Kinder entdecken Sprache - Katrin Alt - E-Book

Kinder entdecken Sprache E-Book

Katrin Alt

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Beschreibung

Die Sprachentwicklung ist eine der zentralen Entwicklungsaufgaben der frühen Kindheit. Das Buch führt frühpädagogische Fachkräfte in die Grundlagen und Fördermöglichkeiten frühkindlicher Sprachentwicklung ein. Zunächst werden der Spracherwerb von der Geburt bis zum Grundschulalter erklärt sowie sprachdiagnostische Verfahren diskutiert und Entwicklungsbedingungen für mehrsprachig aufwachsende Kinder vorgestellt. Im zweiten Teil werden die Rolle der Fachkräfte, die alltagsintegrierte Sprachbildung und die Literacy-Entwicklung in der Kita beschrieben. Darüber hinaus wird in Fördermöglichkeiten vom Dialogischen Lesen über die Erzählförderung bis hin zum Philosophieren mit Kindern eingeführt. Zahlreiche an der Praxis orientierte Tipps helfen bei der Umsetzung in den Kita-Alltag.

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Inhalt

Cover

Titelei

Einleitung

I Spracherwerb des Kindes im Alter von 0 – 6 Jahren

1 Meilensteine des Spracherwerbs

1.1 Die Komponenten der Sprache

1.1.1 Phonetik und Phonologie

1.1.2 Semantik

1.1.3 Morphologie und Syntax (Grammatik)

1.1.4 Pragmatik

1.2 Meilensteine des Spracherwerbs

1.2.1 Der Spracherwerb beginnt vor der Geburt

1.2.2 Der Spracherwerb im 1. Lebensjahr

1.2.3 Der Spracherwerb im 2. Lebensjahr

1.2.4 Der Spracherwerb im 3. Lebensjahr

1.2.5 Der Spracherwerb im 4. Lebensjahr

1.2.6 Der Spracherwerb vom 5. Lebensjahr bis zum Schuleintritt

2 Voraussetzungen für einen gelingenden Spracherwerb

2.1 Kindliche Voraussetzungen: Wahrnehmung, Sprechorgane und Kognition

2.2 Äußere Bedingungen: Sprachliche Interaktion mit Bezugspersonen

2.3 Schwierigkeiten beim Erwerb der Sprache

3 Spracherwerb unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit

3.1 Was ist Mehrsprachigkeit?

3.2 Verschiedene Erwerbsbedingungen von Mehrsprachigkeit

3.3 Besonderheiten des Spracherwerbs bei mehrsprachigen Kindern

3.3.1 Simultane Mehrsprachigkeit

3.3.2 Sukzessive Mehrsprachigkeit/Kindlicher Zweitspracherwerb

3.3.3 Sprachmischungen und Sprachdominanz

3.4 Mehrsprachigkeit zwischen individueller Chance und gesellschaftlicher Aufgabe

4 Mehrsprachigkeit in der Kindertagesstätte

4.1 Was ist eine mehrsprachige Kita?

4.2 Konzeptionelle Grundlagen

4.3 Möglichkeiten der Gestaltung des Kita-Alltags

4.3.1 Mehrsprachige Bilderbücher

4.3.2 Digitale Medien

4.3.3 Projekte und Angebote: Beispiel Sprachenportraits

4.3.4 Sprachressourcen von mehrsprachigen Fachkräften und Kindern nutzen

4.4 Zusammenarbeit mit Eltern

4.4.1 Familialer Sprachgebrauch

4.4.2 Elterngespräche führen

4.5 Fazit

5 Bildungssprache im Übergang von der Kita in die Schule

5.1 Entstehungsgeschichte des Begriffs Bildungssprache

5.2 Gebrauch des Begriffs heute

5.3 Bildungssprachliche Merkmale

5.4 Beobachtungsinstrument für bildungssprachliche Fähigkeiten: Die RaBi-Skala

5.5 Förderung bildungssprachlicher Strukturen in der Kita

6 Sprachdiagnostik

6.1 Vorschulische Sprachstanderhebungsverfahren

6.2 Beobachtung und Dokumentation sprachlicher Bildungsprozesse im Kita-Alltag

6.2.1 Sismik, Seldak und Liseb

6.2.2 BaSiK

6.2.3 Fazit

6.3 Empfehlungen für die Auswahl von Verfahren zur Sprachdiagnostik

II Sprachliche Bildung

7 Begriffsklärungen und konzeptuelle Grundlagen

8 Die Rolle der pädagogischen Fachkraft: Interaktionsfördernde Verhaltensweisen

8.1 Qualität der Interaktion

8.2 Umsetzungsmöglichkeiten in der Praxis

9 Literacy-Förderung: Zusammenhänge zwischen Sprache und Schrift

9.1 Sprachbewusstheit und phonologische Bewusstheit

9.2 Literarische Erfahrungen

9.3 Schrifterfahrungen (Literalität)

9.4 Literacy-Förderung in der Kita

10 Dialogisches Lesen als alltagsintegriertes Sprachbildungsangebot

10.1 Forschungsergebnisse als Ausgangspunkt für die Entwicklung des Dialogischen Lesens

10.2 Haltung der Fachkraft beim Dialogischen Lesen

10.3 Umsetzung des Dialogischen Lesens

10.4 Empfehlenswerte Bilderbücher für das Dialogische Lesen

11 Erzählförderung

11.1 Entwicklung von Erzählkompetenzen

11.2 Kulturabhängigkeit des Erzählens

11.3 Erzählkompetenzen reflektieren

11.4 Erzählförderung in der Kita

11.5 Die Erzählschiene

11.6 Das Erzähltheater – Kamishibai

11.7 Das Erzählsäckchen

12 Mehrsinngeschichten im inklusiven Kontext

12.1 Kurze Historie der Mehrsinngeschichte

12.2 Ziele einer Mehrsinngeschichte

12.3 Die Buchauswahl für Mehrsinngeschichten

12.4 Die Vorbereitung von Mehrsinngeschichten

12.5 Die Umsetzung von Mehrsinngeschichten

12.6 Ein Beispiel

13 Philosophieren mit Kindern als sprachbildendes Prinzip

13.1 Forschungsbefunde zum Zusammenhang des Philosophierens mit Kindern und Sprachkompetenzen

13.2 Umsetzung des Philosophierens mit Kindern

13.3 Philosophieren mit Bilderbüchern

13.4 Zusammenfassung

Anhang

Literaturverzeichnis

Die Autorinnen

Prof. Dr. Katrin Alt ist Diplom-Pädagogin und hat im Bereich der Sprachbildung und des Philosophierens mit Kindern promoviert. Nach drei Jahren als Kitaleitung in der Praxis und Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiterin an den Universitäten Hamburg und Bremen ist sie seit 2020 als Professorin im Studiengang Bildung und Erziehung in der Kindheit an der HAW Hamburg tätig.

Dr. Annette Prochnow ist Diplom-Pädagogin mit Schwerpunkt Elementarpädagogik sowie Sprachheilpädagogin (Magister) und hat zur frühen kindlichen Sprachentwicklung promoviert. Nach langjähriger Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studiengang Bildung und Erziehung in der Kindheit an der HAW Hamburg ist sie aktuell Qualitätsmanagerin eines Hamburger Kita-Trägers.

Katrin Alt/Annette Prochnow

Kinder entdecken Sprache

Sprachentwicklung, Sprachbildung und Sprachförderung in der Kita

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-039830-6

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-039831-3epub:ISBN 978-3-17-039832-0

Einleitung

»Ich hab' so einen großen Wortschatz – der reicht vom Kopf bis zu den Zehenspitzen.« (Nika, 6 Jahre)

Der Erwerb einer oder mehrerer Sprachen ist eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben der frühen Kindheit. Jedes Kind eignet sich die Sprache‍(n) seiner Lebenswelt gemäß individuellen Voraussetzungen in seinem eigenen Tempo und durch die Interaktion mit seinen Bezugspersonen an. Dennoch gibt es für die verschiedenen Spracherwerbsbereiche, wie zum Beispiel die Laut- und Wortschatzentwicklung sowie die Entwicklung grammatischer Kompetenzen, gut belegte sensible Phasen, die der Orientierung in der Beurteilung einer altersgemäßen Entwicklung der Kinder dienen. Sich dieser bewusst zu sein, hilft im Alltag, die Entwicklung der Kinder besser einschätzen und fördern zu können.

Das vorliegende Buch bietet einen wissenschaftlich fundierten und zugleich praxisnahen Überblick der auf den kindlichen Spracherwerb bezogenen Themenfelder aus pädagogischer Perspektive. Es liefert somit den Grundstein für das notwendige Fachwissen, das pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten benötigen, um professionell und handlungssicher agieren zu können. Darüber hinaus bietet es eine Vielzahl an praktischen Anregungen zur Umsetzung im pädagogischen Alltag und als spezifische Angebote.

Im ersten Teil des Buchs werden die Grundlagen des kindlichen Spracherwerbs von Geburt an bis hin zum Übergang in die Grundschule aufgezeigt. Weitere wichtige kindliche Entwicklungsvoraussetzungen sowie auch der Einfluss des Interaktionsverhaltens der pädagogischen Fachkräfte und der Eltern werden beschrieben. Zur Sensibilisierung einer altersentsprechenden Entwicklung in Abgrenzung einer förderbedürftigen Entwicklung des Kindes werden verschiedene sprachdiagnostische Verfahren vorgestellt. Dafür werden aktuell verfügbare Verfahren (z. B. Sismik, Seldak, Liseb, BaSiK) beschrieben, hinsichtlich ihrer Anwendungsbereiche systematisiert und Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes in der pädagogischen Praxis aufgezeigt.

In deutschen Großstädten wachsen inzwischen mehr als die Hälfte der Kinder mit Deutsch als Zweitsprache auf. Zusätzlich zum Spracherwerb einsprachiger Kinder werden daher auch Entwicklungsbedingungen für simultan und sukzessiv zweisprachig aufwachsende Kinder vorgestellt. Den ersten Teil rundet ein Kapitel ab, in dem das Konstrukt der »Bildungssprache« erläutert wird. Dabei handelt es sich um ein sprachliches Register, welches Kinder sich mit zunehmendem Alter aneignen, um sich fachlich richtig und grammatikalisch differenziert ausdrücken zu können. Bildungssprachliche Fähigkeiten spielen im Übergang in die Grundschule eine wichtige Rolle und können bereits in der Kita alltagsintegriert angebahnt werden.

Im zweiten Teil des Buchs geht es darum, verschiedene praktische Fördermöglichkeiten in der Kita aufzuzeigen. Dafür werden einerseits Möglichkeiten der alltagsintegrierten Sprachbildung und Sprachförderung aufgezeigt sowie andererseits auch Methoden und Anlässe, um gezielt komplexe sprachliche Äußerungen der Kinder herauszufordern. Der Bereich der Literacy-Entwicklung wird mit aufgenommen, um zu erläutern, wie gesprochene Sprache und Schrift sowie Literaturerfahrungen miteinander zusammenhängen. In vier aufeinanderfolgenden Kapiteln werden das Dialogische Lesen, die Erzählförderung, der Einsatz von Mehrsinnesgeschichten und das Philosophieren mit Kindern mit ihren Potenzialen für die Förderung der kindlichen Sprachentwicklung dargestellt und mit vielen didaktischen Tipps zur Umsetzung im Kita-Alltag erläutert, damit sprachliche Bildung nicht nur eine wichtige Aufgabe bleibt, sondern auch einfach Spaß macht.

I Spracherwerb des Kindes im Alter von 0 – 6 Jahren

1 Meilensteine des Spracherwerbs

Der Erwerb der Sprache stellt eine der bedeutendsten Entwicklungsaufgaben in der Kindheit dar. Unabhängig davon, ob ein Kind die Laut- oder Gebärdensprache erwirbt oder ob eine oder mehrere Sprachen gelernt werden: Die wichtigsten Entwicklungsschritte vollziehen sich in früher Kindheit. Diese Entwicklungsschritte werden von jedem Kind in ähnlicher Weise und grundsätzlich vergleichbar durchlaufen. Es gibt allerdings zwischen den Kindern große individuelle Unterschiede, auch besonders hinsichtlich des zeitlichen Verlaufs. Jedes Kind erwirbt die Sprache im eigenen Tempo, sodass die Altersangaben für die Erreichung von bestimmten Meilensteinen immer nur einen groben Orientierungsrahmen bilden können.

In diesem Kapitel werden die wichtigsten Meilensteine des Spracherwerbs überblicksweise beschrieben. Zunächst ist es allerdings wichtig, einen detaillierteren Blick auf das Wesen der Sprache zu werfen: Welche Strukturen liegen der Sprache zugrunde und was genau lernt ein Kind, wenn es Sprache erwirbt?

1.1 Die Komponenten der Sprache

»Für die meisten Menschen ist die Struktur der Sprache etwas völlig Selbstverständliches. Wir sind so daran gewöhnt, unsere Muttersprache mit unbefangener Mühelosigkeit zu sprechen und zu verstehen, daß uns die vielschichtige sprachliche Architektur, die nahezu jedem Satz zugrunde liegt, gar nicht auffällt.« (Crystal 1998, S. 81)

Das Wissen um diese »vielschichtige sprachliche Architektur« spielt für Kinder natürlich ebenfalls keine bewusste Rolle, denn sie erwerben die Sprache unbewusst. Niemand erklärt ihnen die Regeln, sondern sie müssen sie sich selbst aus dem Sprachstrom, der sie umgibt, erschließen und ableiten. Aber auch erwachsenen Sprecher*innen sind die Komponenten der Sprache und die Regeln ihrer Zusammensetzung nicht immer bewusst.

Gustav (2;3 Jahre) beobachtet aus dem Fenster heraus, wie draußen Kinder spielen. Zu seinem Vater gewandt sagt er: »Gugu auch Bipla Tinner«.

Inhaltlich lässt sich die kommunikative Absicht des Satzes aus dem Kontext heraus erschließen: Gustav (Gugu) möchte auch auf den Spielplatz (Bipla) zu den Kindern (Tinner) gehen. Werden nur die sprachlichen Strukturen betrachtet, ist aus Erwachsenenperspektive auch leicht zu erkennen, dass dieser Satz, verglichen mit der Norm der Erwachsenensprache, noch nicht korrekt ist. Der Satz ist unvollständig, denn es fehlen Wörter. Und die, die genannt werden, werden falsch ausgesprochen. Schwieriger ist es schon zu benennen, in welchen sprachlichen Strukturen genau die »Fehler« stecken. Noch schwieriger ist es, zu bewerten, ob diese »Fehler« Teil eines altersentsprechenden Sprachentwicklungsverlaufs sind oder ob sie bereits eine Auffälligkeit im Spracherwerb darstellen. Um diese Fragen besser beantworten zu können, lohnt es sich, sich einmal etwas näher damit auseinanderzusetzen, was Sprache ist und wie sie aufgebaut ist. Denn für pädagogische Fachkräfte, zu deren Aufgaben die Beobachtung, Dokumentation und Begleitung von individuellen Spracherwerbsverläufen gehört, ist das Wissen über die Strukturen der Sprache von hoher Bedeutung. Dieses Wissen ermöglicht es, den Spracherwerb eines Kindes noch detaillierter einschätzen zu können, etwaige Auffälligkeiten konkreter beschreiben und benennen zu können sowie auch gezielt den Spracherwerb unterstützen zu können.

Nach Kauschke lässt sich Sprache »als gegliedertes System von Zeichen betrachten, in dem Einheiten zu größeren Komplexen kombiniert oder in kleinere Elemente zergliedert werden können« (Kauschke 2012, S. 2). Welche Regeln und Einheiten der Sprache zugrunde liegen, werden in der Sprachwissenschaft klassischerweise auf Basis der Disziplinen Phonologie, Semantik, Morphologie, Syntax und Pragmatik beschrieben. Sie dienen in der Spracherwerbsforschung auch zur Strukturierung der Beschreibung von kindlichen Spracherwerbsverläufen. Die Meilensteine des kindlichen Spracherwerbs werden daher in diesem Kapitel anhand der sprachlichen Komponenten (häufig auch Ebenen genannt) Phonetik und Phonologie, Semantik, Syntax und Morphologie sowie Pragmatik beschrieben. Um kommunizieren zu können, müssen sich Kinder in den ersten Lebensjahren die Regeln erschließen, nach denen die einzelnen Einheiten der Sprache zusammengesetzt werden, und wie diese Regeln angewandt werden können. So lernt ein Kind (z. B. Kauschke 2012, S. 2),

Laute zu erkennen, voneinander zu unterscheiden und selbst zu produzieren (phonetische und phonologische Ebene),

Wörter zu verstehen, zu speichern und diese wieder abzurufen (lexikalisch-semantische Ebene),

aus Wörtern Sätze nach bestimmten Regeln zu bilden (morphologisch-syntaktische Ebene/Grammatik),

Sprache situationsangemessen zu verwenden und kommunikative Regeln einzuhalten (kommunikativ-pragmatische Ebene).

Im Folgenden werden die Sprachkomponenten etwas konkreter beschrieben.

1.1.1 Phonetik und Phonologie

Die Disziplinen der Phonetik und Phonologie befassen sich mit den kleinsten Einheiten der Sprache, den Lauten.

In der Phonetik geht es darum, dass Kinder lernen, Laute und Lautverbindungen hervorzubringen (Kannengieser 2019, S. 46). So lernen sie zum Beispiel ein [s] oder ein [k] zu bilden, es steht also der motorische Vorgang des Sprechens im Vordergrund. Gustav aus dem Beispiel oben hat vielleicht noch nicht gelernt, den Laut bzw. das Phon [k] zu bilden, und ersetzt ihn deshalb durch ein [t]. In den ersten Lebensjahren müssen die Kinder lernen, die verschiedensten Laute zu artikulieren. Dabei werden die leichter zu bildenden, das heißt feinmotorisch weniger anspruchsvollen Laute früher erworben als Laute, die aufgrund der erforderlichen muskulären Feinspannung schwieriger sind.

Tab. 1.1:Übersicht des phonetischen Lauterwerbs nach Altersstufen

Alter

Laut

bis 1;11

[m], [b], [d], [t], [n]

bis 2;5

[p], [v] (Wal), [f], [l]

bis 2;11

[g], [k], [h], [pf], [R], [x] (Dach)

bis 3;5

[j], [ɳ] (Hang)

bis 4;5

[ç] (Licht)

bis 4;11

[ʃ]

Die Lautentwicklung wurde in einer Studie von Fox und Dodd (1999) untersucht. Die in der Tabelle 1.1 gezeigten Laute wurden im Rahmen der Studie in der jeweiligen Altersgruppe von 90 % der Kinder gebildet. Die Tabelle zeigt, dass ein Großteil der Phone schon bis zum Ende des dritten Lebensjahrs erworben wird. Nur die korrekte Bildung der Laute [s] wie in »Hase«, [z] wie in »Bus« und [ts] wie in »Zug« wird häufiger erst nach Vollendung des 5. Lebensjahres erworben (Fox & Dodd 1999, nach Fox-Boyer & Schwytay 2017, S. 34).

In der Phonologie geht es um die Funktion und Verwendung von Lauten innerhalb eines Sprachsystems. »Nicht alle phonetisch beschriebenen Laute haben in jeder Sprache einen Platz. So dient z. B. ein Rachenlaut in der deutschen Sprache nicht als Element von Wörtern« (Kannengieser 2019, S. 59). Kinder müssen im Rahmen des Spracherwerbs also lernen, welche Laute in der Sprache, die sie erwerben, eine Funktion haben und nach welchen Regeln sie diese kombinieren können. Die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Lauteinheiten werden in der Phonologie Phoneme genannt. Die beiden Wörter »Regen« und »legen« unterscheiden sich zum Beispiel nur durch einen einzigen Laut (Phonem), /r/ oder /l/. Je nachdem, welches Phonem verwendet wird, ändert sich auch die Bedeutung. Es ist also bedeutungsunterscheidend. Welche Phoneme jeweils eine bedeutungsunterscheidende Funktion haben, ist von Sprache zu Sprache unterschiedlich, jede Sprache hat ihr eigenes Phoneminventar und zudem eigene Regeln dafür, wie die Phoneme miteinander kombiniert werden können (Phonotaktik). Im Deutschen ist zum Beispiel die Lautkombination [prz] nach den phonotaktischen Regeln nicht zulässig – im Polnischen ist dies aber erlaubt, wie das polnische Wort »Przepraszam« (dt. Entschuldigung) zeigt.

Im Rahmen der phonetischen und phonologischen Entwicklung baut sich ein Kind also ein phonetisches Inventar auf, welches alle Laute (Phone) beinhaltet, die ein Kind bilden kann – losgelöst davon, ob es diese Laute auch schon an die richtige Stelle im Wort setzt. Zusätzlich baut es sich ein phonemisches Inventar auf, welches die Laute (Phoneme) beinhaltet, die an korrekter Stelle im Wort platziert werden – auch wenn die Bildung der Laute möglicherweise noch nicht ganz korrekt ist (Fox-Boyer & Neumann 2017, S. 15). Ein wichtiger Meilenstein ist in diesem Zusammenhang auch der Erwerb der phonologischen Bewusstheit, welcher in Kapitel 11 näher beschrieben wird (▸ Kap. 11).

Auf lautlicher Ebene lassen sich Sprachen zudem anhand ihrer spezifischen Prosodie charakterisieren. Dazu gehört zum Beispiel die Betonung von Wörtern oder Sätzen und auch der Sprechrhythmus. Im Deutschen werden Wörter typischerweise in der Form des Trochäus betont, das heißt auf eine betonte Silbe folgt eine unbetonte Silbe (z. B. Nase, Kerze). Die umgekehrte Reihenfolge ist ebenfalls möglich, kommt aber nicht so häufig vor (z. B. Salat) (Kauschke 2012, S. 39). Auf Satzebene ist es zum Beispiel charakteristisch, dass bei Fragen die Tonhöhe am Ende des Satzes nach oben geht. Auch wenn manche Sprachen sich hinsichtlich ihrer prosodischen Eigenschaften ähneln, so besitzt doch jede Sprache eine einzigartige Prosodie, die sich die Kinder im Laufe des Spracherwerbs aneignen.

1.1.2 Semantik

Sprache lässt sich nicht nur anhand ihrer lautlichen Eigenschaften charakterisieren. Das wohl augenscheinlichste Merkmal ist, dass Sprache aus Wörtern besteht. Zentral bedeutsam für die kommunikative Funktion von Sprache ist die Übermittlung von Bedeutungen, die Wörter, Äußerungen und Sätze ausdrücken. Wörter sind zunächst einmal Symbole und repräsentieren zum Beispiel Begriffe oder Kategorien. Der Zusammenhang zwischen Symbol und Inhalt folgt dabei keinen festen Regeln, sondern wird mehr oder weniger willkürlich durch eine Sprachengemeinschaft festgelegt (Ruberg & Rothweiler 2012, S. 96). Die Bedeutung der Wörter steht dabei als zentrale semantische Einheit im Vordergrund der Betrachtung. Damit befasst sich die linguistische Teildisziplin der Semantik. Die Gesamtheit der Wörter einer Sprache werden Lexikon genannt, wobei dieser Begriff auch verwendet wird, um die Gesamtheit der Wörter zu bezeichnen, über die eine individuelle Person verfügt. Häufig wird hierfür auch der Begriff Wortschatz verwendet (Kannengieser 2019, S. 222). Zur Charakterisierung des kindlichen Spracherwerbsstandes wird dieser meist in einen aktiven und einen passiven Wortschatz aufgeteilt: Der passive Wortschatz umfasst dabei alle Wörter, die das Kind versteht, während der aktive Wortschatz die Wörter einschließt, die ein Kind auch selbst spricht.

Wörter haben immer eine »Ausdrucks- und eine Inhaltsseite« (Kannengieser 2019, S. 223).

Nach einem Beispiel von Kannengieser (2019, S. 223) entspricht das Wort »granfieren« hinsichtlich des äußeren Ausdrucks einem deutschen Wort. Die Anordnung der Laute ist für die Sprache zulässig und Sprecher*innen der deutschen Sprache können dieses auch grammatikalisch konjugieren (»Ich granfiere, du granfierst...«) und so in verschiedenen Wortformen bringen. Auf inhaltlicher Seite ist das Wort aber mit keiner Bedeutung versehen.

Das Erlernen von Wortformen und Wortbedeutungen im Rahmen des Spracherwerbs ist eine höchst komplexe und anspruchsvolle Aufgabe, denn die Kinder müssen große Mengen an Informationen verarbeiten und »raten«, welche Bedeutung mit einem neuen Wort verknüpft ist. Dies wird durch folgendes Beispiel von Hill und Kuczaj II (2017, S. 365) verdeutlicht. Einem Kind wird ein Bild von einem Mann, der auf einem Elefanten reitet, gezeigt und dazu gesagt: »Schau mal, ein Elefant«. Das Kind hatte das Wort »Elefant« zuvor noch nie gehört und auch noch keinen Elefanten gesehen. In dieser Situation gibt es für das Kind also eine Vielzahl an Möglichkeiten, was das Wort Elefant bedeuten kann. So kann es zum Beispiel »ein Mann reitet auf einem Elefanten«, »große Ohren« oder »lange Nase« bedeuten. Bei dieser Vielzahl an Möglichkeiten ist es daher nicht verwunderlich, dass die Bedeutungen auch manchmal falsch eingeschätzt werden. Im Rahmen des Wortschatzerwerbs entsteht im kindlichen mentalen Lexikon »mit der Zeit (...) ein dichtes Netz an Verbindungen zwischen Wörtern.« (Ruberg & Rothweiler 2012, S. 100)

Welche Wörter ein Kind lernt, ist dabei höchst individuell, da es immer von seiner unmittelbaren sozialen und kulturellen Umwelt abhängt, mit welchen Gegenständen und Begriffen es konfrontiert wird.

1.1.3 Morphologie und Syntax (Grammatik)

Die Ebene Morphologie und Syntax beschreibt die Grammatik einer Sprache. Der Begriff Morphologie bezieht sich dabei auf die Wortgrammatik, während der Begriff der Syntax sich auf die Satzgrammatik bezieht – beide Komponenten stehen jedoch in wechselseitiger Beziehung zueinander (Kannengieser 2019, S. 149).

Im Rahmen der Wortgrammatik geht es zum Beispiel darum, die Wortart eines Wortes zu bestimmen. Im Satz »das Kind spielt« ist »das« ein Artikel, »Kind« ein Substantiv und »spielt« ein Verb. Innerhalb der Gruppe der Wortarten wird noch einmal zwischen den übergeordneten Klassen der Inhalts- und Funktionswörtern unterschieden. Inhaltswörter beinhalten eine inhaltliche Information. Zu den Inhaltswörtern gehören Nomen (»Fahrrad«), Verben (»malen«), Adjektive (»klein«) oder Adverbien (»gern«). Funktionswörter hingegen haben eine grammatische Funktion. Dazu gehören zum Beispiel Artikel (»die«), Präpositionen (»auf«) und Konjunktionen (»weil«) (Szagun 2019, S. 25). Im obigen Beispielsatz ist »das« ein Funktionswort, während »Kind« und »spielt« Inhaltswörter sind.

Zusätzlich geht es darum, wie ein Wort flektiert (gebeugt) werden kann, also welche Wortformen es annehmen kann (Kannengieser 2019, S. 152). So kann das Wort »Kind« die weiteren Formen »Kinder«, »Kindes« und »Kindern« annehmen.

Gegenstand der Wortgrammatik ist auch die Zusammensetzung der Wörter aus verschiedenen Einheiten. Diese Einheiten werden Morpheme genannt und werden auch als kleinste bedeutungstragende Spracheinheiten bezeichnet. Das Wort »Kinder« ist zum Beispiel aus zwei Morphemen zusammengesetzt, »Kind« ist der Wortstamm und »-er« bezeichnet die Endung in der Form einer Pluralmarkierung. Morpheme dürfen allerdings nicht mit Silben verwechselt werden. So besteht das Wort »Wasser« z. B. aus zwei Silben (Was-ser), aber nur aus einem Morphem, nämlich dem Wortstamm.

Die Syntax, häufig auch als Satzbau bezeichnet, befasst sich mit den Regeln, nach denen Wörter zu Sätzen verbunden werden, und der Funktion, die die Wörter und Wortgruppen (Satzglieder) im Satz einnehmen (Kannengieser 2019, S. 148). In der deutschen Syntax gibt es einige Besonderheiten, die sich im Modell der topologischen Felder darstellen lassen. Im Rahmen des Modells werden Sätze in verschiedene Stellungsfelder aufgeteilt. Dazu gehören das Vorfeld, die linke Satzklammer, das Mittelfeld und die rechte Satzklammer. Angelehnt an das Beispiel von Chilla (2022, S. 12) liegt dem Satz »Das Mädchen hat den Ball gefangen« und seinen verschiedenen Varianten eine gemeinsame Grundstruktur zugrunde (▸ Tab. 1.2).

Tab. 1.2:Grundstruktur eines Satzes

Vorfeld

linke Verbklammer

Mittelfeld

rechte Verbklammer

Das Mädchen

hat

den Ball

gefangen.

Den Ball

hat

das Mädchen

gefangen.

Was

hat

das Mädchen

gefangen?

Hat

das Mädchen den Ball

gefangen?

Im Vorfeld darf immer nur ein Satzglied stehen. Bei Aufforderungen oder Entscheidungsfragen bleibt das Vorfeld frei. Auch die Stellung der Verben im Satz ist festgelegt. Der Erwerb der Verbstellung stellt eine zentrale Spracherwerbsaufgabe dar. Im Deutschen steht im einfachen Hauptsatz das finite Verb stets an der zweiten Stelle (linke Verbklammer), während das infinite Verb am Satzende steht (rechte Verbklammer). Finite Verben werden hinsichtlich Person und Numerus dem Subjekt angepasst (Subjekt-Verb-Kongruenz), also konjugiert (»gebeugt«). In dem Satz »Das Kind spielt« steht das Subjekt zum Beispiel in der dritten Person Singular, wodurch sich die Endung »-t« ergibt. Infinite Verben hingegen werden nicht hinsichtlich Person und Numerus dem Subjekt angepasst, sie werden also nicht konjugiert. Dazu gehören die folgenden Formen: Infinitiv (Grundform) (»Das Kind möchte spielen«), Partizip I (»Das Kind sitzt spielend auf dem Boden«) und Partizip II (»Das Kind hat heute viel gespielt«). Zusammen bilden das finite und das infinite Verb die Satzklammer – wobei nicht jeder Satz ein infinites, immer jedoch ein finites Verb besitzt. Der Erwerb der Satzklammer ist eine zentrale Erwerbsaufgabe im Rahmen der Grammatikentwicklung. Zunächst stellen die Kinder die Verben typischerweise ans Satzende, bevor sie lernen, es an die zweite Position im Hauptsatz zu stellen (Clahsen 1988, S. 44).

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Kinder im Rahmen der morphologisch-syntaktischen Entwicklung lernen, welche grammatische Funktion bestimmte Wörter haben, wie diese aus bestimmten Einheiten zusammengesetzt werden und wie die einzelnen Wörter nach den Regeln der Sprache, die sie erwerben, zu Sätzen zusammengesetzt werden. Zudem werden die kindlichen Äußerungen in den ersten Lebensjahren kontinuierlich länger und komplexer. Die Veränderung der Satzlänge wird häufig über das Maß der durchschnittlichen Äußerungslänge, genauer gesagt der durchschnittlichen Anzahl an Morphemen (Mean Length of Utterance; MLU) (Brown 1973) angeben. Die grammatische Entwicklung von ersten Einwortsätzen bis zur Äußerung von komplexen Sätzen mit Nebensätzen im Alter von ungefähr 3;5 Jahren wird auf Basis einer Langzeitstudie von Clahsen (1986) in fünf Phasen unterteilt. Diese Phasen werden in den nachfolgend beschriebenen Meilensteinen des Spracherwerbs genauer erläutert (▸ Kap. 1.2).

1.1.4 Pragmatik

Die Sprachebene der Pragmatik setzt sich von den vorher genannten Ebenen der sprachlichen Strukturen ab und befasst sich mit dem Gebrauch bzw. Nutzen der Sprache zum Zweck der Kommunikation. Die Ebene wird daher häufig auch kommunikativ-pragmatische Ebene genannt (Kannengieser 2019, S. 292). Im Rahmen des pragmatischen Kompetenzerwerbs lernen Kinder, gelungene Kommunikationssituationen herzustellen und aufrechtzuerhalten. Sie lernen, die Sprache je nach Situation und Kontext angemessen zu verwenden (Weinert & Grimm 2018, S. 458). Nach Kannengieser (2019, S. 296 f.) gehören dazu zahlreiche Fähigkeiten, die die Kinder im Laufe der Sprachentwicklung erwerben und die sich bis ins Erwachsenenalter hinein weiterentwickeln:

verschiedene kommunikative Funktionen sprachlich ausdrücken (z. B. grüßen, danken, erzählen, auffordern)

die Gesprächssituation gestalten (z. B. die Kommunikation beginnen, beim Thema bleiben, ein Gespür für den Sprecher*innenwechsel haben)

beachten, welches Vorwissen der*die Zuhörer*in hat, welche Informationen vorausgesetzt werden können und welche Informationen gegeben werden müssen, damit das Gesagte verstanden wird

auf der Metaebene über Kommunikation sprechen (z. B. »Ich habe mal eine Frage«)

verschiedene Kommunikations- und Gesprächsformen selbst gestalten und rezipieren (z. B. ein Streitgespräch führen, einer Erzählung folgen)

den Erfolg der Kommunikation einschätzen und z. B. durch Rückfragen oder weitere Erklärungen sichern

Auch non-verbale Fähigkeiten gehören dazu, wie zum Beispiel den Gesichtsausdruck und die Körpersprache verstehen und selbst einsetzen oder den Blickkontakt herstellen und halten.

Nachfolgend werden die wichtigsten Meilensteine des Spracherwerbs auf Basis der verschiedenen Sprachebenen vorgestellt.

1.2 Meilensteine des Spracherwerbs

Der Spracherwerb des Kindes lässt sich in einen perzeptiven und einen produktiven Part unterscheiden. Mit der perzeptiven Sprachentwicklung sind die Wahrnehmung und Verarbeitung von Sprache gemeint. Die produktive Sprachentwicklung bezieht sich auf die aktive Äußerung von Sprachlauten. Dies müssen noch keine perfekten Äußerungen sein, sondern umfassen auch alle Vorstufen der lautlichen Entwicklung.

1.2.1 Der Spracherwerb beginnt vor der Geburt

Schon ungefähr 3 Monate vor der Geburt ist das Gehör des Fötus funktionsfähig, sodass er in der Lage ist, akustische Reize wie zum Beispiel Stimmen oder Musik wahrzunehmen und zu verarbeiten. Spricht zum Beispiel jemand von außerhalb zum Baby im Bauch, kommt dies allerdings nicht exakt so beim Fötus an. Das mütterliche Gewebe und das Fruchtwasser dämpfen und filtern die gesprochene Sprache so, dass nur die prosodischen Merkmale, also Melodie und Rhythmus, weitergeleitet werden (Woodward & Guidozzi 1992). Einzig die mütterliche Stimme wird nicht gedämpft, sondern erreicht den Fötus sogar etwas verstärkt. Zudem herrscht im Mutterleib eine konstante Geräuschkulisse. Die Babys hören den mütterlichen Herzschlag, ihre Atmung und auch Verdauungsgeräusche (Benzaquen, Gagnon, Hunse & Foreman 1990). Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele Neugeborene lieber mit einer Geräuschkulisse im Hintergrund schlafen als in absoluter Stille.

Die Erfahrungen, die Föten schon vor der Geburt mit Melodie und Rhythmus von Sprache und Musik machen, führen zu bemerkenswerten Fähigkeiten nach der Geburt, die in einer Vielzahl an Studien untersucht worden sind. Besonders anschaulich wurde in der schon etwas älteren Studie »Fetal ›soap‹ addiction«1 gezeigt, dass neugeborene Babys sich an Melodien erinnern können, die sie vor der Geburt gehört haben (Hepper 1988). Die Mütter, die an der Studie teilgenommen hatten, sahen im letzten Schwangerschaftsdrittel regelmäßig eine Fernsehserie mit charakteristischer Titelmelodie. Nach der Geburt wurde den Neugeborenen diese Melodie wieder vorgespielt und sie zeigten deutlich mehr Aufmerksamkeitsreaktionen (z. B. hörten auf zu weinen) als Neugeborene, die die Musik pränatal noch nicht gehört hatten. Dieses Phänomen wurde mittlerweile mit modernen Untersuchungsmethoden bestätigt. So lässt es sich auch an den Hirnströmen von Neugeborenen erkennen, wie eine finnische Forscher*innengruppe herausgefunden hat. Anhand der Hirnaktivität konnte gemessen werden, dass Babys sich auch mit 7 Monaten noch an Melodien erinnern, die sie vor der Geburt gehört haben (Partanen, Kujala, Tervaniemi & Huotilainen 2013).

1.2.2 Der Spracherwerb im 1. Lebensjahr

Basierend auf ihren vorgeburtlichen Erfahrungen zeigen eine Woche alte Neugeborene erstaunliche Leistungen bezogen auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Sprache. Dazu gehört, dass die Babys

lieber die Stimme der Mutter als die Stimme von fremden Personen hören (Lee & Kisilevsky 2014),

lieber die Muttersprache als eine fremde Sprache hören (Moon, Cooper & Fifer 1993),

beide Sprachen gleich gerne hören, wenn die Mutter in der Schwangerschaft zwei Sprachen gesprochen hat (Byers-Heinlein, Burns & Werker 2010).

Eine Woche alte Neugeborene können auch Lautkontraste aller Sprachen der Welt erkennen. So können zum Beispiel japanische Neugeborene einen Unterschied zwischen den Lauten /r/ und /l/ wahrnehmen, während erwachsene Japaner*innen damit Schwierigkeiten haben, weil dieser Lautkontrast für die japanische Sprache nicht relevant ist. Im Laufe des ersten Lebensjahres verlieren sie diese Fähigkeit jedoch wieder und spezialisieren sich in diesem Zusammenhang stärker auf die Sprache‍(n), die sie erwerben