Kinder erkunden die lokale Baukultur (E-Book) - Noëlle von Wyl - E-Book

Kinder erkunden die lokale Baukultur (E-Book) E-Book

Noëlle von Wyl

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  • Herausgeber: hep verlag
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Schulweg, Sportplatz oder Wohnort: Die gebaute Umwelt gehört zum täglichen Erfahrungsbereich von Kindern und Jugendlichen. Wie kann die Neugier für Raum und Architektur fachdidaktisch unterstützt und für das Lernen genutzt werden? Dieses Unterrichtsbuch zur baukulturellen Vermittlung dokumentiert und erläutert anhand von acht Themen erprobte Gestaltungsprozesse für den 1. bis 3. Zyklus. Schülerinnen und Schüler setzen sich mit baukulturellen Phänomenen wie etwa Material, Form oder Licht auseinander und entwickeln eigene Kreationen. Schulweg, Sportplatz oder Wohnort: Die gebaute Umwelt gehört zum täglichen Erfahrungsbereich von Kindern und Jugendlichen. Wie kann die Neugier für Raum und Architektur fachdidaktisch unterstützt und für das Lernen genutzt werden? Dieses Unterrichtskonzept zur baukulturellen Vermittlung dokumentiert und erläutert anhand von acht Themen erprobte Gestaltungsprozesse für den 1. bis 3. Zyklus. Schüler*innen setzen sich mit baukulturellen Phänomenen wie etwa Material, Form oder Licht auseinander und entwickeln eigene Kreationen.

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Noëlle von Wyl, Lea Weniger, Barbara Windholz

Kinder erkunden die lokale Baukultur

Ein Unterrichtskonzept für baukulturelle Vermittlung

ISBN Print: 978-3-0355-1971-6

ISBN E-Book: 978-3-0355-1972-3

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 hep Verlag AG, Bern

www.hep-verlag.ch

Zusatzmaterialien und -angebote zu diesem Buch:

www.schuldetektive.ch

Ich möchte, dass meine Kinder die Welt verstehen, aber nicht nur, weil die Welt faszinierend ist und der menschliche Geist neugierig ist. Ich möchte, dass sie sie verstehen, damit sie in der Lage sind, sie zu einem besseren Ort zu machen.[1]

Horward Gardner

INHALTSVERZEICHNIS

Die Schule der Wahrnehmung – ein Vorwort

1. PROJEKTBESCHREIBUNG

1.1 Einleitung

1.2 Bewusstseinsbildung für die Umweltgestaltung

1.3 Problematik und Ziele

1.4 Baukulturelle Bildung – Intention und Lerngegenstand

1.5 Untersuchungen zur baukulturellen Bildung

1.6 Berücksichtigung bisheriger Ergebnisse

1.7 Konzeptuelle Grundlagen und Ziele des Unterrichtskonzepts

2. ENTWICKLUNG DES UNTERRICHTSKONZEPTS

2.1 Einleitung zur Praxisforschung

2.2 Modell «Baukulturelle Allgemeinbildung»

2.3 Unterrichtsstruktur, Lerninhalte und Didaktik

2.4 Erprobung und Evaluation des Unterrichtskonzepts

3. PRAXISBEISPIELE

Themenbereich 01 – Farbe und Form

Praxisprojekt: Oberfläche mit Tiefenwirkung

Praxisprojekt: Changierende Faltfassade

Themenbereich 02 – Material und Oberfläche

Praxisprojekt: Bausteine für ein Haus

Praxisprojekt: Multifunktionale Feuerstelle

Exkurs: Kopfkarten veranschaulichen Raumvorstellungen

Themenbereich 03 – Massstab und Dimension

Praxisprojekt: Häuser für Käfer und Giraffe

Praxisprojekt: Imaginative Räume

Themenbereich 04 – Licht und Schatten

Praxisprojekt: Lichtbühne am Wasser

Praxisprojekt: Stadtlichter bei Nacht

Praxisprojekt: Lichtinstallation im Tunnel

Exkurs: «Häuser sprechen mit dir!» – Transdisziplinäre Ansätze

Themenbereich 05 – Öffnung und Transparenz

Praxisprojekt: Farbiger Lichteinfall

Praxisprojekt: Einblicke und Ausblicke

Themenbereich 06 – Innen und Aussen

Praxisprojekt: Kaleidoskopische Räume

Praxisprojekt: Experimentelle Räume

Exkurs: Kreativität und baukulturelle Bildung

Themenbereich 07 – Schmuck und Ornament

Praxisprojekt: Ein Traumschloss bauen

Praxisprojekt: Dreidimensionale Fensterbilder

Themenbereich 08 – Statik und Konstruktion

Praxisprojekt: Ein Dach über dem Kopf

Praxisprojekt: Wandelemente für ein Spielhaus

Exkurs: Baukulturelle Bildung in der Schweiz

4. PROJEKTAUSWERTUNG

4.1 Einleitung

4.2 Projektbegleitende Auswertung

4.3 Fragebogenerhebung und summative Auswertung

4.4 Fazit

5. SCHLUSSBETRACHTUNG

ANHANG

Kompetenzmatrix

Glossar

Quellenangabe zu den Architekturbildern

Über das Projekt

Die Autorinnen

Textbeiträge

DIE SCHULE DER WAHRNEHMUNG

– EIN VORWORT   | Roland Reichenbach

Manchmal behaupte ich, ich würde mich für Architektur interessieren. Gelogen ist es zwar nicht, wenn ich dann aber mein baukulturelles Wissen so richtig ernsthaft in die Mangel nehme, muss ich zugeben, dass ich es in diesem Bereich nicht so weit gebracht habe, wie ich mir vielleicht vorgaukle. Immerhin kann ich beispielsweise Bauernhäuser des Berner Oberlands von solchen aus dem Emmental, Entlebuch, Jura, Wallis oder Graubünden unterscheiden – von aussen. «Holz oder Stein?» ist dazu schon eine hilfreiche Ausgangsfrage. Müsste ich aber sagen, was diese Häusertypen im Innenbereich unterscheidet, so ist leider nicht sicher, ob ich eine einzige zutreffende Aussage machen könnte. Bisher bin ich auch ohne diese spezifische Unterscheidungskompetenz durch das Leben gekommen. Was kümmert es mich also?

Die gebaute Welt ist vergleichsweise beständig. Manche wohnen in Häusern, in denen schon Generationen zuvor Menschen gewohnt haben. Das sind die alten Häuser. Die Bewohnerinnen und Bewohner, selbst wenn sie das Haus besitzen, entwickeln vielleicht ein Gefühl dafür, dass sie in diesem Haus im Grunde nur vorübergehende Gäste sind; dem Anschein nach werden auch sie von diesem Gebäude überlebt werden. Solche Häuser mögen gefallen oder nicht, doch um sogenannte «Bausünden» handelt es sich höchstwahrscheinlich nicht. Schult man seinen Blick ein wenig, so entdeckt man erstaunlich viele kleine und grosse Bausünden. Doch baukulturelle Bildung, um die es in diesem Buch geht, will Kinder beziehungsweise Schülerinnen und Schüler in erster Linie für das ganze Spektrum der gebauten Umwelt sensibilisieren und sie in der Wahrnehmung ihrer Lebenswelt fördern. Baukulturelle Bildung ist Wahrnehmungsschulung. «Sehen kommt vor Sprechen. Kinder sehen und erkennen, bevor sie sprechen können» (Berger, 2016, S. 7), meinte John Berger. Doch die Welt wird von Beginn des Lebens an nicht nur gesehen, sondern auch gehört, gerochen, ertastet und geschmeckt. Dies trifft auf die natürliche, die soziale sowie die gebaute Umwelt zu. Die fünf Körpersinne ermöglichen nicht nur von Anbeginn einen Zugang zur Welt, sondern lassen uns uns auch als Leib selbst erleben. Doch die Metaphorik der Sprache verweist vielfältig auf die fundamentale Bedeutung aller fünf Sinne für unsere Weltbezüge; so ist manches nach unserem «Geschmack», manchmal sind wir unangenehm «berührt», auch wenn dies uns vielleicht zu bestimmten «Einsichten» verhilft, und mitunter müssen wir Personen «gehorchen», die wir nicht «riechen» können.

Das griechische aísthēsis bedeutet bekanntlich «Wahrnehmung». Ein bedeutsamer Aspekt der menschlichen Entwicklung und Bildung ist Wahrnehmungsschulung, also letztlich ästhetische Bildung. Es geht darum, mehr, bewusster, anders und feiner beziehungsweise differenzierter wahrzunehmen. Hierzu ist Wissen nicht nur hilfreich, sondern notwendig. Wer mehr weiss, kann auch mehr wahrnehmen, das trifft auf die natürliche, die soziale und die gebaute Umwelt gleichermassen zu. Wer sich in Flora und Fauna ein wenig auskennt, erlebt auf einem Spaziergang durch den Wald sehr viel mehr, als wer nur Gräser von Bäumen und Vögel von Säugern unterscheiden kann. Wer über sich und die anderen viel nachgedacht hat, versteht sich und seine soziale Umwelt besser. Sein Erleben ist tiefer, breiter und nachhaltiger. Wer sich aber (auch) für die gebaute Umwelt, das heisst die menschliche Baukultur, zu interessieren vermag, der oder die erfährt nicht nur objektives Wissen über Häuser, Brücken oder Bollwerke, über Baustile und Baumaterialien, sondern erhält zunächst nur stillschweigend und dann zunehmend Einblicke in die conditio humana: Der Mensch ist als homo faber ein baukulturelles Wesen, er «baut» sich seine Umwelt, in der er wohnt, arbeitet, überhaupt die meiste Zeit seines Lebens verbringt. Baukultur, zuallererst in ihrer Erscheinungsform als Behausung, könnte als die «zweite Haut» des Menschen bezeichnet werden. Sie nicht nur in ignoranter Weise zu nutzen oder nur am Rande zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie bewusst wahrzunehmen, verstehen und beurteilen zu können, das heisst, sich zu ihr in ein Verhältnis setzen zu können, ist ein bisher noch sehr vernachlässigtes Bildungsziel. Diese Form der Bildung fokussiert nicht auf Verfügungswissen, das heisst konkrete Handlungskompetenzen, mit denen Menschen nach Gusto in der Welt hantieren können, sondern auf Urteilskompetenzen und Orientierungswissen, die in der zeitgenössischen Bildungsdiskussion unterschätzt und wenig berücksichtigt sind. Menschen sind nicht nur «Handlungssubjekte», Kinder und Jugendliche wie auch Erwachsene müssen nicht nur Handlungskompetenzen erwerben, sondern die Welt, in der sie leben, verstehen, damit sie sich selbst verstehen, verorten können (Taylor, 1985).

Baukulturelle Bildung bringt den Menschen in die Lage, sich zum hergestellten Lebensraum in leiblicher, emotionaler und geistiger Hinsicht zunehmend differenzierter in ein Verhältnis zu setzen. Die gebaute Umwelt wird somit als Ausdruck der mit Menschen geteilten Welt erfahrbar, dies nicht nur in ihren schönen, sondern, wie erwähnt, auch ihren hässlichen Seiten. In der gebauten Umwelt manifestieren sich technische, historische, soziale, politische, ethische und ästhetische Dimensionen, Errungenschaften, Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Zusammenlebens, wie sie sonst kaum in dieser Dichte zu erfahren sind. Daher hat sie für Bildungsprozesse ein so grosses, aber wenig genutztes Potenzial. Die hergestellte Welt, die Gegenstände, Gebilde und Gebäude verleihen der Welt eine Dauerhaftigkeit und Beständigkeit, ohne die sich – so Hannah Arendt – «das sterblich-unbeständige Wesen der Menschen auf der Erde nicht einzurichten wüsste; sie sind die eigentlich menschliche Heimat des Menschen» (Arendt, 1996, S. 161). Bildungstheoretisch betrachtet hat der Bildungsprozess zentral mit Eindrucksbildung und Ausdrucksbildung zu tun (Gauchet, 1985). Der Mensch lässt sich prägen, das heisst beeindrucken, seinen Eindrücken will oder muss er dann – auf die eine oder andere Art – wiederum Ausdruck verleihen. Ohne Eindruck keinen Ausdruck, könnte man sagen. Daher stellt die Eindrucksfähigkeit des Menschen die Basis aller Bildung dar.

Baukulturelle Bildung kann sich im weitesten Sinne an Dimensionen ästhetischer Bildung orientieren. Die Auflistung von Kriterien oder Dimensionen hat häufig einen analytischen Sinn, tatsächlich handelt es sich aber nur um unterschiedlich akzentuierte Perspektiven auf das Amalgam eines ästhetischen Artefakts. Denn letztlich bildet jedes baukulturelle Erzeugnis – vom Innenraum einer Wohnung bis zum Strassennetz einer Grossstadt – eine phänomenale Ganzheit, die es zunächst weniger zu analysieren («in seine Momente zu zerlegen»), als vielmehr zu beschreiben und «verstehen» gilt. Dennoch ist es bedeutsam, Kriterien und Dimensionen zu diskutieren, die sich auf das Konzept der baukulturellen Allgemeinbildung beziehen. Dazu gehören die Dimensionen (1) Wahrnehmung, das heisst die Erweiterung und Differenzierung der Wahrnehmung baukultureller Phänomene, (2) Funktionalität, das heisst das Verständnis für die Bedeutung und Kriterien der Funktionen von baukulturellen Erzeugnissen, (3) Materialität, womit das Verständnis und der Zugang zu der Vielfalt der Baumaterialien und ihrer Bearbeitungsmöglichkeiten gemeint ist, (4) Gemeinsinn undKommunikation, dabei unter anderem die Schärfung des Sinns für «Geschmacksgemeinschaften» und deren Grenzen, und (5) Imagination und Kreation, die auf die Förderung und Erweiterung der Möglichkeiten und Neuschöpfung geistiger und sinnlicher Produktion zielen, etwa in Form von Ideen, Entwürfen, Fragen an konkrete Umsetzungsmöglichkeiten. Diese – miteinander verschränkten – Dimensionen dienen nicht nur dem besseren Verständnis einschlägiger Urteils- und Artikulationskompetenzen in baukultureller Hinsicht, sondern sie bilden zugleich den Gegenstand, an dem sie aktualisiert und entwickelt werden können. So kann ein Gebäude – eine Fabrik, ein Kuhstall, ein Einfamilienhaus – in Bezug auf seine Herstellungsweise betrachtet werden (betrifft u. a. die Dimension der Materialität/Stofflichkeit), es kann aber auch architekturhistorisch eingebettet und diskutiert werden, es kann mit anderen vor Ort oder an entlegenen Orten, zeitnah und «zeitfern» vorhandenen Gebäuden, Architekten, Vorstellungsweisen in seiner Erscheinungsweise vergleichend betrachtet werden (betrifft die Dimension Wahrnehmung), es kann im Sinne seiner sozialen Bedeutung, Anerkennung und Werthaftigkeit beurteilt werden (Aspekte Gemeinsinn und Kommunikation), es kann auf unerwartete Weise in einen Diskussionskontext gestellt und thematisiert werden (Imagination). Immer aber geht es beim Bildungsgedanken darum, die Bedeutung des betrachteten Gegenstandes für das menschliche Leben und Zusammenleben selbst zu beschreiben, zu deuten und kritisch zu betrachten (Reichenbach, 2021).

«Kinder erkunden die lokale Baukultur» ist meines Erachtens ein schöner Titel für die Studie, die die Autorinnen Noëlle von Wyl, Lea Weniger und Barbara Windholz hier nun in Buchfassung vorlegen. Die Erkundung passt in zweierlei Hinsicht, sowohl in ihrer physischen als auch ihrer symbolischen Bedeutung. So kann ein Gelände ausgekundschaftet werden. Allein der Schulweg macht das Kind ortskundig, da gibt es vieles zu sehen und noch viel mehr zu verstehen. Es lernt auch Umwege und Abkürzungen zu nehmen, das gehört zur kindlichen Freiheit. Aber um zu verstehen, muss es mehr als nur sehen können, die Dinge zeigen sich meist nicht von selbst. Man muss sich von anderen auch etwas zeigen lassen, was nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann. Zum Glück ist die Bereitschaft des Kindes, sich etwas zeigen zu lassen, sehr ausgeprägt, eine gute Einrichtung der Natur. Es ist auf Verstehen angelegt und auf Mitteilung, zum kindlichen Realismus gehört das Wissenwollen. Kinder wollen in der Regel nicht in einer individuell-subjektiven Bubble verschwinden, sondern wissen, wie es ist, und dazugehören. Davon handelt Bildung: mit der Wirklichkeit in Kontakt kommen und sich zu ihr verhalten können. Durch baukulturelles Wissen erhält die wahrgenommene Um- und Lebenswelt des Kindes – wie auch der Erwachsenen – Bedeutung. Verstehen verleiht dem Wissen Sinn, meinte Hannah Arendt. Dazu ist aber mitunter eine bestimmte Systematik nötig, Zugangsweisen sollen bewusst ermöglicht und unterstützt werden. Die Autorinnen ordnen ihren Zugang zur baukulturellen Bildung nach elementaren Phänomenen: nach Farbe und Form, Material und Oberfläche, Massstab und Dimension, Licht und Schatten, Öffnung und Transparenz, Innen und Aussen, Schmuck und Ornament, Statik und Konstruktion. Die wahrnehmbaren und wahrgenommenen Phänomene bilden immer den Ausgangspunkt, und durch Wissen (z. B. die Kunde über Material) werden die Phänomene interessant und erhalten Bedeutung. Verstehen ist die Leistung, Phänomene und Wissen in einen Zusammenhang zu bringen – diese Synthese- und Integrationsarbeit ist beim kleinen Kind wie auch beim Erwachsenen nicht von grundverschiedener, sondern von gleicher Art. Mit der Zeit lernt der baukulturell interessierte Mensch auch sehr vieles über die vielfältigen Zusammenhänge von gebauter Welt zur Natur-Natur und zur Natur des Menschen kennen. Macht man seine kleinen Erkundungen in der Stadt oder auf dem Land, hat man nicht immer den Eindruck, dass sehr viel daran gedacht wird, wie Häuser gebaut sein sollten, damit sich die Menschen in ihnen auch wohl fühlen.

Wenn die Schulkinder nun – angeleitet soweit wie nötig und wichtig – ihre Erkundungen beispielsweise zu «Licht und Schatten» machen, so betreten sie unmerklich ein nahezu unerschöpfliches Universum, das weiter reicht als vom Baum als Schattenspender zur globalen Lichtverschmutzung und ihren bizarren Konsequenzen für Mensch und Tier oder von der Geschichte der Feuerstelle bis zur Nutzung von Solarenergie … Vielleicht werden manche von ihnen später verstehen, warum die «Aufklärung» so und nicht anders heisst, oder hinterfragen, ob das Mittelalter wirklich so «dunkel» war. Natürlich werden sie zunächst nur einzelne, konkret-gegenständliche Aspekte der Baukultur verstehen. Doch ohne solche Anfänge wird die gebaute Welt, die uns umgibt und in der wir leben, die uns im Guten wie im Schlechten prägt und die immer auch ein markanter Ausdruck der sozialen Verhältnisse darstellt, vielleicht nie wirklich wahrgenommen. Das wäre unaufgeklärt.

Es ist ein grosses Verdienst der Autorinnen, sich dem bis heute vernachlässigten Bildungsbereich der Baukultur auf didaktisch und pädagogisch überzeugende Weise angenommen zu haben. Dem Buch von Nöelle von Wyl, Lea Weniger und Barbara Windholz wünsche ich daher die Aufmerksamkeit und Würdigung, die es ganz sicher verdient!

Literatur

Arendt, H. (1996). Vita activa oder vom tätigen Leben. München: Piper (Original «The Human Condition», 1958).

Berger, J. (2016). Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Frankfurt a. M: Fischer (Original «Ways of Seeing», 1972).

Gauchet, M. (1985). L’école à l’école d’elle-même. In M. Gauchet (Hrsg.), La démocratie contre elle-même (S. 109–169). Paris: Collection Tel.

Reichenbach, R. (2021). Baukulturelle Allgemeinbildung. Eine bildungstheoretische Annäherung. In Archijeunes (Hrsg.), Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung (S. 51–70). Zürich: Park Books.

Seock Jae, Y. (2005). The Traditional Space. A Study of Korean Architecture. Seoul: Ewha Womans University Press.

Taylor, C. (1985). Self-interpreting animals. In ders., Philosophical Papers, Bd. I: Human Agency and Language (S. 45–76). Cambridge: Cambridge University Press.

Kapitel

1.

Projektbeschreibung

 

1.1 Einleitung

Diese Publikation dokumentiert die Ergebnisse des Projekts «Schuldetektive – Kinder erkunden die lokale Baukultur»[2] und stellt Lehrerinnen und Lehrern ein Unterrichtskonzept mit Beispielen zur Verfügung, das baukulturelle Bildung an öffentlichen Schulen der deutschsprachigen Schweiz ermöglicht. Die Publikation ist zunächst eine Antwort auf die Analyse zum Bestand und Bedarf der baukulturellen Bildung an Schweizer Schulen, die von Elisabeth Gaus-Hegner und ihrem Team unter dem Patronat des schweizerischen Vereins Archijeunes für das Bundesamt für Kultur erarbeitet wurde (Archijeunes, 2019). Sie erfüllt des Weiteren besonders den von Lehrpersonen geäusserten Bedarf an Unterrichtsmaterialien und Lehrmitteln für diesen Bildungsbereich (ebd., S. 27).

Die Dringlichkeit der Unterrichtsmaterialien für die Vermittlung von Baukultur wurde durch die Erklärung von Davos (FDHA/FOC, 2018) wirksam kommuniziert, welche die Kulturministerinnen und -minister Europas anlässlich des Weltwirtschaftsforums im Jahre 2018 verabschiedet haben. Die Erklärung erinnert daran, dass «die Art, wie wir zusammenleben und uns als Gesellschaften entwickeln, grundlegend kulturell bedingt ist und daher die Gestaltung unseres Lebensraums in erster Linie ein kultureller Akt» ist (S. 16). Das Manifest mündet in der Aufforderung, in den Bereichen der Bildung Verantwortung zu übernehmen, damit «Baukultur besser beurteilt werden kann» (ebd., S. 19). Die hier dokumentierte Unterrichtsforschung schliesst daran an. Sie wurde von der Pädagogischen Hochschule Schwyz PHSZ im Rahmen der Initiative «Kulturerbe für alle»[3] durchgeführt und erfolgte in Kooperation mit der Bildschule K’werk Zug.[4]

Ziel des Projekts war die Entwicklung und Evaluation eines kompetenzorientierten und fächerübergreifenden Unterrichtskonzepts für baukulturelle Vermittlung an öffentlichen Schulen der Schweiz, das Lehrerinnen und Lehrern als Orientierungshilfe dienen soll. Die in dieser Publikation präsentierten Lernarrangements mit Unterrichtssequenzen sind erprobt, ausgewertet und mit Bildern dokumentiert. Sie sind an die ortsspezifische Architektur gebunden sowie an organisatorische Bedingungen von Schulen und Lehrpersonen geknüpft und berücksichtigen inhaltlich die Interessen von Schülerinnen und Schülern. Ausgangspunkt für die Erarbeitung von Unterrichtsbeispielen für baukulturelle Bildung waren die Erkundungen der Schülerinnen und Schüler in ihrer Wohngemeinde. Die Durchführungen der Unterrichtseinheiten sind ausführlich beschrieben und mit Bildern visualisiert, sodass sie nachvollzogen werden können und Lehrerinnen und Lehrern als Anregung für die Planung von baukulturellem Unterricht dienen. Das Unterrichtskonzept veranschaulicht gleichzeitig ein kompetenzorientiertes Strukturmodell mit acht baukulturellen Themen und beschreibt damit, was und auf welche Weise in der Volksschule innerhalb des vorhandenen Fächerkanons unterrichtet werden kann. Die Auswertung der Durchführungen zeigt, wie Schülerinnen und Schüler den Unterricht erlebt haben. Entstanden ist ein Unterrichtskonzept zur Vermittlung von Baukultur für den Einsatz in den Fachbereichen des Textilen und Technischen sowie des Bildnerischen Gestaltens (D-EDK, 2016a) mit interdisziplinären Bezügen insbesondere zu den Raumthematiken des Fachbereichs Natur, Mensch, Gesellschaft (D-EDK, 2016c). Lehrerinnen und Lehrer sind eingeladen, diese Unterrichtsbeispiele nachzuvollziehen und sie ihren Bedürfnissen und Voraussetzungen anzupassen oder zu erweitern. Es würde uns freuen, wenn wir Lehrerinnen und Lehrer mit dieser Publikation für die Vermittlung von Baukultur inspirieren könnten.

1.2 Bewusstseinsbildung für die Umweltgestaltung

Baukultur umgibt uns und entsteht jeden Tag neu; sie umschliesst «die Summe der menschlichen Tätigkeiten, welche die gebaute Umwelt verändern», so die Erklärung von Davos (FDHA/FOC, 2018, S. 3). Mit dieser Definition von Baukultur wird ein weites Feld eröffnet und das Verhältnis des Menschen zur Umwelt beschrieben. Als Ausgangspunkt jeder Definition hat, «darüber besteht heute wohl fachlicher Konsens, die Differenz von System und Umwelt zu dienen» (Luhmann, 2015a, S. 35). Umwelt und soziales System beschreiben eine «Differenz», so der Soziologe Luhmann; es handelt sich sozusagen um zwei Seiten derselben Medaille. Menschen sind «strukturell an ihrer Umwelt orientiert und könnten ohne Umwelt nicht bestehen» (ebd.). Gleichzeitig stellt sich die Welt für sie als «Gesamtheit der Eigenwerte» dar, die sie durch ihre Existenz bewusst oder unbewusst verändern beziehungsweise gestalten. «Das Gehirn unterdrückt, wenn man so sagen darf, seine Eigenleistung, um die Welt als Welt erscheinen zu lassen» (Luhmann, 2015b, S. 15). Die Umwelt ist somit eine Voraussetzung, die eine Bildung des Bewusstseins über Differenzierungen erfordert. Das Bundesamt für Kultur beschreibt das Verhältnis Mensch–Umwelt in seinem Konzept für Baukultur auf folgende Weise: «Sei es als Bewohner[/-innen] oder als Architekt[/-innen] – alle Menschen prägen ihren Lebensraum. Dieser formt gleichzeitig das Zusammenleben jedes und jeder Einzelnen» (BAK, o. J.). Auch hier wird klargestellt, dass alle Menschen zur Gestaltung der Umwelt beitragen. Die Bildung des Umweltbewusstseins und der Gestaltungsfähigkeit des Menschen sind auch im schweizerischen Lehrplan verankert. Die Autorinnen dieser Publikation beziehen den Begriff Umwelt auf die Perspektiven der Fachbereiche Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG). Konkret orientieren sie sich an den Bildungszielen für nachhaltige Entwicklung (BNE), fokussieren auf die «Wechselwirkungen zwischen Menschen und ihrer Um- und Mitwelt» (NMG) und verbinden diese Inhalte mit den Kompetenzzielen der Fachbereiche Gestaltung (BG, TTG) (D-EDK, 2016b S. 17; 2016c, S. 5; 2016a, S. 3). Natürliche, kulturelle, wirtschaftliche, soziale und historische Phänomene werden mit den Schülerinnen und Schülern über interdisziplinäre Zugangsweisen erschlossen. Ausgehend von diesen Grundlagen ist das vorliegende Konzept für baukulturellen Unterricht entwickelt worden.

Baukulturelle Bildung als Allgemeinbildung erfordert eine Erklärung der Begriffe und den Aufbau eines fächerübergreifenden Verständnisses. Es erstaunt nicht, dass selbst der Begriff «Baukultur» für Lehrpersonen wenig fassbar ist, wie das Projektteam während der Durchführung feststellte. Auch Elisabeth Gaus-Hegner und ihr Team hielten in ihrer Studie 2019 zu Bestand und Bedarf der Baukulturellen Bildung an Schweizer Schulen fest: «Baukultur wird von Lehrpersonen und Dozierenden als wenig geläufiger und dehnbarer Begriff wahrgenommen» (Archijeunes, 2019, Vorwort). Es handelt sich um einen Ausdruck, der in unserem Sprachraum ausser in Fachkreisen der Architektur selten verwendet wird. Kinder verstehen ihn, wenn ihnen Baukultur als zusammengesetztes Wort von Bauen und Kultur erklärt wird. Wie der Begriff «Baukultur» in der Architektur definiert wird, zeigt die Erklärung von Davos: «Baukultur umfasst den gesamten Baubestand, einschliesslich Denkmälern und anderer Elemente des Kulturerbes, sowie die Planung und Gestaltung von zeitgenössischen Gebäuden, Infrastrukturen, vom öffentlichen Raum und von Landschaften» (BAK, 2018, S. 17). Der Begriff umfasst somit nahezu alle Bereiche der gebauten Umwelt.

Baukultur reicht also über die Wirkungsfelder von Architektur und Denkmalschutz hinaus, zielt auf öffentliche und private Bauten, Räume und Landschaften und auf baukulturelle Prozesse. Darüber hinaus strebt das Manifest für eine «hohe Baukultur» die Mitwirkung aller am jeweiligen Ort lebenden Menschen an. Das Qualitätskonzept, das im Nachgang zur Erklärung von Davos vom Bundesamt für Kultur verfasst wurde, präzisiert: «Ein spezifischer Genius Loci entsteht durch das soziale Gefüge, die Geschichte, Erinnerungen, Farben und Gerüche eines Ortes, die seine Identität und die Verbundenheit der Menschen mit ihm bestimmen» (BAK, 2021, S. 4). Die Authentizität eines Ortes entsteht also nicht nur durch die Bauten, sondern auch durch die Menschen, die eine gebaute Umwelt beleben und damit täglich verändern. Die Einladung für ein baukulturelles Engagement richtet sich damit nicht nur an Baufachleute; vielmehr braucht es dazu alle Bürgerinnen und Bürger, wie es bereits die damalige Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz (2007) anlässlich einer Eröffnungsansprache für einen Jugendwettbewerb formulierte. «Lebensraumgestaltung fängt im Kleinen an», sagte sie und führte aus: «[…] im Haus, in dem wir wohnen und arbeiten; in der Strasse vor dem Haus; auf dem Weg zur Schule, den wir mit dem Velo oder dem Bus zurücklegen; im Dorf oder im städtischen Quartierzentrum, wo wir uns einen Platz zum Begegnen wünschen».[5]

Baukulturelle Bildung bereichert die Fächer des Bildnerischen und Technischen Gestaltens mit dem Aspekt der Umweltgestaltung. Die Thematik schafft neue Möglichkeiten für schulische Projekte, fördert die Partizipation in der eigenen Wohngemeinde und befähigt Schüler und Schülerinnen zur Teilhabe an Veränderungsprozessen. Doch ein Interesse für die gebaute Umwelt ist keine Selbstverständlichkeit. Es nimmt seinen Anfang im Kindesalter mit der Wahrnehmung und Aneignung des unmittelbar vorhandenen Lebensraums. Raumeindrücke werden erfahren und Räume erkundet, befragt und verglichen. Kinder entwickeln Vorstellungen und Assoziationen und bewerten Räume emotional (vgl. Buether, 2010, S. 47). Sie entwickeln eine «räumlich visuelle Kompetenz» und setzen diese «im Gestaltungs- und Kommunikationsprozess» ein, sei es im Innen- oder Aussenraum (ebd., S. 261). Kinder und Jugendliche entwickeln Fähigkeiten, um gemeinschaftliche Raumprojekte zu initiieren; ihr Interesse für das Bauen reicht von der Herstellung von Laub- und Baumhütten[6] bis hin zur Teilhabe an städtischen Entwicklungsprojekten. Diese Interessen werden in Schulen, Freizeit und Ferienangeboten seit jeher berücksichtigt. Pädagogische Hochschulen im In- und Ausland haben in den vergangenen Jahren damit begonnen, baukulturelle Bildung in ihr Lehrangebot aufzunehmen. Auch im Architekturstudium setzen sich Studierende vermehrt mit den ethischen Dimensionen ihres Fachbereichs auseinander. Die Technische Universität München TU beispielsweise zeigte der Öffentlichkeit in der Architekturausstellung Experience in Action! (2020) eine Auswahl an Partizipationsprojekten. Wie Hilde Strobl in der Projektdokumentation titelt: «Architektur ist zu wichtig, um sie den Architekten und Architektinnen zu überlassen» (Strobl in Bader & Lepik, 2020, S. 31). Eine umfassende baukulturelle Bildung für alle setzt somit eine sich kontinuierlich aufbauende Auseinandersetzung mit Raumeigenschaften, -beschaffenheiten und -wirkungen auf allen Ausbildungsstufen voraus.

1.3 Problematik und Ziele

Bis anhin haben sich vor allem ausserschulische Organisationen für die baukulturelle Bildung von Kindern und Jugendlichen engagiert. Sie haben das Potenzial und die Notwendigkeit erkannt und bieten unterschiedliche Kurse an, wie zum Beispiel das LABforKids – Labor für Baukultur[7] im schweizerischen Zug. Da eine solche Förderung im informellen, das heisst im ausserschulischen Bereich nicht allen Kindern und Jugendlichen zukommt, setzt sich Archijeunes für eine baukulturelle Bildung an öffentlichen Schulen ein. Der Verein formuliert dieses Anliegen so: «Obwohl die gebaute Umwelt für die Gesellschaft anerkanntermassen von grosser Relevanz ist, wird dieser Bereich an schweizerischen Schulen ausser Acht gelassen. Es fehlt inner- und ausserschulisch an Partizipationsmöglichkeiten. Dieses Manko betrifft nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern ebenso deren Lehrpersonen. Unter diesen Umständen kann die gesellschaftliche Verantwortung für Baukultur, für soziale Interaktion und Kohäsion, für Kreativität und Identifikation, kaum wahrgenommen werden» (Archijeunes, o. J.). Über die Website können sich Lehrerinnen und Lehrer über Literatur und Vermittlungsangebote informieren. Doch für eine breite baukulturelle Bildung fehlen, wie erwähnte Studie von Archijeunes zeigt, sowohl eine klare Definition kompetenzorientierter Bildungsinhalte als auch Unterrichtsmaterialien.

Elisabeth Gaus-Hegner und ihr Team befragten in dieser Studie Dozierende, Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schüler zu Bestand und Bedarf bezüglich baukultureller Bildung in der Schweiz. Gegenüber der Idee, «neue Elemente in den Lehrplan zu integrieren» beziehungsweise neue Inhalte vermitteln zu müssen, äusserten Lehrerinnen und Lehrer insgesamt eher Bedenken (Archijeunes, 2019, S. 16). Als Begründung hielten sie fest, es seien nicht ausreichend Anknüpfungspunkte vorhanden und es würden geeignete Lehrmittel fehlen, um eine Verknüpfung zwischen Zielen und Inhalten baukultureller Bildung, dem Lehrplan 21 und dem schulischen Alltag herstellen zu können (ebd., S. 9). Die Lehrpersonen seien mit den Themen nicht vertraut und wünschten sich eine stufenbezogene Begriffs- und Inhaltsklärung. Einige teilten mit, dass die Kompetenzbereiche des Bildnerischen Gestaltens (BG) und Textilen und Technischen Gestaltens (TTG) sowie von Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG) Übereinstimmungen mit baukulturellen Lernzielen aufweisen könnten. Auch im Bereich der überfachlichen Kompetenzen und Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) werden Anknüpfungspunkte zum Lehrplan 21 verortet. Es könnten Problemlösungsfähigkeit, freie Meinungsbildung, eine differenzierte Sprache und die Teilhabe an der Gestaltung der Lebenswelt gefördert werden, so die Befragten (ebd., S. 46).

Doch überwiegend waren die Lehrpersonen der Meinung, dass die Umsetzung solcher Themen stark von den Präferenzen der jeweiligen Akteure und Akteurinnen abhingen (ebd., S. 21). Lehrerinnen und Lehrer aller Stufen, vom Kindergarten bis zur Sekundarschule, bejahen dennoch mehrheitlich ihr Interesse an der Integration baukultureller Themen in den regulären Unterricht. Die Komplexität des wenig bekannten Themas, die Dichte des bestehenden Unterrichts und die fehlenden Lehrmittel verhindern ganz offensichtlich, diese Themen aufzugreifen. Ein kontinuierlicher Wissensaufbau kann bis heute nicht stattfinden, da baukulturelle Inhalte für den Unterricht bis jetzt nicht kompetenzorientiert aufbereitet worden sind, und das trotz aller Bekundungen der Kinder und Jugendlichen, dass «Baukultur für sie ein spannendes Lernfeld darstellt» (ebd., S. 17). Ziel des beschriebenen Projekts war es deshalb, ein fächerübergreifendes Unterrichtskonzept mit einem Kompetenzstrukturmodell zu entwickeln, dass Lehrerinnen und Lehrer für baukulturelle Vermittlung motiviert.

Abb. 1.1: Schematische Darstellung der Wissens- und Handlungsgebiete und ihre Beziehungen untereinander

1.4 Baukulturelle Bildung – Intention und Lerngegenstand

Baukultur betrifft den Menschen auf vielfältige Art und Weise, denn menschliches Handeln findet grundsätzlich in Innen- oder Aussenräumen statt. Diese werden meist nicht aufmerksam wahrgenommen, sondern eher beiläufig, unbewusst. So wird die gebaute Umgebung in einer Gleichzeitigkeit mit den sich darin aufhaltenden Menschen sowie den Raumqualitäten wie Wetter, Wärme, Geruch und Geräusche erlebt. Solche räumlichen Gesamteindrücke bezeichnet der Psychologe Rainer Schönhammer als «Milieu» oder allgemeinverständlicher als «Atmosphären» (Schönhammer, 2013, S. 293). Nicht nur Gebäude, sondern Personen, Pflanzen und alles, was die Umgebung formt, ist dabei miteinbezogen: «Man spürt sich und das Leben am Ort» (ebd., S. 296). Die vom Menschen geformte Umgebung erfüllt nicht nur funktionale Zwecke, sondern hinterlässt auch emotionale Eindrücke. «Wir geben ihr Form und sie formt uns» (UIA, 2008, zit. in Tschavgova & Feller, 2008, S. 2). Damit ist klar: Baukulturelle Bildung beinhaltet Funktion und Ästhetik. Ein Verständnis dafür, wie sich bestimmte Formen der gebauten Umwelt in ihrer Gestaltung über ihren Bezug zur Nachbarschaft, durch ihre Repräsentationsfunktion und Weiteres bedingen, und die Auseinandersetzung mit diesen Zusammenhängen bilden den Menschen in seinen Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Kommunikationsfähigkeiten.

Den Bezug zur Ästhetik stellt auch Roland Reichenbach (2021) in seiner bildungstheoretischen Annäherung an die baukulturelle Allgemeinbildung her. «Baukulturelle Erfahrungen sind auch ästhetische Erfahrungen. ‹Ästhetische Erfahrungen› ermöglichen ‹einen Zugang zum Wirklichen› (…), hierbei spielen nicht nur die sinnlichen Wahrnehmungen, sondern auch die sinnlichen Vorstellungen die zentrale Rolle» (Reichenbach, 2021, S. 65). Baukulturelle Bildung ermöglicht eine Auseinandersetzung mit den Erscheinungen der gebauten Umwelt, indem der Anblick von Architektur die eigenen ästhetischen Vorstellungen bestätigt oder auch dazu führt, Dinge in einem anderen Licht zu sehen. Architektur, besonders zeitgenössisches Bauen, ist für Kinder, Jugendliche und selbst für Erwachsene meist nicht auf Anhieb verständlich und wird wohl auch deshalb oft abgelehnt. Gebäude die Architekten und Konstrukteurinnen für bedeutungsvoll halten, sind für Schülerinnen und Schüler – und nicht nur für sie – manchmal erklärungsbedürftig.

Ungewohnte Sichtweisen erfordern eine unvoreingenommene Wahrnehmung und basale Kenntnisse formaler Prinzipien und Gestaltungsgrundlagen. Dazu gehören beispielsweise Formkonzepte und Farbtheorien, Statik und Konstruktion oder Licht und Schattenwirkung, wie sie in diesem Buch praxisnah thematisiert werden. Mithilfe dieses Wissens wird es eher möglich sein, auch ungewohnte Bauwerke und Anlagen zu betrachten, einzuordnen und zu beschreiben.

Betrachtungs- und Gestaltungsfähigkeit setzen eine ästhetische Bildung im Sinne einer sinnlich vermittelten Wahrnehmung kulturell und historisch bedingter Erscheinungen voraus. Dabei ist eine Balance zwischen Theorie und Praxis in der Vermittlung der Grundlagen bedeutsam. Kinder und Jugendliche müssen diese Fähigkeiten in handelnder und verstehender Ganzheit und Gegenseitigkeit erlernen, um die sinnliche Wirkung von Oberflächen, Materialien, Farben und Formen begreifen zu können. Architektur, Kunst und Design sind weder als reine Praxis noch als reine Theorie vermittelbar. Wenn sich Kinder und Jugendliche in Baukultur bilden, bedeutet das daher sowohl intellektuelles Erkennen, emotionales Empfinden als auch gestalterisches Handeln.

Diese Bildungsperspektiven finden sich auch in den Lernzielen, die im Rahmen von Forschungsprojekten der Wüstenrotstiftung[8] für Deutschland definiert wurden. Im Zentrum der baukulturellen Bildung steht dabei die Förderung der Begriffs- und Kommunikationsfähigkeit sowie der Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern. Das Ziel ist, ein breites und zielstufenspezifisches Verständnis für baukulturelle Belange zu etablieren. Die im Folgenden aufgeführten Lernziele der baukulturellen Bildung beziehen sich auf die Zielformulierung des Union International Education Network UIA sowie die Projekte der Wüstenrotstiftung (Million et al., 2019). Die Autorinnen dieser Publikation formulieren diese wie folgt:

•ein sinnliches Bewusstsein für private und öffentliche Räume entwickeln;

•Sensibilität, Fantasie und eigene ästhetische Vorstellungen bilden;

•gestalterische Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernen und anwenden;

•Problemlösungsverfahren kennen und Prozesse erfahren;

•Techniken und Materialien kennen und damit experimentieren;

•Bau- und Handwerksinteresse entwickeln und Handlungen nachvollziehen;

•Ideen und Optionen erforschen, darstellen und umsetzen;

•im Team arbeiten und kreative Lösungswege finden;

•Präsentations- und Argumentationsfähigkeiten entwickeln;

•traditionelles und zeitgenössisches Bauen kennen und schätzen;

•Zusammenhänge zwischen gebauter und natürlicher Umwelt verstehen;

•das Vokabular kennen, um über Baukultur diskutieren zu können;

•Rollen, Rechte und Verantwortlichkeiten von Bauleuten und Öffentlichkeit kennen;

•Baukultur als Aufgabe von Forschung und Entwicklung anerkennen.

Die Vielfalt der Lernziele zeigt es: Die gebaute Umwelt ist nicht nur ein Lebensort, sondern auch ein bedeutender Lernort mit Förderungspotenzial. Kinder und Jugendliche wachsen in städtischen oder ländlichen Umgebungen auf, die aufgrund des demografischen Wandels sowie der technologischen und digitalen Entwicklung in Veränderung begriffen sind. Historisch gewachsene Strukturen und Orte erfahren Umstrukturierungen. Vertraute Treffpunkte, wie Plätze und öffentliche Räume, werden erneuert; Desorientierung unter Jugendlichen und auch Erwachsenen kann die Folge sein. Auch präventive Aspekte im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen und räumlichen Gefüge sprechen dafür, Kinder und Jugendliche für Umweltveränderungen und Umweltgestaltungen zu sensibilisieren und sie, wo immer möglich, auch daran zu beteiligen. Die Qualitätskriterien des Bundesamts für Kultur unterstützen diese Bildungsbestrebungen, denn eine «hohe Baukultur (…) fördert die Verbundenheit mit dem Ort», stärkt die «Identität und Unverwechselbarkeit» und berücksichtigt «das Bedürfnis nach positiver ästhetischer Wertschätzung und einer erfüllenden Beziehung zwischen Menschen und Ort» (BAK, 2021, S. 23). Baukulturelle Bildung fördert somit die Sozialkompetenz im Sinne der Fähigkeit, sich in der Gesellschaft aktiv einzubringen (D-EDK, 2016b, S. 3).

1.5 Untersuchungen zur baukulturellen Bildung

Baukulturelle Bildung als bildungspolitische Aufgabe hat in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Seit der Jahrtausendwende wurden in europäischen Ländern wie England, Frankreich, Deutschland und Österreich Studien zur Förderung dieses Bildungsbereichs durchgeführt. Dennoch wird baukulturelle Bildung im Forschungszusammenhang zu wenig diskutiert (Million, Heinrich & Coelen, 2016). Angela Million und ihr Team kamen im Rahmen einer Untersuchung von mehreren baukulturellen Projekten im städtischen Umfeld und Interviews mit Kindern und Jugendlichen von acht bis 18 Jahren zum Schluss, dass die Diskussion über eine allgemeinbildende Baukultur notwendig sei, um junge Menschen für Stadtplanungsprozesse interessieren zu können. Die Forderung mündet in Umsetzungsvorschlägen wie «vielfältige Settings baukultureller Bildung kultivieren», «baukulturelle Bildung in der Schule verankern», den «gesamten (Stadt-)Raum als Bildungsraum nutzen», «familiäres Lernen berücksichtigen», «Zugänge über Materialien und Werkzeuge eröffnen», «digitale Lernwelten erschliessen», «baukulturelle Bildung mit Beteiligung verbinden», «Anleiterinnen weiterqualifizieren» (d. h. Weiterbildungsangebote für Lehrpersonen und weitere Interessierte) oder «baukulturelle Bildungsangebote politisch fördern» (Million et al., 2019, S. 209 ff.). Insgesamt definiert die Studie vielseitige Handlungsfelder, die auch für andere Länder von Bedeutung sind.

Mit ihrer an der Natur orientierten Architektur und organischen Formensprache haben die Architekten Eliel Sarinnen (1873–1950) und Alvar Aalto (1898–1976) wesentlich zur finnischen Identität und dem damit verbundenen hohen Stellenwert der baukulturellen Qualität beigetragen. «Der Schlüssel zum Architekturverständnis», so zitiert Turit Fröbe aus dem architekturpolitischen Programm, «liegt vorrangig bei der Kunsterziehung sowie bei den umweltbezogenen Fächern, die die Belange der gebauten Umwelt einbeziehen» (ebd., S. 45). Die Architekturhistorikerin untersuchte 2018 im Rahmen einer Feldstudie an der Universität der Künste in Berlin die Auswirkungen der architekturpolitischen Massnahmen von 1998 in finnischen Bildungsinstitutionen beziehungsweise inwiefern diese Form der «Architecture Education» für andere Länder wegweisend sein könnte. Fröbe stellte fest, dass baukulturelle Bildung – nach einer anfänglichen Euphorie vor gut 20 Jahren – heute in den öffentlichen Schulen nicht mehr gelehrt wird als anderswo in Europa. Obgleich es in Finnland diese Programme gab, wurde offensichtlich zu wenig in die Koordination der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen investiert. Ein Problem besteht auch in der «Streichung des obligatorischen Architekturkurses», der im Rahmen des Kunstunterrichts in der Klassenstufe 1–7 stattgefunden hat (ebd., S. 65). Fröbe hält fest, «dass der Architekturunterricht an den Schulen auch aufgrund des Mangels an Lehrmitteln unzureichend sei» und kommt zum Schluss, schulische Projekte bedürften in der Vermittlung «einer gewissen Sinnlichkeit […], damit sie nicht abschreckend wirken» (ebd., S. 45). Deshalb empfiehlt sie baukulturelle Bildung für die Lehrenden «einfach» zu machen, weil Lehrpersonen sonst baukulturelle Inhalte nicht unterrichten würden (ebd., S. 156). Auf strategischer Ebene sollen darüber hinaus, «baukulturelle Leitlinien» entwickelt werden, die als «zentrale Bestandteile von Kunst und Kultur» gelten (ebd., S. 177). Es müsse ein Netzwerk aufgebaut werden beziehungsweise «es bedarf Akteurinnen und Akteure nach dem Vorbild des finnischen Special Advisors for Architecture im National Council for Architecture, welche die architekturpolitischen Massnahmen kommunizieren und als Ansprechpartnerinnen und -partner sowie Beraterinnen und Berater fungieren» (ebd., S. 67). Eine Implementierung der Vermittlung von Baukultur in den Schulen brauche zudem – etwa alle drei oder vier Jahre – einen Evaluationsprozess, um die Leitlinien einer regelmässigen Revision zu unterziehen (ebd., S. 178).