche die Maler skizzieren — die Ruine, nicht von Stein und Mörtel, sondern von Menschheit und Geist; das Wrack eines Menschen, der frühzeitig gealtert, nicht durch großen Schmerz darnieder geworfen, noch durch große Mühen gebeugt, sondern zerbröckelt und miniert durch kleine Vergnügungen und armselige Reize — klein und armselig, aber täglich, stündlich, jeden Augenblick bei ihrer gnomenartigen Arbeit beschäftigt. Etwas von dem Ernste und der wahren Moral der Stunde und Szene drängte sich vielleicht selbst in ein dem Gefühle wenig ergebenes Gemüt, denn Vernon erhob sich matt und murmelte:

»Meine arme Mutter hoffte Besseres von mir. Am Ende ist es gut, dass mit Mary gebrochen ist! Wozu sollte jemand um mich weinen müssen? Ich kann so desto besser lächelnd sterben, wie ich gelebt habe.«

Da es indes notwendig ist, dass wir jeder der Hauptpersonen folgen, die wir im Laufe eines Abends, der mehr oder minder auf das Geschick Alter einflussreich war, eingeführt haben, so kehren wir zu Mainwaring zurück, und begleiten ihn zu dem See in der Tiefe des Parks, den er erreichte, während die glatte Oberfläche unter den letzten Strahlen der Sonne erglänzte. Als er sich dem Wasser näherte, sah er die Fische in der klaren Flut spielen; das gemähte Gras unter seinen Füßen entsendete den duft von dem zermalmten Feldkümmel und Klee; der Schwan ruhte still, wie wenn er auf der Flut schlummerte; der Hänfling und Finke sangen noch in den nahen Wipfeln; und die beladenen Bienen suchten summend den Heimweg; ringsum gewährte alles den Eindruck jenes unaussprechlichen Friedens, den die Natur demjenigen zuflüstert, der ihre Musik versteht; alles strebte den Geist einzulullen, nicht aber niederzuschlagen; Bilder, die des Feiertags des weltmüden Menschen, der Betrachtung des stillen abgeschiedenen Alters, der Kindheit der dichter, der Jugend der Liebenden wert sind. Aber Mainwarings Schritt war schwer, seine Stirn umwölkt; die Natur war an diesem Abend stumm für ihn. Am Rande des Sees stand ein einsamer Angler, der jetzt (nachdem sein Abendwerk vollbracht) mit Muße beschäftigt war, seine Angel zusammenzulegen und mit vieler Anmut dabei eine Melodie zu einem von Isaak Waltons Liedern pfiff. Mainwaring erreichte den Angler und legte ihm die Hand auf die Schulter:

»Guter Fang, Ardworth?«

»Etliche große Rochen mit der Fliege und einen Hecht mit einem Gründling — ein stattlicher Bursch! — da sehen Sie ihn an! Er lag dort unter dem Schilf; ich sah seinen grünen Rücken und lockt' ihn hervor. Ein himmlischer Abend! Mich wundert, dass Sie meinem Beispiel nicht folgen und von einer Gesellschaft, wo wir beide, weder Sie noch ich, uns sehr heimisch finden können, zu diesen grünen Hallen der Natur fliehen, wo wenigstens kein Mensch unter dem Salzfass sitz. Die Vögel sind eine ältere Familie, als die St. Johns; aber sie halten uns nicht ihren Stammbaum vors Gesicht, Mainwaring.«

»Nein, nein, mein guter Freund, Sie tun dem alten Sir Miles unrecht; stolz ist er freilich, aber weder Sie noch ich haben uns über seine Anmaßung zu beklagen gehabt.«

»Über seine Anmaßung! Gewiss nicht — über seine Herablassung, freilich! Ja, William, gerade seine Höflichkeit ist es, die mich erbittert. Bemerken Sie nicht, dass er mit Vernon oder Lord A…, oder Lord B…, oder Mr. C…, sich leicht und ungebunden beträgt, sie bei ihren Namen ruft, ihnen auf die Schultern klopft, sie tadelt und auf sie schimpft, wenn sie ihn necken; aber mit ihnen und mir und seinem französischen Schmarotzer ist er in allem steif, höflich und gewissenhaft artig: »Mr. Mainwaring, es freut mich, Sie zu sehen;« 

»Mr. Ardworth, da Sie so nahe dabei sind, darf ich Sie wohl bitten, die Klinge zu ziehen;« 

»Mr. Dalibard, ganz unmaßgeblich wage ich, ihrer Meinung zu widersprechen.« Indes lassen Sie sich durch meine törichte Auffassung nicht kränken. Sie haben auch einen würdigen Gegenstand dort, der Sie wohl von Hechten und Gründlingen abhalten kann. Haben Sie ihre Unterredung mit der trefflichen Lucretia weg gestohlen?«

»Ja, wie Sie sagen, gestohlen, und ich bin, wie alle nicht ganz verhärteten Diebe, beschämt über meinen Raub.«

»Setzen Sie sich mein Lieber, hier ist ein herrlicher Ort; da, auf die alte Wurzel stützen Sie ihren Ellbogen, dies weiche Moos ist ihr Kissen. Setzen Sie sich und beichten Sie. Sie haben etwas auf dem Herzen, was Sie quält; wir sind alte Schulfreunde … heraus damit!«