Mentalisieren in der systemischen Praxis - Eia Asen - E-Book

Mentalisieren in der systemischen Praxis E-Book

Eia Asen

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Beschreibung

Was in einem anderen Menschen wirklich vorgeht, lässt sich nur erahnen. Wer sein Verhalten verstehen will, ist auf Interpretationen angewiesen. Dieses Mentalisieren kann jedoch durch eigene Vorstellungen eingeschränkt sein, was wiederum mögliche Problemlösungen behindert. In einer Beratung oder Therapie geht es deshalb auch darum, diese Hemmnisse zu erkennen und auszuräumen und so die Mentalisierungsfähigkeit der Klientin, des Klienten wiederherzustellen. Eia Asen und Peter Fonagy kombinieren mentalisierungsbasiertes Vorgehen mit systemischen Konzepten und Techniken zu einer Verfahrensweise, die sich gut in die therapeutische Praxis integrieren lässt, nahezu unabhängig von ihrer theoretischen Ausrichtung. Abgesehen von der Arbeit mit Individuen, Paaren und Familien haben sie dabei auch Helfersysteme wie Jugendhilfeeinrichtungen sowie Schulen im Blick, und das über kulturelle Grenzen hinweg. Neben den theoretischen Konzepten enthält das Buch Anregungen für konkrete Aktivitäten, Übungen und Spiele, die effektives Mentalisieren in der klinischen Arbeit auf spielerische Weise fördern. Sie erhöhen sowohl das Verständnis als auch die Motivation auf Seiten der Klientinnen und Klienten und erleichtern die Überwindung problematischer Muster, z. B. in innerfamiliären Beziehungen.

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Systemische Therapie und Beratung

In den Büchern der Reihe zur systemischen Therapie und Beratung präsentiert der Carl-Auer Verlag grundlegende Texte, die seit seiner Gründung einen zentralen Stellenwert im Verlag einnehmen. Im breiten Spektrum dieser Reihe finden sich Bücher über neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Kindern ebenso wie Klassiker der Familien- und Paartherapie aus dem In- und Ausland, umfassende Lehr- und Handbücher ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse. Mit den roten Bänden steht eine Bibliothek des systemischen Wissens der letzten Jahrzehnte zur Verfügung, die theoretische Reflexion mit praktischer Relevanz verbindet und als Basis für zukünftige nachhaltige Entwicklungen unverzichtbar ist. Nahezu alle bedeutenden Autoren aus dem Feld der systemischen Therapie und Beratung sind hier vertreten, nicht zu vergessen viele Pioniere der familientherapeutischen Bewegung. Neue Akzente werden von jungen und kreativen Autoren gesetzt. Wer systemische Therapie und Beratung in ihrer Vielfalt und ihren transdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenhängen verstehen will, kommt um diese Reihe nicht herum.

Tom Levold

Herausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung

Die Übersetzung dieses Buchs wurde durch das Stipendienprogramm 2021 von VG Wort, Neustart Kultur und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien unterstützt.

Eia Asen, Peter Fonagy

Mentalisieren in der systemischen Praxis

Eine Einführung in die mentalisierungsinspirierte systemische Therapie

Aus dem Englischen von Christoph Trunk

2023

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Systemische Therapie und Beratung«

hrsg. von Tom Levold

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich

Umschlagmotiv: © Hannah Asen • www.hannahasen.com

Redaktion: Anja Bachert

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0469-8 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8425-6 (ePUB)

© 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2021 The Guilford Press

A Division of Guilford Publications, Inc.

Published by arrangement with The Guilford Press

Aus dem Englischen übersetzt von Christoph Trunk

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografìe; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/.Dort können Sie auch unseren Newsletter abonnieren.

Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorwort

Eine Anmerkung zur Sprache

Dank

1 Integration des systemischen und des Mentalisierungsansatzes

1.1 Der Mentalisierungsaspekt

1.2 Der systemische Aspekt

1.3 Mentalisierungsinspirierte systemische Therapie

1.3.1 Warum ist Mentalisieren so wichtig?

1.3.2 Einstieg: mentalisierungsinspirierte und systemisch orientierte Telefongespräche

1.3.3 Die Co-Konstruktion therapeutischer Kontexte

1.3.4 Einen Fokus wählen und therapeutische Interventionen prüfen

1.4 Abschließende Überlegungen

2 Effektives und ineffektives Mentalisieren

2.1 Typische Anzeichen von effektivem Mentalisieren

2.2 Mentalisieren als »state« und als »trait«

2.3 Prämentalisierende Modi des Denkens und Erlebens

2.3.1 Modus der psychischen Äquivalenz

2.3.2 Teleologischer Modus

2.3.3 Als-ob-Modus

2.4 Dimensionen des Mentalisierens

2.4.1 Missbräuchliches Mentalisieren

2.5 Einschätzung von Mentalisierungsprozessen

2.6 Abschließende Überlegungen

3 Kontexte für mentalisierungsfokussierte Interventionen schaffen

3.1 Die mentalisierende Haltung

3.2 Effektives Mentalisieren in drei Hauptbereichen

3.2.1 Effektives Mentalisieren des Selbst

3.2.2 Effektives Mentalisieren anderer

3.2.3 Effektives relationales Mentalisieren

3.3 Beginn der Arbeit mit Jane und ihrer Familie

3.3.1 Das Netzwerktreffen

3.3.2 Fragen, die zum Mentalisieren anregen

3.3.3 Umgang mit Steigerungen des Arousal-Niveaus

3.4 Einzelarbeit mit Jane

3.5 Von der Einzel- zur Familienarbeit

3.6 Abschließende Überlegungen

4 Sich nicht im Kreis drehen

4.1 Mentalisierungsschleifen

4.2 Mentalisieren eines eingespielten Narrativs

4.3 Das Mentalisieren nach intensiven Gefühlsregungen wieder in Gang bringen

4.3.1 Einbeziehung von David

4.4 Therapeutische Arbeit mit Mentalisierungsschleifen

4.4.1 Verallgemeinerungen aus einer Schleife ableiten

4.4.2 Vorwärtsschleifen

4.4.3 Videoaufzeichnungen

4.5 Eine Balance finden zwischen Veränderung und dem Mentalisieren des Augenblicks

4.6 Durch Pausieren und Revidieren die Balance wiederherstellen

4.7 Abschließende Überlegungen

5 Familien zum Mentalisieren anleiten, ohne sie explizit darin zu unterweisen

5.1 Emotionale Schönheitschirurgie

5.2 Aktivitäten und Spiele, die zu effektivem Mentalisieren anregen

5.3 Stethoskope und andere »Skope« für das Gedankenlesen

5.4 »Gehirn-« oder vielmehr »Mentalscans«

5.5 Rollenspiele

5.6 Abschließende Überlegungen

6 Effektives Mentalisieren fördern

6.1 Effektives und ineffektives Mentalisieren »diagnostizieren«

6.2 Effektives Mentalisieren in Gang bringen

6.3 MIST-Interventionen

6.3.1 Lügendetektor

6.3.2 Neuzugang

6.3.3 Zu spät zur Verabredung

6.3.4 Wie andere dich sehen

6.3.5 Eine Filmfigur sein

6.3.6 Der vergessene Geburtstag

6.3.7 Schulpreis

6.3.8 Mobbing mit Zuschauern

6.3.9 Problemskulptur

6.3.10 Schaubild »Gefühle im Körper«

6.3.11 Emotionsschnappschüsse

6.3.12 Baby im Spiegel

6.3.13 Konflikt-Lagepläne

6.3.14 Eskalations-Uhr

6.3.15 In die Schuhe der anderen schlüpfen

6.3.16 Fantasiekönigreich

6.3.17 Mit verbundenen Augen

6.3.18 Familienrucksack

6.3.19 Reise in die Erinnerung

6.3.20 Fotogeschichten

6.3.21 Identitätspuzzle

6.3.22 Fluss des Lebens

6.3.23 Familienskulpturen aus lufttrocknendem Ton

6.3.24 Familienskizze

6.3.25 Das geheime Leben der Vulkane

6.3.26 Beziehungsschaubilder

6.3.27 Lebenskreise

6.3.28 Stimmungsbarometer

6.3.29 Maskenball

6.3.30 Brief an das Problem

6.3.31 Postkarten beschreiben

6.3.32 Schachteln für verantwortungsvolles und unverantwortliches Handeln

6.4 Abschließende Überlegungen

7 Mentalisieren als diagnoseübergreifender Aspekt

7.1 Forschung zu psychischen Störungen

7.1.1 Craig verstehen

7.2 Soziales Lernen

7.2.1 Craigs Lernschwierigkeiten

7.3 Das mentale Immunsystem

7.4 »Ent-MIST-ifizierung« des Traumakonzepts

7.5 Resilienz

7.6 Die Einzelaspekte zu einem vollständigen Bild zusammenfügen

7.6.1 Entwicklungswissenschaft und MIST

7.7 Abschließende Überlegungen

8 Soziale Medien mentalisieren

8.1 Wandel von Sozialisationsprozessen

8.1.1 Familienleben mit Aufmerksamkeitsdefiziten

8.1.2 Die Anziehungskraft sozialer Medien

8.2 Soziale Medien und epistemisches Vertrauen

8.3 Digitale Herausforderungen für die psychische Gesundheit von Kindern

8.3.1 Die therapeutische Haltung

8.3.2 Digitale Entgiftung zu Hause

8.3.3 Smartphones in der Schule?

8.4 Ferntherapie

8.4.1 Das ferntherapeutische Setting

8.4.2 Virtuelle Möglichkeiten der Ferntherapie

8.4.3 Digital unterstützte Arbeit mit Familien mit hohem Konfliktniveau

8.5 Epistemisches Vertrauen und Online-Familientherapie

8.6 Abschließende Überlegungen

9 Mentalisierungsinspirierte systemische Therapie in Mehrfamiliengruppen und in Schulen

9.1 Die Geschichte der Multifamilienarbeit

9.2 Peer-Mentoring, Selbsthilfegruppen und Multifamilientherapie

9.3 In die Multifamilientherapie hineinschnuppern

9.4 Aktivitäten und Spiele für die Multifamilienarbeit

9.5 Mentalisieren in der Schule

9.5.1 Familienklassen

9.5.2 Ein friedliches schulisches Umfeld schaffen

9.5.3 Epistemisches Vertrauen und Einbeziehung von Eltern in das schulische Leben

9.5.4 Das Konzept »Familienschule«

9.6 Abschließende Überlegungen

10 Kulturelle und gesellschaftliche Kontexte des Mentalisierens

10.1 Kulturunterschiede im Mentalisieren

10.2 Mentalisieren und soziale Systeme

10.2.1 In der MIST mit sozial bedingter Ungleichheit umgehen

10.2.2 Selbstmentalisierung der Therapeutin mit Blick auf Kulturunterschiede

10.2.3 Wechselbeziehungen im Netzwerk aller beteiligten Behandlerinnen: AMBIT

10.3 Abschließende Überlegungen

Literatur

Über die Autoren

Vorwort

Vor drei Jahrzehnten bewohnten wir, die Autoren, zwei deutlich voneinander verschiedene Therapiewelten: Der eine von uns war ganz dem systemischen Paradigma verpflichtet, der andere praktizierte Psychoanalyse und tiefenpsychologische Therapie. Wir hatten aber beide immer mehr das Gefühl, dass diese Welten ziemlich eng und exklusiv wurden, und vor etwa fünfzehn Jahren, nachdem wir bei verschiedenen Forschungsprojekten kooperiert hatten, beschlossen wir, die klinische Arbeitsweise des jeweils anderen und die ihr zugrundeliegenden Theorien und Konzepte einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Als wir beide die Einladung annahmen, in Skandinavien einen zweitägigen Workshop zu geben – wir gaben ihm den Titel »Psyche Meets Systems« –, bot sich die willkommene Gelegenheit, unsere Denkmodelle »live«, vor einem großen Publikum aus Therapeutinnen und Therapeuten mit ganz unterschiedlichen fachlichen Orientierungen, wechselseitig zu ergründen und miteinander zu vergleichen. Dies war der Beginn einer inspirierenden Zusammenarbeit, in der wir im Laufe der Jahre das entwickelt haben, was wir heute »mentalisierungsinspirierte systemische Therapie« nennen (Mentalization-Informed Systemic Therapy, kurz MIST). Darum wird es in diesem Buch gehen: um unsere Version einer mentalisierungsinspirierten Familientherapie, für die wir durchgängig das Kürzel MIST verwenden werden. Sie entspricht in der Struktur dem systemischen Ansatz, wird aber ergänzt durch Mentalisierungskonzepte und -techniken. »Mentalisierungsinspirierte systemische Therapie« dürfte die treffendere Bezeichnung sein, doch wir könnten ebenso auch von »systemischer mentalisierungsinspirierter Behandlung« sprechen, also einem mentalisierungsinspirierten Vorgehen, das durch systemische Konzepte und Techniken ergänzt wird. Dass beide Begriffsvarianten denkbar sind, verdeutlicht die Flexibilität, mit der wir an die Aufgabe herangehen, unsere beiden Arbeitsweisen zu integrieren. Es geht uns nicht darum, eine weitere psychotherapeutische »Schule« zu gründen, sondern darum, wirksame und effiziente Verfahrensweisen zu bestimmen, mit denen wir Kinder, Jugendliche und Familien unterstützen können.

Bei unserem Publikum in Skandinavien stieß unser im Entstehen begriffener neuer Ansatz damals auf einiges Interesse, ebenso wie in den zahlreichen Workshops, die wir seitdem in vielen europäischen Ländern und in Nordamerika gegeben haben. Wir hoffen, dass auch dieses Buch Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlichen therapeutischen Orientierungen, die mit Einzelpersonen, Paaren, Familien und größeren Gruppen arbeiten, dazu anregen kann, sichere Rahmenbedingungen für sich zu schaffen, unter denen sie – wie wir beide das zu tun versucht haben – über ihre Arbeit nachdenken und neue Wege erkunden können.

Die MIST ist indes kein rundum neues Konzept. Wir erheben nicht den Anspruch, neue Entdeckungen gemacht oder neue Einsichten in mentale Vorgänge bei Familien und Individuen erschlossen zu haben. Das Konzept der MIST bringt Vorstellungen und Verfahrensweisen zusammen, die sich in die aktuelle Praxis der meisten Therapeutinnen und Therapeuten, nahezu unabhängig von ihrer theoretischen Ausrichtung, integrieren lassen. Die MIST dient dem spezifischen Ziel, Klientinnen und Klienten dabei zu unterstützen, Mentalisierungshemmnisse zu erkennen und auszuräumen. Gemäß der optimistischen Perspektive auf die menschliche Psyche, die dem Modell zugrunde liegt, wird die Wiederherstellung der Mentalisierungsfähigkeit sicherstellen, dass sich Lösungen finden, dass Schwierigkeiten und Hindernisse überwunden werden und dass ein natürlicher Heilungsprozess in Gang kommt.

Wir möchten Ihnen einen kurzen Überblick über Aufbau und Inhalt des Buchs geben. Jedes Kapitel enthält Fallbeispiele aus der klinischen Praxis – allesamt sorgfältig anonymisiert –, welche typische Szenarien und therapeutische Dilemmata aufzeigen sowie Konzepte und Prinzipien verdeutlichen, an denen wir uns in der MIST orientieren, und welche die Techniken veranschaulichen, die wir einsetzen. In Kapitel 1 erläutern wir zum einen, dass uns eine mentalisierende Perspektive hilft, menschliche Verhaltensweisen und Interaktionen unter dem Aspekt intentionaler mentaler Zustände wahrzunehmen und zu interpretieren, und stellen unseren Grundgedanken vor, dass das Mentalisieren ein seinem Wesen nach bidirektionaler (transaktionaler) sozialer Prozess ist. Zum anderen gibt die systemische Perspektive uns die Möglichkeit, Individuen und Beziehungen im Kontext zu betrachten. Aus der Kombination der beiden Perspektiven in der MIST ergeben sich innovative Leitideen für die therapeutische Praxis. In Kapitel 2 gehen wir auf die Unterschiede zwischen effektivem und ineffektivem Mentalisieren ein und nehmen dabei insbesondere in den Blick, wie Menschen, wenn ihnen das Mentalisieren nicht gut gelingt, über ihr eigenes Handeln und das der anderen denken und wie sich dies im klinischen Kontext äußern kann. Wir machen deutlich, wie sich Mentalisierungsprozesse anhand einer Reihe von Dimensionen (oder Gegensatzpaaren) einschätzen lassen und wie diese helfen können, das therapeutische Vorgehen zu strukturieren. In Kapitel 3 zeigen wir, wie wir ein Umfeld für mentalisierungsfokussierte Interventionen schaffen können, indem wir die Sichtweisen von Familienmitgliedern und Fachkräften bei einem Netzwerktreffen zusammenbringen. Diese Anfangsphase setzt, wie alle darauffolgenden Phasen des Therapieprozesses, bei uns eine mentalisierende Haltung voraus, die wir auch dann beibehalten müssen, wenn im klinischen Setting das Arousal ansteigt – was nicht ausbleiben wird. In Kapitel 4 stellen wir das pragmatische Instrument der Mentalisierungsschleife vor, das darauf angelegt ist, die Entwicklung effektiven Mentalisierens zu fördern.

Kapitel 5 und 6 sind das Herzstück des Buchs. Sie enthalten viele Beispiele für konkrete Aktivitäten, Übungen und Spiele, mit denen wir Mentalisieren auf spielerische Weise anregen können, um die Überwindung problematischer Muster in innerfamiliären Beziehungen zu ermöglichen. Alle diese Techniken zielen darauf ab, Gelegenheiten für gemeinsame Reflexion zu schaffen. Kapitel 7 dreht sich darum, wie sich die MIST als ein diagnoseübergreifender Ansatz verstehen lässt und wie die Berücksichtigung des »p-Faktors«, der die allgemeine Anfälligkeit für psychische Störungen beschreibt, uns helfen kann, den Fokus auf die gemeinsamen Komponenten verschiedener Störungsformen zu legen, welche emotionale Fehlregulation, Exekutivfunktionen und soziales Lernen betreffen. In diesem Zusammenhang hat sich das Konzept des epistemischen Vertrauens als hilfreich erwiesen, vor allem wo es um den Verlust von Vertrauen geht, den viele schwer traumatisierte Menschen erleben. In Kapitel 8 beschäftigen wir uns mit dem Einfluss digitaler Medien auf das Familienleben sowie mit den Möglichkeiten der Fernbehandlung, die sich für die Mentalisierungsarbeit nutzen lassen. In Kapitel 9 blicken wir über den Kontext der einzelnen Familie hinaus und untersuchen die Potenziale, die sich aus dem Mentalisierungsansatz für die Multifamilientherapie in verschiedenen Settings ergeben, vor allem in Schulen. Außerdem geht es um das Konzept der »Familienklasse«. Im letzten Kapitel weiten wir den Blick erneut und befassen uns mit der Frage der Anwendbarkeit des MIST-Konzepts über kulturelle Grenzen hinweg: Was geschieht, wenn Therapeutin und Klient aus unterschiedlichen Kulturen kommen? Wir fokussieren uns auf die Rolle, die das soziale Umfeld von Individuen und Familien für unser Verständnis von psychischer Gesundheit und von Anfälligkeit für psychische Störungen spielt.

Der MIST-Ansatz ist zum einen innovativ, zum anderen knüpft er an Vertrautes an. In ihm verbindet sich Ernsthaftigkeit mit einer spielerischen Haltung. Wir versuchen in diesem Buch immer wieder deutlich zu machen, wie simpel erscheinende Interventionen, wenn sie gut gewählt sind, enorme Wirkung zeigen können, indem sie ganz einfach natürliche Prozesse der zwischenmenschlichen Interaktion, die ohne großen Aufwand zum Mentalisieren anregen, wieder in Gang bringen. Die MIST ist kein »Heilverfahren«, sondern eine Methode, mit der wir zeitweilige oder seit Längerem bestehende Blockaden in familiären Beziehungen auflösen können. Sie fordert nicht nur von der jeweiligen Familie, aufgeschlossen für neue Gedanken und Vorstellungen zu sein, sondern verlangt auch von uns Therapeutinnen und Therapeuten, dass wir stets offen für neue Aspekte sind und eine mentalisierende Haltung einnehmen (und vorleben). Wir hoffen sehr, dass Sie den therapeutischen Ansatz, den wir in diesem Buch vorstellen, mit ebensolcher Offenheit betrachten werden.

Eine Anmerkung zur Sprache

Die um Geschlechtergerechtigkeit bemühte Sprache des Originals soll, wo dies praktikabel erscheint, durch einen Wechsel zwischen generischem Maskulinum und generischem Femininum abgebildet werden sowie gelegentlich auch durch Doppelnennungen. In den Fallgeschichten sind im Übrigen nur männliche Psychotherapeuten erwähnt, weshalb im Buch nur an wenigen Stellen von Therapeutinnen die Rede sein wird.

Dank

Wir möchten all jenen danken, die direkt und indirekt zu diesem Buch beigetragen haben. Ungeheuer viel haben wir insbesondere den Einzelpersonen, Paaren und Familien zu verdanken, mit denen wir in all den Jahren arbeiten durften und von denen wir, oft durch Versuch und Irrtum, mehr gelernt haben als von irgendjemandem sonst. Wir wollen auch den vielen Kolleginnen und Kollegen sowohl aus der systemischen als auch aus der Mentalisierungswelt danken, deren Texte und therapeutische Vorgehensweisen uns inspiriert haben und ohne die die mentalisierungsinspirierte systemische Therapie nie entstanden wäre. Die dynamische Entwicklung der Mentalisierungscommunity schreitet stetig voran. Oft lässt sich kaum sagen, wo bestimmte Ideen ihren Ursprung hatten. Wir bitten es zu entschuldigen, wenn wir die Arbeit der Pionierinnen und Pioniere dieses Behandlungsmodells, mit denen zusammenzuarbeiten wir in den vergangenen Jahrzehnten die große Ehre hatten, nicht angemessen gewürdigt haben. Die Kreativität, die Großzügigkeit und der Humor dieser Gruppe haben uns Kraft für unsere Arbeit und auch für das Verfassen des vorliegenden Buchs gegeben, hinter dem im Grunde mindestens ein Dutzend Autorinnen und Autoren stehen. Wir können sie hier nicht alle aufführen, wollen aber zumindest eine von ihnen nennen: Dr. Chloe Campbell, die beim Schreiben des Buchs durchweg eine wichtige Rolle für das Präzisieren unserer Gedanken gespielt hat. Schließlich wollen wir würdigen, dass wir in dem Prozess, in dem wir unseren Ideen eine (mehr oder weniger) kohärente Form zu geben versuchten, große Unterstützung durch die amerikanischen und deutschen Lektoratsteams erfahren durften: durch Jim Nageotte, Barbara Watkins, Jane Keislar, Anja Bachert und Alexander Eckerlin. Christoph Trunk hat mit seiner Übersetzung und seinen vielen kritischen Fragen und Bemerkungen sehr geholfen, den Text verständlicher und lesbar zu machen. Sie gaben uns höchst hilfreiche und dringend benötigte Ratschläge und standen uns vom Anfang bis zum Ende der Reise, die das Schreiben des Buchs für uns war, zur Seite. Mögliche Versäumnisse, Irrtümer oder Fehler haben ausschließlich wir selbst zu verantworten.

1Integration des systemischen und des Mentalisierungsansatzes

Als Salims Mutter, Frau G., in der Klinik anrief und um Hilfe für ihren sechsjährigen Sohn bat, fragte der Therapeut, der den Anruf annahm, welche Dinge ihr Sorgen machten. Sie erklärte unter Tränen, ihr viel geliebter Sohn lege massive Verhaltensprobleme an den Tag, auf die die Schule hingewiesen habe. Dies habe sie nicht überrascht, weil sie wisse, dass es Salim schwerfalle, Freundschaften zu schließen, und weil er auch zu Hause »viele besorgniserregende Verhaltensweisen« zeige. Sie berichtete sodann, Salim habe »ein großes Problem mit dem Essen« und könne »nie für sich allein in einem Raum sein«, was bedeute, dass sie ständig bei ihm sein und auch jede Nacht in Salims Bett schlafen müsse. Außerdem brauche Salim, so fuhr sie fort, viele Stunden, um seine Hausaufgaben zu erledigen. »Oft schreit er wie ein Baby.« Und er sei insgesamt sehr fordernd. Frau G. sagte, sie und ihr Mann seien völlig erschöpft und machten sich Sorgen, was aus Salim werden solle.

Der systemische Ansatz und der mentalisierungsgestützte Ansatz haben vieles gemeinsam, insbesondere die Annahme, dass viele psychische und verhaltensbezogene Probleme im Wesentlichen in zwischenmenschlichen Beziehungen gründen. In diesem Buch betrachten wir systemisches Arbeiten unter dem Blickwinkel des Mentalisierungskonzeptes. Wir möchten systemisch orientierte Therapeutinnen und Therapeuten dazu anregen, ihre Arbeitsweise zu erweitern, ähnlich wie sich Kolleginnen und Kollegen, die dem Mentalisierungsmodell folgen, von systemischen Konzepten und Vorgehensweisen haben inspirieren lassen. Ziel der mentalisierungsinspirierten systemischen Therapie (Mentalization-Informed Systemic Therapy, MIST) ist es, die Mentalisierungsfähigkeit von Menschen zu stärken, damit sie offen werden für eine adäquatere Kommunikation und Interaktion mit anderen, sowohl in der Familie als auch in anderen sozialen Kontexten, und so die Möglichkeiten dieser Personen für Lernerfahrungen, epistemisches Vertrauen (Fonagy et al. 2019) und Resilienz zu erweitern. Mit epistemischem Vertrauen meinen wir Vertrauen in die Informationen über die soziale Welt, die wir von anderen erhalten. Wenn wir in der Lage sind, das, was andere uns mitteilen, als etwas von persönlicher Relevanz zu begreifen, können wir uns wesentlich besser auf herausfordernde Situationen einstellen. Deshalb ist davon auszugehen, dass epistemisches Vertrauen ein Faktor mit starker Schutzwirkung für die psychische Gesundheit und für das normale Funktionieren zwischenmenschlicher Beziehungen ist (mehr dazu in diesem Kapitel im Abschnitt »Warum ist Mentalisieren wichtig?«). Der therapeutische Fokus liegt darauf, den natürlichen Problemlöseprozess in der sozialen Interaktion dadurch anzuregen, dass alle Beteiligten die Erfahrung und die Sichtweise des jeweiligen Gegenübers in ihr Denken einbeziehen. Denn zu spüren, wie die eigene Perspektive auf die Wirklichkeit mit der Perspektive eines anderen Menschen in Verbindung steht, stärkt ganz allgemein das Vertrauen darauf, dass es alles in allem von Nutzen ist, Perspektivwechsel vorzunehmen und sich in andere hineinzuversetzen. Außerdem kann diese Erfahrung bewirken, dass sich beispielsweise alle Mitglieder einer Familie der Möglichkeit öffnen, etwas zu lernen und zu entdecken, das für sie von Relevanz ist. Auf diese Weise kann ihr Vertrauen in den gesamten Prozess des Lernens in und an den zwischenmenschlichen Interaktionen gestärkt werden.

1.1 Der Mentalisierungsaspekt

Mentalisieren ist eine imaginative Aktivität, bei der wir Verhaltensweisen von Menschen auf intentionale mentale Zustände zurückführen. Von wesentlicher Bedeutung ist hier das Wort imaginativ, denn Mentalisieren setzt Imaginationsfähigkeit voraus. Imagination versetzt uns in die Lage, Gedanken, Gefühle und Intentionen der Menschen um uns herum intuitiv zu erschließen und ihr Handeln in derselben Weise einzuordnen, in der wir unseren eigenen subjektiven Erfahrungen Struktur geben. Mit mentalen Zuständen sind Bedürfnisse, Wünsche, Gefühle, Überzeugungen, Fantasien, Ziele, Absichten und Beweggründe einer Person gemeint. Mentalisieren läuft größtenteils vorbewusst ab, kann aber auch eine bewusst reflektierende Aktivität sein. Es ist eine entscheidende Voraussetzung für das Zeigen, Kommunizieren und Regulieren von Gefühlen und Überzeugungen, die mit unseren Wünschen und Strebungen verknüpft sind, ganz gleich, ob diese erfüllt, in Frage gestellt oder enttäuscht werden. Dieselben psychologischen und neuronalen Mechanismen, die wir einsetzen, um uns selbst zu verstehen, nutzen wir auch dafür, andere zu verstehen. Auf diese Weise werden die Grundlagen für unsere Interaktionen mit anderen gelegt.

Der Erwerb der Fähigkeit zum Mentalisieren wird in ähnlicher Weise wie der Spracherwerb durch evolutionäre Mechanismen geschützt und durch unsere Umwelt moduliert. Die Mentalisierungsfähigkeit bildet sich im Wesentlichen als ein nichtbewusstes, reflexhaftes Erfassen von Intentionen, Emotionen und Perspektiven anderer Menschen heraus (Seyfahrth a. Cheney 2013). So wie die Sprache, die wir uns in der Kindheit als erste aneignen, unsere »Muttersprache« ist, so prägt unser soziales Umfeld das Wesen unserer Mentalisierungsfertigkeiten. Weil die Familie die bestimmende gesellschaftliche Grundeinheit darstellt, ist sie der hauptsächliche Kontext für den Erwerb und die Ausgestaltung unseres Verständnisses sozialer Gegebenheiten. Auf diesen und andere Gründe (zu denen auch genetische zählen können) ist es zurückzuführen, dass die Fähigkeit, Bereitschaft oder Eignung, eine mentalisierende Haltung einzunehmen, bei Individuen und Familien unterschiedlich ausgeprägt ist. Außerdem begünstigt ein kulturelles Umfeld, das dem Individualismus einen hohen Wert beimisst, eine stärkere Fokussierung auf das Mentalisieren des Selbst als auf das Mentalisieren des anderen (Aival-Naveh, Rothschild-Yakar a. Kurman 2019).

Mentalisieren ist ein von Grund auf bidirektionaler oder transaktionaler sozialer Prozess (Fonagy a. Target 1997). Er entfaltet sich im Kontext unserer frühen Bindungsbeziehungen und Interaktionen, und seine Qualitäten werden in sehr starkem Maße davon beeinflusst, wie gut die Menschen um uns herum zu mentalisieren in der Lage sind. Die Erfahrung, von anderen mentalisiert zu werden, wird verinnerlicht und versetzt uns in die Lage, unsere Fähigkeit, uns in andere einzufühlen und uns auf interaktive soziale Prozesse einzulassen, zu erweitern. Auch das Verhältnis zwischen Bindungsbeziehung und Mentalisieren ist als bidirektional zu begreifen: Schwierigkeiten mit der Reflexion über mentale Zustände wirken sich mit einiger Wahrscheinlichkeit nachteilig auf enge Beziehungen aus; eine schwache Bindungsbeziehung – in der das Kind Reaktionen des Gegenübers erlebt, die nicht feinfühlig sind – kann die natürliche Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit untergraben, die letztlich von der Erfahrung abhängig ist, vom anderen verstanden zu werden. Wir müssen andere verstehen, um registrieren zu können, dass sie uns verstehen. Denken Sie daran, wie wir eine Fremdsprache dadurch lernen, dass andere zu uns sprechen und wir dann den Mut aufbringen, uns auf Gespräche mit ihnen einzulassen. Der Prozess des Mentalisierens verläuft ganz ähnlich. Wir lernen es, indem wir es tun. Das Problem ist, dass manche es aus dem einen oder anderen Grund nicht besonders gut hinbekommen. Wir missverstehen andere; wir ziehen voreilige Schlüsse, aus welchen Gründen sie etwas tun; wir handeln, ohne zunächst zu überlegen, was wir überhaupt erreichen wollen; wir wissen genau, wie wir uns nicht verhalten sollten, merken dann aber, dass wir genau das tun, was wir eigentlich verabscheuen; wir grübeln endlos darüber nach, was die Freundin mit einer bestimmten Äußerung denn gemeint haben könnte, um dann festzustellen, dass sie gar nicht mehr weiß, dass sie das gesagt hat; wir fühlen uns von Emotionen überrollt, ohne die Gründe dafür zu begreifen, oder wir empfinden gar nichts, obwohl etwas geschieht, das uns eigentlich erschüttern müsste; und so weiter. Bei den meisten von uns ist es – vor allem wenn wir unruhig oder durcheinander sind – recht oft so, dass uns das Mentalisieren misslingt oder, um es genauer zu sagen, dass es ineffektiv ist. Bei der Arbeit mit Einzelpersonen, Paaren und Familien konnten wir feststellen, dass sich die Situation in den meisten Familien verbesserte, wenn es gelang, ineffektives Mentalisieren ein klein wenig effektiver zu machen, und dass die Probleme, um die es ging, manchmal auch vollständig behoben werden konnten. So entstand die mentalisierungsinspirierte systemische Therapie, kurz MIST. Wir vertreten die Auffassung, dass effektives Mentalisieren die Resilienz sowohl von Individuen wie auch von Familien stärkt: Die mentalen Zustände anderer wie auch die eigenen besser zu verstehen, schafft Freiräume für eine fruchtbarere Kommunikation. Dies versuchen wir in der MIST zu unterstützen.

Nicht alle halten unsere Vorstellung davon, wie ein Kind im Verlauf seiner Entwicklung zu mentalisieren lernt, für plausibel. Manche gehen davon aus, dass das Mentalisieren (auch als »theory of mind« oder »Theorie der psychischen Welt« bezeichnet) ein angeborenes Modul im Gehirn ist, das im Grunde nur reifen muss (Leslie, Friedman a. German 2004). Viele Kognitionspsychologen nehmen an, dass Mentalisieren sich in einem quasiwissenschaftlichen Prozess der Deduktion herausbildet, in dessen Verlauf das Kind immer besser in der Lage ist, sich ein stimmiges Bild von der zwischenmenschlichen Realität zu machen (Gopnik a. Wellman 2012). Einige haben überzeugende Argumente dafür vorgebracht, dass Mentalisieren dem Kind mehr oder weniger explizit von Erwachsenen beigebracht wird (Heyes a. Frith 2014). In diesem Buch werden wir aber von einem Modell der Sozialisation ausgehen, gemäß dem Mentalisieren eine für Menschen spezifische Fähigkeit ist, die sich bei jeder Person entfaltet und deren Entwicklung durch die interpersonelle Umwelt und das umfassendere soziale System, in dem die Person sich befindet, in Gang gesetzt wird. Zugespitzt formuliert bedeutet das: Würden andere in unserem Umfeld uns nicht dazu bewegen, die Aufmerksamkeit auf unsere subjektiven Erfahrungen zu fokussieren, könnte sich keine Mentalisierungsfähigkeit entwickeln – ebenso wenig wie ein Kind von achtzehn Monaten zu sprechen beginnen würde, wenn niemand zu ihm spräche.

1.2 Der systemische Aspekt

Die andere für unsere familientherapeutische Arbeit bestimmende Perspektive ist die systemische. Die Familie als ein System zu begreifen ist hilfreich, weil wir dann zum Beispiel »homöostatische Tendenzen« und spezifische Merkmale wie Hierarchien, Grenzen und Untergruppen sowie offene und verdeckte Kommunikationsprozesse und Koalitionen untersuchen und beschreiben können. Es kann von Nutzen sein, das Verhalten von Familienmitgliedern so aufzufassen, dass sie einem Repertoire von vermuteten expliziten und impliziten Regeln folgen, die sich im Lauf der Zeit, oft über Generationen hinweg, entwickelt haben und die Beziehungen und die Kommunikation innerhalb des »Systems« bestimmen (Watzlawick, Bavelas a. Jackson 1967 [1969]). Wenn es in der Therapie gelingt, Merkmale des Systems zu ermitteln oder aufzudecken, die vermutlich zu den aktuellen Problemen beitragen, lässt sich das System möglicherweise ändern, indem Merkmale wie fest eingespielte Regeln und Beziehungsmuster in Frage gestellt werden.

Seit den 1950er-Jahren haben systemisch orientierte Therapeutinnen und Therapeuten eine Reihe von Rahmenkonzepten und Interventionen entwickelt, die auf die Behandlung verschiedener Probleme und Störungsbilder zielen. Davon sind manche für einen mentalisierungsinspirierten Ansatz (Asen a. Fonagy 2012a, 2012b) von besonderer Relevanz, namentlich die Ideen von Salvador Minuchin (Minuchin et al. 1967), unter anderem zur Fokussierung auf »dysfunktionale« Interaktionen, die sich im Hier und Jetzt einer Sitzung spontan entwickeln. Er schlägt vor, diese Interaktionen, falls sie sich nicht von selbst einstellen, in der Sitzung erlebbar zu machen, indem die Klienten gezielt zu »Enactments« (Darstellungen) von typischen problematischen Mustern angeregt werden (Minuchin 1974 [1977]). Bei solchen Enactments können bei jedem der beteiligten Familienmitglieder intensive Gedanken und Gefühle zutage treten, die sich dann sogleich nutzen lassen, um Veränderungen in Gang zu setzen. Die ursprünglich vom Mailänder Team (Selvini Palazzoli et al. 1975 [1977]) entwickelte Technik der »zirkulären und reflexiven Befragung« ist ein Beispiel für seit Langem bewährte systemische Instrumente, die den Prozess des Mentalisierens wirkungsvoll unterstützen können. Mit »intervenierender Befragung« (Tomm 1988) schwingt sich die Therapeutin auf die mentalen Zustände der einzelnen Familienmitglieder ein. Nach unserer Beobachtung neigen viele systemisch orientierte Therapeutinnen beim Einsatz dieser Technik dazu, nicht explizit nach den aktuellen Gefühlszuständen der Individuen zu fragen. Sie wählen dann stattdessen einen breiteren Fokus und richten die Aufmerksamkeit darauf, wie sich die Handlungen und Überzeugungen jeder Person auf die der anderen auswirken und inwieweit sich Handlungen und Interaktionen auf familiäre Muster und andere Kontextfaktoren zurückführen lassen (Boscolo et al. 1987). Der mentalisierungsinspirierte Ansatz folgt dem Prinzip: »Lege den Fokus stets auf aktuelle Gedanken und Gefühle, um mit ihnen zu arbeiten.«

Bei den klassischen systemischen Ansätzen richtet sich, etwa wenn sich in einer Sitzung erhitzte Interaktionen abspielen, die Aufmerksamkeit in der Regel nur in relativ geringem Maße auf die subjektiven Zustände der Familienmitglieder. Es besteht also in dieser Tradition wenig Interesse daran, ein Bild davon zu gewinnen, wie sich durch die Erfahrungen, die ein Individuum in solchen Sitzungen macht, seine Vorstellung von einer Beziehung verändert haben könnte. Demgegenüber bleibt der Mentalisierungsansatz auf die Fokussierung der Familienmitglieder auf die jeweilige Episode und auf die Erfahrungen jeder Person im Hier und Jetzt der Sitzung orientiert. Besondere Beachtung wird dabei den Gefühlen und Gedanken gewidmet, die sich für die Familienmitglieder mit ihren intensiven zwischenmenschlichen Erfahrungen verbinden. Mentalisieren, das Erfassen der Vorstellungen, von denen andere ausgehen, kann zu einem Wandel grundlegender Annahmen führen. Es kann eine Veränderung der Vorstellung von den mentalen Zuständen bewirken, die das Handeln und Verhalten anderer Familienmitglieder anzutreiben scheinen, und auch Einfluss darauf nehmen, wie die Familie als Ganzes in Bezug auf bestimmte Themen denkt oder fühlt.

1.3 Mentalisierungsinspirierte systemische Therapie

Den Ansatz, den wir in diesem Buch vorstellen, nennen wir mentalisierungsinspirierte systemische Therapie (kurz MIST). Er greift nicht nur auf systemische Konzepte und Techniken zurück, sondern wird durch den Mentalisierungsansatz mit dem Ziel erweitert, dass alle Familienmitglieder sowohl sich selbst als auch die anderen auf neue und differenziertere Weisen, die ein Multiversum von Möglichkeiten und Erfahrungen eröffnen, sehen und erleben können. Der wachsende Fundus an Belegen für die Wirksamkeit mentalisierungsinspirierter Therapien (siehe z. B. Bateman a. Fonagy 2008, 2009, 2019; Blankers et al. 2019; Byrne et al. 2019; Fonagy et al. 2014; Keaveny et al. 2012; Rossouw a. Fonagy 2012; Smits et al. 2020) untermauert die Seriosität dieses Ansatzes. Die MIST ist kein neues Therapiemodell, sondern ein integrativer Ansatz für die Arbeit mit Paaren und Familien. Das primäre Ziel einer mentalisierungsinspirierten Therapeutin besteht nicht darin, Familien bei der Suche nach pragmatischen Problemlösungen zu unterstützen, sondern darin, zeitweilige – oder auch länger bestehende – Blockaden in innerfamiliären Beziehungen zu beheben. Eine solche Blockade kann beispielsweise darin bestehen, dass ein Familienmitglied sich plötzlich und unerwartet weigert, auf eine Frage zu antworten, mit den Äußerungen eines anderen nichts anzufangen weiß oder sie ungewollt oder absichtlich missversteht. Das Ausräumen der Blockaden kann der Familie dann dabei helfen, ihre ganz eigene(n) Lösung(en) für erlebte Probleme zu finden.

1.3.1 Warum ist Mentalisieren so wichtig?

Die Fähigkeit, neue Informationen aufzunehmen und an die Menschen weiterzugeben, die von uns lernen, insbesondere an unsere Kinder, hat sich im Laufe der Evolution bei uns Menschen in einer einzigartigen Weise ausgeprägt. Die ersten Jahre unseres Lebens verbringen wir damit, zu lernen, wie Dinge auf eine bestimmte Weise zu tun sind, wie wir einen riesigen Wortschatz gebrauchen und Werkzeuge einsetzen können, wie wir uns die Millionen von Regeln aneignen können, die wir befolgen müssen, und so weiter. Wir können das alles nicht nur durch Beobachtung lernen – dafür ist das Leben einfach zu komplex. Wir müssen angeleitet und unterwiesen werden. Über die Jahrtausende hinweg haben wir außerordentlich effiziente Formen der Weitergabe von Informationen an unsere Kinder entwickelt, durch die sie genau wissen, worauf sie achten und was sie aufgreifen und sich zu eigen machen sollen. Wir sprechen Kinder direkt an, nehmen Blickkontakt zu ihnen auf, nennen sie beim Namen, sehen sie mit einem Lächeln oder mit hochgezogenen Augenbrauen an, sagen freundlich »Hallo« zu ihnen: Das sind alles kleine Signale an sie, dass sie sich das, was nun als Nächstes kommt, merken sollen. Diese ostentativen Signale (siehe Kapitel 7) geben dem Kind das Gefühl, dass es vom Gegenüber als wichtig anerkannt und als sozialer Akteur respektiert wird. Sie wirken der natürlichen epistemischen Wachsamkeit entgegen, die in uns allen wirksam ist und die dem Selbstschutz dient – als ein Misstrauen gegenüber potenziell schädlichen, trügerischen oder ungenauen Informationen (Sperber et al. 2010). Ostentative Signale bewirken offenbar, dass das Kind offener wird und das, was es hört, aufnehmen und verarbeiten kann. Wenn es in dieser Weise anerkannt wird, kann es dem, was es hört, eher vertrauen – das heißt, es entwickelt epistemisches Vertrauen, ein Vertrauen in übermitteltes Wissen. Auch Erwachsene reagieren ebenso wie kleine Kinder darauf, dass sie sich anerkannt fühlen. Der einzige Unterschied ist, dass einem Erwachsenen eine hochgezogene Augenbraue oder ein Lächeln möglicherweise nicht ausreicht. Bei Erwachsenen bestehen ostentative Signale eher aus Zeichen, die dem Zuhörenden zu verstehen geben, dass er bei der Kommunikatorin »ankommt«: Sie erkennt seine Handlungsmacht und die möglichen Komplexitäten seiner mentalen Zustände an und validiert und unterstützt diese Zustände. Wesentlich ist, dass die Kommunikatorin mit Worten oder Handlungen zu erkennen gibt, dass sie in der Lage ist, die Welt aus der Perspektive des anderen zu sehen. In einem systemischen Kontext kann das Bewusstsein für die Idiosynkrasien der Familie (z. B. für besondere Familientraditionen, Demarkations- und Grenzlinien) dem System als ein ostentatives Signal für die Vertrauenswürdigkeit eines Individuums dienen.

Mentalisieren kommt hier insofern ins Spiel, als das Verständnis für den mentalen Zustand eines anderen, wenn es in adäquater Weise zum Ausdruck gebracht wird, selbst ein machtvolles ostentatives Signal darstellen kann. Mentalisieren hat das Potenzial, epistemisches Vertrauen zu erzeugen. Wenn ich jemanden mentalisiere, erkenne ich ihn als einen sozialen Akteur an. Um auf diesem Weg epistemisches Vertrauen zu schaffen, muss ich aber auch in der Lage sein, den anderen so gut zu mentalisieren, dass er sich als zutreffend mentalisiert erlebt.

Wir Menschen haben im Laufe der Evolution die Fähigkeit ausgebildet, in der Kommunikation spezifische Mechanismen des »Gedankenlesens« einzusetzen, um in produktiven sozialen Systemen effektiv kooperieren zu können (Tomasello 2019 [2020]). Die Familie ist das vielleicht offenkundigste Beispiel für Systeme, die von dieser bemerkenswerten Fähigkeit profitieren. Sie ist natürlich auch das Feld, auf dem es am klarsten ersichtlich wird, wenn das kommunikative Gedankenlesen schlecht funktioniert. In der MIST versuchen wir, diesen Teil des sozialen mentalen Apparats ein wenig neu zu justieren. Wir versuchen nicht, schlechte Gedanken und Empfindungen durch gute zu ersetzen, sondern bieten einfach Gelegenheiten dafür an, dass der natürliche Zustand des kommunikativen Gedankenlesens wiederhergestellt wird, und versuchen, Blockaden zu beheben, die dem spontanen Ablauf von Denk- und Gefühlsprozessen im Weg stehen.

1.3.2 Einstieg: mentalisierungsinspirierte und systemisch orientierte Telefongespräche

Der Therapeut fragte Frau G., wie dringlich die berichteten Probleme für sie seien und wie schnell sie einen Termin haben wolle. Sie erwiderte: »So schnell wie möglich … Ich könnte jederzeit in die Praxis kommen, um mehr über Salim und seine Schwierigkeiten zu berichten.« Der Therapeut fragte sie, wer nach ihrer Ansicht bei dem ersten Termin dabei sein solle, und bat sie zu überlegen, was dafür und was dagegen spreche, dass sie mit ihrem Sohn komme oder dass auch ihr Mann dabei sei. Der Therapeut hielt sie auch dazu an, sich Gedanken zu machen, ob es hilfreich sei, wenn eine andere Person zum ersten Termin dazukomme. Um dies zu klären, stellte er ihr auf einfühlsame Weise eine Reihe von Fragen:

»Was könnte dafürsprechen, dass Sie allein herkommen?«

»Wie wäre das für Ihren Mann, wenn er am ersten Termin nicht teilnehmen würde?«

»Was könnte dagegensprechen, dass Salim mitkommt und direkt von Ihnen zu hören bekommt, welche Sorgen Sie sich machen?«

»Worüber könnten Sie möglicherweise nicht sprechen, wenn Salim mit im Raum ist – und wäre das dann gut oder schlecht?«

Frau G. beantwortete geduldig alle Fragen, die ihr gestellt wurden, oft nach einigem Zögern, und leitete viele ihrer Antworten mit »Ich bin nicht sicher« oder »Ich weiß nicht recht« ein. Im weiteren Verlauf fragte der Therapeut Frau G., wo nach ihrer Vorstellung der erste Gesprächstermin am besten stattfinden solle: in der Klinik, in der Wohnung der Familie, im Gesundheitszentrum (in dem die Überweisung durch den Hausarzt erfolgt war) oder an einem anderen Ort. Wo würde sie sich am ehesten wohlfühlen, und welchen Ort würden Salim und ihr Mann vorziehen? Wie könnte die Familie zu einer Entscheidung kommen? Und würde ihr Mann es gutheißen, wenn ein Termin vereinbart wurde, und die Probleme genauso wie Frau G. beschreiben – oder sah er die Dinge anders? Am Ende des Telefonats, das etwa zwanzig Minuten dauerte, sagte Frau G., sie wünsche sich, dass Salim zum ersten Gespräch mit beiden Eltern kommen könne. Der Therapeut validierte ihre Entscheidung und fügte hinzu, es sei in Ordnung, wenn sie noch etwas an dem vereinbarten Gesprächstermin und am Kreis der Teilnehmenden ändern wolle, nachdem sie weiter darüber nachgedacht oder mit ihrer Familie oder Freunden darüber gesprochen habe.

Vielleicht fragen Sie sich, ob es klug ist, wenn ein Therapeut eine potenzielle Klientin vor der ersten Therapiesitzung mit Fragen überhäuft. Doch die mentalisierungsinspirierte systemische Arbeit beginnt in dem Moment, in dem eine Therapieanfrage eintrifft. Der Therapeut signalisiert von Beginn an, was von der therapeutischen Begegnung zu erwarten ist, nämlich dass sie vielfältige Möglichkeiten und Perspektiven eröffnen kann. Beim Erstkontakt wird die anfragende Person, ob es sich nun um einen Elternteil oder eine Fachkraft handelt, dazu angehalten, sich selbst und andere Mitglieder des Systems zu mentalisieren. Bei dem System kann es sich um die Familie, das unterstützende Umfeld des Kindes, um die Schule oder um einen kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst handeln. – Was bedeutet das aber in der Praxis?

Die Fragen, die der Therapeut Salims Mutter in dem Telefongespräch gestellt hat, lassen sich als intervenierend auffassen, in dem Sinne, dass sie darauf abzielen, ihr – und dem Therapeuten – zu helfen, Themen aus mehr als einer Perspektive zu betrachten. Ähnliche Telefongespräche kann auch eine Sozialarbeiterin, ein Lehrer, eine Hausärztin oder eine andere Fachkraft führen. (Beachten Sie aber, dass wir es in der mentalisierungsinspirierten systemischen Familienarbeit unabhängig davon, woher die Behandlungsanfrage kommt, in der Regel vorziehen, zunächst mit einem Familienmitglied zu sprechen, ehe wir uns mit anderen Fachleuten über die Familie austauschen.)

Systemtherapeutinnen haben die Kontexte im Blick, aus denen heraus Hilfegesuche erfolgen. Hilfreich ist, dabei verschiedene Ebenen des Systems in den Blick zu nehmen: die Ebenen des individuellen Klienten, der überweisenden Person und der wichtigen Bezugspersonen sowie die Ebenen der Wohnumgebung, des Netzwerks von Freundschaften, der religiösen Bindung, der schulischen und beruflichen Rahmenbedingungen, der Kultur oder Subkultur, der die Familie angehört, und des übergreifenden soziopolitischen Kontextes. Hier sei auf Bronfenbrenners (1986) ökologischen Ansatz verwiesen. Eine solche Kontexterfassung auf vielen Ebenen versetzt uns in die Lage, Interventionen auf mehreren Ebenen in Betracht zu ziehen. Sollen wir nur mit der Familie arbeiten? Müssen wir andere Fachleute oder das soziale Netzwerk der Familie hinzuziehen? Wie lässt sich die religiöse oder anderweitige kulturelle Einbindung der Familie einbeziehen, um benannte Themen oder Probleme anzugehen? Sind Einzeltermine mit einem Kind oder einem Elternteil angezeigt? Wenn wir die Situation aus einer systemischen Perspektive betrachten, werden sich vielfältige Optionen ergeben, weil es zahlreiche mögliche Kontexte gibt, innerhalb derer die Arbeit erfolgen kann. Mentalisieren entsteht nicht nur aus der dyadischen Mutter-Kind-Beziehung oder aus der triadischen Mutter-Vater-Kind-Beziehung heraus. Es entwickelt sich vielmehr ausgehend von einer sozialen Gruppe, einer Kultur, die vom Kind als mehr oder weniger fokussiert auf seine Anliegen, seine Ängste und sein Wohlbefinden erlebt wird (Asen, Campbell a. Fonagy 2019; Fonagy et al. 2019). Das übergreifende Ziel der MIST besteht darin, Mentalisierungsprozesse im Gesamtsystem zu fördern. Probleme entstehen nach unserer Auffassung dann, wenn das Mentalisieren innerhalb des ökologischen Systems der Familie ins Stocken gerät, in eine falsche Richtung läuft oder gar entgleist.

1.3.3 Die Co-Konstruktion therapeutischer Kontexte

Auf die Kontexterfassung folgt die Kontexterzeugung: Wie können wir relevante therapeutische Kontexte herstellen, die eine Antwort auf das Hilfegesuch bieten? Die Frage an uns lautet: »Welche Kontexte muss ich aufgreifen – oder herstellen –, um auf die benannten Probleme und Themen eingehen zu können?« Der Kontext ist wichtig! Um eine pragmatische Antwort zu finden, ist es hilfreich, vier Arten von Kontexten zu unterscheiden: Person, Ort, Zeit und Aktivität (Asen 2004).

Der Personenkontext

Auf die Frage, wer bei einem Treffen oder einer Sitzung dabei sein sollte, sind viele Antworten möglich: die Kinder, die Eltern, Verwandte oder auch wichtige Personen im Umfeld der Familie, ob nun Freunde, Vertreterinnen einer Religionsgemeinschaft oder Fachleute. So bleibt das therapeutische System offen dafür, dass in künftigen Sitzungen Personen neu hinzukommen oder nicht mehr dabei sind. Mentalisierung ist eine ganz und gar zwischenmenschliche Angelegenheit. Wir müssen im Blick behalten, dass das Mentalisieren im Raum zwischen Menschen geschieht: Wir entwickeln Vorstellungen davon, was die Gründe für das Handeln anderer (oder für unser eigenes) sind oder wer wir aus Sicht der anderen sind. Der Personenkontext bestimmt also den Mentalisierungskontext, und je nach Kontext haben wir es mit anderen Gefühlen und Gedanken zu tun.

Der Ortskontext

Es gibt eine Reihe von Optionen, wo die Arbeit stattfinden kann: in der Therapiepraxis, in der Wohnung der Familie, in der Schule, auf der Krankenhausstation, im Supermarkt, bei Gericht, in der Moschee, im Gemeindezentrum, im Rathaus, in den Gängen des Gerichtsgebäudes – um nur einige mögliche Orte zu nennen. Es kann effektiver sein, mit einem Kind und seiner Familie im alltagsnahen Setting zu arbeiten, wo das Problem sich ganz konkret manifestiert, als wenn die gesamte therapeutische Arbeit in einem neutralen Behandlungszimmer oder in unpersönlichen Räumen innerhalb einer Institution abläuft. Therapie im Gehen anstatt im Sitzen kann das Denken von Klienten und Therapeutin lockern. Ebenso wie das Wer nimmt auch das Wo Einfluss auf Inhalt und Form der Arbeit. Mentale Zustände und Familiendynamiken entstehen in den Räumen nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Orten. Schulprobleme eines Kindes entspringen unter Umständen einem Konflikt zwischen Schule und Zuhause, sodass diese Orte von Bedeutung sind. Gedanken und Gefühle können in Orten eingelagert und verborgen sein. Es kann eine kluge Option sein, diese Orte dann aufzusuchen oder aber sich dagegen zu entscheiden. Die klügste Option ist aber vermutlich, sich die Frage zu stellen, warum womöglich bestimmte Orte von vornherein ausgeschlossen werden.

Der Zeitkontext

Das Wann lässt sich unter den Aspekten von Zahl, Häufigkeit, Dauer und Zeitpunkt der Sitzungen definieren. Je nach therapeutischer Orientierung werden oft Zeitspannen angesetzt, die zwischen 45 und 90 Minuten lang sind, mit einer vorgegebenen Zahl von (6 oder 12) Sitzungen, die oft auf einen Zeitrahmen von drei Monaten bis zu einem Jahr verteilt werden. Gibt es eine optimale Sitzungsdauer? Sigmund Freud erfand die 50-Minuten-Sitzung wohl eher, um in Ruhe Notizen machen zu können, als im Bemühen, eine optimale Zeitdauer zu bestimmen. Auch die 90-minütige Sitzung, die systemische Therapeutinnen für die Arbeit mit Familien anzusetzen pflegen, ist wohl eher der Gewohnheit als sachlicher Notwendigkeit geschuldet.

Die Sitzungsdauer richtet sich oft nach dem Kontext oder wird gar von ihm diktiert. In einem von Zeitdruck beherrschten Klinikbetrieb kann es pragmatisch gesehen sinnvoll sein, Familien halbstündige Sitzungen anzubieten. In einer Hausarztpraxis mag der angemessene Zeitrahmen für die Arbeit mit Familien 10 oder 15 Minuten umfassen, weil dies dem sehr spezifischen Kontext der ärztlichen Grundversorgung entspricht (Asen et al. 2004). Am anderen Ende des Spektrums werden wir einer Familie, die mit vielen chronischen Problemen zu kämpfen hat, mehr Zeit anbieten wollen. Es ist unwahrscheinlich, dass sich in ihr die notwendigen Veränderungen vollziehen, wenn die Behandlung in einstündigen Sitzungen mit zweiwöchigem Abstand erfolgt. Hier ist eine längere Dauer der Interventionen in Betracht zu ziehen. Die Sitzungen werden dann oft in einer Gruppe von mehreren Familien durchgeführt (Asen 2002), weil es ökonomischer ist, nicht nur mit einer, sondern mit sechs bis acht Familien zu arbeiten.

Die kontextabhängige Bestimmung der zeitlichen Parameter sollte pragmatisch gehandhabt werden. Doch auf welches Ziel sollte der Pragmatismus ausgerichtet sein? Wir hoffen, das Modell der MIST kann hier zur Klärung beitragen. Das pragmatische Ziel ist, die Fähigkeit des Systems, Verständnis für mentale Zustände entstehen zu lassen, zu optimieren, sodass Verhalten zunehmend als Ausdruck der dahinterstehenden Überzeugungen, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen und Intentionen gesehen werden kann.

Der Aktivitätskontext

Was geschieht konkret im Verlauf der therapeutischen Arbeit? Die Aktivitäten, an der eine Familie in den Sitzungen beteiligt ist, können sehr unterschiedlich sein. Hierzu gehören natürlich therapeutische Gespräche oder Diskussionen, die in der Regel auf das Medium der Sprache zentriert sind. Nach unserem Eindruck geben Manuale oft allzu detailliert vor, worüber zu sprechen ist. Dies kann Mentalisierungsprozesse einengen. In der MIST kommen viele spielerische Aktivitäten zum Einsatz, die zum Teil nonverbal oder paraverbal sind, wie etwa Rollenspiele, Skulpturarbeit, Collagen und Übungen. Die therapeutischen Aktivitäten werden auf die berichteten Problemfelder abgestimmt und können von Sitzung zu Sitzung wechseln.

Warum ist die MIST spielerischer als viele andere Therapien? Es liegt nicht an einem Mangel an Respekt vor unseren Klientinnen und Klienten und sicherlich auch nicht daran, dass wir dem großen Leid, mit dem manche zu uns kommen, ausweichen wollen. In der MIST beziehen wir das Spiel in die therapeutische Begegnung ein, um ganz gezielt die Fantasie zu stärken: Mentalisieren und insbesondere flexibles Mentalisieren setzt eine imaginative Offenheit voraus. Es geht darum, sich eine Vorstellung von den inneren Zuständen anderer und auch von den eigenen zu machen. Dafür ist ein gewisser Grad an bewusster Selbstwahrnehmung vonnöten. Um dem Handeln einer anderen Person Bedeutung zuzuschreiben, müssen wir uns vorstellen können, wie es uns selbst dabei ergehen würde. Die MIST zielt also auf ein vorbehaltloses Befeuern der Vorstellungskraft. Das heißt, wir könnten unseren Ansatz auch ohne Weiteres »MSTi« nennen: Machen wir die Systemische Therapie imaginativ.

Die kontextualisierenden Fragen – wer, wo, wann und was – müssen nicht nur beim jeweiligen Einstieg in die Arbeit mit einer Familie, sondern auch während der gesamten Behandlung gestellt werden. Durch das regelmäßige Einbeziehen sowohl der einzelnen Personen als auch der Familie in diesen Befragungsprozess wird die Co-Konstruktion von veränderungsrelevanten Kontexten möglich. Diese Kontexte befinden sich in fortwährendem Wandel, und daraus ergeben sich neue Optionen der Wahrnehmung und Erfahrung. Manche Therapeuten sind der Auffassung, ein Zuviel an Flexibilität – an Erzeugung und Veränderung von Kontexten – sei für Familien verwirrend. Andere glauben, ein Übermaß an Vorhersagbarkeit und Routine sei antitherapeutisch und würge die natürliche Neugier und Spontaneität ab. Aus Sicht des Mentalisierungsmodells ist es wichtig, dass Therapeutinnen versuchen, zusammen mit ihren Klienten fortwährend zu überlegen und zu überprüfen, ob die eingeführten Wer-, Wann-, Wo- und Was-Kontexte nach wie vor hilfreich sind.

Ein reflektierendes Vorgehen ist seinem Gegenteil natürlich vorzuziehen. Das ist hier aber nicht der entscheidende Punkt. Im Mittelpunkt steht vielmehr die geteilte oder gemeinsame Aufmerksamkeit, die sich auf ein von allen Beteiligten als wichtig empfundenes Problem oder Thema richtet. Diese Gemeinsamkeit des Prozesses von beständigem Infragestellen und miteinander vollzogener Neueinschätzung ist es, die zur Heilung beiträgt. Dadurch wird der Prozess von gemeinsamer, kooperativer Reflexion möglich, der den Hauptfokus der MIST bildet. Natürlich schafft Flexibilität auch die Voraussetzung dafür, dass die Offenheit des therapeutischen Systems so weit gewahrt bleibt, dass der Kreis der teilnehmenden Personen sich ebenso ändern kann wie Ort, Zeitpunkt und Dauer der Sitzungen. Die heilsame Wirkung und die entscheidenden Impulse gehen aber nicht von der Flexibilität selbst aus, sondern von der Neugier und dem Staunen, die sie auslöst.

1.3.4 Einen Fokus wählen und therapeutische Interventionen prüfen

Als Familie G. zur ersten Sitzung kam, bestand das Hauptziel darin, sich im Gespräch auf einen Fokus für die gemeinsame Arbeit zu verständigen. Der Therapeut sprach sich für eine problemorientierte Herangehensweise aus und hielt die Familienmitglieder dazu an, alle Sorgen aufzulisten, die ihnen zu schaffen machten, und die Punkte zu konkretisieren, bei denen sie sich Unterstützung wünschten.

Sitzung 1

Salims Mutter begann sogleich, die vielen verschiedenen Sorgen aufzuzählen, die sie sich um ihren Sohn machte, während Salim und sein Vater sich mit einem Computerspiel beschäftigten. Sie wiederholte, was sie am Telefon gesagt hatte, und führte eine lange Liste von Problemen auf: Salims Schwierigkeiten mit dem Essen, seine Angstzustände, seine oft sehr fordernden Verhaltensweisen, das Fehlen von Freunden, Hyperaktivität, »babyhaftes« und anklammerndes Verhalten, Wutanfälle und so weiter und so fort. Sie redete zehn Minuten lang, ohne dass ihr Mann oder ihr Sohn irgendetwas dazu sagten. Der Therapeut registrierte dies, ohne es aber zu kommentieren.

Sobald Frau G. geendet hatte, dankte der Therapeut ihr und fragte den Vater, ob er noch etwas ergänzen wolle. Er sagte, seine Frau habe die Dinge gut erklärt, viel besser, als er das gekonnt hätte, und fügte hinzu, auch er mache sich Sorgen um Salim, aber nicht in dem Maße wie seine Frau. Als Salim gefragt wurde, ob er wisse, warum seine Eltern mit ihm in die Klinik gekommen seien, und ob es etwas gebe, bei dem er sich Hilfe wünsche, zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder dem Spiel zu. Der Therapeut fragte die Eltern, welcher der von der Mutter genannten Punkte nach ihrem Empfinden als erster angegangen werden solle. Salims Vater zeigte auf seine Frau und sagte: »Sie soll entscheiden, sie ist die Chefin.« Der Therapeut ermunterte die Eltern, gemeinsam zu überlegen, welches Problem zuerst in Angriff zu nehmen sei. Die Mutter antwortete, das dringendste Problem sei Salims »Problem mit dem Essen … er braucht drei Stunden für sein Mittagessen und anderthalb Stunden fürs Frühstück … Das macht mich wahnsinnig.« Der Vater fügte hinzu: »Das würde auch mich wahnsinnig machen, aber ich bin den ganzen Tag bei der Arbeit. Ich führe ein Restaurant, das heißt, ich habe lange Arbeitszeiten. Die meiste Zeit muss meine Frau Salim beim Essen helfen.« Der Therapeut fragte die Eltern, wann sie wiederkommen wollten, um das Problem anzugehen. Die Mutter sagte: »So bald wie möglich, wie wäre es nächste Woche?«, und der Vater pflichtete ihr bei. Der Therapeut schlug vor, die nächste Sitzung solle zur Mittagessenszeit stattfinden, und die Eltern sollten das Essen dann mitbringen. Die Sitzung solle etwa drei Stunden dauern, damit das »Problem mit dem Essen« umfassend untersucht werden könne. Die Eltern besprachen sich eine Weile und beschlossen dann, dass nur Salim und seine Mutter kommen würden, denn der tägliche Kampf um die Mahlzeiten bleibe fast ausschließlich ihr überlassen.

In dieser ersten Sitzung fielen dem Therapeuten sogleich charakteristische Beziehungsmuster auf, etwa dass der Mutter eine dominante Rolle zukam, dass der Vater offenbar das Gefühl hatte, er müsse mit seiner Frau einiggehen, und dass Salim die wiederholten Aufforderungen der Eltern, er solle mit dem Computerspiel aufhören, einfach ignorierte. Der Therapeut sah aber von Kommentaren zu diesen Interaktionen ab. Er beschloss, sich stattdessen die Möglichkeit offenzuhalten, in einer späteren Phase auf seine Beobachtungen zurückzukommen. Warum sprach er Frau G. oder Herrn G. zunächst nicht darauf an? Diese Frage betrifft einen wichtigen technischen Punkt bei der Anwendung der MIST. Der Therapeut war im Sinne der MIST-Prinzipien bestrebt, sich in die Lage aller Familienmitglieder hineinzuversetzen. Er fragte sich: Wenn ich Frau G. wäre, würde dann irgendeine Intervention, die mein Verhalten auf den Prüfstand stellt, meine Fähigkeit zur gegenseitigen Verständigung steigern? Ebenso verfuhr er mit Blick auf Herrn G. und Salim. Dabei wurde ihm die Scham und die Verlegenheit bewusst, die sich in einem oder in allen drei Familienmitgliedern regen könnte, wenn er die Aufmerksamkeit auf eine vom ihm beobachtete charakteristische Interaktion lenkte. Er hatte den Eindruck, dass er noch sehr wenig über die Familie wusste und dass selbst höfliches Nachfragen Scham, Verlegenheit oder das Gefühl des Missverstanden-Werdens heraufbeschwören könnte. In der MIST erkennen wir an, dass das Empfinden, falsch wahrgenommen oder missverstanden zu werden, eine schmerzliche Erfahrung ist. Eine Haltung behutsamer Neugier, die als offen und forschend erlebt wird, dürfte daher die Chancen deutlich erhöhen, dass sich das Gegenüber zur Reflexion angeregt fühlt.

Sitzung 2: MIST in Aktion

Eine Woche darauf erschienen, wie vereinbart, Salim und seine Mutter zur zweiten Sitzung. Frau G. hatte das Mittagessen für Salim und sich selbst dabei. Sie setzten sich in einem großen Behandlungszimmer an einen Tisch. Der Therapeut kam in 5- bis 10-minütigen Intervallen kurz in den Raum, beobachtete die beiden und machte gelegentlich eine Bemerkung. Er sah, dass Salim noch kaum etwas gegessen hatte, mit seiner Mutter plauderte und sie entweder anflehte, ihn zu füttern, oder behauptete, er habe keinen Hunger. Die Mutter reagierte darauf, indem sie in einem fort wiederholte, er sei doch »ein großer Junge … du kannst selbst essen … du hast doch gesagt, du hast Hunger …«. Salim verhielt sich weiterhin viel kindlicher, als dies seinem biologischen Alter entsprach. Die Mutter gab oft ermutigende Laute von sich und legte Verhaltensweisen an den Tag, die eher gegenüber einem Einjährigen als gegenüber einem Sechsjährigen angemessen gewesen wären. Es waren viele neckende »Du du du«-Laute und anfeuernde kleine Bemerkungen zu hören, und die Mutter machte viel Aufhebens darum, dass Salim nicht aß. Schließlich fragte der Therapeut die Mutter, wie es nach ihrem Eindruck mit dem Essen vorangehe. Sie zeigte auf die vollen Teller und erwiderte, es laufe »nicht sehr gut«. Dies sei »typisch, ganz so wie zu Hause – es dauert ewig, bis er etwas gegessen hat«. Der Therapeut fragte die Mutter, ob Salim nach ihrem Gefühl zu dünn sei. »Nein, er hat Normalgewicht, aber das wäre anders, wenn ich nicht so dahinter her wäre, Nahrung in ihn hineinzubekommen.« Als sie nach einer möglichen Erklärung dafür gefragt wurde, warum Salim so langsam esse, fiel ihr nichts dazu ein. Der Therapeut sagte zu ihr: »Vielleicht sollten Sie aus dem Raum gehen und zurückkommen, nachdem er alles aufgegessen hat.« Die Mutter wirkte bestürzt, verließ aber zusammen mit dem Therapeuten den Raum. Salim war noch wesentlich verstörter und rief: »Was?! Nein!!« Er begann immer lauter zu schreien und hämmerte dann gegen die Tür, durch die die Mutter hinausgegangen war. Dies hielt zwei Minuten lang an, und Salim schrie mehrmals: »Ich sterbe!« Währenddessen geriet Frau G. im Raum nebenan in extreme Unruhe und begann zu hyperventilieren. Sie sagte, ihr Sohn ertrage es nicht, allein in einem Zimmer zu sein, und verfalle dann in Panik.

Der Therapeut ging zurück in den Raum, in dem Salim weiter nach seiner Mutter schrie, und sagte zu ihm: »Deine Mutter kommt wieder, wenn du mehr gegessen hast.« Salim war völlig aufgelöst, und es hatte ihm die Sprache verschlagen. Er machte einen Anlauf, ein wenig von dem Essen hinunterzuschlucken. Der Therapeut ermunterte ihn, weiterzuessen. Salim ließ sich darauf ein. Während er aß, konnte er nicht schreien, aber ihm liefen noch immer die Tränen über die Wangen. Der Therapeut rief die Mutter herein. Sie wirkte sehr mitgenommen und ging sofort zu Salim hin, um ihm die Tränen abzutrocknen, woraufhin er zu essen aufhörte. Er setzte den Löffel ab und lehnte sich zurück. Die Mutter nestelte weiter an ihm herum, wischte ihm das Gesicht ab und nahm ihm den Löffel aus der Hand.

Der Therapeut forderte die Mutter auf, sich in einiger Entfernung von ihrem Sohn hinzusetzen und ihm beim Essen zuzusehen. Salim begann wieder zu essen. Der Therapeut kniete sich neben ihn hin und legte spielerisch den Kopf an seinen Bauch. Er tat, als würde er darauf horchen, wie die Nahrung in Salims Magen hineinkam, und rief in albernem Tonfall: »Hurra, hurra, sagt dein Bäuchlein, ich bin froh, dass ich hier unten etwas zu essen bekomme … danke, danke.« Salim musste lachen, und auch seine Mutter lachte. Der Therapeut wandte sich an die Mutter und sagte ernst: »Wissen Sie, mir war irgendwie klar, Salim kommt zurecht, wenn er ohne Sie im Raum ist, und kann allein essen, ob ich nun dabei bin oder nicht dabei bin. Ich denke, er wäre auch in der Lage gewesen, das ganze Mittagessen zu verspeisen – und zwar ziemlich schnell … aber ich habe mir Sorgen um Sie gemacht … Ich hatte Sorge, Sie könnten nebenan zusammenbrechen – ich hatte Sorge, Sie halten es vielleicht nicht aus, wenn Ihr kleiner Junge Sie nicht im Blick hat, aber er ist ein ziemlich großer Junge … und schauen Sie, wie kräftig gebaut er ist, mit diesen Muskeln, er ist viel größer, als Sie womöglich denken.«

Die Mutter hatte sich an diesem Punkt ein wenig beruhigt, und nachdem sie gehört hatte, was der Therapeut sagte, lächelte sie. Der Therapeut, der nahe bei Salim stand, bat die Mutter, sich vorzustellen, was Salim jetzt gerade fühlte und dachte, und deutete mit einer Geste an, wie aus dem Kopf des Jungen Gedankenblasen aufstiegen: »Wenn jetzt aus Salims Kopf Gedankenblasen aufsteigen würden, was wäre darin zu lesen?« Sie lächelte und sagte: »Er denkt: ›Hierher komme ich nicht noch einmal.‹« Der Therapeut fragte bei Salim nach, ob die Mutter richtig lag. Er zögerte, blickte dann seine Mutter an und nickte. Der Therapeut fragte: »Muss deine Mutter dich beim nächsten Mal also mit Gewalt hierherschleppen?« Salim lächelte und schüttelte den Kopf.

Der Therapeut fragte Salim, ob er noch einmal an seinem »Bäuchlein« horchen dürfe, und Salim hatte sichtlich seine Freude, als der Therapeut ausrief, wieder in recht albernem Ton: »Ich will mehr, komm, gib mir zu essen, ich bin immer noch sehr, sehr hungrig.« Salim aß, mit breitem Lächeln, in zügigem Tempo weiter. Als der Therapeut den Raum verließ, um sich um eine andere Familie mit »Essproblemen« zu kümmern, wandte Salim sich an seine Mutter und sagte: »Mama, füttere mich, wenn du mich liebst.« Sie erwiderte: »Denkst du, ich liebe dich nicht? Warum sagst du das? Warum sagst du, ich liebe dich nicht?« Salim: »Weil du mich nicht fütterst.« So ging es eine Weile hin und her, und die Mutter flehte Salim erneut an, er solle doch essen. Als der Therapeut wieder hereinkam, sagte er: »Ich denke – aber es kann auch durchaus sein, dass ich falschliege –, dass Salim denkt, er muss sich wie ein Baby verhalten, um von Ihnen geliebt zu werden. Ich weiß, er ist ein intelligenter Junge, und ich wette, er kann das alles innerhalb von zehn Minuten oder schneller aufessen – aber solange Sie ihm das nicht zutrauen, kann er es auch nicht. Für ihn muss wahrscheinlich klar sein, dass Sie wissen, er ist nicht ein Jahr alt, sondern sechs.« Der Therapeut ging wieder hinaus, und als er nach zehn Minuten wiederkam, hatte Salim alles aufgegessen. Die Mutter berichtete, sie habe Salim lediglich mehrere Male gesagt, dass er nicht ein Jahr alt, sondern sechs Jahre alt sei. Der Therapeut sagte zu Salim: »Du kannst dich wahrscheinlich auch so verhalten, als wärest du älter als sechs – wie du das alles aufgegessen hast, und so schnell, das war sehr eindrucksvoll, das können nur Kinder, die schon älter sind.«

Zur Mutter gewandt sagte er: »Wir haben für heute ja drei Stunden vorgesehen, also bleiben uns jetzt noch eine Stunde und 40 Minuten … Gibt es etwas, wofür Sie die verbleibende Zeit nutzen möchten?« Die Mutter antwortete: »Ja, das hat mit seinen Hausaufgaben zu tun – er braucht dafür immer eine Stunde oder noch länger, und die Schule sagt, er sollte das eigentlich in zehn Minuten schaffen … aber das reicht nicht. Ich muss neben ihm sitzen und ihm helfen … und am Ende streiten wir uns dann, und eigentlich muss ich dann die Aufgaben machen, weil Salim sagt, es ist zu schwierig und er bekommt das selbst nicht hin.« Der Therapeut schlug vor: »Gut, Sie können das jetzt einmal miteinander probieren, und ich bin in einer Stunde oder so zurück.« Zehn Minuten später verließ Salim den Raum, um nach dem Therapeuten zu suchen. Als er ihn gefunden hatte, sagte er stolz: »Ich bin fertig – und meine Mama hat mir gar nicht helfen müssen.« Der Therapeut fragte Salim, wie seine Mutter sich jetzt wohl fühle. »Sie ist stolz«, erwiderte er. Die Mutter bestätigte das. Daraufhin hielt der Therapeut sie dazu an, sich zu überlegen, welche Gedanken und Gefühle sich wohl an verschiedenen Punkten der vergangenen zwei Stunden in Salim abgespielt hätten.