Kind of Blue - Miles Corwin - E-Book

Kind of Blue E-Book

Miles Corwin

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Beschreibung

Er hat Vergangenheit, eine jüdische Mutter und den Blues von Miles Davis: Ash Levine ermittelt in den Straßen von Los Angeles. Früher war Ash einer der besten Männer des LAPD. Bis eine Zeugin starb und er seinen Hut nehmen musste. Nun soll er wieder einen Mord aufklären. Das Opfer: ein Kollege. Sehr schnell ist ein Täter gefunden, die Akte wird offiziell geschlossen. Doch Ash Levine lässt sich von niemandem vorschreiben, wann ein Fall geklärt ist. Nicht einmal, wenn das Netzwerk der Korruption bis in die höchsten Etagen der Macht reicht.

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Seitenzahl: 586

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Miles Corwin

Kind of Blue

Aus dem Englischen von Katharina Naumann

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

ER HAT VERGANGENHEIT, EINE JÜDISCHE MUTTER UND DEN BLUES VON MILES DAVIS: ASH LEVINE ERMITTELT IN DEN STRASSEN VON LOS ANGELES.

 

Früher war Ash einer der besten Männer des LAPD. Bis eine Zeugin starb und er seinen Hut nehmen musste. Nun soll er wieder einen Mord aufklären. Das Opfer: ein Kollege. Sehr schnell ist ein Täter gefunden, die Akte wird offiziell geschlossen. Doch Ash Levine lässt sich von niemandem vorschreiben, wann ein Fall geklärt ist. Nicht einmal, wenn das Netzwerk der Korruption bis in die höchsten Etagen der Macht reicht.

Über Miles Corwin

Miles Corwin wurde in Los Angeles geboren. Er arbeitete erst als Lifeguard am Los Angeles County Beach. Danach war er lange Jahre Polizeireporter in seiner Heimatstadt. Die Erfahrungen aus diesem Job dienen als Grundlage für seinen ersten Roman. Der Autor lebt mit seiner Familie in Altadena und lehrt an der University of California in Irvine.

Inhaltsübersicht

Für LeniPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Danksagungen

Für Leni

Prolog

Lieutenant Frank Duffy schleppte sich die fünf Treppenabsätze aus der Abteilung für Kapitalverbrechen hoch zum zehnten Stock, wo der Führungsstab der Polizei von Los Angeles seine Räume hatte. Als er es endlich durch den langen Flur bis zum Büro von Vize-Chief Vincent Grazzo geschafft hatte, keuchte er schon vor Anstrengung. Winzige Schweißtröpfchen hatten sich über seinen Augenbrauen gebildet. Er wusste, dass er den Aufzug hätte nehmen sollen, aber sein Arzt hatte ihm geraten, mehr Sport zu treiben, und in der letzten Zeit war das Treppensteigen im Polizeihauptkommissariat von Los Angeles die einzige Gelegenheit, sich ein bisschen zu bewegen.

«Ich hab was für dich», sagte Grazzo zu Duffy, der sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn abwischte.

Grazzo saß sehr aufrecht auf seinem Stuhl, in der Hand hielt er einen Stift. Er war klein und dicklich, und seine dunkelblaue Uniform war ihm viel zu eng. Es sah aus, als hätte er sich in einen Neoprenanzug gezwängt, über dessen Kragenrand die Speckröllchen quollen. Duffy hatte immer gefunden, dass übergewichtige Polizisten im Alter genauso albern aussahen wie dicke Baseballmanager, wenn sie zur Abwurfstelle watschelten.

«Letzte Nacht ist ein Ex-Cop bei sich zu Hause erschossen worden», fuhr Grazzo fort. «Er hieß Pete Relovich. Sieht aus wie ein Einbruch.»

«Bei dem Namen klingelt bei mir was», sagte Duffy in seinem leichten irischen Akzent.

«Als er noch neu bei der Polizei war, hat er seinem Partner in Watts das Leben gerettet.»

«Das muss ganz schön lange her sein, aber ich erinnere mich, davon gehört zu haben.»

«Die beiden hatten den Auftrag, ein paar Gangster zu observieren, die einen Raubüberfall planten. Sie waren schon drauf und dran, einen der Typen hochzunehmen, der gerade einen Illegalen mit dem Kolben seiner Knarre niedergeschlagen hatte, um an sein Geld zu kommen. Aber dann haben ein paar Kumpels von dem Gangster auf sie gefeuert. Petes Partner hat einen Bauchschuss abgekriegt. Pete selbst wurde von einem Patronensplitter an der Nase getroffen. Der ist durch seine verdammte Nasennebenhöhle gegangen und am Ende in seinem Mund gelandet. Er hat das heiße Stück Metall einfach ausgespuckt, seinen Partner mit seinem Körper geschützt und ihn dann zum Mannschaftswagen geschleppt. Und er hatte danach echt noch den Mumm, zurückzuschießen und einen von diesen Schwanzlutschern umzunieten.» Grazzo schüttelte bewundernd den Kopf. «Der war wirklich ein Cop, wie man ihn selten trifft.»

«War sein Vater nicht vor Jahren Captain in Newton?»

«Ja, das war sein alter Herr», erwiderte Grazzo. «Ist schon vor einer Weile in den Ruhestand gegangen. Pete hatte erst dreizehn hinter sich, als er letztes Jahr seine Uniform an den Haken gehängt hat.»

«Und warum hat er nicht auf die Rente nach zwanzig gewartet?»

«Wer weiß.»

«Irgendwas Interessantes in seiner Akte?»

«Er hat ein paar Beschwerden wegen unverhältnismäßiger Gewaltanwendung. Aber soweit ich das beurteilen kann, war er bloß ein ziemlich hartgesottener Straßencop, der seinen Job gemacht hat und ab und an auf ein paar Jammerlappen gestoßen ist. Egal, jedenfalls ist der Boss ganz heiß auf diesen Fall. Er und Relovichs alter Herr kannten sich gut. Sie waren Frischlinge zusammen auf der alten Polizeiwache in Venice. Das hier ist für den Chief eine persönliche Angelegenheit.»

«Lebt der Vater noch?»

«Nein. Herzinfarkt vor fünf Jahren. Aber der Chief will diesen Fall aufgeklärt haben. Findet, dass er das dem alten Mann schuldig ist.»

«Wo hat Relovich denn gewohnt?»

«San Pedro.»

«Und warum kümmert sich das Harbor-Morddezernat nicht um den Fall?»

«Warum wohl hat der Chief wieder eine Spezialeinheit für Kapitalverbrechen eingerichtet, nachdem man sie in den Neunzigern abgeschafft hatte?»

Duffy fragte sich, ob es eigentlich Voraussetzung für den Posten eines Vize-Chiefs war, dass man auf jede Frage mit einer Gegenfrage reagierte – und sie dann auch noch selbst beantwortete.

«Macht», fuhr Grazzo fort. «Er hat jetzt die Macht, den Säcken von den Bereichskommissariaten jeden beliebigen Fall abzunehmen – von kleinen Ordnungswidrigkeiten bis hin zu Mord – und ihn den Jungs von der Spezialeinheit zu übergeben. Sie sind angeblich …» – Grazzo machte eine bedeutungsvolle Pause – «… die besten Detectives in der Stadt. Und der Chief will nun mal, dass sich nur die Besten mit diesem Fall befassen.»

«Schwerverbrechen», warf Duffy ein.

«Was?», fragte Grazzo.

«Damals in den Neunzigern war es die Einheit für Schwerverbrechen.»

«Ist doch scheißegal, wie sie damals hieß.»

«Okay», sagte Duffy. «Ich übergebe den Fall sofort dem Bereitschaftsdienst.»

«Der Chief will aber nicht, dass die Bereitschaft ihn kriegt.»

«Wir machen das aber immer so, das weißt du doch», wandte Duffy ein.

«Der Chief will bei diesem Fall aber nichts riskieren. Er will deinen besten Ermittler. Den Besten der Besten, um es mal so zu sagen. Also, wen schlägst du vor?»

Duffy strich sich über den Nacken. «Mal sehen. Saito ist mein bester Mann, was die Analyse von Tatorten angeht. McKay ist der Beste im Verhör. Griego hat früher im Harbor-Bezirk gearbeitet und kennt die ganzen Gangs und Drogensüchtigen da unten, also wäre er wohl eine gute Wahl. Raymond ist ziemlich hartnäckig, und er wird …»

«Der Chief will aber den Allerbesten – in allem.»

«Mein Allerbester hat aber vor elf Monaten gekündigt.»

«Und wer war das?»

«Ash Levine.»

Grazzo tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. «Asher Levine? Der Typ, der in das Latisha-Patton-Fiasko verwickelt war?»

Duffy nickte. «Genau. Hat mir gar nicht gepasst, ihn zu verlieren.»

«Du hast ihn beurlaubt, oder?»

«Hab ich. Hätte nie gedacht, dass er kündigen würde.»

«Zu kündigen, bloß weil er mal durchgedreht ist und beurlaubt wird? Das klingt nach ziemlich schwachen Nerven.»

«Eigentlich nicht. Er steckte nur schon ziemlich tief in diesem Fall.»

«Und was macht er jetzt?»

«Sitzt auf seinem Arsch. Macht hie und da ein bisschen den Laufburschen für seinen Bruder, der eine Kanzlei hat.»

«Jude?», fragte Grazzo.

Duffy nickte.

«Was bringt denn einen schlauen Juden dazu, auf die Straße zu gehen und Bulle zu werden?»

«Levine ist ein merkwürdiger Vogel. Kriegsveteran ist er übrigens auch.»

Grazzo hob seinen Kaffeebecher mit dem US Marines-Motto Semper fidelis, tat so, als proste er Duffy zu und nahm einen Schluck. «Jetzt sag nicht, dass er bei den Marines war.»

«Nein. Er war beim israelischen Militär, bei den Israeli Defense Forces. Hat das College abgebrochen, ist nach Israel gezogen und hat sich dort bei der Armee gemeldet. Ich kenne ihn, seit er hier auf Streife gegangen ist, und ich sage dir, er ist wirklich ein verdammt guter Detective. Der denkt überhaupt nicht wie ein normaler Mensch. Er sieht das, was andere übersehen. Ich kann mich noch erinnern, wie wir damals beide im Bezirk Pacific angefangen haben. Er war damals erst ein junger Streifenpolizist. Als wir einmal einen Tatort untersuchten, da …»

«Du bist doch wirklich ein verdammt geschwätziger Ire», bemerkte Grazzo.

Duffy zuckte die Achseln.

«Willst du ihn zurück?», fragte Grazzo.

Duffy nahm sich ein Kleenex aus der Packung auf Grazzos Schreibtisch und wischte sich die Stirn ab.

«Er geht mir furchtbar auf die Nerven. Aber ja, ich fände es toll, wenn er wieder da wäre.»

«Dem Chief hat es gar nicht gefallen, dass die Latisha-Patton-Sache die ganze Presse gegen uns aufgebracht hat, aber er wollte Levine deswegen natürlich nicht verlieren. Er fand seine Arbeit am Spring-Street-Killer-Fall außergewöhnlich gut.» Grazzo zog an seinem Kragen. «Wie viele waren’s noch – vier, fünf Opfer, bevor er diesen Psychopathen dingfest gemacht hat?»

«Ein glattes halbes Dutzend», korrigierte ihn Duffy.

«Dann hol Levine.»

«Und was ist mit den Überprüfungen seines Hintergrunds? Mit dem psychologischen Eignungstest und diesem ganzen anderen Vorschriftenquatsch?»

«Ich beschleunige den Papierkram und stelle ihn erst mal befristet ein. Du machst für ihn einen Termin beim Dienstpsychologen. Den Rest kann er nächste Woche erledigen. Kannst du ihn jetzt herschaffen?»

«Heute?»

«Ja, heute.»

«Ich weiß nicht, ob ich ihn heute Nachmittag finden kann.»

Grazzo warf einen Blick auf seine Armbanduhr und runzelte die Stirn.

«Aber ich weiß, wo er heute Abend ist», fügte Duffy hinzu.

«Und wo?»

«Wo ist wohl ein geschiedener jüdischer Polizist – ohne Kinder und Privatleben – an einem Freitagabend?»

Grazzo runzelte erneut die Stirn. Er mochte es gar nicht, wenn jemand anders – besonders jemand, der in der Befehlskette der Los Angeles Police unter ihm stand – auf eine Frage mit einer Gegenfrage reagierte und sie dann auch noch selbst beantwortete.

Duffy kicherte und sagte: «Bei seiner Mutter.»

 

Duffy fand einfach keinen Parkplatz vor der Doppelhaushälfte von Mrs. Levine, also parkte er zwei Blocks weiter und schlenderte den Bürgersteig entlang. Unter seinen Füßen knirschten die trockenen Palmwedel, die nach dem windigen Nachmittag überall auf der Straße herumlagen. Er erinnerte sich daran, wie er diese Straße als junger Streifenpolizist im Wilshire-Bezirk entlanggefahren war. Die anderen Polizisten hatten das Viertel östlich von Fairfax und südlich von Pico den «Borschtsch-Gürtel» genannt, weil hier so viele osteuropäische Juden wohnten. Die Wohngegend wirkte immer noch bescheiden, überall standen Doppelhäuser und kleine Mehrfamilienhäuser; aber damals war es hier sauber gewesen, und die Gärten hatten gepflegt und ordentlich ausgesehen. Inzwischen war das Viertel ziemlich heruntergekommen, wie Duffy feststellte. Der Putz an einigen Wohnhäusern platzte ab, dicke Büschel Gras wuchsen im rissigen Asphalt der Auffahrten, und die winzigen Vorgärten vor den meisten Doppelhäusern waren nur noch staubige, von Unkraut überwucherte Flecken. Rostige Klimaanlagen ragten aus einigen Fensterrahmen; hier und da standen ein paar mitgenommene und dann vergessene Einkaufswagen herum.

Ein paar ältere Juden wie Levines Mutter lebten hier noch, aber Duffy bemerkte auch einige Kinder aus lateinamerikanischen Einwandererfamilien, die in Windeln vor den Häusern spielten. Ein paar mürrische schwarze Jugendliche mit blauen Nylonbandanas auf dem Kopf lehnten lässig an den geparkten Autos am Straßenrand. Die Mansfield-Family-Gang hatte an die Garagentore ihr Zeichen gesprüht. Duffy ging den gepflasterten Weg zur Doppelhaushälfte hoch, die Mrs. Levine gemietet hatte. Das Gebäude lag eingeklemmt zwischen zwei Wohnhäusern – gesichtslosen sandfarbenen Kästen mit Wasserflecken an der Fassade direkt unter dem Dach. Das Doppelhaus hatte ein rotes Dach, schmiedeeiserne Außenleuchten und einen kleinen Vorgarten. Es musste früher von geradezu herrschaftlicher Eleganz gewesen sein. Aber inzwischen waren die Dachziegel zerbrochen, die Leuchten verbogen und schief; und die Holzstufen, die nach oben führten, bogen sich in der Mitte durch.

Duffy warf einen Blick um die Hausecke – alle Fenster waren mit dicken schwarzen Gittern gesichert – und trat dann seine Schuhe an der Fußmatte ab. Bevor er klingelte, hielt er einen Moment inne, um sich ein paar unterschiedliche Eröffnungssätze für das Gespräch zurechtzulegen und zu überlegen, welche davon am meisten Erfolg versprachen.

Kapitel 1

Ich hatte mich gerade durch das Birkat Hamason gemurmelt, das Dankgebet nach dem Essen, als es an der Tür klingelte. Lieutenant Duffy rief: «Mach die Tür auf, Ash! Ich weiß, dass du da drin bist.»

Meine Mutter tappte durch das Zimmer und spähte durch den Spion. Dann warf sie mir einen kurzen, gequälten Blick zu, eine Mischung aus Ärger und Furcht, und öffnete die Tür.

«Schabat Schalom, Mrs. Levine», grüßte Duffy und lächelte. Er nahm ihre Hand und tätschelte sie behutsam.

Sie funkelte ihn an.

«Ich habe ein bisschen Hebräisch gelernt. Im Priesterseminar hatte ich einen Kurs in vergleichenden Religionswissenschaften.»

«Nur ein winziges bisschen, nehme ich an.»

Er schwatzte einfach weiter und versuchte, meine Mutter damit einzuwickeln. Ich saß zusammengesunken auf einem Stuhl im Esszimmer. Mein Kopf fühlte sich plötzlich so an, als hätte ihn jemand in einen Schraubstock gezwängt. Sofort stand ich wieder an der Ecke der 54th und Figueroa Street. Latisha Patton lag vor mir auf dem Bürgersteig, ihr Kopf in einer Pfütze aus Blut. Überall waren Schädelsplitter und schmierige Gehirnmasse. Warum? Nur wegen meiner Dummheit. Oder Unfähigkeit. Oder Nachlässigkeit. Oder wegen allem zusammen. Es fühlte sich an, als hätte ich sie mit meinen eigenen Händen getötet. Im gesamten letzten Jahr hatte ich versucht, die quälende Erinnerung an jenen Nachmittag zu verdrängen. Und jetzt brachte Duffys Anblick alles wieder zurück. Ich legte meine Hände in den Schoß. Ich bemerkte, dass sie feuchte Abdrücke auf den hölzernen Armlehnen hinterlassen hatten.

Meine Mutter sah kurz zu mir hinüber. Wie immer konnte sie sofort erkennen, was in mir vorging. Dann wandte sie sich wieder Duffy zu und flüsterte so laut, dass ich es hören konnte: «Ich wünschte, Sie würden ihn endlich in Ruhe lassen.»

In diesem Moment wirkte sie ganz besonders klein und zerbrechlich. Ihr Gesicht war blass und voller Sommersprossen; und das hellrote Haar hatte sie sich mit viel Haarspray so kugelförmig frisieren lassen, dass es fast aussah, als trüge sie einen Football-Helm. Aber sie verfügte über eine Energie, durch die sie auch körperlich sehr beeindruckend wirkte. Wenn die Leute jedoch realisierten, dass sie nur etwa einen Meter fünfzig groß war, waren sie regelmäßig überrascht. Selbstverständlich wirkte neben Duffy so ziemlich jeder klein und zerbrechlich: Er war fast zwei Meter groß und seine Figur irgendwo zwischen «kräftig» und «dick» einzuordnen – wie ein Football-Spieler, der seine besten Jahre hinter sich hatte.

«Ich brauche nur ein paar Minuten mit Ihrem Sohn», sagte Duffy. «Dann bin ich sofort wieder weg.»

Ich sah, dass meine Mutter schmerzhaft verwirrt war, zerrissen zwischen dem Wunsch, Duffy auszuschimpfen, und dem durch das Gebot der Höflichkeit ausgelösten Drang, ihm etwas zu essen anzubieten.

«Schon gegessen?», murmelte sie schließlich durch die zusammengepressten Zähne hindurch, als ob die Worte ganz gegen ihren Willen aus ihr herausdrängten.

«Hatte gerade ein köstliches Abendessen mit meiner eigenen lieben Mutter.»

Duffy ließ sich auf einen Stuhl mir gegenüber sinken, der mit einer Plastikschutzfolie bezogen war. Ich roch seinen Atem – Bier vermischt mit Tic Tacs – und wusste genau, dass er die vergangene Stunde auf keinen Fall bei seiner Mutter verbracht, sondern im El Compadre am Echo Park ein Bier nach dem anderen gezischt hatte. Dort hingen die Kollegen von der Spezialeinheit für Kapitalverbrechen fast immer ab.

«Aber», fügte Duffy hinzu, «eine Tasse Kaffee und vielleicht eine Scheibe von Ihrem Challah würde ich nicht ablehnen.» Zwischen zwei tropfenden Kerzen lag ein großer brauner Hefezopf auf einem Brett mitten auf dem Esszimmertisch. «Früher hat Ash manchmal Sandwiches aus Ihrem köstlichen Challah gemacht und mitgebracht, und hin und wieder war er so nett, mir davon etwas abzugeben.»

Sie rollte mit den Augen und stapfte in die Küche. Ich stand auf und ließ mich aufs Sofa fallen.

Duffy sah sich im Wohnzimmer um, das ganz in einem blassen Selleriegrün gehalten war – die Wände, der Teppichboden, die Porzellanlampen, die verblichenen seidenen Lampenschirme und das mit Chintz bezogene Sofa. «Deine Mutter scheint eine Schwäche für Grün zu haben.»

«Du musst ein Detective sein», entgegnete ich sarkastisch.

«Sie ist vermutlich eher der zwanghafte Typ – so wie du», sagte Duffy und lächelte dabei.

Das sieht ihm ähnlich, dachte ich. Er setzte sich einfach über das offensichtliche Unbehagen meiner Mutter und über meine Gefühle hinweg und fühlte sich wie zu Hause. Duffy hatte die unschlagbare Fähigkeit, locker in ein Wohnzimmer voller bullenfeindlicher Bandenmitglieder mitten im Problemviertel South Central hineinzumarschieren, mit grenzenlosem Selbstvertrauen einen Witz zu reißen, die angespannte Atmosphäre zu entspannen und dann auch noch seine Fragen zu stellen. Das hatte ich immer an ihm bewundert. Vielleicht war es seine schiere Größe. Er hatte Präsenz, und die verlangte Aufmerksamkeit. Vielleicht erinnerte Duffy mit seiner geröteten Haut, seinen mitfühlenden himmelblauen Augen, dem feinen weißen Haar, seiner dröhnenden Stimme und seiner vitalen, redseligen Art die Leute auch einfach an einen freundlichen Gemeindepfarrer. Der irische Akzent verstärkte noch diesen Eindruck. Als Jugendlicher hatte Duffy zwei Jahre in einem Priesterseminar zugebracht, und das verschaffte ihm einen riesigen Vorteil. Ein Mörder aus San Salvador, der später ein Geständnis ablegte, hatte mir einmal gesagt, ein Verhör mit Duffy wäre fast so etwas wie eine Beichte bei un padre con placa – bei einem Pfarrer mit Dienstmarke.

Ich hatte Duffy bei einem Mordfall im Polizeibezirk Pacific kennengelernt. Damals war ich noch ein junger Streifenpolizist und er der leitende Detective. Die anderen Cops standen bei den Mannschaftswagen herum und tranken Kaffee. Ich ging am gelben Absperrungsband entlang und entdeckte plötzlich eine Kugel im Kaliber .40, die in einen der hölzernen Stützbalken der Veranda eingedrungen war, direkt am Nebeneingang des Tatorts. Die Kugel führte Duffy zur Mordwaffe und die wiederum zum Mörder. Nach dieser Sache bat mich Duffy bei seinen Mordfällen immer um Hilfe. Manchmal ließ er mich sogar die weniger wichtigen Zeugen verhören. Als er dann das Morddezernat in South Central übernahm, stellte er mich ein, um mich als Detective auszubilden. Als ich mein Abzeichen endlich hatte, schmiss er in der Polizeischule sogar eine Party für mich. Jahre später, als er schon Lieutenant geworden war und ihm die Leitung der Spezialeinheit für Kapitalverbrechen übertragen wurde, war ich einer der Ersten, die er zu sich holte.

Natürlich hatte ich eine Schwäche für Vaterfiguren, und Duffy war genau der Richtige dafür. Mein eigener Vater hatte Treblinka überlebt und war so sehr mit seinen eigenen Dämonen beschäftigt, so distanziert und gequält, dass er nicht mehr viel Gefühl für seine Söhne übrig hatte. Aber wo war Duffy gewesen, als ich nach dem Latisha-Patton-Debakel wirklich väterliche Unterstützung und Führung nötig gehabt hätte? Alles, was er mir damals gab, waren zwei Wochen Beurlaubung und eine offizielle Rüge, die in meiner Akte vermerkt wurde. Jetzt machte mich Duffys Anblick nicht mehr wütend, sondern nur noch sehr traurig. Der Verrat war so schwer gewesen, dass ich ihn immer noch in der Magengrube spüren konnte. Im letzten Jahr hatte ich mir so oft vorgestellt, wie ich ihn beschimpfen würde, wenn ich ihn zufällig träfe – wie ich ihm vorwerfen würde, dass es ihm wichtiger gewesen war, seinen eigenen Arsch zu retten, als sich um seine Leute zu kümmern, dass er gar nicht wusste, was Loyalität überhaupt bedeutete, dass er so von Ehrgeiz zerfressen war, dass er für eine Beförderung, ohne mit der Wimper zu zucken, jeden einzelnen seiner Detectives verkaufen würde. Nun hatte ich die Gelegenheit, ihm all das ins Gesicht zu schleudern. Aber jetzt hatte ich einfach nicht die Kraft dazu.

«Deine Mutter gefällt mir», erklärte Duffy unvermittelt. «Sie ist ehrlich. Sie sagt immer, was sie denkt; das war schon früher so. Die Frauen in meiner Familie sind ganz anders. Bei denen war immer alles ganz prima, egal, was wirklich los war. Mein großer Bruder kam jeden Abend völlig besoffen zum Abendbrot und kippte fast auf den Esstisch, aber meine Mutter und meine Tante schafften es jedes Mal, die Sache komplett zu ignorieren.» Er machte ihren hohen, irischen Tonfall nach: «‹Unser armer Brendan muss heute Abend wohl wieder recht müde sein. Der arme Junge arbeitet aber auch wirklich zu hart.›»

Duffy stand auf, ging hinüber zum Kamin und betrachtete das Hochzeitsfoto meiner Eltern auf dem Sims. «Du siehst deiner Mom aber nicht sehr ähnlich.» Er zeigte auf meinen Vater, der schwarzes, welliges Haar und eine olivfarbene Haut gehabt hatte und auf dem Bild starr in die Kamera blickte. «Du schaust genauso aus wie dein Vater. Du hast sogar seinen Charles-Manson-Blick. Wie lange ist er schon tot?»

«Sieben Jahre.»

«Er sieht viel älter aus als deine Mutter.»

«Er war mehr als zwanzig Jahre älter als sie.»

«Du solltest dir ein Beispiel an deinem Vater nehmen und dir ein junges Ding suchen.»

«Sie war gar nicht so jung, als sie geheiratet haben.»

«Bist du nicht das jüngste Kind?»

«Genau. Mein Bruder ist elf Jahre älter als ich. Als ich noch klein war und meine Eltern mit mir in den Park gegangen sind, dachten die Leute, sie wären meine Großeltern.»

Duffy schob seinen Stuhl durch das Zimmer, bis er nur noch ein paar Meter von mir entfernt saß.

«Das hab ich in der Polizeischule auch gelernt», bemerkte ich.

«Was meinst du?»

«Den Abstand zwischen dir und dem Verdächtigen verringern. In seinen Bereich eindringen, damit er sich unbehaglich fühlt. Druck aufbauen. Ihn dazu zu bringen, das zu machen, was du willst.»

Duffy lachte. Es war ein herzliches Lachen, das tief aus dem Bauch kam. «Ich habe viel zu lange Akten hin und her geschoben. Ich muss dringend wieder raus auf die Straße. Ich verliere meinen Biss.»

«Du willst mich also zurück.»

Duffy sah ehrlich erschrocken aus. «Woher weißt du das?»

«Sonst gibt es ja wohl keinen Grund für dich hierherzukommen.»

«Ja. Ich will dich zurück. Ich wollte nie, dass du gehst.»

«Und warum hast du mich dann beurlaubt? Warum hast du mir dieses feige Briefchen ins Gepäck gesteckt?»

Duffy legte ein Bein über das andere und zog sorgfältig die Socke zurecht. Dann schaute er mich fast feierlich an und sagte: «Hatte keine Wahl. Und wenn ich nicht …»

«Dann hätte jemand vielleicht dich hinterfragt, deine Urteilsfähigkeit angezweifelt und untersucht, wie du deine Einheit leitest?»

«Hör mal, Ash, vielleicht verstehst du es jetzt noch nicht. Aber eines Tages leitest du vielleicht deine eigene Einheit, und dann musst du auch ein paar schwierige Entscheidungen treffen, die …»

«Das bezweifle ich», unterbrach ich ihn. «Und ich höre mir diesen Scheiß nicht länger an. Ich hab mir für dich den Arsch aufgerissen. Ich hab für dich einen Haufen Fälle gelöst. Hab dich verdammt gut aussehen lassen. Immer wenn man dir einen dieser undankbaren Fälle aufgedrückt hat, den niemand anders wollte, hast du keine Sekunde gezögert, mich anzurufen, selbst wenn es drei Uhr morgens gewesen ist. Und ich bin immer angerannt gekommen. Aber als ich ein einziges Mal in Schwierigkeiten geraten bin und dich wirklich gebraucht hätte, hast du mich einfach nackt im Wind stehenlassen.»

«Bist du jetzt fertig?», fragte Duffy.

«Nein, ich bin noch nicht fertig. Ich will dir eine Frage stellen: Nachdem du mich so hast hängenlassen – warum sollte ich da zurückkommen?»

«Weil du diesen Job willst. Weil du diesen Job brauchst. Weil du es vermisst, Detective zu sein, und zwar an jedem einzelnen Tag.»

Ich atmete tief ein und heftig wieder aus. Das war typisch für Duffy, dachte ich. Er schaffte es immer, deinen Widerstand zu brechen, indem er einfach eine tiefe Wahrheit ansprach, die dich stotternd dasitzen ließ. Auf diese Weise leitete er eine Einheit großspuriger, besserwisserischer männlicher Primadonnen, von denen jeder einzelne glaubte, der beste Detective der Stadt zu sein.

In diesem letzten Jahr hatte ich mich verloren gefühlt; damit hatte Duffy recht. Aber ich war viel zu wütend und zu stolz gewesen, um wieder angeschlichen zu kommen. Ich hatte geglaubt, Duffy und die gesamte L.A. Police mit meiner Kündigung zu bestrafen. Aber bald hatte ich begriffen, dass ich der Einzige war, der hier bestraft wurde. Es gab mehr als neuntausend Cops in der Polizeibehörde von Los Angeles. Ob es einer mehr oder weniger war, das begriff ich schnell, interessierte niemanden groß. Nur mich. Ich hatte alles verloren. Ohne meinen Job hatte ich das Gefühl, nicht zu existieren.

Aber ich wollte auch wegen des Patton-Falles zur Polizei zurück. Solange die Akte irgendwo ganz hinten in einem staubigen Schrank verschimmelte und der Mörder frei in der Stadt herumlief, würde ich mich immer als Versager fühlen. Ich hatte Latisha Patton im Stich gelassen. Mich selbst im Stich gelassen. Ich hatte meinen Job nicht gemacht, und deshalb hatte ein Mensch sterben müssen. Wenn ich Duffy bei seinem neuen Fall half, konnte ich – ganz nebenbei – auch Pattons Mörder jagen. Als Zivilist hatte ich nicht die Möglichkeiten, den Fall zu verfolgen. Ich musste mein Abzeichen einfach wiederhaben.

Duffy hatte inzwischen die Arme über seinem ansehnlichen Bauch verschränkt und schaute sich mit halb geschlossenen Augen im Zimmer um. Er sah aus wie ein riesiger Buddha. Und ich musste mir selbst eingestehen: Ich war zutiefst erleichtert, dass er mir angeboten hatte zurückzukommen. Aber das würde ich ihm nicht auf die Nase binden. So leicht würde ich es ihm nicht machen.

«Warum sollte ich zurückkommen und für jemanden arbeiten, der sich nicht vor seine Detectives stellt?»

«Ich hab jetzt keine Zeit für diese Spielchen. Hilfst du mir bei meinem neuen Fall – oder nicht?»

«Erzähl mir was darüber, dann überleg ich’s mir.»

Duffy kratzte sich mit dem Daumennagel an der Braue. «Ein Cop im Ruhestand namens Pete Relovich ist letzte Nacht in seinem Haus in San Pedro umgenietet worden. Sein Dad war vor Jahren Captain in Newton. Sieht aus wie ein Einbruch. Kanntest du Pete?»

«Nein. Aber ich bin mal seinem alten Herrn über den Weg gelaufen. Vor Jahren an einem Tatort.»

«Ich will, dass du zurückkommst und die Ermittlungen übernimmst.»

«Warum beschäftigt sich die Spezialeinheit für Kapitalverbrechen mit einem Einbruch bei einem Cop in Rente? Klingt doch eigentlich nach einem Routinejob.»

«Der Chief war ein Freund vom alten Herrn des Knaben.»

«Und warum gerade ich?»

«Der Chief will meinen besten Ermittler. Also bitte ich meinen besten Ermittler zurückzukommen. Grazzo hat mir sein Okay gegeben. Er beschleunigt die Angelegenheit für dich. Du kannst sofort wieder anfangen und den Verwaltungskram in den nächsten Tagen erledigen.»

Meine Mutter kam aus der Küche mit einem Tablett, auf dem zwei Kaffeebecher, eine Zuckerdose und Kaffeeweißer auf pflanzlicher Basis standen. Sie nahm zwei Stücke Challah vom Tisch und legte sie auf einen Teller, den sie vor Duffy hinstellte.

«Vielen Dank, Mrs. Levine», sagte er. «Darf ich Sie um etwas Butter für die Challah bitten?»

«Haben sie euch im Priesterseminar nichts darüber erzählt, dass es uns verboten ist, Milchprodukte und Fleisch zu mischen?», entgegnete sie vorwurfsvoll. «Wir hatten Rinderbrust zum Abendbrot.»

Duffy lachte und antwortete: «Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich Polizist geworden bin und nicht Pfarrer.»

«‹Gott sei Dank dafür›, sagen sie bestimmt in den irischen Gemeinden», grummelte sie und tappte wieder in die Küche.

Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee und erklärte: «Also hast du Grazzo dazu gebracht, mich zurückzunehmen. Da hast du ja gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Du büßt ein wenig von deiner katholischen Schuld ab und kriegst noch dazu jemanden für deine Spezialeinheit. Du hast dich doch immer darüber beschwert, dass du nicht genügend Leute hättest. Jetzt kriegst du einen gratis ohne irgendeinen Zank mit der Personalabteilung. Wahrscheinlich hast du Grazzo gesagt, dass ich der Einzige bin, der diesen Fall lösen kann.»

«Du bist wirklich zu schlau, um als einfacher Zivilbeamter zu versauern.» Duffy rührte langsam einen Löffel Zucker in seinen Kaffee und gestand, ohne aufzublicken: «Ich habe Grazzo das tatsächlich so gesagt – im Wesentlichen.» Er legte die Hand auf sein Herz. «Aber hör mir mal zu, Ash, mein Junge: Alles, was ich dir erzählt habe, ist trotzdem Gottes reine Wahrheit.» Während er sprach, wurde sein Akzent mit jedem Wort stärker. «Ich finde wirklich, dass du der beste Detective bist, den ich …»

«Wann ist deine Familie eigentlich aus Cork eingewandert?», fragte ich.

«Als ich zehn war. Warum?»

«Wenn du versuchst, aufrichtig zu wirken, sprichst du plötzlich mit besonders starkem Akzent.»

«Ich hasse …»

«Als dein Landsmann Brian Callaghan zum Vize-Chief befördert wurde – und er ist erst hier ins Land gekommen, als er neunzehn war, nicht schon mit zehn Jahren wie du –, wurde dein Akzent plötzlich viel stärker.»

«Das ist nicht wahr.»

«Und als er in den Ruhestand ging, wurde dein Akzent ganz schnell wieder schwächer.»

«Das ist doch der allerletzte Schwachsinn. Außerdem hat es nichts damit zu tun, warum ich hier bin. Lass uns aufhören, unsere Zeit zu verschwenden. Ich bitte dich zurückzukommen. Also triff deine Entscheidung. Wie lautet sie?»

Meine Mutter trat wieder ins Zimmer. Ich wusste sogleich, dass sie gelauscht hatte.

«Warum können Sie ihn nicht in Ruhe lassen?», fragte sie Duffy.

«Weil die Polizei in dieser Stadt ihn braucht. Weil ich ihn brauche.»

«Hat die Polizei in dieser Stadt ihn nicht schon genug verletzt?», sagte sie. «Diese Latisha-Patton-Sache war schlimm für meinen Sohn. Er hat schon so oft sein Leben für Ihre Abteilung riskiert. Er hat so viele Fälle für Sie gelöst. Er hat alles für die Polizei aufgegeben. Und wie behandeln die – wie behandeln Sie ihn? Wie Dreck. Doch egal; jetzt denkt er ohnehin daran, Jura zu studieren. Er hat schon für die Aufnahmeprüfung gelernt.»

«Braucht die Welt wirklich noch einen Rechtsanwalt?», fragte Duffy. «Sie haben doch schon einen Sohn, der Rechtsanwalt ist. Warum wollen Sie noch einen? Ich gebe zu, dass Ash vermutlich ein guter Rechtsanwalt wäre – für jemanden, der erst so spät damit anfängt. Aber er ist bereits ein phantastischer Detective. Ein brillanter Junge. Wirklich begabt. Warum soll er nicht das tun, was er am besten kann?»

Sie schürzte die Lippen und sagte dann, an mich gewandt: «Weißt du noch, wie sehr sich dein Vater aufgeregt hat, als er dich zum ersten Mal in Uniform gesehen hat? Er hat nur die Uniform gesehen und sofort an das eine gedacht – an diese SS-Schergen, die …»

«Es reicht!», schrie ich. «Warum muss alles in dieser Familie immer damit zu tun haben? Warum endet jede Diskussion in diesem Haus in Hysterie?»

«Du bist meschugge, wenn du dahin zurückgehst», sagte sie. «Du brauchst den Zores nicht. Denk dran, dein Bruder hat versprochen, dass er dich einstellt, sobald du die Universität abgeschlossen hast.»

«Marty muss erst mal den Entzug hinter sich bringen», entgegnete ich angewidert. «Warum ist es eigentlich ehrenhafter, einen drogensüchtigen Rechtsanwalt als Sohn zu haben als einen Polizisten ohne Suchtprobleme?»

«Eine goische Parnosse», murmelte sie. Ein unjüdisches Geschäft. «Dein Vater hatte immer den Traum, dass du und Marty einmal eine Kanzlei unter dem Namen Levine & Levine eröffnet.»

«Jetzt fährst du aber ganz schwere Geschütze auf.»

«Ich mach mir doch nur Sorgen, dass man dich verletzt», sagte sie. «Ich will nicht schon wieder nächtelang wach liegen und voller Angst daran denken müssen, dass möglicherweise irgend so ein Schwarzer dich in Watts erschießt.»

«Mom, ich habe seit Jahren nicht mehr in South Central gearbeitet.»

Duffy nahm ihre Hand in seine beiden und erklärte: «Ein Ex-Cop ist umgebracht worden. Er hat eine Mutter, die um ihn trauert. Der Mörder schlägt bestimmt wieder zu, wenn wir ihn nicht aufhalten. Es ist eine ehrenvolle Arbeit, Mrs. Levine. Das wissen Sie. Deshalb ist es Ash so wichtig, und deshalb gibt er jedes Mal alles …»

Ich hob die Hand. «Spar dir die großen Reden für das El Compadre auf. Ich habe ein paar Bedingungen.»

«Ich höre», sagte Duffy.

«Meine Rentenansprüche laufen von meinem Austrittsdatum an lückenlos weiter.»

«Ich glaube, das lässt sich regeln.»

«Ist mir egal, was du glaubst. Ich will eine Garantie.»

«Okay. Ich sorge dafür, dass das klappt.»

«Bei diesem Fall will ich nicht wieder monatelang auf die Ergebnisse der Spurensicherung und ein Jahr auf die genetische Analyse warten – wie das sonst immer bei der L.A. Police läuft. Ich will, dass du deine Schäfchen um dich scharst, Grazzo unter Druck setzt und mir versprichst, dass ich alles innerhalb von ein paar Wochen habe.»

«Du weißt genau, dass ich das nicht versprechen kann.»

«Dann such dir jemand anderen.»

Duffy steckte die Hand in seine Hosentasche und spielte mit seinen Schlüsseln. «Okay. Eine Schneise durch den Verwaltungsapparat der Polizeibehörde zu schlagen ist zwar so, als wollte man einen Berg versetzen. Aber ich krieg das hin.»

«Nach dieser Scheiße, die im Latisha-Patton-Fall passiert ist, gibt es nicht mehr viele Leute, denen ich vertraue. Wenn du mir einen Partner zuteilst, will ich Oscar Ortiz.»

«Er hat aber schon einen Partner. Ich kann ihn jetzt nicht loseisen.»

«Dann arbeite ich allein.»

«Die Idee gefällt mir nicht, und das ist auch nicht …»

«Wenn du mich zurückwillst, dann machen wir es genau so.»

«Aber nur bei diesem ersten Fall», wandte Duffy ein.

Ich ging durch das Zimmer und nahm eine braune Lederjacke aus dem Schrank. «Ich will heute Abend noch zu Relovichs Haus.»

Meine Mutter drohte mir mit dem Zeigefinger. «Einen Mörder am Schabbes jagen. Das ist eine Schande. Du solltest dich was schämen …»

«Und was ist mit Pikuach nefesch?», unterbrach ich sie.

«Was bedeutet das denn?», wollte Duffy wissen.

«Leben retten», erklärte ich. «Das jüdische Gesetz erlaubt es, die Sabbatgesetze zu brechen, um Leben zu retten. Wenn ich zum Beispiel Arzt wäre …» Ich wandte mich an meine Mutter. «Und vielleicht rette ich ja tatsächlich Leben. Wenn ich diesen Typen nicht schnell erwische, kann es sein, dass er noch mal zuschlägt.»

Sie wedelte mit der Hand in der Luft herum. «Ich kann es nicht gutheißen …»

«Das will ich gar nicht hören», schnitt ich ihr erneut das Wort ab.

Sie seufzte schwer. «Ich will doch nur, dass du glücklich bist. Ich weiß doch, dass du in der letzten Zeit nicht froh warst. Wenn es dich also glücklich macht zurückzugehen, dann geh eben zurück. Meinen Segen hast du.»

«Danke, Mom.»

Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und sagte: «Zay gezunt.»

Kapitel 2

Wir gingen den schmalen gepflasterten Weg zum Bürgersteig hinunter. «Ich musste zwei Blocks weiter parken», beschwerte sich Duffy. «Hier gibt es wirklich keinen einzigen freien Parkplatz. Vermutlich leben hier immer noch viele Juden, die bis morgen Abend, wenn die Sonne untergeht, nicht fahren dürfen.»

Ich war nicht in der Stimmung, mit Duffy zu plaudern. Eigentlich wäre ich lieber allein zum Tatort gegangen. Aber da ich mich ja hatte breitschlagen lassen, zur Polizei zurückzukommen, durfte ich es mir nicht mit ihm verderben. Ich musste dafür sorgen, dass unser Verhältnis gut blieb, sonst wäre es sinnlos zurückzukehren. Er war nun mal mein Chef, und dagegen konnte ich nichts tun. Ich würde schon noch die Gelegenheit haben, ein ernstes Wörtchen mit ihm zu reden. Aber jetzt noch nicht.

Duffy trat eine alte Bierdose in den Rinnstein. «Diese Straße ist total runtergekommen. Du solltest deine Mom hier rausholen.»

«Hab ich schon versucht. Aber sie kann von hier aus zu Fuß zur Synagoge gehen. Und ihre Hadassah-Frauengruppe trifft sich nur ein paar Blocks entfernt.» Meine Mutter war ein recht aktives Mitglied dieser zionistischen Frauenorganisation. «Außerdem wohnt eine ihrer Klatschtanten immer noch hier in derselben Straße. Deswegen rührt sie sich nicht vom Fleck.»

Duffy gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf. «Sie ist ganz schön störrisch – genau wie ihr Sohn.»

Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück. Familien auf dem Weg zur Synagoge kamen an uns vorbei. Die Männer trugen schwarze Anzüge und die Kippa auf dem Kopf, die Frauen ausladende Hüte. Sie schoben Kinderwagen vor sich her und hielten kleine Jungen mit langen Schläfenlocken an der Hand. An der Straßenecke gingen wir an einem Doppelhaus vorbei, dem Haus von Mrs. Pearl, der letzten Freundin meiner Mutter, die hier noch wohnte. Ihr Garten war einer der wenigen, in denen es grünte. Der Hibiskus im kleinen Vorgarten blühte blutrot, und die Blüten an den dichten Oleanderbüschen schimmerten milchig weiß. Ein laues Lüftchen trug den Duft von Gardenien herüber.

Schließlich kamen wir bei Duffys Ford Crown Victoria an und stiegen ein. Wir rasten hinunter nach Fairfax, bogen in den Santa Monica Freeway und fuhren dann auf dem Harbor Freeway in südliche Richtung, nach San Pedro.

«Wie ist denn eigentlich der Stand im Patton-Mordfall?», erkundigte ich mich unterwegs. «Wenn er inzwischen aufgeklärt wäre, hätte ich doch sicher etwas in der Zeitung gelesen.»

«Immer noch ungelöst.»

«Wer arbeitet daran?»

«Nach all dem Lärm darum musste ich ihn abgeben», antwortete Duffy mit einem säuerlichen Zug um den Mund. «Die Jungs vom South-Bureau-Morddezernat kümmern sich darum.»

Nachdem Duffy und ich die Einheit verlassen hatten, war sie in «Dezernat für kriminelle Gruppierungen» umbenannt worden, aber alle nannten sie immer noch South-Bureau-Morddezernat. «Du meine Güte», murmelte ich. «Kriegen die denn was gebacken?»

«Keine Ahnung. Ich bin raus aus der Sache.» Duffy warf mir einen listigen Blick zu. «Ich weiß, dass du dir wahrscheinlich denkst, du könntest nebenbei am Patton-Fall weiterarbeiten, während du mit Relovich beschäftigt bist. Hier ein kleines Gespräch führen, dort ein paar Verdächtige überprüfen. Also – schlag dir das aus dem Kopf. Ich will den vollen Druck in der Relovich-Sache. Ich will nicht, dass du abgelenkt bist. Dieser Patton-Fall hat dir schon genug Kummer gemacht. Lass die Typen vom South Bureau das regeln. Und du lässt schön die Finger davon.»

«Ich dachte nur …»

«Ich will, dass du nur noch über den neuen Fall nachdenkst. Vergiss Patton. Konzentrier dich auf Relovich. Bevor ich zu dir gekommen bin, habe ich den Lieutenant vom Harbor-Dezernat angerufen, und er hat mich kurz ins Bild gesetzt. Der Mord muss gestern Nacht passiert sein. Der Gerichtsmediziner setzt den Zeitpunkt des Todes auf dreiundzwanzig Uhr an. Wahrscheinlich ist das Schwein durch ein Fenster an der Rückseite des Hauses geflohen. Höchstwahrscheinlich ein Junkie-Bruch. Relovichs Brieftasche lag geöffnet herum, und das Bargeld ist verschwunden. Die Exfrau sagt, dass Relovich immer eine alte Hamilton-Armbanduhr und einen Ring mit einem Lapislazuli trug, den er von seinem Vater geerbt hatte. Beides hat man ihm abgenommen. Die Nachbarn sind schon alle überprüft. Keiner hat den Schuss gehört. Niemand hat irgendetwas Verdächtiges auf der Straße bemerkt. Am nächsten Morgen hat ein Nachbar an seine Tür geklopft, der seinen entlaufenen Hund suchte, und weil er keine Antwort bekam, schaute er durch das Fenster und sah die Leiche. Die Ermittler haben eine Kugel im Kaliber .40 gefunden. Keine Hülsen am Tatort.»

Ich nickte, fragte aber nicht weiter. Ich mag es nicht, mit zu vielen Informationen im Kopf zu einem Tatort zu kommen. Wenn ich mich vorher auf eine spezielle Theorie einschieße, habe ich einen Tunnelblick, und dann übersehe ich vielleicht die entscheidenden Details, die auf den wirklichen Tathergang hinweisen.

Duffy hatte sich inzwischen durch die Innenstadt geschlängelt, und der Verkehr war jetzt nicht mehr so dicht. Er fuhr durch den Süden der Stadt – South Central lag jetzt westlich des Freeways und sein deprimierender Nachbar Watts östlich davon –, vorbei an den Ölraffinerien von Wilmington. Beißende Rauchwolken hoben sich leuchtend weiß gegen den schwarzen Himmel ab. Der Horizont erinnerte an das Negativ eines alten Fotos.

Ich lehnte mich im Sitz zurück, schloss die Augen und versuchte mich an jenen Nachmittag zu erinnern, als meine Fallschirmjägereinheit das Haus eines Terroristen in der West Bank durchsuchte. Ich wartete damals im Wohnzimmer und blätterte durch einen Koran, wo auf jeder Doppelseite nur eine Hälfte mit arabischem Text bedruckt war und daneben die englische Übersetzung stand. Noch immer erinnerte ich mich an einen Absatz, obwohl er mir damals nichts bedeutet hatte: «Wahrlich, es kam über den Menschen eine Zeit, da er nichts Nennenswertes war.» Genau so waren meine letzten elf Monate gewesen, dachte ich nun. Nicht nennenswert. Für die Kanzlei meines Bruders Vorladungen zu schreiben, Zeugen zu finden und die Leute dazu zu bringen, eidesstattliche Erklärungen zu leisten – all das war todlangweilig gewesen. Von Zeit zu Zeit hatte ich einen Blick in das Lehrbuch für die Aufnahmeprüfung an der juristischen Fakultät geworfen, aber ohne jeden Spaß an der Sache. Ich hatte mich verloren gefühlt, gefangen in Selbstgeißelung und Zorn. Ich war wütend auf Duffy gewesen. Wütend auf das Dezernat. Wütend auf mich selbst.

Jetzt erst erkannte ich, wie sehr ich diesen Teil des Jobs vermisst hatte: die Fahrt zum Tatort, wenn das Adrenalin durch das Blut strömte und man noch nicht wusste, was einen erwartete, welche Hinweise und Beweise sich finden würden, welche Spuren der Täter hinterlassen hatte. Ich hatte gerade die Unvorhersehbarkeit der Fälle vermisst. Sie kamen zu jeder Tages- und Nachtzeit und stürzten mich jedes Mal kopfüber ins Ungewisse. Ich hatte es vermisst, die Einzelteile eines Tatorts wie Puzzleteilchen zusammenfügen zu müssen; jedes dieser Puzzles unterschied sich von den anderen, und man musste es ständig auf ganz neue Weise zusammensetzen.

Aber vor allem hatte ich das Leben vermisst: das Leben eines Ermittlers bei einem Mordfall, wo der Einsatz immer hoch ist und alles andere im Vergleich dazu unwichtig erscheint. Der Job hatte alles verschlungen, und das war wie Balsam für meine verwundete Seele gewesen. Jeder einzelne Fall hatte so viel von mir verlangt, dass ich mir den Luxus des Nachdenkens einfach nicht hatte leisten können.

Duffy fuhr in San Pedro vom Freeway ab und parkte hinter dem Harbor-Polizeirevier. Wir nickten ein paar Cops zu, die auf dem Parkplatz standen und rauchten, und durchquerten eine große, mit verschrammtem Linoleum ausgelegte Eingangshalle, in der es nach Erbrochenem, Urin und ungewaschenen Körpern stank. Wir gingen vorbei an den Bänken, an die man Einbrecher, Vergewaltiger, Frauenschläger, Gangmitglieder, Irre, Cracksüchtige und Straßenräuber mit Handschellen gefesselt hatte; vorbei an Betrunkenen, die in Promilletester pusten mussten; vorbei an den Kollegen von der Sitte, die Jeans und Hawaiihemden trugen und kreischende Nutten in Verhörräume stießen. Dann betraten wir das Büro des Chefs der Wache und grüßten den diensthabenden Lieutenant. Er durchwühlte seine Schublade und reichte Duffy einen Umschlag, in dem sich der Schlüssel zu Relovichs Haus befand. Danach verließen wir das Polizeirevier, fuhren Richtung Küste und mussten zu guter Letzt eine steile Anhöhe erklimmen.

Relovich wohnte fast am Ende einer Sackgasse, in einem baufälligen hellblauen, schindelverkleideten Haus mit abblätterndem Anstrich und einem durchhängenden Dach. In meiner Kindheit war das hier eine Arbeitergegend gewesen, in der hauptsächlich kroatische Fischer lebten. Aber dann waren in Los Angeles Häuser mit Meerblick in Mode gekommen, und die Grundstückspreise waren explodiert. Die meisten Fischer hatten ihre Grundstücke an Investoren verkauft, die die bescheidenen Häuschen abrissen und sie durch monströse zwei- oder sogar dreistöckige Bauten ersetzten, die von Grundstücksgrenze bis Grundstücksgrenze reichten. Relovichs Haus, um das jetzt das gelbe Absperrband der Polizei gespannt war, lag eingeklemmt zwischen zwei protzigen grauweißen Schindelhäusern im Cape-Cod-Stil, die bei einem Verkauf sicher mehr als eine Million Dollar einbringen würden.

Ich zog ein Paar Latexhandschuhe, ein paar kleine Plastikbeutel und eine Taschenlampe aus der Holzkiste in Duffys Kofferraum, stopfte alles in meine Hosentasche und ging zu Relovichs Veranda. Dort hielt ich kurz inne und ließ meinen Blick über den Hafen gleiten – über das tintenschwarze Wasser, das nur vom silbrigen Glanz des fast vollen Mondes erhellt war. In der Ferne funkelten die Lichter auf der elegant geschwungenen Vincent-Thomas-Brücke, die San Pedro mit Terminal Island verband. Ein auflandiger Wind, der hier etwas schärfer wehte als in der Innenstadt, trug den Geruch von Tang, Salzwasser und Diesel herüber.

Duffy öffnete die Haustür und schaltete das Licht ein. Ich folgte ihm ins Haus. Innen wirkte es noch heruntergekommener als von außen. Im Wohnzimmer lagen Zeitungen, ungeöffnete Post, Fastfood-Verpackungen und leere Dr.-Pepper-Dosen auf dem Holzfußboden verstreut herum. Fingerabdruckpulver war auf den hölzernen Armlehnen des Sofas, auf dem angeschlagenen Beistelltischchen, den beiden Stühlen neben dem großen Panoramafenster und auf jeder erdenklichen glatten Fläche verteilt worden. Ich atmete tief ein und nickte. Nach einem Jahr der quälenden Orientierungslosigkeit fühlte ich mich endlich wieder angekommen. Genau das hier hatte ich vermisst. Einen Mordfall.

Ich ließ Duffy im Wohnzimmer und ging durch einen Türbogen in die Küche, wo sich das schmutzige Geschirr im Spülbecken stapelte. Fingerabdruckpulver gab es auch hier überall: auf den weißen Küchenschränken ebenso wie auf der Resopal-Arbeitsplatte. Der Geruch nach gekochtem Fleisch und kaltem Zigarettenrauch hing noch im Haus. Ich ging einen engen Flur entlang, der zu Relovichs Schlafzimmer führte. Das Doppelbett war zerwühlt, das Bettzeug schmutzig weiß. Ein altes graues Laken war vor das Fenster gehängt worden.

Ein zweites Schlafzimmer auf der anderen Seite des Flurs überraschte mich, denn es war sauber und hell, und das schmale Bett mit der «Kleine Meerjungfrau»-Tagesdecke war gemacht. An der Wand hing ein Kinderbild mit einem Regenbogen darauf. In einem kleinen Regal an der gegenüberliegenden Wand standen Kinderbücher, und auf dem untersten Bord stapelten sich Zeichentrickvideos. Vermutlich war er geschieden gewesen und hatte seine Tochter nur am Wochenende bei sich gehabt.

Ich ging zu einer hölzernen Kommode, die neben dem Regal stand. In der oberen Schublade lagen Malbücher und eine Dose mit Buntstiften. Die untere war mit Mahnungen, Telefonrechnungen und Briefmarken vollgestopft; zudem gab es noch einen Taschenrechner. Ich griff mir die Umschläge mit den Mahnungen und Telefonrechnungen und ging zurück ins Wohnzimmer.

Duffy stand am Fenster und schaute hinaus auf die Hafenlichter. Als er mich hörte, wandte er sich um und sagte: «Unser Mörder ist dort hineinge …»

Ich unterbrach ihn mit einer entschlossenen Handbewegung.

«Okay, okay», murmelte er. «Ich lass dich ja schon allein.»

Ein paar ziegelrote Schmierflecken auf dem Fußboden direkt vor dem Sofa fielen mir ins Auge. Ich hockte mich hin und untersuchte sie. Nach so vielen Morden bin ich immer noch überrascht, dass getrocknetes Blut so aussieht. Ich erwarte immer noch leuchtend rote Spuren – vielleicht habe ich als Kind einfach zu viele Krimis im Fernsehen gesehen. Aber wenn es trocknet, verliert Blut seine Leuchtkraft. Es wirkt dann eher braun als rot, behält jedoch seinen auffälligen Schimmer. Ich besah mir die Flecken aus verschiedenen Blickwinkeln und schaute zu, wie sie im dämmrigen Licht ihre Farbe veränderten.

Ich schaltete die Taschenlampe ein, stand auf, drehte mich langsam um die eigene Achse und ließ den Lichtstrahl über die Wände wandern. Hinter dem Sofa, etwa in Hüfthöhe, fand ich etwas, das fast wie ein pointillistisches Gemälde aussah: Blutspritzer.

Ich setzte mich auf einen Stuhl, der ein paar Meter von der Couch entfernt stand. Dann streckte ich den Arm in Richtung Sofa aus, hob die rechte Hand – den Daumen hochgereckt, den Zeigefinger ausgestreckt – und sagte leise: «Peng.»

Anschließend wandte ich mich Duffy zu. «Das hier war kein Einbruch. Auch kein Junkie-Überfall. Relovich kannte seinen Mörder.»

Duffy hob eine Augenbraue. «Die Detectives von der Harbor-Wache sagen aber was anderes.»

«Schau dir doch mal die Blutspritzer an», forderte ich ihn ungeduldig auf. «Achte auf die Richtung, in die das Blut gespritzt ist. Es muss ein direkter Schuss von hier aus auf das Sofa gewesen sein. Das Arschloch sitzt auf einem Stuhl, Relovich hängt auf dem Sofa herum. Offenbar sind sie ganz entspannt miteinander. Vermutlich plaudern sie. Und dann, bevor Relovich auch nur mit der Wimper zucken kann, zieht das Arschloch seine Knarre raus und schießt ihm in den Kopf.»

Ich stand auf und trat ans Sofa. «Ein gewiefter Cop wie Relovich wäre längst aufgestanden und auf dem Weg zur Tür gewesen, wenn ein Junkie hier eingebrochen hätte, der nach Geld für den nächsten Schuss suchte. Und kein Junkie hätte sich zum Plaudern auf den Stuhl gesetzt. Er wäre viel zu unruhig und nervös zum Sitzen gewesen.»

«Diese Ermittler von der Harbor-Wache hatten wohl Tomaten auf den Augen», bemerkte Duffy.

«Nein. Sie haben bloß viel zu lange immer die gleiche Art von Morden bearbeitet. Zu viele Schießereien aus fahrenden Autos. Zu viele Schießereien zwischen Drogensüchtigen auf den Straßen. Ein paar von ihnen haben noch nie einen Tatort in einem Haus gesehen. Irgendwelche Nachbarn, die den Schuss gehört haben?»

«Nein.»

«Haben sie auch wirklich alle befragt?»

«Der Lieutenant hat gesagt, dass sie mit jedem Einzelnen auf beiden Seiten der Straße gesprochen haben.»

Ich hockte mich ein paar Meter vor dem Sofa nieder und untersuchte ein paar winzige ovale Spritzer getrockneten Bluts.

«Was hat der Lieutenant gesagt – haben sie Relovich auf dem Sofa oder auf dem Fußboden gefunden?»

«Fußboden», antwortete Duffy.

«Aber da ist er nicht gestorben.» Ich richtete mich auf und wandte mich Duffy zu. «Relovich sitzt auf der Couch», erklärte ich mit Nachdruck. «Die Wucht des Schusses wirft ihn zurück. Wie ist er da auf den Boden gekommen? Das widerspricht den physikalischen Gesetzen.»

«Dann hat ihn wohl jemand bewegt.»

«Genau», stimmte ich zu. «Aber warum?»

«Weiß ich nicht», erwiderte Duffy.

«Ich auch nicht», sagte ich. «Lass uns die Wand hinter dem Sofa mit Ninhydrin untersuchen. Das Arschloch hat die Wand vielleicht berührt, um nicht umzufallen, als er die Leiche bewegt hat.»

Ich blieb noch eine Stunde im Wohnzimmer und besah mir den Fußboden, die Wände und jedes einzelne Möbelstück. In der Küche öffnete ich den Kühlschrank, in dem ich nur eine braune Banane, einen Laib Brot, ein Senfglas, eine kleine Milchflasche und ein Fläschchen Steaksauce fand. Typisch für einen unverheirateten Cop, der meistens auswärts aß. Genau wie ich, fuhr es mir durch den Kopf.

Ich suchte in den Ausgüssen in der Küche, im Badezimmer und in der Dusche nach Blutspuren. Ich kippte den Mülleimer im Badezimmer aus und wühlte mit behandschuhten Fingern in seinem Inhalt herum: eine leere Seifenschachtel, eine rostige Rasierklinge, ein zerknülltes Kleenex, zwei Zigarettenkippen, ein paar Blatt Toilettenpapier und ein Stück Zahnseide. Danach steckte ich alles in unterschiedliche Plastiktütchen und verschloss sie sorgfältig.

«Wir untersuchen dies hier auf Fingerabdrücke und DNS-Spuren», erklärte ich. «Erinnerst du dich an den Fall in Venice, wo ich diesen riesigen Mülleimer ausgekippt, die einzelnen Dinge in Tütchen verstaut und alles ins Labor geschickt habe?»

«Allerdings», knurrte Duffy. «Die sind fast in Ohnmacht gefallen – so viel Müll mussten sie untersuchen.»

«Aber die Abdrücke auf dem Aspirinfläschchen führten mich zu dieser Nutte.»

«Soweit ich mich erinnere, hatte sie den Freier aber nicht umgebracht.»

«Das stimmt. Es war ihr Zuhälter.» Ich reichte Duffy die Tütchen und sagte: «Schick sie doch schon mal raus, damit sie Montagmorgen untersucht werden können. Mach denen mal ein bisschen Dampf.»

Ich suchte nach einem Anrufbeantworter, fand aber keinen. Dann durchwühlte ich Relovichs Schlafzimmer, untersuchte jedes einzelne Kleidungsstück in den Schubladen, spähte unter das Bett, befühlte die Unterseite der Matratze und durchsuchte den Schrank. Anschließend ging ich nach draußen, immer gefolgt von Duffy, und durchstreifte den Garten hinter dem Haus – ein schäbiges Fleckchen Gras, das von einem zwei Meter hohen Holzzaun umgeben war. Ich zwängte mich durch eine dichte Hecke und besah mir das rückwärtige Fenster, in dessen Mitte jemand ein großes Loch geschlagen hatte.

Zurück am Eingang, zeigte ich auf das verschrammte Geländer der Veranda. «Ich ruf die Spurensicherung an, damit sie morgen wiederkommen und die Geländer mit Fingerabdruckpulver bestäuben. Das hätten sie längst tun sollen.» Ich zog mein Handy aus der Tasche. «Ich besorg mir jetzt einen Bluthund, der hier draußen mal herumschnüffeln soll.»

Duffy schaute mich skeptisch an. «Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, Ash.»

Die Unbeweglichkeit der Polizei von Los Angeles und ihr Misstrauen gegenüber ungewöhnlichen Methoden hatten mich immer schon aufgeregt. Es war äußerst schwierig, eines der Tiere aus der Polizeihundestaffel zu bekommen, wenn ich einen Mord in der Stadt untersuchen wollte. Aber ich kannte einen Hundeabrichter, der seine Dienste den Polizeidienststellen in Südkalifornien anbot; und der war wesentlich hilfsbereiter. Glücklicherweise hatte ich seine Nummer noch nicht aus meinem Handy-Adressbuch gelöscht. Ich rief ihn auf dem Handy an, plauderte ein wenig mit ihm und sagte danach zu Duffy: «Er ist heute Abend bei einem anderen Tatort. Doch morgen früh um acht treffen wir uns hier.»

«Ist die Geruchsspur bis dahin nicht kalt?»

«Diese Hunde können Gerüche noch Wochen, sogar Monate später wahrnehmen. Ich will morgen in aller Frühe anfangen. Kannst du die Detectives, die schon einmal hier waren, morgen früh um neun Uhr in die Harbor-Wache zitieren? Ich will sie treffen, damit sie mich ins Bild setzen.»

«Na, die werden aber begeistert sein, dass sie an einem Samstagmorgen rausmüssen. Ich rede mal mit ihrem Lieutenant, damit er sie dazu bringt, ihren Arsch herzuschwingen.»

«Wann ist denn die Autopsie?», fragte ich.

«Sonntag um zehn. Willst du, dass dich jemand begleitet? Vier Augen sehen mehr als zwei.»

«Nicht nötig.»

«Hör mal, Grazzo hat dich erst mal befristet wieder eingestellt, aber trotzdem musst du am Montag noch den bürokratischen Kram erledigen, damit du wieder voll arbeiten kannst. Außerdem musst du dich vom Amtsarzt untersuchen lassen, dich kurz mit einem Mann treffen, der deinen Hintergrund überprüft, und einen Brief an den Polizeichef schreiben, warum du zurückkommen willst. Der übliche Mist. Obendrein musst du nächste Woche zum Polizeipsychologen gehen. Ich mach dir einen Termin.»

«Du meine Güte», murmelte ich.

«Du kennst die Behörde. Du musst halt einen Buckel machen, wenn du zurückwillst.»

Wir kehrten zum Wagen zurück und fuhren wieder weg. Duffy steuerte durch die enge, kurvige Straße zum Fuß des Hügels hinab und setzte den Blinker, um in eine heruntergekommene Durchgangsstraße einzubiegen, die auf den Freeway führte. Aber bevor er das Steuer nach links drehen konnte, sagte ich: «Halt sofort an und mach das Licht aus!»

Mein prüfender Blick glitt über ein Pfandhaus, eine schmierige Tacobude und einen verschlossenen Spirituosenladen. Dann deutete ich auf einen Teenager lateinamerikanischer Herkunft, der sich an der Straßenecke gegenüber aufhielt und einen schwarzen Regenmantel trug. Er stand direkt unter der Laterne und wandte ununterbrochen den Kopf von rechts nach links. Ich nahm einen Feldstecher aus dem Handschuhfach und sah, dass der Junge ein primitives Tattoo in Form eines Spinnennetzes auf dem Hals hatte.

«Er hat ein Gefängnistattoo», sagte ich zu Duffy. «Vermutlich eines der Gangmitglieder aus der Sozialsiedlung.»

Ein paar Minuten später hielt an der Ecke ein staubiger Honda mit einem Farbigen am Steuer. Der Teenager streckte den Arm durch das heruntergelassene Fenster, nahm ein paar Scheine entgegen und ließ eine kleine Plastiktüte auf den Beifahrersitz fallen. Sogleich raste der Fahrer davon. Kurz darauf trat ein lateinamerikanisches Pärchen, offenbar Obdachlose, auf den Jungen zu. Der Mann gab ihm einen Schein, bekam dafür ein Tütchen und stopfte es sich vorne in die Baggypants.

«Der dealt vermutlich mit Heroin – schwarzem Teer», bemerkte ich. «Crack verkauft er sicher auch. Ein echter Rundumservice.»

Ein paar Blocks weiter, auf der anderen Straßenseite, konnte ich noch einen Straßenunternehmer auf und ab gehen sehen. Ich gab Duffy den Feldstecher.

«Diese Clowns hab ich gar nicht gesehen, als wir hier hochgefahren sind», bemerkte Duffy.

«Sind wahrscheinlich erst später rausgekommen.»

«Um die Zeit, zu der Relovich getötet wurde», sagte Duffy nachdenklich.

«Genau. Seine Straße ist eine Sackgasse. Es gibt nur einen Weg den Hügel runter und aus dem Viertel heraus.» Ich klopfte mit den Fingerknöcheln gegen das Armaturenbrett. «Und zwar durch diese Straße.»

«Vielleicht haben diese Typen ja das Arschloch gesehen», vermutete Duffy.

«Kannst du jemanden von der Harbor-Sitte dazu bringen, morgen früh zur Wache zu kommen? Vielleicht den Sergeant, der sich mit den Drogensüchtigen auskennt?»

Duffy nickte.

«Ich rede mit dem Sergeant, wenn ich mit den Leuten von der Mordkommission gesprochen habe», fuhr ich fort. «Dann soll er in den nächsten Tagen die Straße hier aufmischen. Er soll Dealer und Käufer hochnehmen. Diese Typen sind Stammkunden. Man weiß nie, wer was gesehen hat. Wenn man ihnen den Knast in Aussicht stellt, werden sie manchmal gesprächig. Und vielleicht kriegen wir den Stadtrat ja dazu, eine Belohnung auszusetzen.»

«Ich spreche mit Grazzo darüber. Der kriegt das bestimmt hin.»

Duffy startete wieder den Motor und fuhr weiter zum Freeway. Auf ihm raste er mit fast hundertfünfzig Stundenkilometern nordwärts – ein Vorrecht, das man mit der Dienstmarke erwarb – und war in weniger als einer Viertelstunde in der Innenstadt. Er fuhr an der 4th Street raus und erst ostwärts, dann südwärts durch ein paar heruntergekommene Straßen am Rand eines Viertels, das als Historic Core, die Altstadt, bekannt war. Gewerbegebäude in unterschiedlichen Stadien des Verfalls, in der Mehrzahl noch aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, säumten die Straßen. Einige Fenster im Erdgeschoss waren mit Sperrholz verrammelt.

Ich kurbelte mein Fenster herunter und sah ein paar schäbige Hoteleingänge vorbeiziehen. Ein schwacher Geruch nach Desinfektionsmitteln wehte zu mir herüber. Drogensüchtige und Rentner schlurften barfuß oder in Pantoffeln herum. Die Straßenlaternen warfen ein fahlgelbes Licht auf die traurige Landschaft aus Wechselstuben, Passbildautomaten und kleinen Läden, die einzelne Zigaretten und billige Getränke an die Säufer verkauften, die in den Häuserecken herumlungerten.

Los Angeles hinkte Jahrzehnte hinter den meisten Metropolen her, die es längst geschafft hatten, zahlungskräftige Mieter in die Innenstädte zu locken. Die meisten Einwohner von Los Angeles mieden die Gegend hartnäckig und sahen sie quasi als Sperrgebiet an, eine Art Deponie für den menschlichen Müll der Stadt. Dennoch waren in den letzten zehn Jahren zahlreiche stattliche Gewerbegebäude renoviert und die Räume darin in Lofts verwandelt worden, und dafür fanden sich auch Mieter und Käufer. Aber diejenigen, die in die Innenstadt zogen, wurden im Rest von Südkalifornien größtenteils schief angesehen, denn hier hielt man einen gepflegten Vorgarten und, hinter dem Haus, einen Garten zum Grillen immer noch für ein Menschenrecht.

Duffy hielt mit quietschenden Bremsen vor einem imposanten, alten neoklassizistischen Bankgebäude. Vier gewaltige blassgrüne Marmorsäulen standen zu beiden Seiten der reich verzierten Messingtür. Das Gebäude war aus hellem Sandstein errichtet, und ganz oben überschattete ein kunstvoll gearbeitetes Gesims ein Dutzend steinerner Greifen, die mit riesigen Glotzaugen die Skyline überblickten.

«Das Gebäude gefällt mir, aber dein Viertel ist wirklich ein Dreckloch», sagte Duffy. «Kein einziger Cop wohnt im Stadtzentrum, nur du ziehst ausgerechnet hierher.» Er schnaubte verächtlich.

«Nachdem Robin mich verlassen hatte, wollte ich genau hierher», bemerkte ich.

«Ich bin dreimal geschieden», wandte Duffy ein. «Für dich war es das erste Mal, oder?»

Ich nickte. «Aber die Scheidung ist noch nicht durch; wir gelten immer noch als getrennt lebend. Ich warte darauf, dass sie ihren Antrag einreicht.»

«Ist es denn wirklich vorbei?»

«Ja. Es ist wirklich vorbei.»

Duffy wechselte das Thema. «Das hier wirst du brauchen.» Er reichte mir die Schlüssel für einen Zivilwagen der L.A. Police. «Du kannst ihn dir morgen abholen.»

Ich drückte den Türgriff, aber bevor ich aussteigen konnte, packte Duffy meinen Arm und hielt mich zurück.

«Ich hab noch was für dich, Asher», sagte er und öffnete seine Brieftasche. Darin lag eine brandneue Dienstmarke, die teils silbern und teils kupfern glänzte. Genau die Art von Marke, die ich vor elf Monaten abgegeben hatte. «Ich hab dafür gesorgt, dass du eine neue Nummer bekommst.»

Ich nahm die Marke an mich und nickte. Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. Es war einer der erhebendsten Momente meines Lebens gewesen, als ich damals meine erste Dienstmarke in den Händen gehalten hatte, und sie zurückzugeben war einer der schlimmsten Momente gewesen. Jetzt spürte ich ihr Gewicht in meiner Handfläche und ließ meine Finger über die Konturen des Rathauses von Los Angeles gleiten. Der Groll, den ich Duffy gegenüber hegte, legte sich ein wenig.

Duffy streckte mir seine Hand hin.

Ich ergriff sie und sagte leise: «Danke, Lieutenant.»

 

Nachdem ich den Zugangscode in den Tastaturblock neben dem Gebäudeeingang getippt hatte, ging die Tür auf, und ich schlüpfte hinein. Mit dem Aufzug fuhr ich ins oberste Stockwerk, öffnete meine Wohnungstür und legte die Dienstmarke auf den kleinen Holztisch. Mein Loft, eine karge, weite Fläche, die ein wenig an eine tiefe Höhle erinnerte, hatte nackte Ziegelwände, einen polierten Betonboden und zwei ziemlich schmuddelige Dachluken mit goldfarbenem Rahmen. An der Wand neben meinem Bett hingen ein Mountainbike und ein Surfboard. Ein großes Fenster ging nach Westen hinaus, ein kleineres auf der anderen Seite des Lofts nach Osten. Von dort aus konnte man über die Dächer von hundert Jahre alten Ziegelgebäuden blicken.

Ich holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und schaltete den CD-Player ein, dann ließ ich mich in meinen Ledersessel fallen. Ich schaute auf die Lichter der Wolkenkratzer und hörte dabei Miles Davis’ Stück So What. In den letzten elf Monaten war das meine Trauerhymne gewesen. Nacht für Nacht, Monat für Monat hatte ich hier schlaflos gesessen und So What gehört. Dabei hatte ich in den stummgeschalteten Sportkanal gestarrt und all die absonderlichen Veranstaltungen geschaut, die der Kanal von Mitternacht bis zum Morgengrauen zeigte. Ich war verloren; mir war einfach alles egal gewesen. In der israelischen Armee nannten wir diesen Zustand ziemlich derb nishbarli hazayin