Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eia Asen und Emma Morris beschreiben in diesem Buch einen innovativen Ansatz der Arbeit mit Familien, deren Kinder unter der feindseligen Beziehung ihrer Eltern leiden – vor, während oder nach einer gerichtlichen Auseinandersetzung. Es erläutert ein Modell therapeutischer Arbeit, das Kinder, ihre Eltern, die erweiterte Familie und ihr soziales Netz einbezieht. Der Ansatz zielt darauf, Kinder vor den Konflikten ihrer Eltern zu schützen und ihnen dadurch eine gedeihliche Beziehung zu beiden "Seiten" ihrer Familie zu ermöglichen. Das Buch wendet sich an alle, die mit stark zerstrittenen Familien arbeiten, sei es beratend, therapeutisch oder in anderer begleitender Funktion.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 293
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Systemische Therapie und Beratung
In den Büchern der Reihe zur systemischen Therapie und Beratung präsentiert der Carl-Auer Verlag grundlegende Texte, die seit seiner Gründung einen zentralen Stellenwert im Verlag einnehmen. Im breiten Spektrum dieser Reihe finden sich Bücher über neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Kindern ebenso wie Klassiker der Familien- und Paartherapie aus dem In- und Ausland, umfassende Lehr- und Handbücher ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse. Mit den roten Bänden steht eine Bibliothek des systemischen Wissens der letzten Jahrzehnte zur Verfügung, die theoretische Reflexion mit praktischer Relevanz verbindet und als Basis für zukünftige nachhaltige Entwicklungen unverzichtbar ist. Nahezu alle bedeutenden Autoren aus dem Feld der systemischen Therapie und Beratung sind hier vertreten, nicht zu vergessen viele Pioniere der familientherapeutischen Bewegung. Neue Akzente werden von jungen und kreativen Autoren gesetzt. Wer systemische Therapie und Beratung in ihrer Vielfalt und ihren transdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenhängen verstehen will, kommt um diese Reihe nicht herum.
Tom LevoldHerausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung
Eia AsenEmma Morris
Systemische Arbeit beimassiven Elternkonflikten
Aus dem Englischenvon Theo Kierdorf und Hildegard Höhr
2021
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Berlin)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)
Themenreihe »Systemische Therapie und Beratung«
hrsg. von Tom Levold
Reihengestaltung: Uwe Göbel
Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann
Umschlagmotiv: © Hannah Asen
Redaktion: Uli Wetz
Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten
Printed in Germany
Erste Auflage, 2021
ISBN 978-3-8497-0387-5 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8331-0 (ePUB)
© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag
und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
Alle Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel “High-Conflict Parenting
Post-Separation” bei Routledge, Mitglied der Taylor & Francis Group
© 2020 Eia Asen und Emma Morris
Aus dem Englischen übersetzt von Theo Kierdorf und Hildegard Höhr
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/
Wenn Sie Interesse an unseren monatlichen Nachrichten haben, können Sie dort auch den Newsletter abonnieren.
Carl-Auer Verlag GmbH
Vangerowstraße 14 · 69115 Heidelberg
Tel. +49 6221 6438 - 0 · Fax +49 6221 6438 - 22
Danksagung
Einleitung
1 Chronische Elternkonflikte: Der familiäre Kontext
1.1 Hochstrittige Eltern und resultierende Familiendynamiken
1.2 Elterliche Trennung und ihre Auswirkungen auf Kinder
1.3 Die Debatte über Eltern-Kind-Entfremdung
1.4 Familienbindungen und Triangulierungsprozesse
1.5 Die Konzepte des näheren und distanzierteren Elternteils
2 Konzeptueller Rahmen und Forschungsstand
2.1 Systemische Aspekte
2.2 Die Bindungstheorie
2.3 Innere Modelle
2.4 Elterliche Verbitterung und die Veränderung von Bindungsrepräsentationen
2.5 Widerstreitende Narrative und Bindungsverhalten
2.6 Mentalisierungsbasierte Konzepte
2.7 Kognitive, behaviorale und psychoedukative Rahmen
2.8 Zentrale Annahmen des Family-Ties-Ansatzes
2.9 Forschungsergebnisse
2.10 Evaluierung von positiven Veränderungen
3 Gesetzlicher Rahmen und Planung der Arbeit
3.1 Chronische Streitigkeiten
3.2 Gerichtsverfahren
3.2.1 Anschuldigungen und Anhörungen zur Tatsachenuntersuchung
3.3 Umgangskontaktprobleme
3.4 Sachverständige
3.5 Rechtliche Erwägungen
3.6 Gutachterliche Tätigkeit
3.7 Vorgehensweise und Arbeitsplanung
3.8 Strukturierung der Arbeit
4 Untersuchung der Eltern und ihrer Elternkompetenzen
4.1 Anhören der elterlichen Narrative
4.2 Die Eltern der Eltern – gelernte oder nicht gelernte »Lektionen«?
4.3 Das elterliche Vermögen, die eigenen Kinder zu mentalisieren
4.4 Die Fähigkeit zur Selbstreflexion
4.4.1 Beurteilung der Kompetenz bei der Erfüllung elterlicher Aufgaben
4.5 Emotionale und behaviorale Selbstregulation
4.5.1 Die Beurteilung der Existenz von Triangulierungsprozessen
4.6 Die Darstellung des anderen Elternteils
4.7 Beurteilung der psychischen Gesundheit der Eltern
4.8 Persönlichkeitsstörungen und spezifische Persönlichkeitsmerkmale
4.9 Narzisstische Persönlichkeitsstörung und narzisstische Persönlichkeitszüge
4.10 Borderline-Züge und die Borderline-Persönlichkeitsstörung
4.11 Fingierte oder induzierte Krankheiten (Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom)
4.12 Angst, Depression und Reaktionen auf erlebte Traumata
5 Untersuchung und Beurteilung von Kindern
5.1 Aufbau einer Beziehung
5.2 Erstgespräche und weitere Treffen
5.3 Die feststellbaren Wünsche und Gefühle des Kindes
5.4 Einschätzung der Bindung
5.5 Der Strange-Situation-Test
5.6 Erzählungsstämme (Story Stems)
5.7 Das Child-Attachment-Interview
5.8 Beziehungsdiagramme
5.9 Beurteilung von Misshandlungsvorwürfen und anderen Beschuldigungen
5.10 Beurteilung des Kindeswillens und Mitspracherechts
5.11 Sammeln zusätzlicher Informationen über das Kind
5.12 Missbrauch von Diagnosen durch Eltern
6 Therapeutische Untersuchung von Familienbeziehungen und Interventionsplanung
6.1 Therapeutische Begutachtung
6.2 Vorbereitung der Eltern auf eine Begegnung mit dem Expartner
6.3 Das »Muster als Übeltäter«
6.4 Umgang mit affektiver Erregung und Eskalationsdynamiken
6.5 Vorbereitung der Eltern auf die Wiederherstellung des Kontakts zu ihrem Kind
6.6 Vorbereitung eines Kindes auf die Wiederherstellung des Kontakts zu seinem distanzierteren Elternteil
6.7 Exploration der elterlichen Paarbeziehung
6.8 Beobachtung und Bewertung von Kind-Eltern-Interaktionen
6.9 Das umfassendere System: Erweiterte Familie und Kultur
6.10 Integration der Befunde und Interventionsplanung
6.10.1 Verstrickung des Kindes in Triangulierungsprozesse
6.10.2 Die elterliche Fähigkeit, die primären Bedürfnisse Kindes zu erfüllen
6.10.3 Netzwerkinterventionen
7 Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des Kontakts
7.1 Desensibilisierung und abgestufte Exposition
7.2 Indirekte abgestufte Exposition
7.3 Abgestufte direkte Exposition
7.4 Umgang mit spezifischen Ängsten und Vorbehalten
7.5 Hinterfragen verzerrter Repräsentationen
7.6 Narrative
7.7 Komponenten kohärenter Narrative
7.8 Kontaktförderungsarbeit
7.9 Weitere Arbeit mit dem Elternpaar und dem umfassenderen familiären und professionellen Netzwerk
7.10 Rückfallprävention und frühes Erkennen problematischer Interaktionsmuster
8 Reflektierende Praxis
8.1 Das Management von Risiken
8.2 Einverständnis mit der Zielsetzung und Umgang mit »Doppelbotschaften«
8.3 »Traumatischer« Kontakt
8.4 Vorwürfe und Beschwerden
8.5 Co-Working und andere Formen der Zusammenarbeit
9 Frühe Interventionen zur Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten
9.1 Letzter Versuch oder Trennung?
9.2 Entwickeln eines gemeinsamen »Mantras« zum Schutz der Beziehung der Kinder zu beiden Eltern
9.3 Aufrechterhaltung des gemeinsamen Mantras
9.4 Proaktive Unterstützung von Kontakt
9.5 Elternvereinbarungen
9.6 Einbeziehung des umfassenderen familiären Netzwerks
9.7 Stärkung und Koordinierung spezifischer Elternkompetenzen
9.8 Frühes Erkennen und Ansprechen problematischer Co-Parenting-Muster
9.9 Einigung über das Narrativ für das Kind
9.10 Multifamilienarbeit
9.11 Ausblick
Literatur
Über die Autoren
Wir haben viele Gespräche mit anderen Fachleuten für diesen Bereich geführt. Außerdem haben wir die existierende Literatur gründlich ausgewertet und dadurch von den Erfahrungen, Konzepten und Interventionen profitiert, die Kollegen in unterschiedlichen Zusammenhängen und Ländern bei der Arbeit an schweren Familienkonflikten nach der Trennung der Eltern genutzt haben. Wir haben uns bemüht, alle Quellen zu nennen, die für uns bei der Entwicklung unseres Modells eine Rolle gespielt haben, aber uns ist klar, dass wir einige wichtige Einflüsse und Inspirationen übersehen haben könnten, und für derartige Versäumnisse möchten wir hiermit um Entschuldigung bitten. Besonders dankbar sind wir allen Kollegen, mit denen wir im Laufe der Jahre in den für Gerichtsverfahren zuständigen Teams des Marlborough Family Service in London und des Anna Freud National Centre for Children and Families zusammengearbeitet haben – Jane Dutton, Judy Henry, Joanne Jackson und Shadi Shahnavaz. Außerdem danken wir Gill Gorell Barnes und Lord Justice Peter Jackson für viele hilfreiche Gespräche und Ideen. Zu danken haben wir weiterhin Chloe Campbell und Liz Allison für ihre äußerst kompetente editorische Hilfe.
Alle Fallbeispiele sind fiktiv und/oder anonymisiert. Sie haben die Funktion, konkret typische Szenarien zu beschreiben, mit denen wir bei der Arbeit mit getrennten Eltern und ihren Kindern konfrontiert wurden.
Eia Asen & Emma MorrisLondon, im Februar 2021
Dieses Buch beschreibt die Begutachtung und therapeutische Arbeit mit getrennten Eltern, die sich in schwerwiegende Konflikte und Streitigkeiten verstrickt haben – bevor, während und nachdem die formellen juristischen Verfahren initiiert, durchgeführt und zum Abschluss gebracht wurden. Es ist vor allem für Fachleute gedacht, die mit stark zerstrittenen Eltern im Zusammenhang mit deren Trennung arbeiten – ganz gleich, ob es sich um Psychologen, Psychiater, Kinder- oder Erwachsenenpsychotherapeuten, Familientherapeuten, Sozialarbeiter, gesetzliche Verfahrensbeistände oder juristische Fachleute wie Rechtsanwälte und Mediatoren oder um Studenten und Auszubildende in all diesen unterschiedlichen Bereichen handelt.1 Das Buch sollte auch Eltern interessieren, die im Anschluss an ihre Trennung die ihre Kinder betreffenden Probleme zu lösen versuchen.
Wir haben das hier beschriebene Arbeitsmodell Family Ties genannt: Im Englischen hat das Wort ties verschiedene Bedeutungen wie »(Ver-)Bindungen«, »Verknüpfungen«, »Belastungen« oder »Fesseln«. Diese verschiedenen Formen von ties beschreiben die vielschichtigen und komplizierten Beziehungsverhältnisse, denen Kinder von hochstrittigen Eltern oft ausgesetzt sind. Der Family-Ties-Ansatz versucht, die Folgen elterlicher Streitigkeiten nach einer Trennung für die noch abhängigen Kinder zu verringern, wenn sie in die chronischen Streitigkeiten ihrer Eltern verwickelt werden. Nicht selten empfinden solche Kinder es als notwendig, für einen Elternteil gegen den anderen Partei zu ergreifen, und nach der physischen Trennung der Eltern wird ihre Beziehung zu dem Elternteil, bei dem sie nicht überwiegend leben, oft negativ beeinflusst. Schwelen zwischen den Eltern weiterhin Konflikte oder eskalieren sie nach der Trennung sogar, können sich die Kinder in extremeren Fällen strikt weigern, noch irgendeine Form von direktem oder indirektem Umgang mit dem anderen Elternteil aufrechtzuerhalten. An solch einem Punkt kommen auf der Suche nach einer Lösung des Konflikts Rechtsanwälte und schließlich oft Gerichte ins Spiel, die bei den entstehenden Sorge- und Umgangsrechtsstreiten Entscheidungen darüber treffen müssen, wo das betroffene Kind leben und wie viel Zeit es mit jedem Elternteil verbringen soll.
Heutzutage existieren verschiedene therapeutische Ansätze und Modelle, die Kindern von dauerhaft zerstrittenen Eltern helfen sollen, eine hinreichend gute und adäquate Beziehung zu beiden Eltern aufzubauen und aufrechtzuerhalten, damit ihre psychosoziale Entwicklung geschützt und unterstützt wird. Einige dieser Ansätze basieren auf der Annahme, wenn Kinder sich weigerten, mit der Mutter oder dem Vater Umgang zu haben, sei dies vor allem darauf zurückzuführen, dass ein Elternteil das Kind dem anderen Elternteil aktiv »entfremde«. Begriffe wie »elterliches Entfremdungssyndrom«, »Eltern-Kind-Entfremdung« und »elterliches Beschuldigungssyndrom« können irreführend sein, da sie abträgliche Täter-Opfer-Szenarien heraufbeschwören, in denen der »entfremdete Elternteil« und das Kind Opfer des anderen, »manipulierenden« Elternteils sind. Unserer klinischen Erfahrung gemäß, sind die Dynamiken in zerstrittenen Familien erheblich komplexer, und unser Family-Ties-Modell stellt das Kindeswohl in den Mittelpunkt aller Arbeit; statt einem Elternteil die Schuld zuzusprechen, sollen Familiendynamiken verändert werden, die das betroffene Kind aus den in chronischen elterlichen Beziehungskonflikten so häufig entstehenden »Dreiecksverhältnissen« zu »detriangulieren«. Es ist nämlich höchst problematisch für Kinder, durch die widersprüchlichen Forderungen der Eltern eingeengt, dominiert oder buchstäblich »geteilt« und gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen gezerrt zu werden. Familiäre Bindungen können eben sowohl positive als auch negative Aspekte haben: Einerseits helfen sie Kindern, sich gehalten und sicher zu fühlen, und fördern so ihre psychosoziale Entwicklung. Andererseits können familiäre Bindungen im Falle schwerwiegender familiärer Konflikte nach der Trennung der Eltern Kindern das Gefühl vermitteln, an einen Elternteil auf Kosten des anderen »gekettet« zu sein.
Der Family-Ties-Ansatz fokussiert expliziert auf die Stärkung positiver familiärer Verbindungen und Beziehungen und die Befreiung der Kinder von den Einschränkungen und »Fesseln«, die sich leider so oft in stark zerstrittenen Familien entwickeln. Diese Arbeit vollzieht sich in sieben einander überlappenden Arbeitsphasen (siehe Kasten 1.1).
1Netzwerktreffen
2individuelle parallele Arbeit mit beiden Eltern
3individuelle Arbeit mit Kind(ern)
4Identifizieren der Triangulationsprozesse und Planung der Interventionsschritte
5Paararbeit mit den Eltern
6Arbeit am Umgangskontakt
7Familienarbeit
Kasten 1.1: Die Family-Ties-Arbeitsphasen
Family Ties integriert Bindungs- und Mentalisierungskonzepte in einen systemischen Rahmen, also in die Familie und die verschiedenen »Systeme«, denen sie angehört, etwa die Großfamilie, den Freundeskreis und die Unterstützer wie auch das umfassendere soziale und kulturelle Umfeld. Entscheidend sind bei alledem die wohlverstandenen Interessen und das Wohl des jeweiligen Kindes sowie die Fähigkeit der Eltern, ihre Aufgaben zu erfüllen und die psychosoziale Funktionsfähigkeit und die entwicklungsspezifischen Bedürfnisse des Kindes zu fördern.
Kapitel 1 steckt den familiären Kontext ab, in dem sich Kinder und ihre Eltern nach der Trennung bewegen und, wenn es zu keiner Einigung kommt, wo ihre gemeinsamen Kinder leben und wie viel Zeit sie bei jedem von ihnen verbringen sollen. Der konzeptionelle Rahmen und das Modell des Family-Ties-Ansatzes werden in Kapitel 2 erläutert. Die rechtlichen Zusammenhänge und Probleme, die im Falle einer juristischen Auseinandersetzung drohen, werden in Kapitel 3 beschrieben. Die Kapitel 4 bis 6 erörtern recht detailliert die Untersuchung von Eltern, Kindern und Familienbeziehungen, die ein integraler Aspekt für die Planung therapeutischer Interventionen ist. In Kapitel 7 geht es darum, wie man Kindern und ihren Eltern helfen kann, eine »hinreichend gute« (Winnicott 1965) Beziehung zu einem bisher abgelehnten Elternteil wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten. Kapitel 8 gibt Anregungen, wie man die oft sehr belastende Arbeit mit stark zerstrittenen Familien durch reflektierende Praxis erleichtern kann. Kapitel 9 enthält für Eltern, die juristische Streitigkeiten und Gerichtsverhandlungen vermeiden wollen, Empfehlungen bezüglich frühzeitiger therapeutischer Interventionen, die bei diesem Bemühen von Nutzen sein können.
Ein Hinweis noch zu juristischen Zusammenhängen: Das Buch nimmt auf einige rechtliche Bestimmungen Bezug, die für Großbritannien gelten. Diese Bezugnahmen müssten für andere Länder entsprechend modifiziert werden. Sie sind allerdings weder prinzipiell anderer Natur als in anderen Ländern unseres Kulturkreises, noch betreffen sie in irgendeiner Weise die inhaltliche und therapeutische Substanz dieses Buches. Insofern lag es nahe, sie aufgrund ihrer paradigmatischen Gültigkeit in der vorliegenden Übersetzung unverändert zu übernehmen.
Zum Abschluss möchten wir nachdrücklich darauf hinweisen, dass man vor raschen Lagebeurteilungen und vor der anschließenden Entwicklung therapeutischer Interventionen bei Elterntrennungen ein wenig Zeit vergehen lassen sollte, damit sich der fast unvermeidliche »Staub« setzen kann: Ein gewisses Chaos am Anfang ist (leider) normal, und wenn eine Familie buchstäblich zerfällt, hilft es nicht, die Handlungen der einzelnen Mitglieder, die einen neuen Modus Vivendi zu finden versuchen, zu pathologisieren.
1Zurzeit findet eine breitere Diskussion über die Frage statt, wie in der deutschen Sprache alle realen Geschlechter – das männliche, das weibliche, die diversen – angemessen repräsentiert werden können bzw. sollen. Wir möchten darauf hinweisen, dass wir in diesem Buch zwar die traditionellen Schreibweisen verwenden, dass aber bei Nennung eines grammatischen Geschlechts immer alle realen Geschlechter gemeint sind.
Als Frau und Herr B. sich vor etwa 15 Jahren kennenlernten, erlebten sie etwas, das sie noch immer als »Liebe auf den ersten Blick« bezeichnen. In den ersten fünf Jahren waren sie glücklich miteinander, bis das Baby Rahul geboren wurde. Schwangerschaft und Geburt waren sehr schwierig, und Rahul war ein ziemlich anstrengender Säugling. Herr B. hatte eine sehr anspruchsvolle berufliche Position und arbeitete oft lange. Frau B., die früher einmal eine Vollzeitstelle in einer Apotheke gehabt hatte, blieb nun bei dem Baby zu Hause. Beide Eltern waren gestresst und erschöpft und verwickelten sich in Streitigkeiten wegen der Kindesbetreuung, wegen unterschiedlicher Erwartungen und kultureller Gepflogenheiten, wegen der Rolle der beidseitigen Schwiegereltern sowie wegen anderer Dinge. Als zwei Jahre später das zweite Kind, Marina, geboren wurde, befand sich die Beziehung der Eltern in einer tiefen Krise, wie sie sie noch nie erlebt hatten. Frau B. hatte das Gefühl, ihr Mann sei nicht der stets hilfsbereite Vater, der zu sein er ihr versprochen hatte. Er war nur selten zu Hause, und wenn, war er meist gestresst und verhielt sich, als wolle er jeden Schritt seiner Frau und der Kinder kontrollieren. Seiner Frau gegenüber ließ er nur wenig Zuneigung erkennen, und er würdigte auch kaum ihre Arbeit im Heim der Familie. Sie vermutete, er habe eine außereheliche Affäre, doch das stritt er vehement ab. Herr B. seinerseits hatte das Gefühl, das Leben im Heim seiner Familie werde von seiner Schwiegermutter bestimmt, die sich in der Nähe eine Wohnung gesucht hatte und fast täglich auftauchte. Frau B. und ihre Mutter kritisierten ihn oft und bezogen ihn in wichtige Entscheidungen fast nie ein. Deshalb fühlte er sich ausgegrenzt, als würde seine Rolle als Vater seiner Kinder unterminiert, als blieben seine Ansichten und Meinungen ungehört und als wollten die Kinder des Paars nur Kontakt zu ihrer Mutter.
Die Atmosphäre in der Familie wurde immer angespannter, und es kam täglich zu Streitigkeiten; das passierte zunächst nur, wenn die Kinder nicht anwesend waren oder schliefen, doch später fanden die Auseinandersetzungen zunehmend auch vor den Kindern statt. Schon bald häuften sich bei Rahul Wutausbrüche, und Marina bekam Probleme mit dem Essen und litt unter Schlafstörungen. Die Beziehung der Eltern verschlechterte sich immer weiter. Rahul war drei Jahre alt und Marina noch nicht einmal ein Jahr, als Herr B. sich entschloss, aus dem Haushalt der Familie auszuziehen. Er fühlte sich von seiner Frau nicht mehr respektiert und glaubte, ihm werde »verboten«, der Vater zu sein, der er sein wolle. Frau B. hingegen fühlte sich von ihrem Mann verlassen und sah in seiner Entscheidung auszuziehen einen Beweis dafür, dass er sich seiner Familie nicht wirklich verpflichtet fühle. Das Paar vereinbarte, dass Herr B. die Kinder jedes zweite Wochenende zu sich nehmen solle und dass sie außerdem in der Wochenmitte einmal bei ihm übernachten dürften. Frau B. erklärte, sie wolle die Beziehung der Kinder zu ihrem Vater erhalten, machte sich aber andererseits Sorgen wegen seiner mangelnden Erfahrung im fürsorglichen Umgang mit ihnen. Jedes Mal wenn die Kinder von einem Besuch bei ihrem Vater zurückkamen, hatte die Mutter das Gefühl, sie kämen nicht zur Ruhe, und in den folgenden Tagen sei es schwieriger, mit ihnen zurechtzukommen. Nach zwei Monaten erklärte Frau B., sie könne nicht zulassen, dass Marina weiter bei ihrem Vater übernachte, wogegen er erfolglos protestierte. Rahul besuchte den Vater nun allein, sagte aber, er vermisse seine Schwester und seine Mutter. Drei Monate später weigerte er sich, das Wochenende bei seinem Vater zu verbringen. Er wollte sich nicht auf den Besuch vorbereiten und verhielt sich der Mutter gegenüber sehr anklammernd. Er sagte: »Papa ist mürrisch, und er brüllt.« Frau B. rief ihren Mann an und sagte, sie habe »buchstäblich alles« versucht, um Rahul dazu zu bringen, seinen Vater zu besuchen, aber er weigere sich.
In den folgenden vier Monaten sah Herr B. keines seiner Kinder, obwohl er an jedem zweiten Wochenende mit seiner telefonierte, um die Übergabe der Kinder abzusprechen; doch Frau B. erklärte jedes Mal: »Ich habe alles versucht, aber Rahul will dich nicht sehen. Er ist jetzt so alt, dass ich ihn nicht mehr zwingen kann, dich zu besuchen.« Herr B. reagierte zunehmend frustriert darauf, dass die Mutter nicht mehr tat, um seine Beziehung zu ihren gemeinsamen Kindern zu fördern. Er sprach mit Freunden der Familie über seine Sorgen, die daraufhin mit Frau B. redeten und ihr vorwarfen, sie versuche, Herrn B. mithilfe der Kinder dafür zu bestrafen, dass er seine Familie verlassen habe. Im Beisein der Kinder kam es zwischen den Eltern auf der Straße zu hitzigen Auseinandersetzungen, und in einer dieser Situationen rief ein Nachbar die Polizei hinzu. Frau B. erklärte, sie erlebe Herrn B. als verärgert und kontrollbesessen – als tyrannisch –, und die Kinder interessierten ihn im Grunde nicht. Herr B. hingegen erklärte, Frau B. »entfremde« ihm die Kinder absichtlich. Er engagierte einen Anwalt, und zwischen diesem und dem Anwalt seiner Frau entwickelte sich ein immer feindseliger werdender Schriftverkehr. Einige Monate später landete der Streitfall vor Gericht, und unabhängige Sozialarbeiter und andere professionelle Helfer wurden einbezogen. Als Rahul acht Jahre alt war, hatten schon zehn Gerichtstermine stattgefunden, und mehrmals hatten Richter angeordnet, dass die beiden Kinder Zeit bei ihrem Vater verbringen sollten – aber dies passierte einfach nicht. Als das Gericht der Familie schließlich die Auflage machte, unsere Klinik aufzusuchen, hatten beide Kinder ihren Vater seit vier Jahren nicht gesehen und auch nicht mit ihm gesprochen. Rahul sagte, er »hasse« seinen Vater, weil er »mich und meine Mama anbrüllt«, und Marina schien keinerlei Interesse an ihrem Vater zu haben.
Die Familie wird oft als sicherer Hafen bezeichnet. Sie kann aber auch ein gewaltiges Schlachtfeld sein oder dazu werden. Nach Schätzungen enden in den USA und in Großbritannien über 40 % aller Ehen mit einer Scheidung, und in vielen europäischen Ländern scheint es sich ähnlich zu verhalten (OECD 2018). Die Anzahl der minderjährigen Scheidungskinder in Deutschland ist in den letzten Jahren zwar gesunken, aber immerhin gab es 2019 mehr als 122 000 (Statista 2020).2 Etwa zehn Prozent aller Scheidungsfälle sind mit sehr starken Konflikten verbunden (Bream a. Buchanan 2003). Konflikte zwischen Eltern nach der Trennung führen häufig zu Auseinandersetzungen über das Umgangs- und Sorgerecht: zu schwerwiegenden Meinungsverschiedenheiten darüber, wer das alleinige Sorgerecht für die Kinder erhalten soll, wo und bei wem die Kinder leben sollen und wie viel direkten (persönlichen) und indirekten (z. B. telefonischen oder brieflichen) Umgangskontakt sie mit einem oder beiden Elternteilen haben sollen. Solche Meinungsverschiedenheiten und Konflikte greifen oft auch auf die erweiterte Familie sowie auf Freunde und berufliche Netzwerke über. In Szenarien dieser Art können Kinder emotionalen Schaden erleiden, weil sie dem problematischen Konfliktmanagement der Eltern und deren Unfähigkeit, sich zu einigen, schutzlos ausgesetzt sind.
Die meisten Eltern, die sich trennen, sind in der Lage, sich vorrangig um das Wohl ihrer Kinder zu kümmern und sie vor ihrer eigenen Verbitterung über den Expartner zu schützen. Sie tun alles, um ihre Kinder zu unterstützen, eine Beziehung zu beiden Eltern und deren erweiterten Familien- und Freundeskreisen aufrechtzuerhalten. Es gibt allerdings auch Eltern, denen es unmöglich erscheint, von ihren eigenen Konflikten abzusehen – was dann, wie in unserem Beispielfall, dazu führt, dass die Kinder Schritt für Schritt in den elterlichen Konflikt hineingezogen werden und oft am Ende für eine Seite Partei ergreifen. Weil starke Gefühle und noch stärkere Reaktionen bestehende Konflikte noch stärker anfachen, sammeln sich Freunde und Mitglieder der erweiterten Familien um die Partner und unterstützen die eine oder die andere Partei, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis in solche Konflikte Anwälte und professionelle Helfer einbezogen werden. Die Ausweitung solcher Auseinandersetzungen auf das Rechtssystem kann derartige Situationen noch weiter polarisieren und verschärfen. Die Aufmerksamkeit der beteiligten Erwachsenen ist dann zunehmend darauf gerichtet, den »Fall« zu gewinnen, und die Leidtragenden sind fast immer die Kinder, deren komplexe Emotionen und Loyalitätsprobleme nicht mehr angemessen berücksichtigt werden, weil zwischen ihren Eltern und den Angehörigen des erweiterten Systems ein stark von Emotionen geprägter Krieg tobt, an dem auch Freunde und manchmal sogar professionelle Helfer parteiisch beteiligt sein können.
Wenn Elternpaare sich trennen oder sich scheiden lassen, haben manche schon seit Langem Partnerschaftsprobleme, und dabei spielen auch vor der Trennung oder Scheidung meist Mitglieder der jeweiligen Ursprungsfamilien eine Rolle. Solche Streitigkeiten können sich über viele Jahre hinziehen, in deren Verlauf die Erzählungen der beteiligten Erwachsenen, oft unter dem Einfluss langwieriger juristischer Auseinandersetzungen, immer starrer werden (Blow a. Daniel 2002; Gorell Barnes 2005). Kinder sind sich der langjährigen Verbitterung ihrer Eltern und deren Streitigkeiten in der Regel sehr wohl bewusst, auch wenn die Eltern beteuern mögen, dafür zu sorgen, dass die Kinder nicht damit konfrontiert würden. Werden die Kinder – direkt oder indirekt – in die Auseinandersetzungen der Eltern verwickelt, geraten sie in Loyalitätskonflikte, die bei ihnen das Gefühl hervorrufen, sie müssten sich einen festen Standpunkt zu eigen machen, indem sie beispielsweise für einen Elternteil gegen den anderen Partei ergreifen. Leben Eltern nach der Trennung in separaten Wohnungen, beginnen die Kinder oft, zunehmend den Elternteil zu idealisieren, bei dem sie leben, manchmal allerdings auch den anderen Elternteil. In vielen Fällen läuft der Elternteil, bei dem die Kinder nicht regulär wohnen, Gefahr, marginalisiert zu werden, und manchmal wird er sogar aktiv verleumdet oder dämonisiert. Wird dann nicht bewusst gegengesteuert oder wird der Zustand absichtlich oder unabsichtlich verstärkt und gefördert, kann er das Geschehen in der Familie über Gebühr belasten. Manchmal werfen Kinder dem ihnen ferner stehenden oder häufiger abwesenden Elternteil frühere schlechte Behandlung vor, wozu sie auf angebliche Situationen von Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlung verweisen, was der Elternteil, bei dem sie wohnen, dann nutzt, um den Kontakt zum früheren Partner einzuschränken oder völlig zu unterbinden oder um durchzusetzen, dass fortan jeder Kontakt unter amtlicher Aufsicht stattfindet.
Der elterliche Trennungsprozess ist oft eine schwierige Übergangssituation, die eine Umstrukturierung und Anpassung innerhalb der Familie erforderlich macht; in dieser Situation verstricken sich Eltern nicht selten in juristische Auseinandersetzungen, weil sie ihre Identität wahren wollen oder weil sie ihre bisherige Rolle oder Position innerhalb der Familie gefährdet sehen (Gorell Bernes 2017). Sie hegen dann oft die Erwartung, dass die rechtlichen Klärungsversuche ihre komplexen Emotionen, die den früheren Partner betreffen, lindern werden (Trinder et al. 2008). Hat außerdem ein ehemaliger Partner oder haben beide neue Partner gefunden, können sich weitere komplexe Dynamiken entfalten, welche die Beziehungen der Kinder zu einem Elternteil oder zu beiden Eltern negativ beeinflussen. Wie Kinder mit der Trennung ihrer Eltern kurz- wie auch langfristig fertigwerden, hängt stark von Fähigkeit und Bereitschaft der Eltern ab, ihre Kinder trotz der Trennung weiterhin gemeinsam zu betreuen.
Die Trennung der Eltern verursacht bei Kindern normalerweise starke Gefühle, die von Kummer bis hin zu Angst und von Traurigkeit bis hin zu Wut reichen können (Kelly a. Emery 2003). Häufig werden Kinder von den Eltern über eine bevorstehende Trennung oder Scheidung und die Gründe dafür unzureichend informiert, und ihnen wird nur wenig über die langfristigen Implikationen für die zukünftige Familienstruktur und für Kontakt- und Wohnregelungen mitgeteilt – meist weil sich die Eltern darüber selbst nicht im Klaren sind. Zieht ein Elternteil aus dem Heim der Familie aus, kann es sein, dass der zurückbleibende Elternteil den Auszug des Expartners anders darstellt als derjenige, der das Heim verlässt. Die Kinder wissen dann oft nicht, welche Darstellung die »richtige« ist. Vom Zeitpunkt der physischen Trennung an ist es oft so, dass die Kinder den Elternteil, der sich entfernt hat, seltener und manchmal wochenlang gar nicht sehen.
Es ist gut belegt, dass Zwistigkeiten und erbitterte Konflikte zwischen Eltern meist negative Auswirkungen auf die Kinder und ihre psychosoziale Entwicklung haben (Barletta a. O’Mara 2006; Holmes 2013; Bernet et al. 2016; Harold a. Sellers 2018) und dass dies so häufig der Fall ist, dass im DSM-5 (2013) die diagnostische Kategorie »Kindliche Beeinträchtigung aufgrund von Beziehungsproblemen der Eltern« (Z62.898) eingeführt wurde. Dabei geht es nicht um die Trennung selbst, sondern um den destruktiven Konflikt zwischen den Eltern, der häufig zu einer schlechten psychosozialen Anpassung der Kinder in den Jahren nach der Trennung führt (Emery 1982; Kline et al. 1991), wobei auch eine Rolle spielt, wie stark die Kinder in die Konflikte hineingezogen werden (Davies a. Cummings 1994; Buchanan a. Heiges 2001; McIntosh 2003) und ob sie das Gefühl haben, sie selbst hätten die schlechte Beziehung ihrer Eltern zueinander verschuldet (Harold et al. 2007). Obzwar einige Kinder stärker beeinträchtigt werden als andere, beinhaltet das wiederholte und längerfristige direkte Miterleben elterlicher Konflikte und Streitigkeiten grundsätzlich für alle Kinder ein beträchtliches psychisches Risiko. Dieses kann sich in Form von Angst und Depression niederschlagen sowie in Form von Verhaltensproblemen, darunter aggressiven und feindseligen Verhaltensweisen (Johnston et al. 1987; Buchanan a. Heiges 2001; Grych a. Fincham 2001; Cummings a. Davies 2002; McIntosh 2003; Harold a. Murch 2005; Jenkins et al. 2005; Holt et al. 2008; Pinnell a. Harold 2008), Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen (Bolgar et al. 1995), Loyalitätskonflikten und kognitiven Dissonanzen (Amato a. Afifi 2006) sowie starken psychosozialen Anpassungsschwierigkeiten (Kline et al. 1991). Außerdem haben betroffene Kinder später im Leben häufiger Schwierigkeiten mit dem Aufbau und der Erhaltung von Vertrauensbeziehungen.
Wenn getrennte Eltern sich in einem Dauerstreit befinden, kann sich das negativ auf ihre emotionale Offenheit ihren Kindern gegenüber auswirken, weil viele ihrer Aktionen und Reaktionen mit den laufenden Konflikten zusammenhängen, also nichts direkt mit den Bedürfnissen ihrer Kinder zu tun haben. Jeder Elternteil mag für sich in Anspruch nehmen, dass es ihm nur um das Wohl der Kinder geht, macht aber gleichzeitig dem anderen Elternteil Vorwürfe; hingegen fällt es meist beiden schwer, den eigenen Anteil an der verbitterten Atmosphäre zu erkennen. Häusliche Gewalt setzt sich nicht selten auch nach der Trennung von Eltern fort, wobei die Kontakte der Kinder zu dem Elternteil, der das Heim der Familie verlassen hat, zum Fokus weiter eskalierender Konflikte zwischen den Eltern werden. Das beeinflusst nicht nur die Kindesbeziehung zum »entfremdeten« Elternteil, sondern zu beiden Eltern negativ.
Der Begriff »Elternentfremdung« – »Parental Alienation Syndrome« (PAS), Gardner 1985) – bezeichnet die (augenscheinlich) ungerechtfertigte und dauerhafte Zurückweisung und Herabsetzung eines Elternteils durch ihr Kind (bzw. ihre Kinder), ausgelöst und gefördert durch die Indoktrinierung des betreuenden Elternteils, der dem anderen bewusst Liebe und Respekt des eigenen Kindes vorzuenthalten versucht (Lowenstein 2007). Das Kind entwickelt mit dem Elternteil, bei dem es wohnt, eine starke Koalition und lehnt eine Beziehung zum »zurückgewiesenen« Elternteil »ohne plausible Begründung« ab (Gardner 1998). Die Diagnose des »Elternentfremdungssyndroms« (Gardner 1985) bleibt umstritten, weil sie impliziert, dass das Kind infolge absichtlicher oder unbewusster Indoktrinierung durch einen »entfremdenden« Elternteil eine »Störung« entwickelt, oft verbunden mit allem Anschein nach banalen, falschen oder unbelegten Anschuldigungen dem entfremdeten Elternteil gegenüber. Bestätigungen der Auffassung, dass Kinder die falschen Anschuldigungen, die sie gegen den Elternteil, den sie zurückweisen, erheben, lassen sich aus einem beträchtlichen Fundus an Untersuchungen herleiten, die unter anderem auch zeigen, dass Erinnerungen leicht verzerrt und dass »falsche Erinnerungen« eingepflanzt werden können (Loftus 1997; Bruck a. Ceci 1999; Schacter 2001; Tavris a. Aronson 2007; Lilienfeld et al. 2010).
Man hat festgestellt, dass bei Kindern von stark zerstrittenen getrennten Eltern typischerweise bestimmte Verhaltensweisen zu finden sind (Baker a. Darnall 2006; Baker 2007; Baker a. Chambers 2011; Ben-Ami a. Baker 2012). Darnall (1998) unterscheidet drei Kategorien von »entfremdenden Eltern«:
1.»Naive Entfremder« verhalten sich der Beziehung der Kinder zum anderen Elternteil gegenüber weitgehend passiv und sagen oder tun nur gelegentlich etwas, das einen Entfremdungsprozess initiieren kann.
2.»Aktive Entfremder« wissen, dass das, was sie tun, falsch ist, wirken aber trotzdem entfremdend, um mit ihrer persönlichen Verletztheit und Wut fertigzuwerden – aufgrund ihrer eigenen emotionalen Verletzlichkeit oder ihrer mangelnden Impulskontrolle.
3.»Besessene Entfremder« fühlen sich im Recht, wenn sie den anderen Elternteil verletzen und die Beziehung des gemeinsamen Kindes zu ihm zerstören, und lassen nur selten Selbstkontrolle oder Einsicht erkennen.
Weitere, einander überschneidende Begriffe und Kategorien existieren, die erklären sollen, warum Kinder sich auf die Seite eines Elternteils schlagen und den anderen ablehnen. Der Begriff »zu rechtfertigende Entfremdung« (siehe Bala a. Hebert 2016; Whitcombe 2017) wurde geprägt zu dem Zweck, die »verständliche Zurückweisung« eines misshandelnden oder vernachlässigenden Elternteils durch sein Kind zu charakterisieren. Von »hybriden Fällen« wird gesagt, sie würden »Entfremdung« und »zu rechtfertigende Entfremdung« kombinieren, um die Zurückweisung eines Elternteils zu legitimieren (Friedlander a. Walters 2010). Andere Begriffe und Konzepte wie »Ausgrenzung von Familienmitgliedern« (Scharp a. Dorrance 2017) und »kontraproduktives schützendes Elternverhalten« (Drozd a. Williams Olesen 2004) oder unfaire Verunglimpfung eines Elternteils durch den anderen werden ebenfalls zur Beschreibung dessen, was dazu geführt hat, dass ein Kind einen Elternteil nicht sehen will, benutzt. Kelly und Johnston (2001) haben versucht, das »Elternentfremdungssyndrom (PAS)« umzuformulieren und sich auf das »entfremdete Kind« zu konzentrieren, und in diesem Zusammenhang haben sie untersucht, warum und wie die Beziehungen von Kindern zu ihren Eltern nach deren Trennung beeinflusst werden. Das Konzept der »unversöhnlichen Feindseligkeit« (Sturge a. Glaser 2000) ist ein weiterer Versuch, die starke und nicht nachlassende Feindseligkeit zu erfassen, die oft zwischen dem Elternteil, dem das Sorgerecht für das Kind zugestanden worden ist, und dem anderen Elternteil besteht. Das letztgenannte Konzept hat insofern Schwächen, als man denken könnte, es würde implizieren, dass es unmöglich wäre, die Situation zu verbessern – was davon abhalten könnte, veränderungsfördernde Interventionen auch nur auszuprobieren.
Es wurde und wird weiterhin viel darüber diskutiert, ob Elternentfremdung tatsächlich ein Syndrom ist (siehe hierzu beispielsweise Andre 2004; Bernet et al. 2010; Rand 2011; Gottlieb 2012; Baker et al. 2016; Cantwell 2018). Nach unserer Auffassung hat das Konzept der Entfremdung zwar einige Vorzüge, aber andererseits auch Grenzen, da es einen in eine Richtung verlaufenden linearen und kausalen Prozess postuliert, der bewirken soll, dass sich Kinder in die verbitterte Beziehung ihrer Eltern hineingezogen fühlen und aufgrund dessen einem Elternteil gegenüber eine Abneigung entwickeln. Zwar erkennen wir an, dass in sehr extremen Fällen ein Elternteil bei der Unterminierung der Beziehung eines Kindes zum anderen Elternteil die treibende Kraft ist, doch sind in den meisten Fällen umfassendere und komplexere Dynamiken – wie »Triangulierungsprozesse« und Loyalitätskonflikte – im Spiel, die ein differenzierteres Verständnis und entsprechende Formulierungen erfordern.
Fidler und Bala (2010) zitieren zahlreiche Studien, die potenziell negative Auswirkungen von Entfremdungsprozessen auf die betroffenen Kinder thematisieren. Dabei kann es um folgende Aspekte gehen:
•Mängel der Realitätsprüfung
•unlogische kognitive Operationen
•übermäßig vereinfachende und starre Informationsverarbeitung
•unzutreffende oder verzerrte interpersonale Wahrnehmungen
•gestörte und beeinträchtigte interpersonale Funktionsfähigkeit
•Selbsthass
•schwaches oder übertrieben starkes Selbstwertgefühl oder sogar Allmachtsgefühle
•Pseudoreife
•Probleme hinsichtlich der Geschlechtsidentität
•Schwierigkeiten mit Grenzziehungen, wie z. B. »Verstrickung«
•Aggression und Störungen des Sozialverhaltens
•Ablehnung von sozialen Normen und Autoritäten
•mangelnde Impulskontrolle
•emotionale Einengung, Passivität oder Abhängigkeit
•Mangel an Reue oder Schuldgefühlen.
Retrospektive qualitative Untersuchungen an Erwachsenen, die in ihrer Kindheit Entfremdungsprozessen ausgesetzt waren, stehen mit den beschriebenen Erkenntnissen in Einklang (Baker 2007; Verrocchio et al. 2018). Die meisten Betroffenen berichten, sie könnten sich zwar deutlich daran erinnern, in ihrer Kindheit erklärt zu haben, sie hassten oder fürchteten den zurückgewiesenen Elternteil und hätten oft negative Gefühlen ihm gegenüber gehabt, hätten sich aber nicht gewünscht, dass er sich seinerseits von ihnen distanziert hätte, und hätten sogar insgeheim gehofft, irgendwann wäre jemandem klar geworden, dass sie das tatsächlich Gesagte nicht so gemeint hätten. Diese Erkenntnisse sind keineswegs neu, denn schon vor fast drei Jahrzehnten berichteten Clawar und Rivlin (1991), 80 % der Kinder ihrer Stichprobe hätten erklärt, sie wünschten sich, der Entfremdungsprozess werde entdeckt und gestoppt.
Dem Family-Ties-Modell gemäß ist der Prozess des Hineingezogenwerdens der Kinder in anhaltende elterliche Konflikte – die »Triangulierung« – der Grund für die spezielle Art von Beziehungen, die man in Familien vorfindet, in denen nach der Trennung der Eltern starke Konflikte bestehen bleiben. Im Gegensatz zum psychoanalytischen Konzept der »frühen Triangulierung« (Abelin 1975) handelt es sich bei systemisch begründeten Triangulierungsprozessen darum, dass Kinder in die Streitigkeiten von Erwachsenen hineingezogen werden und aufgrund dessen zusammen mit einem Elternteil eine problematische Allianz gegen den anderen Elternteil entwickeln. Das ist keineswegs ein neues Konzept, denn schon Bowen (1966) beispielsweise spricht von der »pathologischen Triangulierung«: einer generationenübergreifenden Koalition, in der ein Elternteil das Kind als Vertrauensperson benutzt und den anderen Elternteil ausschließt und herabwürdigt. Das »perverse Dreieck« (Haley 1985) ist eine weitere Beschreibung des Prozesses, wie ein Elternteil sein Kind für ein verdecktes Bündnis vereinnahmt, um den anderen Elternteil zu isolieren; dadurch gerät das Kind in eine »No-win«-Situation, in der die Einwilligung in die Wünsche des einen Elternteils den Verlust der Liebe des anderen nach sich zieht. Selvini Palazzoli et al. (1992) beschreiben spezielle »Familienspiele«, denen Kinder und Jugendliche zum Opfer fallen und die schwerwiegende psychische Störungen verursachen können. Boszormenyi-Nagy und Spark (1973) verweisen auf die »unsichtbaren Loyalitäten« und die »Rollenkorruption«, die Kinder in Szenarien dieser Art erleiden und welche oft zu den von Minuchin (1977) so genannten »dysfunktionalen Machthierarchien« und »verstrickten« Eltern-Kind-Beziehungen führt. In Szenarien dieser Art befinden sich Kinder verstärkt in Gefahr, »adultifiziert«, »parentifiziert« oder »infantilisiert« zu werden (Garber 2011).
Abb. 1.1: Triangulierungsprozesse
Triangulierung beinhaltet drei unterschiedliche und einander überschneidende Distanzierungs- und Entfremdungsprozesse, die man zum Verständnis grafisch repräsentieren (siehe Abbildung 1.1) und auch therapeutisch nutzen kann, um die verschiedenen eigenen Sichtweisen jedes Elternteils und des Kindes darzustellen. Die Distanzierung eines Elternteils vom Kind ist der erste