Kinder des roten Kasiers - Hu Xiaoping - E-Book

Kinder des roten Kasiers E-Book

Hu Xiaoping

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Beschreibung

Die Autorin Hu Xiaoping wuchs in der Zeit der Kulturrevolution Chinas in den 1960er und 1970er Jahren im Zentrum des Geschehens, in Peking, auf. Zunächst als Junge Pionierin und später als Rotgardistin entwickelte sich in ihr nach anfänglicher Begeisterung für eine scheinbar gerechte gesellschaftspolitische Ordnung eine schrittweise anwachsende Skepsis zum politischen und kulturellen Geschehen. Ihre weitgehend autobiographische Erzählung, kombiniert mit fiktiven, ihrem Freundeskreis entlehnten und für diese Zeit prototypischen Figuren vermittelt einen reichhaltigen, spannenden und eindrücklichen Einblick in die auch noch für das heutige China prägende Zeit, zugleich aber auch in deren ideologische Hintergründe.

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Inhaltsverzeichnis

Zwischen Tradition und Innovation - Biografische Einblicke in die Anfänge des heutigen Chinas nach der Kulturrevolution

Ein Vorwort von Jürgen Trittin

Kapitel 1 - Die Fünfzigerjahre

Wie Xiaomei zu ihrem Namen kam

Jingxias Eltern

Jingxias Geburt

Kapitel 2 - Die frühen Sechzigerjahre

Im Kindergarten

Auf der Bi Wan Zhuang-Grundschule

Das Wohngebiet von Bai Wan Zhuang

Die jungen Pioniere

Kapitel 3 - 1966 - Beginn der Kulturrevolution

Leiterin einer Gruppe der Jungen Pioniere

Der Leitartikel der Volkstageszeitung

Das Ende der regulären Schulzeit

Kapitel 4 - Die Familie wird auseinandergerissen

Übersiedlung in das Luftwaffengebiet

Schauverurteilungen durch die Masse und Hausdurchsuchungen

Die Yu Hong-Grundschule

Geburt der kleinen Schwester

Als Vertreter des Militärs außerhalb der Luftwaffe

Kaderschulung auf dem Land

Kapitel 5 - Jingxia geht zur Mittelschule

Mama kehrt zur Behandlung nach Peking zurück

Mittelschule 110

Kriegsvorbereitungen“ und der Bau der Pekinger U-Bahn

Beitritt zu den Roten Garden

Bildung und Ausbildung dienen der Politik der proletarischen Klasse

Nainais Rückkehr nach Peking

Bildung und Ausbildung müssen mit Produktion und Arbeit verbunden werden.

Glückliche Sommerferien

In der zweiten Klasse der Mittelschule - ein Jahr voller Ereignisse

Keine Teilnahme am Marschtraining im Sommer und eine große Entdeckung

Der Fall Lin Biao: Vorher und Nachher

Kapitel 6 - Jingxia kommt in die Oberschule

Lernen steht wieder im Vordergrund

Eintretende Pubertät mit zunehmender Verwirrung der Gefühle

Die kurze Zeit der Reform der Oberschule

Beitritt zum kommunistischen Jugendverband von China

Sehnsucht nach einer anderen Welt

Ende des ruhigen Lernens, politische Kampagnen überschlagen sich

Schule nach dem Prinzip der offenen Tür

Schnelle Verbreitung des handgeschriebenen Buches und seine damit verbundenen Folgen

Das letzte Schulhalbjahr an der Oberschule

Epilog

Zwischen Tradition und Innovation - Biografische Einblicke in die Anfänge des heutigen Chinas nach der Kulturrevolution

Ein Vorwort von Jürgen Trittin

Vor uns liegt ein neues Buch über China – und seine jüngere Geschichte. Geschrieben aus der Innensicht einer Zeitzeugin. Hu Xiaoping hat die Zeit der Kulturrevolution durchlebt und durchlitten – ebenso wie die Zeit danach. Ihr Blick aus dem Inneren zeigt ein China, das sich Außenstehenden so sonst eher verschließt.

Kaum ein anderes Land ruft aktuell so widersprüchliche Reaktionen hervor wie China. Das Reich der Mitte rüttelt an den globalen Strukturen und Machtverhältnissen. Der Rest der Welt hat darauf noch keine Antwort gefunden. Vor 200 Jahren war China schon einmal Weltmacht. Dort strebt es unübersehbar und erklärtermaßen wieder hin.

Das Streben nach einer globalen Rolle erzielt Wirkung. Als das heute-journal jüngst auf einen Bericht über Xi Jinping in die USA umschaltete, begleitete ZDF-Moderator Klaus Kleber dies mit den Worten: „Und nun zum zweitmächtigsten Mann der Welt, Donald Trump“. Und manche empfinden es in der Korea-Krise als beruhigend, dass chinesische Realpolitik gegenüber der erratischen Sprunghaftigkeit des US-Präsidenten eine sehr rationale Rolle spielt.

Chinas Streben nach einer neuen globalen Rolle hat ein doppeltes Gesicht. Auf dem letzten Weltwirtschaftsforum in Davos gab sich der chinesische Präsident als Verteidiger des Welthandels gegen Protektionismus. Im Streit mit den USA um Zölle bietet sich China als Bündnispartner Europas zur Verteidigung einer multilateralen Ordnung an. Doch selber praktiziert es Dumping.

Als regionaler Hegemon hingegen agiert das China Xi Jinipings klassisch unilateral mit militärischer Macht. Unter Missachtung des Schiedsgerichts in Den Haag wurden Raketensysteme auf den Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer installiert – und so Fakten geschaffen.

Mehr in der Tradition Chinas steht die Belt and Road-Initiative (BRI). Die Jahrtausende chinesischer Staatlichkeit waren weniger von Eroberungen als vom Streben nach ökonomischer Hegemonie geprägt.

Um Hegemonie und Geostrategie geht es somit auch bei der BRI, die im Jahr 2013 von Xi Jinping verkündet wurde. Die finanziellen Versprechungen dieses Giga-Infrastrukturprojektes, das China auf dem Landweg und Seeweg mit Europa verbinden soll, sind beeindruckend. Sie führen jedoch nicht selten zu ökonomischen und politischen Abhängigkeiten. So musste Sri Lanka einen strategisch wichtigen Hafen für 99 Jahre an China vermieten, weil es seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber Peking nicht mehr nachkommen konnte.

Die Initiative hat auch Auswirkungen für den Zusammenhalt der Europäischen Union. Länder mit großen chinesischen Investitionen neigen zu größerer Zurückhaltung bei ihrer Kritik der Menschenrechtslage in China. Praktiken übrigens, die auch deutschen Kanzlern in der Vergangenheit nicht fremd waren.

Dennoch haben sich die Verhältnisse verschoben. Während die USA aus dem Klimaschutzvertrag von Paris aussteigen, investiert China im großen Stil in Klimaschutz und saubere Technologien. Während Europas Treibhausgasemissionen wieder steigen, haben die Emissionen Chinas den Höhepunkt überschritten. Deutschland, dem Mutterland der Energiewende, läuft China international längst den Rang ab.

Die mittlerweile zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt investiert mehr als jedes andere Land in erneuerbare Energien. China bestimmt den Weltmarktpreis für Solarpanele und ist Weltmarktführer bei Wasserkraft, Bioenergie für Stromerzeugung und Wärme sowie E-Mobilität.

Doch auch hier das gleiche, doppelte Bild: Im Zuge der BRI forciert China massiv den Bau von dreckigen Kohlekraftwerken entlang der „Neuen Seidenstraße“. So wird die globale Abhängigkeit von fossiler – aber chinesischer – Technologie verlängert.

Ein anderes Gigaprojekt ist der Industrie-Masterplan Made in China 2025. China will zu einer internationalen High-Tech Supermacht aufsteigen, besonders im Bereich Künstliche Intelligenz und Robotik. Ob und wie China diese Schlüsselmärkte zukünftig dominiert, hängt davon ab, wie die anderen internationalen Großgewichte, vor allem Europa und die USA, darauf reagieren.

Wenn hier viel von der globalen Rolle Chinas gesprochen wird, so kann diese nicht verstanden werden, ohne die inneren Entwicklungen im Land selbst in den Blick zu nehmen. Die letzten Jahrzehnte waren davon geprägt, dass durch ein rasantes wirtschaftliches Wachstum Hunderte von Millionen Chines*innen bitterer Armut entkommen konnten. Es bildete sich eine große, vor allem städtische Mittelschicht, heraus. Dieses Wachstum ist dabei, die eigenen ökonomischen Grundlagen in Frage zu stellen. Es erzeugt gigantische Umweltprobleme. Es hat die Ungleichheit in der chinesischen Gesellschaft explodieren lassen. Die globalen geostrategischen Ambitionen können auch als Versuch der chinesischen Führung gesehen werden, durch Globalisierung diese Wachstumsschranken zu überwinden und sich so politische Legitimität zu sichern.

Unverkennbar ist China unter Xi Jinping autoritärer geworden. China war keine Demokratie. Der Schutz der Menschenrechte ist seit 2004 zwar in der Verfassung verankert, unterliegt allerdings der Auslegung der Parteiführung. Wirkliche institutionelle Gegengewichte fehlten. Doch lange war China ein Beispiel einer autoritären aber fragmentierten Gesellschaft. In wichtigen wirtschaftlichen Fragen konkurrierten Regierung und Provinzregierungen, örtliche Parteiführungen und die Zentrale. Dies gab Spielräume im Guten wie im Schlechten. Beispielsweise wurden Vorgaben des Umweltministeriums in der Provinz gerne unterlaufen. Dort aber war man gegenüber ausländischen Investoren oft flexibler.

Diese Fragmentierung ist gemindert. Die Macht wurde bei der Parteiführung zentralisiert. Xi Jinpings neues Anti-Korruptionsgesetz schürt Angst unter den Eliten und mehrt sein Ansehen bei den rund 900 Millionen Chines*innen aus ländlichen Regionen. Vor allem aber zementiert es seine Macht. Auf dem jüngsten Volkskongress wurde XI Präsident mit unbegrenzter Amtszeit, Vorsitzender der Kommunistischen Partei und Vorsitzender der Zentralen Militärkommission.

Xi Jinping ist heute der neue Rote Kaiser. Dabei ist er – wie die Autorin Hu Xiaoping – ein Kind des Roten Kaisers Mao Tse-tung. Wie sie wurde er während der Kulturrevolution auf das Land zwangsverschickt. Der Aufstieg des einen und der Ausstieg der anderen, beides findet seinen Ausgang in den Erfahrungen dieser Zeit.

Ich war als Umweltminister wie als Außenpolitiker mehrfach in diesem faszinierenden Land. Doch selbst nach mehreren Besuchen bleibe ich natürlich ein Außenstehender.

Umso wichtiger sind autobiografische Romane von Zeitzeugen wie der vorliegende von Hu Xiaoping. Bei der Lektüre des Romans wird erfahrbar, wie systematisch, engmaschig und beklemmend das ideologische Korsett des Chinas der Kulturrevolution war.

Der Titel zeigt die sehr langen Linien politischer Herrschaft in China auf. Vielleicht war es für Mao sogar wichtiger als Kaiser gesehen zu werden, denn als rot. Der im Buch beschriebene Umgang mit Konfuzius spricht dafür.

Eindrucksvoll schildert die Autorin die Kindheit der Romanheldin Jingxia während der Kulturrevolution: zunächst die behütete Kindheit, dann die Schulzeit und damit der Beginn politischer Indoktrination. In den 70er Jahren erlebt die Romanheldin die vorsichtige Öffnung Chinas und den Besuch des damaligen US-Präsidenten Richard Nixon.

Jingxia wird klar, wie massiv die chinesische Führung die Weltsicht ihrer Bürger*innen verdreht: das Bild des Westens passt so gar nicht zu Nixons Auftritt. Um diese Realitätschecks der kleinen Jingxia zu ermöglichen, bedient sich Hu Xiaoping der Originaldokumente, wie z.B. Nixons Redemanuskript von 1972. Dies tut der Leserlichkeit keinen Abbruch. Im Gegenteil, gerade das Nebeneinander der kindlichen Dialoge mit der Nüchternheit der Quellen schafft einen frappierenden Kontrast.

Bis zum letzten Satz bleibt es ein sehr lesenswertes Buch, welches einen ganz besonderen Zugang zur chinesischen Gesellschaft bietet. Im Jahr 1974 endet der 1. Band – mit Spannung erwarte ich die Fortsetzung.

China hat sich seit der Kindheit der Romanheldin Jingxia stark verändert. Doch auch wenn sich die Lage für viele Menschen wirtschaftlich verbessert hat, sind sie mehr kontrolliert als selbstbestimmt. Gerade ist die Regierung dabei, die Kontrolle der Gesellschaft dank Gesichtserkennung und Überwachung der sozialen Medien auf einen Stand der Technik zu bringen, von dem George Orwell in 1984 nicht einmal zu alpträumen wagte. Deshalb ist der Roman von Hu Xiaoping so lesenswert. Er liefert wertvolle Einblicke in die Anfänge der heutigen Herrschaft, die in vielen Bereichen hypermodern ist und dabei gleichzeitig in sehr alten Traditionen verhaftet bleibt.

Mai 2018

Kapitel 1 - Die Fünfzigerjahre

Wie Xiaomei zu ihrem Namen kam

Am 27. August 1964 war Xiaomeis siebter Geburtstag. Am 1. September würde endlich ihr erster Schultag sein, aber Xiaomei hatte noch keinen richtigen Namen. Ihr bisheriger Name Wu Xiaomei, wie er auch im Familienbuch stand, bedeutete nur „kleines Mädchen“. Deshalb rief Xiaomeis Oma Nainai die ganze Familie am Vormittag des 30. Augusts zusammen, um hier Abhilfe zu schaffen.

„Heute müssen wir unbedingt einen richtigen Namen finden. Das muss geschehen, bevor die Schule beginnt. In der Schule darf meine Enkelin nicht mehr Xiaomei genannt werden.“

„Das stimmt!“, sagte Xiaomeis Mama: „Eigentlich hätten wir uns um den richtigen Namen schon viel früher kümmern müssen. Aber jetzt muss das unbedingt geschehen.“

Daraufhin holte Xiaomeis Papa ein Lexikon und blätterte nach geeigneten Namen. Dabei murmelte er vor sich hin: „Welchen Namen sollen wir ihr bloß geben? … Welchen Namen sollen wir ihr bloß geben? ...“

„Du brauchst nicht länger zu suchen.“, unterbrach ihn Nainai. „Ich denke, wir nehmen den Namen Jingxia, weil Xiaomei in Wushan geboren ist. Sie ist in Peking aufgewachsen. Das Jing leitet sich von Peking ab, das Xia bezieht sich auf die Berge der drei Schluchten, Sanxia, wo Wushan liegt.“

„Sehr gut, ich bin einverstanden.“, erwiderte Mama sofort.

„Da muss sich ja die Minderheit fügen“, lenkte Papa ein. „Ich erkläre mich ebenfalls einverstanden.“

Von diesem Augenblick an hieß Xiaomei also Wu Jingxia.

„Morgen gehe ich mit Xiaomei zur Meldebehörde und lasse den neuen Namen offiziell eintragen“, bemerkte jetzt sehr zufrieden Nainai.

„Nainai, wo liegt Wushan? Warum wurde ich nicht in Peking geboren?“ Xiaomei wollte gleich alles genauer wissen.

„Unsere Familie hat doch immer in Peking gelebt.“ Sie wurde ganz unruhig vor Neugierde.

Langsam begann Nainai zu erklären und erzählte: „Wushan ist eine alte hübsche kleine Stadt. Vor der Stadt fließt seit Urzeiten der Yangtse Fluss ruhig und stetig dahin. Man sieht von der Stadt aus die Biegung nach Wuxia, die der Fluss nehmen muss, um durch eine der in ganz China bekannten drei Schluchten zu fließen. Man findet nur wenige so hübsche Orte in unserem Land wie Wuxia, die berühmteste und vielfältigste der drei Schluchten. Wuxia ist eine sehr tiefe Schlucht. Rechts und links erheben sich die Berge gewaltig. Versuchtest du, ganz nach oben zu schauen, würde dir dein Hut vom Kopf fallen.

Du siehst zu beiden Seiten zwölf verschiedene Berge. Jeder trägt seinen eigenen Namen. Der schönste Berg heißt ‚Shen Nü Feng‘, der Berg des göttlichen oder zauberhaften Mädchens. Der ganze Berg sieht wie ein schlankes Mädchen aus, das dort in edler Haltung am Fluss steht. Seine Augen sind auf den Lauf des Yangtses gerichtet. Wenn die Regenwolken durch die Schlucht ziehen, so bekleiden sie das Mädchen wie mit einem zauberhaften federleichten Mantel. Der Mantel ist voller Bewegung. Er bedeckt sie und gibt sie gleich wieder frei. Die nie enden wollende Bilderfolge ist es, die den Zauber ausmacht. Nach der Legende ist das Mädchen die jüngste Tochter der Königin des westlichen Himmels, der Königin Wang. Sie heißt Yao Ji. Der Berg ist ihre Versinnbildlichung. Sie hatte Sehnsucht, das menschliche Leben kennen zu lernen. Deswegen ist sie zusammen mit ihren elf Schwestern heimlich auf Wolken zur Erde gefahren.

Eines Tages waren die zwölf Schwestern unterwegs von Donghai nach Yaochi. Dabei begegneten sie Dayu, dem Besieger des Hochwassers. Er kämpfte damals gegen Hochwasser, konnte es aber noch nicht besiegen. Yaoji und ihre Schwestern halfen ihm dabei und waren gemeinsam auch erfolgreich. Das Hochwasser wurde besiegt, die Bauern konnten ihre Ernte retten und auch die Schiffe den Fluss wieder ohne Gefahr passieren. Die zwölf Schwestern verwandelten sich in die zwölf Berge rechts und links des Flusses. Sie heißen seitdem Qi yun (Wolke), Cui ping (Jade), Fei feng (Vogel Phönix), Shang sheng (Steigen), Ju He(Kranich), Song luan (Kiefer), Chao yun (Morgenrot), Ji xian (Gottheit), Wang xia (von der Sonne gerötete Wolke), Sheng quan (Quelle) Jing Tan (Stempel) und Long feng (Drachen). Von da an bilden die zwölf Berge die romantische Schlucht von Wuxia. Yaoji war unter den zwölf Schwestern tapferste Mädchen dieser Zeit. Ihr Berg überragt die elf anderen Berge der Schwestern.

Früh morgens sieht sie als erste der aufsteigenden Sonne entgegen, des Abends nimmt die Sonne von ihr zuletzt Abschied. Viele kleine und große Schiffe befahren den Fluss. Kommen sie nach Wushan, so grüßen sie die kleine Stadt mit laut dröhnenden Schiffssirenen. Für die Kinder ist das das Signal, um zum Hafen zu laufen und bei dem Einlaufen des Schiffes dabei zu sein.

Deine Laolao1 und deine Dayi2 wohnen in Wushan. Als deine Mama deine Geburt erwartete, hat sie die lange Reise von Peking nach Wushan angetreten. Sie konnte ihre Mutter und ihre Schwester erst nach einer beschwerlichen Fahrt mit Bahn und dann auch noch per Schiff endlich erreichen. Einen Tag nach deiner Geburt brachte deine Dayi einen Sohn zur Welt, deinen Cousin. Ihr wurdet beide im selben Krankenhaus in Wushan geboren. Der Name deines Cousins ist Aiping. Einen Monat nach deiner Geburt fuhr deine Mama zusammen mit dir nach Peking zurück. Deshalb bringt dein Name zum Ausdruck: Du bist in Wushan geboren und in Peking aufgewachsen.„

„Wenn ich groß bin, möchte ich unbedingt nach Wushan fahren, um meinen Geburtsort kennen zu lernen, von dem es so schöne Legenden gibt“, rief jetzt Jingxia.

Jingxias Eltern

Jinxias Eltern kannten sich seit ihrer Kindheit. Ihre beiden Familien waren sogar entfernt verwandt. Zu großen Familienfesten, wie insbesondere dem chinesischen Frühlingsfest, besuchten sie sich seit langem gegenseitig. Deswegen hatten sich Jingxias Eltern schon als Kinder kennen gelernt. Die Nainai wurde in Sichuan im Bezirk Shizhu in einem idyllischen Dorf namens Wang Chang geboren. Ihr Vater war ein wohlhabender Grund- und Bodenbesitzer. Wie es damals üblich war, heiratete Nainai ebenfalls einen Sohn aus einer wohlhabenden Familie. Mit ihm bekam sie zwei Söhne. Der ältere von beiden wurde Jingxias Vater.

Als er fünf Jahre alt war, schickte ihn sein Vater zur Schule in den Nachbarort. Hier wurde man allerdings nur bis zur dritten Klasse unterrichtet. Jeden Tag musste der fünfjährige Junge sechs Kilometer weit über einen Berg laufen. Bereits in aller Frühe musste er aufbrechen, wobei es im Winter morgens noch dunkel und abends schon wieder dunkel war. Dennoch hat er stets gerne gelernt. Unter seinen Mitschülern war er immer einer der Besten. Deswegen war sein Dorf auch stolz auf ihn.

Jungxias Laolao3 war Einzelkind. Sie wurde in Sichuan im Bezirk Shi Zhu in der Stadt Xi Jie Tuo geboren. Laolaos Vater war Geschäftsmann. Er handelte mit Seide und mit Strickereien aus Sichuan. Xi Jie Tuo wurde vor 2000 Jahren in der Zeit der Xi Han Dynastie gegründet. Sie ist die einzige Hafenstadt am Fluss im Bezirk Shi Zhu. In der Geschichte dieser Stadt blühte deswegen seit eh und je der Handel. Auch Salz spielte seit jeher eine große Rolle in der Stadt: das Salz aus Sichuan wurde von hier verschifft. Jingxias Laolao hatte die Schule nicht besucht, da dies in ihrer Jugendzeit für Mädchen unüblich war. Mädchen würden heiraten, weshalb sie aus damaliger Sicht für ihre Rolle in der Familie keine Kenntnisse brauchten, die man in der Schule erlernte.

Der Vater von Jingxias Laoye4 betrieb ein ansehnliches Salzgeschäft. Trotz seines Berufes als Händler beschäftigte er sich aber lieber mit dem Lesen und Schreiben. Deshalb trachtete auch sein ganzes Streben danach, seinen Sohn bis zur Universitätsausbildung zu bringen. Jingxias Laoye studierte Jura an der Universität von Chengdu, der Hauptstadt von Sichuan. Diese Universität wurde 1926 gegründet und war die erste Universität von Sichuan, die die chinesische Bezeichnung einer Universität „Da Xue“ tragen durfte. Jingxias Laoye blieb nach dem Studium als Dozent an der Universität.

Jingxias Laolao war drei Jahre jünger als ihr Laoye. Ihre Ehe war von ihren Eltern bestimmt worden. Da beide Familien häufig zusammen waren und die Kinder sich schon seit beinahe jeher kannten und mochten, wurde es eine gute Ehe.

1931, als Jingxias Laolao ihr drittes Kind erwartete, griffen die Japaner Shenyang, die Hauptstadt von Liaoning im Nordosten Chinas an. Das war am 18. September 1931, in der chinesischen Geschichte ein bedeutungsschwerer Tag. Die japanische Armee besetzte innerhalb kürzester Zeit die drei nördlichen Provinzen Chinas Liaoning, Jilin und Hei Long Jiang. Nach der Besetzung dieses wichtigen Teiles von China gingen im ganzen Land die Studenten auf die Straße und protestierten. Auch Jingxias Laoye war dabei.

Da es für ein Leben in Chengdu zu gefährlich geworden war, brachte Laolao die beiden Kinder und sich selbst in Sicherheit und fuhr nachhause. Von da an hat sie nie mehr etwas von Laoye gehört. Deswegen hat die dritte Tochter ihren Vater nie mehr sehen können. Laolao weinte jeden Tag und hörte nicht auf, nach ihrem Mann zu suchen. Sie fuhr immer wieder nach Chengdu zurück und fragte sie überall nach, ob jemand wisse, wo ihr Mann geblieben sei. Niemand konnte ihr weiterhelfen. Keiner wusste, ob er noch lebte oder aber Chengdu verlassen hatte. Ihr ganzes Leben lang hat Laolao darauf gewartet, dass ihr Mann zurückkehrt – vergeblich.

Mit ihren drei Töchtern lebte Laolao nun im Haus der Schwiegereltern. Als die Älteste sieben Jahre alt war, wollte Laolao sie in die Schule schicken. Aber auch damals war es noch nicht üblich, dass Mädchen die Schule besuchten. Auch ihr Schwiegervater, obgleich er selbst gerne las, war dagegen. „Frauen müssen nur den Haushalt führen können, Mädchen werden früher oder später heiraten“, so sagte er aus Überzeugung. Laolao hatte aber die Worte von Laoye nicht vergessen: „Gleichgültig, ob unsere Kinder Buben oder Mädchen sind, sie sollen auf jeden Fall die Schule besuchen.“ Laolao verließ daraufhin das Haus der Schwiegereltern und auch die Stadt mit ihren drei Mädchen. Sie zogen nach Wan Xian, einer etwas weiter entfernten Stadt am Fluss.

In Wan Xian begann Laolao, ihre drei Töchter alleine zu ernähren. Sie war sehr geschickt beim Anfertigen von Stickereien. Mit dem Herstellen von hübschen Kopfkissenbezügen, aber auch von den in China damals gebräuchlichen Stoffschuhen verdiente sie das Geld, das sie für sich und ihre Töchter benötigte. Damit aber nicht genug: Sie verdingte sich zugleich als Wäscherin und erreichte es somit aus eigener Kraft, alle drei Töchter auf gute Schulen schicken zu können.

Die Töchter spürten sehr deutlich und früh, welch große Leistung ihre Mama für sie erbrachte. Sie taten von sich aus alles, um sie so weit als möglich zu entlasten. Das Geld, das sie für die Schulspeisung mitbekamen, sparten sie häufig ein und brachten es wieder nachhause. Wenn sie neue Schuhe bekamen, trugen sie sie häufig auf dem Weg von der Schule nachhause in der Hand und liefen dort barfuß, um die Schuhe möglichst lange erhalten zu können. Alle drei wurden gute Schülerinnen. Am besten schnitt Jingxias Mama ab; sie war in ihrer gesamten Schulzeit immer die Klassenbeste. Eines Tages kam sie nachhause und erzählte stolz und aufgeregt: „Mama, ich werde von meiner Schule ausgezeichnet. Dafür muss ich auf der Bühne auftreten.“

Die Freude über den Erfolg der Tochter wurde durch die Sorge getrübt, wie das Kleid für diesen besonderen Anlass zu beschaffen sei. Im Kleiderschrank fand sich ja nichts Passendes. Aber Not machte stets erfinderisch: Der Vorhang erschien von daher geeignet und musste letztlich für diesen Zweck herhalten. Die Zeit zur Fertigstellung des Kleides aus jenem Stück Stoff drängte, denn die Auszeichnung sollte bereits am nächsten Tag stattfinden. So nähte Jingxias Mama die ganze Nacht durch. Das Kleid wurde gerade noch rechtzeitig fertig. Wenn in diesen Zeiten das Leben zu hart erschien, sprach die Mama ihren Töchtern stets Mut zu: „Wenn erst euer Vater zurückkommt, wird alles besser.“ So hofften alle vier auf seine Rückkehr und wurden dadurch in ihrem Mut gestärkt.

Jingxias Vater hatte die Grundschule in Zhong Xian besucht und wechselte zur Oberschule nach Wan Xian über. Dort traf er Jingxias Mutter wieder, die er seit der frühen Kindheit nicht mehr gesehen hatte. Sie war inzwischen auf der Mittelschule und ein großes hübsches Mädchen geworden, das mit seinen dunklen klugen Augen und seinen anmutigen Bewegungen bereits noch sehr jung die Aufmerksamkeit auf sich zog. Sein Anblick stand ihrem in keiner Weise nach; auch er war zu einem gut aussehenden stolzen jungen Mann herangewachsen. Die gegenseitige Anziehung zwischen den beiden jungen Leuten entfaltete sehr früh ihre Kräfte. Ihre Liebelei begann mit gemeinsamen Spaziergängen und Liedern, die Jingxias Mutter mit klangvoller Stimme sang. Er begleitete sie dabei auf seiner chinesischen Flöte. Es entwickelte sich eine zarte Liebe zwischen den beiden jungen Menschen. In China sagte man zu einem jungen Paar, das ein so harmonisches und schönes Bild abgab, es handele sich dabei um einen goldenen Jungen mit einem Jademädchen.

Nach dem erfolgreichen Besuch der Oberschule wurde der junge Mann als Student an der Universität von Chongqing aufgenommen. Sein Mädchen konnte ihm nicht folgen. Zwar war sie inzwischen auf der Oberschule Schulbeste geworden, aber die Kolleggelder für die Universität konnte ihre Mutter nicht aufbringen. Also blieb sie zurück und studierte am Lehrerseminar, das in China damals kostenfrei war.

Am 1. Oktober 1949 rief Mao Zedong auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking die Volksrepublik China aus. Damit wurde eine lange Zeit des Krieges beendet: acht Jahre Krieg mit Japan und anschließend drei Jahre Bürgerkrieg zwischen den Anhängern der kommunistischen Partei und denen der Kuomintang sollten nun ein Ende finden.

Im Sommer 1950 erreichte Jingxias Vater den Abschluss an der Universität von Chongqing. Das war der Zeitpunkt, in dem der Koreakrieg begann.

Die Halbinsel von Korea befindet sich im östlichen Asien. Sie grenzt im Nordosten an Russland, im Westen an China. Im Südosten liegt das Meer zwischen Korea und Japan, das Koreastraße genannt wird. 1904 hatte Japan seine Herrschaft über Korea begründet. Korea war faktisch eine japanische Kolonie geworden. Während des Zweiten Weltkrieges war in Kairo von China, den Vereinigten Staaten und Großbritannien vorgeschlagen worden, Korea seine Unabhängigkeit zurückzugeben. Auf der Konferenz von Teheran wurde dieser Vorschlag positiv aufgenommen und nunmehr auch von der Sowjetunion mitgetragen. Vor der japanischen Kapitulation hatten die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika ihre künftigen Einflusszonen in Korea entlang dem 38. Breitengrad aufgeteilt. Dementsprechend besetzten die sowjetischen Truppen das Land bis zu dieser Grenze.

Von diesem Augenblick an entwickelten sich Koreas Norden und Süden politisch und ideologisch auseinander. Beide Seiten nahmen jeweils für sich in Anspruch, mit ihrer Position die Belange des gesamten Landes zu vertreten. Die Gegensätze und die Schärfe der Auseinandersetzung vertieften sich zunehmend. Der Wille zur Wiedervereinigung des Landes war auf beiden Seiten zwar vorhanden, allerdings unter völlig unterschiedlichen und miteinander nicht vereinbaren politischen Vorzeichen.

Am 25. Juni 1950 befahl der nordkoreanische Präsident im Einverständnis mit Stalin, den 38. Breitengrad mit seinen Truppen zu überschreiten. Die südkoreanischen Truppen waren darauf nicht vorbereitet. Bereits nach drei Tagen wurde die südkoreanische Hauptstadt Seoul eingenommen.

Am 27. Juni stellten die USA im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Antrag, internationale Truppen zur Verteidigung Südkoreas aufzustellen. Die Sowjetunion war in dieser Sitzung nicht präsent; der Antrag wurde mit 13 Stimmen gegen das Votum von Jugoslawien angenommen. Unter der militärischen Führung der USA wurde daraufhin eine internationale Truppe gebildet, an der 15, zum Teil kleinere Länder beteiligt waren: Großbritannien, die Türkei, Kanada, Thailand, Neuseeland, Australien, die Niederlande, Frankreich, Philippinen, Griechenland, Belgien, Kolumbien, Äthiopien, Luxemburg, Südafrika und Südkorea. Die militärische Leitung wurde dem amerikanischen General MacArthur übertragen. Am 5. Juli begann der Einsatz und war so erfolgreich, dass am 27. September die Hauptstadt Seoul befreit werden konnte.

Als der Einsatz Anfang Juli begann, erklärte Zhou En Lai gegenüber Stalin, dass die Volksrepublik China Nordkorea unterstützen wolle. Am 7. Oktober überschritten die internationalen Truppen der Vereinten Nationen den 38. Breitengrad und näherten sich Nordkoreas Hauptstadt. Daraufhin stellte die Volksrepublik China nordöstlich der koreanischen Grenze Truppen auf, die sie als freiwillige Armee bezeichnete. Sie wurde aus den im Nordosten Chinas stehenden Kontingenten der Volksbefreiungsarmee gebildet. Am Abend des 19. Oktober 1950 überquerte diese Armee unter der Führung des chinesischen Generals Peng den Grenzfluss Yalu zwischen China und Nordkorea. Dies geschah in aller Stille; die Truppen rückten an verschiedenen Orten gleichzeitig heimlich vor. Am 25. Oktober 1950 begann der Krieg mit den internationalen Truppen. Es war der erste Krieg der jungen Volksrepublik unter Mao Zedong. In der damaligen kommunistischen Propaganda wurde er als eine Hilfe für den in Not geratenen befreundeten Nachbarn dargestellt, zugleich aber auch als notwendige Maßnahme zur Verteidigung des eigenen Landes. Ein klangvoller Slogan, der zugleich gegen die USA gerichtet war, brachte diesen Gedanken wirkungsvoll zum Ausdruck und wurde von den Massen auf den Straßen Chinas in einer aufgepeitschten Atmosphäre skandiert. Der Slogan lautete: „Kampf gegen Amerika. Korea und zugleich die eigene Heimat schützen.“ Junge Chinesen, insbesondere Studenten, drängten zur Teilnahme. Viele wurden bereits nach einer kurzen Ausbildung in die kämpfenden Truppen aufgenommen.

Auch Jingxias Papa fühlte sich in seinem Patriotismus angesprochen. Ohne zu zögern meldete er sich kurzerhand zur freiwilligen Teilnahme bei der chinesischen Luftwaffe.

Die Luftwaffe der Volksbefreiungsarmee von China wurde am 1. November 1950 gegründet. Schon 1938, im Krieg gegen Japan, war der Plan entstanden, eine chinesische Luftwaffe aufzubauen. Mehr als 40 Soldaten aus den damaligen kommunistischen Truppen Chinas wurden in die westliche Provinz Xinjiang geschickt, um bei den dort stationierten sowjetischen Truppen eine Fliegerausbildung zu erhalten. Im März 1946 baute die Volksbefreiungsarmee im Nordosten Chinas, in der Provinz Jilin, die erste Fliegerschule auf. Zu den Ausbildern gehörten Soldaten, die 1938 in der sowjetischen Armee geschult worden waren. Aber auch japanische Flieger waren nach der Kapitulation in China geblieben und beteiligten sich an dieser Ausbildung. Junge Soldaten, die an dieser Ausbildung teilnehmen wollten, wurden nach strengen Kriterien ausgewählt. Insgesamt bestand diese Schule aus etwa 350 Soldaten und verfügte auch über 350 Militärflugzeuge. Von hier aus begann der Aufbau der späteren chinesischen Luftwaffe. Innerhalb von drei Jahren waren 560 Piloten ausgebildet worden.

Während des Koreakrieges entsandte die Sowjetunion militärische Spezialisten zur Volksbefreiungsarmee, die ein intensives Trainingsprogramm für den Luftkrieg aufbauten. Die chinesische Luftwaffe wuchs innerhalb kürzester Zeit zu einer schlagkräftigen Truppe heran. Bereits im Januar 1951 wurde sie gegen die internationalen Truppen der Vereinten Nationen eingesetzt. Dies war insbesondere ein Einsatz gegen die amerikanische Air Force.

Jingxias Vater war an dieser Schule ausgebildet worden und stand für den Einsatz in Korea bereit.

1953 hatte Jingxias Mutter die Lehrerausbildung abgeschlossen und begann als junge Lehrerin in Xi Jie Tuo, der Stadt, aus der die Familie herkam.

Während des Koreakrieges führte Mao seine ersten Aktionen gegen die von ihm behaupteten Gefahren der Konterrevolution in China durch. Am 10.10.1950 erteilte er die Anweisung zur Unterdrückung jeglicher konterrevolutionären Bewegung. Betroffen davon waren nicht nur seine ehemaligen Gegner; die Aktionen gerieten zu einem Rundumschlag gegen alle, die ihm gefährlich erschienen, so auch Mitglieder des Geheimdienstes, die gegen die Kuomintang eingesetzt worden waren. Auf seinen Vorschlag hin beschloss das Zentralkomitee, bei diesen Aktionen eine Liquidation in Höhe von einem Tausendstel der chinesischen Gesamtbevölkerung anzupeilen. Die Hälfte dieses Zieles sollte auf jeden Fall erreicht werden, über die weitere Hälfte müsse man danach entscheiden.5

Für die Einzelverfahren, in denen über die Liquidation entschieden wurde, gab es keine klaren Kriterien. Die Todesurteile wurden willkürlich gefällt; entscheidend war die vorgegebene Anzahl der vorzunehmenden Liquidationen. Die Durchführung oblag den Provinzregierungen, für die die politischen Vorgaben maßgebend waren.

Wie viele Menschen bei dieser Aktion wirklich getötet wurden, ist umstritten. Im Februar 1957 hat Mao sich im Rahmen des chinesischen Staatsrates hierzu geäußert. Danach wurden in der Zeit von 1950 bis 1952 700.000 Liquidationen durchgeführt. In den folgenden drei Jahren wurden im Rahmen derselben Aktion weitere 80.000 Menschen getötet. Vermutlich liegt die Zahl insgesamt noch weitaus höher.

Der parallel hierzu verlaufende Koreakrieg war für die Brutalität dieser innenpolitischen Aktionen von Nutzen. Die Grausamkeiten außerhalb desLandes dienten dazu, das innere Geschehen in einem anderen Licht zu sehen und es letztlich resigniert hinzunehmen.

Am 30. Juni 1950 begannen die chinesischen Bodenreformen. Auf der Basis eines dafür verabschiedeten Gesetzes wurde die alte Bodenbesitzerklasse abgeschafft. Ihr Grundeigentum wurde ohne Entschädigung verstaatlicht und an die besitzlosen Landarbeiter verteilt. Der Boden verblieb aber im Eigentum des Staates. Die Verteilung bedeutete im Ergebnis nicht mehr als das Recht, dort arbeiten zu können. Ende 1952 war diese Aktion abgeschlossen, der Boden sozialisiert und das Land in ein staatssozialistisches System überführt worden.

Als das neue China gegründet worden war, war Jingxias Mutter gerade 18 Jahre alt. Sie befand sich mitten in ihrem Lehramtsstudium. Nach all den Jahren des Krieges, politischen Chaos‘ und entsprechend persönlicher Unsicherheit setzte sie alle ihre Hoffnungen in die Gründung des neuen Chinas. Eine neue Stabilität und innere Ordnung erschien ihr über diesen eingeschlagenen Weg vorstellbar. Während ihres Studiums wurde sie aufs Land geschickt, um an der Durchführung der Bodenreform teilzunehmen. Als die alten Bodenbesitzer enteignet wurden und das Land an die Besitzlosen verteilt wurde, ließ sie sich von der Idee dieser neuen Gerechtigkeit mitreißen. Eine Armut wie früher könne es danach nicht mehr geben, so dachte sie. Aber als sie sah, wie Bodenbesitzer, denen persönlich nichts vorzuwerfen war, geschlagen oder auch getötet wurden, war sie zugleich verzweifelt. Die Familie von Jingxias Vater, ihrem damaligen Freund, war auch enteignet worden und musste nun in eine bescheidene Behausung übersiedeln. Das zu hören tat ihr weh. Ihre eigene Mutter hatte die drei Töchter mit dem Verkauf eigener Stickereien ernährt und wurde nun –weitaus günstiger- als Handwerkerin eingestuft. Wäre sie bei der Familie ihres verschwundenen Mannes geblieben, so hätten sie die Aktionen gegen die Bodenbesitzer auch selbst getroffen.

Glücklicherweise verließ Jingxias Vater genau in dieser unruhigen und gefährlichen Zeit seine Heimat und begann mit seiner Ausbildung an der Luftwaffenschule. Seine Herkunft aus einer Bodenbesitzerfamilie wäre normalerweise für ihn schädlich gewesen. Der eingeschlagene berufliche Weg hat aber diesen „Makel“, wie man diese familiären Wurzeln damals in China bezeichnete, beseitigt. In der Luftwaffenschule erbrachte er hervorragende Leistungen und wurde auch als Mitglied in die Kommunistische Partei aufgenommen. Während des Koreakrieges stand er in ständiger Bereitschaft für den Einsatz. Aber er hatte Glück und wurde noch vor Beendigung des Koreakrieges in das Luftwaffenhauptquartier nach Peking geschickt. Dort wurde er für strategische Aufgaben und die Bereiche der Ausbildung eingesetzt und befand sich von daher nicht in Gefahr.

Seit seinem Studium an der Universität von Chongqing korrespondierte er ständig mit seiner späteren Frau. Der Kontakt war nie abgebrochen, man tauschte sich brieflich ausführlich aus und verlor die innere Bindung trotz der räumlichen Distanz nicht. Als er seine Position in Peking gesichert sah, entschied er sich, sie nach Peking zu holen und fortan mit ihr zusammenzuleben.

Jingxias Geburt

1956, an einem sonnigen Frühlingstag, wurde in einem bescheidenen Büro in einem der nüchternen Gebäude auf dem Gelände der Luftwaffe die Ehe zwischen Jingxias Eltern geschlossen. Die Übersiedlung nach Peking war normalerweise mit großen bürokratischen Schwierigkeiten verbunden, nicht aber für die Frau eines Luftwaffenoffiziers. In Peking trat sie eine Stelle im Ministerium für Maschinenbau an. Das Ministerium teilte ihr eine Zweizimmerwohnung im Westen Pekings zu. Hier waren, umgeben von Grünanlagen, neue Wohngebäude entstanden, die sogleich sehr beliebt waren.

Die Siedlung Bai Wan Zhuang wurde 1953 gebaut. Sie wurde zum Vorbild für den weiteren Wohnungsbau in Peking. Sie erstreckte sich über eine Fläche von 21 Hektar und umfasste 1500 Wohnungen. Überwiegend wurde dreigeschossig gebaut. Für hochrangige Politiker wurde auch eine Bauweise mit höherem Luxus und entsprechend weniger Geschossen angeboten. Es wurde mit rotem Ziegelstein, mit Giebeldächern, nach außen schlicht, aber doch so gebaut, dass die Siedlung einen angenehmen Anblick bot. Der Architekt hatte sich ein wenig vom russischen Baustil beeinflussen lassen, der damals in China großes Ansehen genoss.

Im Einzelnen wurden neun Teilgebiete der Siedlung nach den zwölf Erdzweigen benannt. Das ist ein altes chinesisches Nummerierungssystem, das den zwölf Tieren des chinesischen Kalenders entspricht. Zusammen mit den 10 Himmelsstämmen ergeben sie den 60-Jahre-Zyklus des chinesischen Kalenders. Gleichzeitig stehen sie auch jeweils für eine (Doppel-) Stunde des Tages und drei Monate des Jahres. Die Wohnung von Jingxias Eltern befand sich im Bereich Wu, das bedeutet Gegensatz, Kampf, den Augenblick, da das Yang die Opposition des Yin hervorruft.

Zwischen den Häusern waren freie Flächen, die die Kinder zum Spielen nutzten. Die Siedlung umfasste Kindergärten und Schulen für die verschiedenen Altersstufen, die sich mitten in der Siedlung befanden. Geschäfte säumten rechts und links die Straße, die man auf dem Heimweg nehmen musste. Alles war bequem erreichbar.

Bei den Bewohnern von Bai Wan Zhuang handelte es sich in der Regel um Beschäftigte der verschiedenen Ministerien Pekings. Es waren zumeist Universitätsabsolventen, vorherrschend war in Bai Wan Zhuang chinesisches Bildungsbürgertum.

Einen Monat, bevor Jingxia geboren wurde, fuhr ihre Mutter zurück nach Wu Shan zu ihrer Großmutter und großen Schwester. Auch die große Schwester erwartete in dieser Zeit ein Kind, es handelte sich bereits um den dritten Zögling.

Die Familie wohnte dort auf dem Gelände der Finanzbehörden, wo, wie in China üblich, zugleich die Beschäftigten mit ihren Familien untergebracht waren. Der Mann der großen Schwester hatte eine gute Position bei den Finanzbehörden. Sie bot die Grundlage für eine zufriedene junge Familie.

Beide Schwestern kamen zum selben Zeitpunkt in das Krankenhaus am Ort und warteten gemeinsam auf die Geburt ihrer Kinder. Das Krankenhaus lag in der Innenstadt, nahe dem Yangtse Fluss. Das dreigeschossige Gebäude wurde von hohen Bäumen überschattet. Beide Schwestern waren in einem gemeinsamen Zimmer untergebracht. Tagsüber gingen sie bisweilen auf der Straße vor dem Krankenhaus spazieren. Da nahmen sie dann auch eine Schale Liangfe zu sich, eine Spezialität von Wu Shan, die aus dem Mehl grüner Bohnen zubereitet wird und die man kalt, ähnlich wie einen Pudding isst.

Wu Shan ist eine über 2000 Jahre alte Stadt. Dichter aus den verschiedenen Epochen Chinas waren hierhergekommen und hatten die Schönheit der Stadt in ihrer grandiosen Lage am Yangtse Fluss besungen. Der älteste war wohl Song Yu, dessen Gedichte bereits aus dem dritten Jahrhundert der Zeit vor Christi Geburt überliefert sind. Gedichte sind aber auch von dem bis heute in China hoch geachteten Li Bai zu dieser Stadt bekannt, der im 8. Jahrhundert nach Christus wirkte. Im Jahrhundert danach war es Bai Juyi, der diese Tradition fortsetzte. Alle drei stellen bis heute große Namen der chinesischen Dichtung dar. Neben ihnen haben sich aber viele andere an diesem nie enden wollenden Thema der chinesischen Dichtkunst versucht.

Wenn die beiden Schwestern abends auf den Bambusmatten ihrer Betten lagen, hörten sie die Schiffshörner vom großen Fluss her mit ihrem dumpfen Klang dröhnen. Morgens wurden sie wieder davon geweckt.

Das dritte Kind der großen Schwester wurde ein Junge. Er kam einen Tag nach der Geburt von Xiaomei zur Welt. Sein Name Aiping bedeutet Friedensliebe.

Als Xiaomei, unsere spätere Jingxia, einen Monat alt war, kehrte ihre Mutter mit ihr nach Peking zurück.

1 Großmutter mütterlicherseits

2 erste Tante

3 Großmutter mütterlicherseits

4 Großvater mütterlicherseits

5 Hinweise hierzu wurden in einem Schreiben von Mao an Deng Xiaoping vom 20. April 1951 entdeckt, das in dem Archiv der Provinz Sichuan aufbewahrt ist.

Kapitel 2 - Die frühen Sechzigerjahre

Im Kindergarten

Xiaomei war erst zwei Monate alt, als ihre Mama an ihren Arbeitsplatz zurückkehren musste. In der Regierungszeit von Mao dauerte die Pause für eine berufstätige Frau in der Stadt nach der Geburt ihres Kindes bis zu 56 Tage. Nainai, die Großmutter väterlicherseits, kam aus Sichuan zur Familie in Peking und lebte von diesem Augenblick an mit ihr dort zusammen. Zwei Jahre später wurde das zweite Kind, wieder ein Mädchen, geboren. Es erhielt den Namen Jingmei. Jingmei bezieht sich auf die Blume Meihua (auch chinesische Pflaume genannt), die im Norden Chinas im Schnee blüht. Der Name Jiungmei brachte zum Ausdruck, dass die kleine Schwester in einem schneereichen Winter in Peking zur Welt kam. Xiaomei kam in den Kindergarten des Ministeriums für Maschinenbau, in dem ihre Mutter tätig war. Dieser Kindergarten war über die gesamte Woche wie ein Internat organisiert. Die Kinder kamen nur am Wochenende nachhause.

Der Kindergarten befand sich in der Wohnsiedlung Bai Wan Zhuang, in der die Familie wohnte. Er bestand aus mehreren gelb getünchten Gebäuden, die untereinander mit überdachten Durchgängen verbunden waren. Überwölbt wurde der gesamte Gebäudekomplex von hohen ausladenden Bäumen. Auf dem grünen Gelände des Kindergartens hoppelten Kaninchen, die von den Kindern mit frischem Grün gefüttert wurden. Die Kindergärtnerinnen unterstützten die Kinder nicht nur dabei, sondern pflanzten mit ihnen auch Blumen an. Im Garten stand allerlei Spielgerät bereit, Rutschbahn, Karussell, Schaukel, kurzum alles, was die Kinder so liebten. Nach dem Mittagsschlaf gab es Kuchen oder Kekse. Danach hörte man gemeinsam Kindersendungen im Radio. Beliebt waren vor allem die Darbietungen von Opa Sun (Sun, im Jinxiu). Bevor die Kinder am Wochenende zu ihren Familien zurückkehrten, bekamen sie von ihren Kindergärtnerinnen noch allerhand Süßigkeiten auf den Weg. Im Sommer sorgten sie dafür, dass jedes Kind auch rechtzeitig sein erfrischendes Bad nehmen konnte. Man achtete sorgfältig darauf, dass die Kinder vielfältig und gesund ernährt wurden. Die kleine hübsche Leiterin des Kindergartens war auf diese Aufgabe bereits in ihrem Studium vorbereitet worden.

Die kleine Xiaomei hatte als zweijähriges Kind gesunde rote Backen und bot mit ihrem etwas pummeligen Gesicht einen wonnigen Anblick. Ihre wachen Augen lächelten einen an und die vollen kindlichen Lippen verrieten erste Anzeichen späterer Weiblichkeit. Die für chinesische Verhältnisse recht hellen Kinderhaare waren mitten auf dem Kopf zu einem kleinen Haarschwänzchen zusammengebunden und in die breite Stirn ragte eine kleine kindliche Tolle. Fremden gegenüber war sie zurückhaltend und insgesamt ruhig und ausgeglichen.

Im Sommer 1959 ging die Xiaomeis Mama mit ihrer Tochter an der Hand zum Büro des Kindergartendirektors. Sie meldete sie dort an und von diesem Augenblick gehörte Xiaomei dazu. Der Kindergarten hatte drei Altersgruppen: die jüngste umfasste die Kinder unter vier Jahren, die mittlere die bis fünf Jahre, darüber hinaus gab es noch eine Gruppe für die älteren Kinder. Jede Gruppe hatte einen eigenen großen Spielraum, ausgelegt mit einem roten Holzfußboden. Im Schlafzimmer standen 30 kleine Betten, aufgeteilt in zwei Reihen. Es gab auch eine kleine Aula mit einer Bühne, auf der die Kinder Theaterstücke, Tänze oder musikalische Darbietungen vorführen konnten.

Ein kleiner etwas dicklicher Junge war Xiaomei von Anfang an unsympathisch. Wenn die Erzieherin einmal den Raum verließ, nahm er den Kindern die Süßigkeiten ab, die sie von zuhause mitgebracht hatten. Beim Mittagsschlaf legte er den Mädchen bisweilen heimlich einen Regenwurm neben das Kissen und freute sich, wenn sie beim Aufwachen entsetzt aufschrien.

Xiaomei spielte gerne mit den Holzbausteinen. In der größeren Gruppe interessierte sie sich für das spielerische Erlernen von einfachen Rechenaufgaben, die mit Apfel- oder Birnenbildern an der Tafel durchgeführt wurden.

Parallel zu diesem kindlichen Idyll führte 1959 die verfehlte Wirtschaftspolitik von Mao zur großen chinesischen Hungerkatastrophe. Innerhalb von drei Jahren fielen ihr 36 Millionen Chinesen zum Opfer. Allein in Sichuan, der Heimatprovinz der Familie, kamen 10 Millionen Menschen um.

Im Kindergarten war hiervon glücklicherweise wenig zu spüren. Als soziale Einrichtung des Ministeriums für Maschinenbau genoss er den gleichen Sonderstatus wie das Ministerium selbst. In der gleichen Zeit, in der die Kinder auf dem Land verhungerten, wurde hier eine glückliche Kindheit geboten.

Eines Tages, als Xiaomei zum Wochenende nachhause kam, gab es kein Fleisch auf dem Tisch. Die Sehnsucht nach Fleisch, das in der chinesischen Küche mengenmäßig eine geringe, aber als wesentliche Zutat eine große Rolle spielt, war vor allem bei den Kindern deutlich spürbar. Als Xiaomeis Vater einmal von der Luftwaffe ein Stückchen Fleisch nachhause gebracht hatte, das Nainai sogleich köstlich zubereitete, war die seltene Kostbarkeit von den Kindern schnell entdeckt worden. Nach dem Naschen blieb kaum noch etwas übrig. Als alle am Tisch saßen, fragte der Papa, wo denn das Fleisch sei. Nainai sagte, das hätten zwei kleine Mäuschen weggeschleppt. Es war ein Glück für die Familie, dass der Vater bei der Luftwaffe arbeitete. Öfter konnte er Fisch oder Fleisch, Reis oder Mehl mitbringen, so dass die Entbehrungen in der Hungersnotzeit für die Familie nicht allzu groß wurden.

In der Nachbarschaft sah das nicht immer so gut aus. Da hörte man bisweilen Schimpfen und auch Schläge, wenn ein Kind mehr gegessen hatte als ihm nach dem streng vorgeschriebenen und auch nötig gewordenen Rationierungsplan seiner Familie zustand. Häufig traf dies die kleinen Jungen, die ihren Hunger besonders schlecht zähmen konnten.

Ein Stockwerk oberhalb wohnte Xueqi, ein Mädchen, das drei Jahre älter als Xiaomei war. Sie hatte vier Brüder und drei Schwestern. Der Vater war Beamter, die Mutter blieb zuhause und kümmerte sich um die Kinder. In dieser Familie fehlte es an allen Ecken und Enden. Die Not war am Weinen und Schreien der Kinder schmerzlich zu hören. Nainai steckte den Nachbarkindern hier und da etwas zu. Behoben wurde die Not dadurch zwar nicht, aber vielleicht ein bisschen gelindert und das Gewissen beruhigt.

Die Hungersnot hielt sich in der Stadt gleichwohl in Grenzen. Vom Hungertod bekam man dort nichts mit. Diese entsprechenden Tragödien spielten sich auf dem Land ab, wo der Irrsinn der maoistischen Landwirtschaftspolitik zum Ausgangspunkt für ein unvorstellbar großes Massensterben wurde.

An einem schönen Sonnentag im August 1964 war für Xiaomei der letzte Tag im Kindergarten gekommen. Die 21 Kinder des Abschlussjahrgangs und ihre drei Erzieherinnen trafen sich im Fotoladen zum Abschlussfoto. Xiaomei war doch ein bisschen traurig, dass dieser vertraute Kinderkreis sich nun für immer auflösen sollte. Verdrängt wurde dieses Gefühl aber schnell durch eine unbändige Neugier auf das, was anstelle dessen kommen sollte - die Schule! Jedes Kind bekam als Abschiedsgeschenk einen Bleistift. Dazu gab es ein kleines Heft, in dem allerhand geschrieben stand über die individuelle Zeit im Kindergarten. Aber das konnte Xiaomei noch nicht lesen. Zum Erlernen der schwierigen chinesischen Schriftzeichen brauchen die Kinder doch etwas länger.

Als sie nachhause kam, musste ihre Mama ihr aber sofort aus dem Heft vorlesen. Die Erzieherinnen hatten in dem Heft neben persönlichen Daten auch eine kleine Beurteilung abgefasst, wie aus ihrer Sicht die Entwicklung der Persönlichkeit des jeweiligen Kindes verlaufen war. Danach war Xiaomei ein folgsames und umgängliches Mädchen, das aber noch keine überdurchschnittliche Begabung zeigte. „Das ist gar nicht entscheidend!“, erklärte ihr ihre Mama: „Mit Fleiß kannst auch du deine Ziele erreichen. Eine alte chinesische Weisheit besagt, der unbeholfene Vogel fliegt zuerst los - er braucht eben mehr Zeit.“ Als die Mama das erzählte, hatte sie einen Bottich mit Wäsche vor sich stehen, saß auf einem kleinen Hocker davor und arbeitete am Waschbrett. Zwischendurch warf sie immer wieder einen Blick auf das Heft, aus dem sie vorlas. Xiaomei hatte in diesem Augenblick verstanden, dass Fleiß für sie entscheidend war. Das prägte sie auf Dauer.

Auf der Bi Wan Zhuang-Grundschule

Am 1. September 1964 war der ersehnte Zeitpunkt gekommen, zu dem die Schule begann. Jingxia, wie das ehemalige „kleine Mädchen“ jetzt ja hieß, zog gut gerüstet los. Umgehängt hatte sie die grüne Militärtasche ihres Vaters, in der nun eine kleine Schiefertafel steckte, zudem ein Metallkästchen für ihre Griffel und ein kleines Schwämmchen, das sorgfältig in einen genähten Stoffbeutel gesteckt worden war. Außen hing ihr bunter Emaillebecher, der allerdings auch durch einen Stoffbeutel geschützt wurde. Die Schule war erst vor wenigen Jahren gegründet worden. Dem fast neuen dreistöckigen Schulgebäude aus rotem Ziegelstein war ein großzügiger Schulhof vorgelagert, der durch Schatten spendende Weidenbäume umgrenzt war.

Die höheren Klassen gestalteten die Einführungszeremonie für die Neuankömmlinge. Dafür wurden von den Schulkindern frische Melodien auf Trompeten gespielt, die vom Trommelschlag weiterer Musikanten begleitet wurden. Die ganze Musikgruppe trug einheitlich weiße Hemden oder Blusen, über die die roten Halstücher der Jungen Pioniere gezogen waren. Die Mädchen trugen dazu kurze blaue Röcke, die Jungen blaue Hosen. Jingxia war voller Bewunderung für diesen glanzvollen Auftritt und die Uniformierung ihrer künftigen Mitschüler.

Sie kam in die Klasse zwei des ersten Jahrgangs. Nachdem die Schulklingel verstummt war, kam eine sehr junge Lehrerin in ihr Klassenzimmer. Jingxia hatte sie vom ersten Augenblick an in ihr Herz geschlossen. Sie war groß, hatte runde rote Backen und ihr schwarzes Haar zu zwei langen Zöpfen geflochten, die auf ihrem Rücken hingen.

„Guten Morgen, liebe Schüler!“, begrüßte sie die neue Klasse mit ihrer klangvollen Stimme, und jedes Mal, wenn eine neue Stunde begann, wurde der Gruß wiederholt. Die Kinder standen während der Begrüßung auf und erwiderten mit „Guten Tag, Frau Lehrerin!“ Danach forderte die Lehrerin die Kinder auf, sich zu setzen.

„Mein Nachname ist Chen, mein Vorname ist Chunyuan, ab heute bin ich eure Klassenlehrerin und eure Lehrerin für Chinesisch.“, begann sie ihren Unterricht und schrieb ihren Namen in chinesischen Buchstaben auf die Schultafel.

Jingxia schaute sich ein wenig im Klassenzimmer um. Vorne an der Wand hing die schwarze Schultafel, darüber das Bild des Vorsitzenden Mao. Links und rechts neben seinem Konterfei waren Zitate aus den Worten des Vorsitzenden Mao abgedruckt. Als Jingxia Lesen gelernt hatte, konnte sie sie entziffern. Sie hießen so etwas wie: „Mit gutem Lernen wirst du jeden Tag weiter nach oben kommen“ u.ä.. In sechs Längsreihen standen jeweils sieben Schülertische aus Holz, an denen die Kinder einzeln saßen. Jingxias Tisch war der dritte von vorne. Links neben ihr saß ein Mädchen mit kurzen Haaren, die ihr nur knapp bis über die Ohren gingen. Sie hatte ein flaches und etwas kantiges Gesicht, kleine Augen, eine breite Nase und einen etwas großen Mund. Auch wenn sie nicht zu den Hübschesten gehörte, so wurde das durch ihr warmherziges Lächeln ganz und gar ausgeglichen.

„Jetzt fange ich an, die Namen aufzurufen. Die aufgerufenen Schüler stehen dann bitte auf, damit wir die Namen der Mitschüler kennen lernen können“, setzte Lehrerin Chen ihren Unterricht fort und hielt in der Hand die Namensliste.

„Wang Fengxin!“, rief sie.

„Hier!“, antwortete das angesprochene Mädchen links neben Jingxia und stand auf.

Und so ging es weiter – alle 14 Kinder durch. Irgendwann würde sich wohl die Namen der Mitschüler und Mitschülerinnen merken können.

Das erste Jahr auf der Grundschule war ein Jahr fröhlicher unbeschwerter Kindheit. Jingxia zeigte recht bald eine besondere Stärke im sprachlichen Bereich. Die Satzbildung fiel ihr leicht und schon nach kürzerer Zeit konnte sie einfache Themen erzählerisch aufarbeiten. In Chinesisch war sie immer an der Spitze und wurde von der Klassenlehrerin zur Sprecherin ernannt. Damit bekam sie verantwortungsvolle Aufgaben zugeteilt: Sie musste die Hefte einsammeln und die schlechteren Schüler beim Lernen unterstützen.

Frau Chen war eine beeindruckende, ja liebenswerte Lehrerin. Jingxia bekam dies selbst sehr bald am eigenen Leibe zu spüren: An einem sehr heißen Sommertag, kurz nach Schulende, fühlte sich Jingxia sehr schlecht und musste sich schließlich übergeben. Ihre Lehrerin zögerte keinen Augenblick, selbst mit anzupacken und das Erbrochene zu beseitigen. Dann sagte sie zu Jingxia: „Komm, ich nehme dich auf meinen Rücken und trage dich nachhause.“ Der Weg dauerte 15 Minuten. Sie legte ihn mit dem Kind auf dem Rücken ohne anzuhalten zurück. Jingxia war von dem Verhalten ihrer Lehrerin so beeindruckt, dass sie sich insgeheim wünschte, eines Tages auch so zu werden wie sie.

Im Laden der Konsumgenossenschaft von Bai Wan Zhuang konnte man alles finden, was man für das Abdecken des täglichen Bedarfs benötigte. Er war unterteilt in mehrere, eigenständige kleine Läden. In einem Laden wurden Reis, Mehl und andere Getreideprodukte verkauft. Hier waren die Kinder besonders gerne. Vor dem Laden wurden für wenig Geld kleine Hefte mit Bildergeschichten verliehen. Die Kinder konnten sich auf bereitstehende Hocker setzen und in ihre Hefte vertiefen. Erzählt wurden in den Heften Geschichten aus alter Zeit. Aus ihnen konnten die Kinder Eindrücke von China, seiner Vergangenheit und seiner großen Kultur gewinnen. Jingxia hatte inzwischen lesen gelernt und suchte diesen Platz häufig auf. Einmal stieß sie auf ein Buch, das den Titel trug: „100.000 Warum“. Es handelte sich um ein Kinderlexikon, in dem viele Fragen, die Kindern auf dem Herzen lagen, angesprochen und beantwortet wurden. Jingxia griff immer wieder nach diesem Buch und konnte sich kaum von ihm lösen. Als ihr Vater das bemerkte, kaufte er dieses Buch und stellte es zuhause auf. Nun konnte sie in aller Ruhe immer wieder darin stöbern.

Die komplette Ausgabe des Lexikons „100.000 Warum“ umfasste 14 Bände. Der kartonierte Einband war in schwarz-roten Grafiken gehalten. Es gab gesonderte größere Abschnitte zur Astronomie, Mathematik, Geographie, Medizin, Biologie und Botanik, Chemie, Physik, Meteorologie und weiteren wichtigen naturwissenschaftlichen Wissensgebieten. Im Stil waren sie auf die Kinder zugeschnitten; sie entsprachen der geduldigen Vorgehensweise eines idealen Lehrers, der auf die vielen Fragen seiner Schüler eingeht.

Nach den vielen Verwirrungen und Zweifeln, die nach der Hungerskatastrophe in der chinesischen Bevölkerung entstanden waren, entwickelte die kommunistische Propaganda eine neue Strategie. Man hob positive Figuren als Leitbilder hervor, mit denen sich die Bevölkerung identifizieren sollte. Auch in den kleinen Heftchen mit Bilderzählungen tauchten nun Helden des Maoismus auf, die zum Vorbild gemacht wurden. In einer dieser Geschichten ging es um zwei Heldenschwestern in der Steppe. Jingxia selbst war von dieser Geschichte tief berührt. Insbesondere die Figur der jüngeren Schwester Yurong mit ihrem sympathischen runden Gesicht war tief in ihr Herz eingedrungen.

Da die Geschichte der beiden Schwestern Jingxia so sehr beeindruckte, sei sie an dieser Stelle kurz zusammengefasst: Am Morgen des 9. Februars 1964 gingen die beiden mongolischen Mädchen Longmei und Yurong alleine mit der Schafherde in die Ulangab-Steppe, obgleich sie erst elf und neun Jahre alt waren. Da zog ein schweres Schneegewitter auf. Als sie die Schafherde zum Dorf zurücktreiben wollten, liefen die Tiere verängstigt auseinander. Mit äußerster Kraft und Energie trieben die Kinder die Schafe immer wieder zusammen und in Dorfrichtung; der Ruck war unfassbar groß, denn immerhin ging es dabei um den Erhalt der Lebensgrundlage des Dorfes. Es wurde immer dunkler und die Temperatur war auf -37° abgesunken. Die beiden Mädchen hatten sich im Unwetter zu wahren kleinen Schneemenschen entwickelt. Die Ältere lief vorneweg, die Jüngere lief hinterher, dazwischen liefen die Schafe, nun aber nicht mehr in Herdenform, sondern in einem weit auseinandergezogenen Kordon. Die beiden Schwestern mussten sich durch den Sturm hinweg mit lautem Rufen verständigen. Immer wieder riefen sie gegenseitig ihre Namen, um sich nicht zu verlieren. Obgleich sie selbst in dieser Eiseskälte erbärmlich froren, blieb für sie das wichtigste Ziel: Kein einziges Schaf durfte verloren gehen. In ihrem Kampf bemerkten sie nicht, dass er einen ganzen Tag und eine Nacht andauerte und sie dabei 50 km zurücklegten.

Als die beiden Mädchen vor Erschöpfung nicht mehr weitergehen konnten, legten sie mit der Herde mitten im Schneesturm eine Rast ein. Nun schaute Longmei nach ihrer Schwester und stellte entsetzt fest, dass diese einen Schuh verloren hatte. Sie versuchte, ihren eigenen Schuh vom Fuß zu lösen, um ihn der Schwester zu geben. Das gelang nicht; das Leder war so hart gefroren, dass sich der Schuh nicht bewegen ließ. Da nahm sie den nackten Fuß der Schwester und drückte ihn an ihre Brust, um ihn zu wärmen.

Als die Leute vom Dorf die Beiden auffanden, hatten sie ihr Bewusstsein verloren. Man brachte sie schleunigst in das nächste Krankenhaus. Ihr Leben konnte gerettet werden. Der Parteichef des Dorfes selbst besuchte die beiden Schwestern im Krankenhaus und berichtete ihnen: Von den 384 Schafen waren nur drei erfroren, alle anderen hatten überlebt. Die körperlichen Schäden, die die beiden Mädchen davontrugen, waren aber folgenschwerer. Der Älteren mussten die erfroren Fußzehen amputiert werden, der Jüngeren der untere Teil beider Beine. Die Geschichte hatte einen wahren Hintergrund. Die beiden Schwestern erhielten höchste Auszeichnungen.

Auch ein zweites Buch, von dem Jingxia tief beeindruckt war, soll kurz skizziert werden. Es behandelte die Geschichte von Lei Feng. Dessen ganzes Bestreben war es, dem Volk zu dienen. Sein eigener Name sollte bei all seinen guten Taten gar nicht in Erscheinung treten. Seine Geschichte lässt sich wie folgt beschreiben: Lei Feng wurde am 18. Dezember 1940 in der Provinz Hunan in einer armen Bauernfamilie geboren. Als er noch nicht sieben Jahre alt war, hatte er bereits beide Eltern verloren. Er wuchs im Kreise seiner Verwandtschaft auf. Dort half er, das nötige Holz aus dem Gebirge herbeizuschaffen, um die häuslichen Feuerstätten zu versorgen. Als die kaltherzige Bodenbesitzerin ihn eines Tages dabei erwischte, entriss sie ihm wütend sein Baummesser und schlug ihm damit dreimal so kräftig auf die Hand, dass er heftig blutete. Die drei Narben hiervon waren zeitlebens zu sehen.

Im August 1949 kam die Volksbefreiungsarmee am Dorf von Lei Feng vorbei. Er sah, wie die Soldaten insbesondere von der armen Bevölkerung freudig begrüßt wurden. Das waren keine plündernden und marodierenden Truppen, wie man sie während der langen Kriegszeiten immer wieder erlebt hatte. Die Bevölkerung unterstützte deswegen die Volksbefreiungsarmee und half ihr, wo immer sie konnte. Lei Feng wollte gerne zu dieser Truppe gehören. Er suchte deswegen den Kompanieführer auf und trat mit seinem Wunsch an ihn heran. Aber Lei Feng war noch zu jung. „Wenn du groß genug bist, kannst du gerne zu uns kommen. Vorher musst du noch viel lernen“, verhieß ihm der Kompanieführer und schenkte ihm einen Füllfederhalter.

Im Januar 1960 wurde Lei Feng in die Volksbefreiungsarmee aufgenommen, im November danach wurde er Mitglied der kommunistischen Partei. Von diesem Augenblick an war sein ganzes Bestreben nur noch darauf gerichtet, dem Volk zu dienen. Den Kopf voller Sprüche aus den Werken des Vorsitzenden Mao vollbrachte er eine gute Tat nach der anderen und achtete sorgfältig darauf, dass dies nicht ihm und seinem Namen zugerechnet wurde.

Am 15. August 1962 starb Lei Feng bei einem Unfall im Dienst, als er einen Militärtransporter einweisen half.

Am 5. März 1963 gab Mao die Parole aus, das Volk müsse vom Genossen Lei Feng lernen. Zhou En Lai konkretisierte, was zu lernen sei: Genau unterscheiden, was man lieben und was man hassen soll; im revolutionären Geist sind Wort und Tat eins; im kommunistischen Stil lebt der Mensch für das Volk, sein persönlicher Egoismus tritt zurück; der Kampf für das Proletariat ist aufopferungsvoll.

Lei Feng hat viel Gutes getan: Als er auf Dienstreise war und in Shenyang am Bahnhof sein Ticket gekauft hatte, sah er eine Frau mittleren Alters mit einem Kind auf dem Rücken, die von vielen Menschen umgeben war. Er fragte nach, was passiert sei, und erfuhr, dass sie ihr Portemonnaie und ihr Ticket verloren hatte. Trotz des geringen Soldes, über den er verfügte, ging er ohne zu zögern zum Schalter und kaufte ein neues Ticket. Als die Frau ihn zu Tränen gerührt nach seinem Namen fragte, antwortete er: „Ich heiße Befreiungssoldat und wohne in China.“

Eines Tages hatte er Bauchweh und war auf dem Weg zum Krankenhaus. Da kam er an einer Baustelle vorbei und sah, wie fleißig die Arbeiter ans Werk gingen. Sofort unterbrach er seinen Weg und unterstützte tatkräftig die Bauarbeiter. Als ihn seine Kameraden später fragten, was mit seinem Bauchweh sei, antwortete er: „Arbeit kann auch Krankheit heilen.“

Als er wiederum einmal in ein Gewitter geriet, sah er eine Frau, die ihre Last in einem Tuch und zudem ihr Kind trug, gegen den starken Regenguss aber ungeschützt war. Sofort legte er den eigenen Regenmantel über die Frau und das Kind und begleitete sie über Stunden nachhause. Als die Frau sich dann umdrehte, um sich zu bedanken, war er bereits wieder verschwunden.

Die absolute Selbstlosigkeit und die Hingabe von Lei Feng an seine Mitmenschen hat Jingxia tief berührt. Sie nahm sich deshalb vor, von ihm zu lernen. Sie kam von da an früher als alle ihre Mitschüler lange vor dem Unterricht zur Schule, putzte die Schülertische und blieb nach Beendigung des Unterrichts, um noch der Lehrerin zu helfen.

Sie liebte die berühmten Aussprüche von Lei Feng:

Lieber wie die Kiefer auf dem harten Felsen sein als wie die Weide am sanften Fluss; lieber einen harten Lebenskampf führen als ein bequemes Leben.

Der einzelne Wassertropfen entgeht der Gefahr des Vertrocknens nur, wenn er der Wassermasse des Meeres angehört, unsere Stärke beziehen wir aus der Gemeinschaft.

Das Land sind wir und müssen deswegen jederzeit bereit sein, dem Land zu dienen.

Das menschliche Leben ist begrenzt, der Dienst am Volk kennt kein Ende. An dieser Unendlichkeit möchte ich teilhaben.

Jugend ist ewig schön, aber wirkliche Jugend besteht darin, unentwegt nach vorne zu streben, selbstlos hart zu arbeiten und dabei immer bescheiden zu bleiben.

Zum Ende des Halbschuljahres hatte Fengxin Wang bei den Abschlussprüfungen die Prüfung für Chinesisch nicht bestanden. Jingxia wurde von der Lehrerin gebeten, ihr beim Lernen weiterzuhelfen. Die Betreuung mit dieser Aufgabe machte sie glücklich, sie freute sich darauf.

An einem Nachmittag nach dem Schulunterricht begann sie mit ihrer Arbeit. Während sie zusammensaßen, klagte Fengxin plötzlich über ein Kratzen in ihrem Hals und fing an zu husten. Jingxia wurde ganz blass, als sie sah, wie auf einmal aus dem Hals der Klassenkameradin ein weißer Wurm herauskam. Es war ein Bandwurm, wie sie ihn selbst schon einmal gehabt hatte. Aber ihre Großmutter Nainai hatte rechtzeitig die Anzeichen bei ihr erkannt und ihr die Mittel gegeben, mit denen sie dieses Problem über den Stuhlgang loswurde. Deswegen hatte sie so etwas noch nie erlebt. Damals kamen Bandwürmer häufiger bei den Kindern in Peking vor. Jingxia erschreckte aber der Anblick von Fengxin dermaßen, dass sie zu weinen anfing. Fengxin beruhigte sie: „Ich bringe das schon in Ordnung.“ Sie holte einen Besen und eine Schaufel, reinigte den Boden und forderte Jingxia dann auf: „Komm, wir gehen zu mir nachhause und spielen gemeinsam.“

Beide liefen nun zu einem Wohnbezirk südlich von Bai Wan Zhuang mit dem Namen Kou Zhong Miao. Die Häuser waren hier viel älter und ebenerdig gebaut. Zum Teil bestanden sie aus dem für Peking typischen grauen Ziegelstein, zum Teil waren sie auch aus Lehm errichtet. Die Wege in solchen Vierteln, den Pekinger Hutongs, waren damals noch nicht gepflastert oder asphaltiert. Auf lehmigem Boden legten die beiden Mädchen ihren Weg durch enge Gassen zurück, der einmal eine rechte, dann wieder eine linke Biegung einnahm, aber niemals gerade ausführte. Endlich kamen sie durch ein Tor, hinter dem der Hof lag, um den herum die einfachen flachen Häuser für fünf bis sechs Familien gruppiert waren. Fengxins Haus hatte nur zwei Zimmer, ein inneres und ein äußeres, jeweils mit einem Kang ausgestattet. Der Kang ist das traditionelle gemauerte chinesische Bett, auf dem man tagsüber gemeinsam sitzt, das Essen einnimmt und auch Besucher empfängt, und auf dem nachts dann die Unterlagen und Decken ausgerollt werden, um zu schlafen. Er wird durch den Abzug des Herdes von unten beheizt. Auf dem äußeren Kang waren hübsch gemusterte Decken in allen Farben übereinandergestapelt, auf der anderen Seite des Kangs stand eine flache Kommode, in der die Kleidung untergebracht war. In der Mitte befand sich ein niedriger Tisch. An ihm saß Fengxins Mama und klebte Streichholzschachteln zusammen, um zum Broterwerb der Familie beizutragen.

„Mama, das ist meine Schulkameradin Jingxia“, stellte Fengxin vor und legte zugleich ihre Schultasche auf den äußeren Rand des Kangs. Sie griff zu einem kleinen Kürbisgefäß, das immer auf dem Holzdeckel der Keramiktonne im Raum bereit lag, und schöpfte Wasser, mit dem sie sich erfrischte.

„Da ist ja viel zu wenig Wasser drin“, stellte sie beim Trinken fest. „Ich gehe gleich Wasser holen.“

„Ich helfe dir“, rief Jingxia etwas aufgeregt. Sie hatte noch nie erlebt, wie das Wasser herbeigetragen wurde.

Fengxin holte eine Holzstange zum Tragen, einen Eimer, nahm Jingxia an die Hand und beide Mädchen gingen los. Hundert Meter entfernt befand sich der öffentliche Wasserhahn, umgeben von Frauen, die ihr Gemüse oder auch ihre Wäsche wuschen und dabei allerhand zu erzählen hatten. Der ganze Platz war nass und etwas glitschig.

Nachdem Fengxin ihren Eimer am Wasserhahn gefüllt hatte, schob sie die Stange unter den Tragegriff und fragte Jingxia: „Nimmst du die andere Seite?“

„Kein Problem“, antwortete diese.