Kinder, Kunst und Montessori - Horst Klaus Berg - E-Book

Kinder, Kunst und Montessori E-Book

Horst Klaus Berg

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Beschreibung

Das Buch richtet sich in erster Linie an Montessori-Pädagogen, die sich in ihren Berufsfeldern mit Kunst und Kreativität beschäftigen. Ihnen kann die Fruchtbarkeit des Denkens von Maria Montessori im Umgang mit Kunst aufleuchten; auch wird ganz praktische Unterstützung für Kindergarten und Schule angeboten. Das Buch zeichnet zunächst einige Grundlinien von Maria Montessoris Gedanken über Kunst und ästhetisches Lernen. Im Gespräch mit heutiger Kunstdidaktik und Erziehungswissenschaft zeigen sich interessante Zusammenhänge und Übereinstimmungen. Was Kinder beim Umgang mit Kunst lernen und erleben können, lässt sich in acht „Lernchan-cen“ fassen. Der zweite Teil des Buchs ist ganz der Praxis gewidmet. Für den Kinderhausbereich stehen vier Projekte zur Verfügung. Sie sind so weit ausgearbeitet, dass die Arbeit gleich anfangen kann. Für den Schulbereich werden sechs Projekte angeboten (Altersstufe etwa ab 8 Jahren). Hierfür sind umfangreiche vollständige Freiarbeitsmaterialien abgedruckt. Sie müssen nur noch laminiert werden – und der Unterricht kann beginnen. Und auch praktische Hinweise zur Vorbereiteten Umgebung und zum kommunikativen Lernen fehlen nicht. Dr. Horst Klaus Berg ist emeritierter Professor der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Montessori–Pädagoge und Ausbilder in Montessori –Diplomkursen. Er ist Autor zahlreicher Werke zur Religionspädagogik und zur Montessori-Pädagogik.

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Horst Klaus Berg

Kinder, Kunst und Montessori

Mit Freiarbeitsmaterial für Kinderhaus und Schule

Books on Demand

Inhalt

Zu diesem Buch

Teil 1. Theorie

Kapitel 1. Bildende Kunst in der Montessori-Pädagogik

1. Ein Stiefkind?

2. Der menschliche Geist überschreitet Grenzen – die anthropologische Basis

2.1. Die „Einbildungskraft“ (Imagination)

2.2. Die Abstraktionsfähigkeit

2.3. Resümee

3. Schöpferisches Potential und schöpferischer Prozess bei Maria Montessori

4. Die Förderung des schöpferischen Potentials – Zur praktischen Lerngestaltung bei Montessori

4.1. Kunsterziehung in den Entwicklungsphasen

4.2. Übersicht über die Lerninhalte der bildnerischen Erziehung

5. Montessori zeitgemäß lesen

5.1. „Montessori-Hermeneutik“

5.2. Die Montessori-Rezeption bei Paul Drücke

5.3. Zur Frage der Weiterführung der Montessori-Kunst-Pädagogik in die Gegenwart

6. Vier Grundlinien ästhetischen Lernens bei Montessori

6.1. Kreatives Tun als expressiv verarbeitende Gestaltung von Gefühlen und Erfahrungen

6.2. Freies Lernen

6.3. Verstehende Teilhabe an der Kultur

6.4. Erweiterung der Wahrnehmung und des Bewusstseins über die Wirklichkeit hinaus

7. Probleme und Fragen

7.1. Beobachtung, Wahrnehmung und Fantasie

7.2. Schöpferisches Tun und Realität

7.3. Ästhetisches Lernen in den sensiblen Phasen

7.4. Ästhetisches Lernen und „große Kunst“

8. Abschließende Bemerkung

Kapitel 2. Lernchancen für ästhetische Praxis auf der Spur der Montessori-Pädagogik

1. Einführung

2. Vorstellung der „Gesprächspartner“

2.1. Wahrnehmung und Gestaltung: W. Barth

2.2. Ästhetische Praxis zwischen Kulturaneignung und Subjektbildung: C. Kirchner

2.3. „Ästhetik“ als Erziehungs- und Lernkonzept: H. Rumpf

3. Lernchancen

3.1. Vorbemerkungen

3.2. Acht Lernchancen

3.3. Resümee

Teil 2: Praxis

Kapitel 1. Arbeitsfelder als Brücken zwischen Theorie und Praxis

1. Vorbemerkung:

2. Die Arbeitsfelder

2.1 Die Struktur der Arbeitsfelder

2.2. Beschreibung der Arbeitsfelder

3. Abschließende Bemerkungen

Kapitel 2: Vorschläge zum Freien Lernen

1. Was wird angeboten?

2. Die Vorbereitete Umgebung

2.1. Materialien zum bildnerischen Gestalten.

2.2. Bildmaterialien

2.3. Materialien zur verstehenden Erschließung von Kunst

3. Kommunikatives Lernen und kreative Darstellung der Lernergebnisse

3.1. Anregungen zum kommunikativen Lernen

3.2. Kreative Darstellung der Lernergebnisse

Literatur

Bücher und Materialien für Kinder

Liste der gezeigten Bilder

Teil 3. Projekte und Freiarbeitsmaterial

Kapitel 1: Vier Angebote für das Kinderhaus

1. Meine Farben-Schatzkiste

1.1. Montessoris Vorschläge zur Wahrnehmung von Farben

1.2. Ein Vorschlag zum Erkennen und spielerischen Gebrauch der Farben

2. Das Geheimnis der Farben

2.1. Die Geschichte von den Farben

2.2. Wir machen Experimente

3. Wir entdecken unsere Bilderschätze

3.1. Wir lernen unsere Bilderschätze kennen

3.2. Wir zeigen und besprechen unsere Lieblingsbilder

4. Malen wie die Maler“. (Impression – Expression)

4.1. Beispiel 1 (Kinderhaus)

4.2. Beispiel 2 (Schule, 2. Klasse)

Kapitel 2: Sechs Angebote für die Schule (Alter: ab 8

1. Die Einführungen

1.1. Bilder entdecken

1.2. Ich weiß Bescheid. Informationen und Ideen für Entdecker und Forscher

1.3. Ein Bild entsteht - Farben – Formen - Komposition

1.4. Farben kann man fühlen

1.5. Gefühle malen

1.6. Mit Bildern spielen

2. Die Freiarbeitsmaterialien

Zu diesem Buch

Das Buch richtet sich in erster Linie an Montessori-Pädagogen, die sich in ihren Berufsfeldern mit Kunst und Kreativität beschäftigen. Ihnen möchte ich die Fruchtbarkeit des Denkens von Maria Montessori im Feld des ästhetischen Lernens zeigen und auch praktische Unterstützung anbieten.

Gleichzeitig sucht das Buch das Gespräch mit heutiger Kunstdidaktik. Es versteht sich von selbst, dass ich als Montessori-Pädagoge in diesem Gespräch keine fachdidaktischen Konzepte entwerfen kann. Ich habe mich so weit in die Partner-Fachdidaktik eingearbeitet, dass ich – sozusagen im Status informierter Willkür - Berührungspunkte zwischen den Gesprächspartnern aufspüre, bei denen erwartet werden kann, dass sie auch für den Fachdidaktiker interessante Aspekte anstoßen.

Weil das Feld ästhetischen Lernens weit und auch unübersichtlich ist, beschränke ich mich auf die Malerei.

Das Buch geht in drei Schritten vor.

Im ersten Teil geht es um Theorie. Ich habe zunächst Montessoris Gedanken und Vorschläge zum ästhetischen Lernen untersucht. Es zeigte sich, dass diese nicht unmittelbar in unsere Zeit übernommen werden können, sondern neu gefasst werden müssen. Ich bin dabei so vorgegangen, dass ich grundlegende pädagogische Ideen Montessoris herausgearbeitet und im Blick auf ästhetisches Lernen neu durchdacht habe. Als Ergebnisse konnte ich „vier Grundlinien ästhetischen Lernens bei Montessori“ benennen.

In einem zweiten Schritt habe ich diese mit einigen gegenwärtig vertretenen kunstdidaktischen und erziehungswissenschaftlichen Entwürfen „ins Gespräch gebracht“. Es zeigen sich interessante Zusammenhänge und auch wechselseitige Impulse zwischen Montessori-Pädagogik und Fachdidaktik, die schließlich acht Lernchancen im Feld ästhetischen Lernens hervorbringen.

Eine Theorie mag noch so sehr einleuchten – sie muss sich erst noch im Blick auf die Praxis einlösen und bewähren.

Deshalb geht es in den Teilen zwei und drei um Praxis. Sie hat eine doppelte Funktion: Sie versteht sich als eine Überprüfung der theoretischen Überlegungen. – Und sie bietet unmittelbar einsetzbare Vorschläge für die Praxis in Kinderhaus und Schule.

Ich nenne eine solche Praxis, die sich auf Montessori beruft und wichtige Impulse heutiger Kunstdidaktik aufnimmt, „Montessori–Kunstpraxis“.

Der zweite Teil des Buchs klärt einige Grundlagen der Montessori-Kunstpraxis. Es geht unter anderem um die Bestimmung von Arbeitsund Lernfeldern, um Vorschläge zum freien Lernen, um die „vorbereitete Umgebung“ für das ästhetische Lernen und die kreative Darstellung der Lernergebnisse.

Der dritte Teil bietet „Projekte und Freiarbeitsmaterial“ zur Montessori-Kunstpraxis. Für den Kinderhausbereich stehen vier Projekte zur Verfügung. Sie sind so weit ausgearbeitet, dass die Arbeit gleich anfangen kann.

Für den Schulbereich werden sechs Projekte angeboten (Altersstufe etwa ab 8 Jahren). Hierfür sind umfangreiche vollständige Freiarbeitsmaterialien abgedruckt. Sie müssen nur noch laminiert werden – und der Unterricht kann beginnen. (Die leeren Seiten in diesem Teil sind bewusst freigelassen, um den direkten Gebrauch der Materialien zu ermöglichen. So ist es gedacht: Folgt einer bedruckten Seite eine leere, bleibt die Rückseite frei. Wo keine leere Seite folgt, ist die Kopie auf Vorder- und Rückseite vorgesehen.)

Ich hoffe, dass von diesem Buch möglichst viele Anregungen ausgehen: Für die Theorie-Diskussion zur Ästhetik in der Montessori-Pädagogik, für den Diskurs mit Fachdidaktik und Erziehungswissenschaft… und vor allem für die Kolleginnen und Kollegen in Kinderhaus und Schule, die nach praktischen Vorschlägen für das ästhetische Lernen suchen.

Anmerkung: Ich habe auf eine Darstellung von Montessoris Grundgedanken zur Erziehung verzichtet, weil sie Montessori-Pädagogen bekannt sind. – Für Leser, die sich nicht an der Montessori-Pädagogik orientieren, ist das Buch hoffentlich aus sich heraus verständlich und einleuchtend.

Teil 1

Theorie

Kapitel 1

Bildende Kunst in der Montessori-Pädagogik

1. Ein Stiefkind?

Breit und intensiv ist die Rezeption und Erforschung der Ideen Montessoris zur Erziehung. Wer aber in der Montessori-Pädagogik nach Informationen, theoretischen Reflexionen und Anleitungen zur Arbeit mit Kunst bzw. bildnerischem Gestalten und /oder Musik sucht, muss ein wenig gründlicher nachschauen. Denn die bekannten Gesamtdarstellungen der Montessori-Pädagogik geben hierüber nur wenig Auskunft. Und auch die offiziellen Materialbücher bleiben schweigsam.

Schließlich stößt man zum Thema Kunst auf einige Broschüren und Beiträge, am wichtigsten die von Paul Drücke. (vgl. das Literaturverzeichnis)

Dieser im Ganzen doch recht magere Befund hängt zunächst einmal ganz einfach damit zusammen, dass Montessori selbst in ihren Werken sich zu bildender Kunst bzw. deren didaktischen Implikationen nur vergleichsweise spärlich äußert. Nach Meinung einiger Autoren spiegelt sich hier ihr gelegentlich skeptisches, manchmal ambivalentes Verhältnis zur Thematik wider.

Ich habe mir vorgenommen, Montessoris Äußerungen möglichst genau zu sichten, kritisch im Kontext der Sekundärliteratur zu reflektieren und abschließend offene Fragen und Arbeitsvorhaben zu benennen. Wie immer bei der Interpretation von Montessori-Texten ist zunächst nach der anthropologischen Basis zu fragen.

2. Der menschliche Geist überschreitet Grenzen - die anthropologische Basis

Ausgangspunkt ist ihre anthropologische These, dass der menschliche Geist die Grenzen des empirisch Sichtbaren und Greifbaren überschreitet. Sie benennt zwei Wirkungskräfte, die den Geist dazu beflügeln: Die Einbildungskraft und die Abstraktion.

2.1. Die „Einbildungskraft“ (Imagination)

Die Schlüsselaussagen zu diesem Aspekt finden sich in Montessoris Spätwerk „Das kreative Kind“:

„Kann sich der Verstand des, Kindes auf das beschränken, was es sieht? Nein. Der Verstand des Kindes reicht über die konkreten Grenzen hinaus: Es kann sich viele Dinge vorstellen. Diese Möglichkeit, Dinge zu sehen, die sich nicht vor seinen Augen befinden, offenbart eine höhere Geistesform; der menschliche Verstand wäre sehr beschränkt, würde er sich auf das begrenzen, was er sieht. Der Mensch sieht nicht nur mit dem Auge, und die Kultur besteht nicht nur aus dem, was man sieht. Ein Beispiel dafür ist die Geographie. Wenn wir einen See oder den Schnee nicht sehen können, müssen wir unseren Verstand anstrengen, um sie uns vorzustellen. Wie weit reicht das Vorstellungsvermögen des Kindes? Da wir es nicht wussten, begannen wir, mit sechsjährigen Kindern Versuche anzustellen. Anstatt bei den geographischen Einzelheiten zu beginnen, machten wir den Versuch, ein Ganzes vorzustellen, das heißt den Wasser-Land-Globus, "die Welt".

Dem Wort "Welt" entspricht keinerlei sensorische Vorstellung in der Umwelt des Kindes. Wenn es sich also eine Idee von der Welt gebildet hat, dann nur aufgrund einer abstrakten Kraft des Geistes, des Vorstellungsvermögens.“ (3, 157)

Alle Fähigkeiten, die ein Kind besitzt, und alle Bewegungen des Geistes, die wir bei ihm beobachten, sind auf ein einziges Ziel ausgerichtet: Den Selbstaufbau der Person. Also ist zu fragen: Welchen Beitrag leistet die Einbildungskraft? Montessori entwickelt die Antwort zunächst im Blick auf das Welt-Lernen, die Kosmische Erziehung. Dies deutet sich schon in dem zitierten Abschnitt an. An anderer Stelle handelt sie weiterführend über den „richtigen Gebrauch der Einbildungskraft“ (4,43 ff). Sie entwickelt dies im Blick auf die Entwicklungsstufe zwischen 6 und 12 Jahren, die sie als „eine Art sensibler Periode der Vorstellungskraft“ bezeichnet (12, 51). Sie berichtet, wie diese universale Sicht ein sechsjähriges Kind packt „und mit Begeisterung für etwas außerhalb seiner bisherigen Grenzen erfüllt, etwas, was nicht zu seiner physischen Umgebung gehörte, was es nicht mit der Hand ergreifen konnte.“ (4, 46) Es spürte, dass die Einbildungskraft die Macht hatte, „es aus seiner kleinen Welt in größere Reiche zu tragen und mit großen Schritten in das unbekannte Universum zu führen.“ (4, 46)

Das Kind ist begeistert von der Möglichkeit, in immer weitere Räume der Erkenntnis vorzudringen und damit seinen Geist zu kräftigen und zu klären. Folgerichtig schreibt Montessori: „Das Geheimnis guten Unterrichts liegt darin, die Intelligenz des Kindes als ein fruchtbares Feld zu betrachten, auf das Saat gestreut werden kann, damit sie unter der flammenden Wärme der Phantasie wachse. Daher ist es unser Ziel, das Kind nicht nur zum bloßen Verstehen zu führen, und noch weniger zum Auswendiglernen zu zwingen, sondern seine Phantasie anzustoßen, so daß es sich zutiefst begeistert. Wir wollen keine selbstzufriedenen Schüler, sondern leidenschaftliche…“ (4, 47)

Ein anderes Feld, in dem die Einbildungskraft den Aufbau der Person stimuliert und vorantreibt, ist die künstlerische Gestaltung. Dazu später mehr.

2.2. Die Abstraktionsfähigkeit

Ihre Ideen über die Grenzüberschreitungen des menschlichen Geistes führt Montessori mit diesem Gedankengang weiter:

„Der menschliche Geist hat von Natur aus nicht nur die Fähigkeit, sich Dinge vorzustellen, die er nicht vor sich sieht, sondern auch die Fähigkeit, Synthesen zu machen, das heißt aus den unzähligen Dingen der Umgebung ein Alphabet herauszuziehen. Diese Fähigkeit ist die natürliche Veranlagung des Geistes zur Abstraktion. Die, die das Alphabet erfanden, hatten diese Fähigkeit der Abstraktion: Sie legten die wenigen Laute fest, aus denen sich Worte zusammensetzen. Daher ist eben das Alphabet etwas Abstraktes, während die Worte wirklich bestehen. Besäße der Mensch nicht die Einbildungs- und Abstraktionsfähigkeit, wäre er nicht intelligent, oder seine Intelligenz würde der der höheren Tiere ähneln: sie wäre statisch und begrenzt auf die Bedürfnisse seines speziellen Verhaltens und daher ohne Entwicklungsmöglichkeit.

Nun sind aber die Abstraktionen genau begrenzt, während die Vorstellungskraft ins Unendliche eindringen kann. Die Grenzen sind um so wertvoller, je genauer sie sind. Sie stellen auf geistigem Gebiet eine Art Präzisionsorgan dar, das zur Orientierung im Raum notwendig ist, wie die Uhr zur Orientierung in der Zeit benötigt wird.“ (3, 164)

2.3. Resümee

Fassen wir mit einigen Sätzen Montessoris zusammen:

„Diese beiden Eigenschaften des Geistes, die über das einfache Wahrnehmen der Dinge hinausgehen, stehen beim geistigen Aufbau in Beziehung zueinander. Beide sind für den Aufbau der Sprache notwendig: einerseits das Alphabet in seiner Genauigkeit und andererseits die grammatikalischen Regeln, die eine unendliche Anreicherung des Wortschatzes erlauben. Die Worte müssen sich in ein genaues Schema der Laute und der Grammatik einordnen, damit sie gebraucht werden zur Anreicherung der Sprache.

Beim Aufbau der Sprache geschieht dasselbe wie beim geistigen Aufbau.

Wenn man sagt: ‚Dieses Individuum hat einen unsteten Geist; es ist intelligent, aber unentschieden’, bedeutet das, daß es Ideen ohne eine Ordnung entwickelt. Von einem anderen sagt man hingegen: ‚Das ist ein klarer Kopf, er weiß die Umstände einzuschätzen.’“(3, 164)

„Wir müssen in der Erziehung den zwei geistigen Eigenschaften Rechnung tragen. Obwohl die eine der beiden in jedem Individuum vorherrscht, müssen beide Eigenschaften nebeneinander bestehen und sich ergänzen. Würde die geistige Erziehung der Kinder nur der Einbildungskraft Rechnung tragen, führte das zu Unausgeglichenheit und schüfe ein Hindernis für die nützliche Orientierung in der Welt, das heißt, um zu praktischer Entscheidung im Leben zu kommen" (3, 165).

3. Schöpferisches Potential und schöpferischer Prozess bei Maria Montessori

Nach dem Blick auf die anthropologischen Basisaussagen zur Fähigkeit des menschlichen Geistes, Grenzen zu überschreiten, wenden wir uns jetzt der schon kurz angesprochenen künstlerischen Gestaltung zu. Dabei werde ich mich stärker auf den Aspekt des bildnerischen Gestaltens konzentrieren, weil hier die Quellen noch nicht so intensiv erschlossen sind.

Wie gesagt, sind die direkten Aussagen Montessoris zum Gestalten des Kindes spärlich. Dennoch lassen sich einige Grundgedanken bestimmen. (Da die Quellen bisher nicht besonders intensiv ausgeschöpft sind, werde ich mit längeren Zitaten arbeiten)

Die Basisaussage: „Dante, Milton, Goethe, Raffael und Wagner sind große Geheimnisse, Wunder an Intelligenz, die nicht mit dem einfachen Beobachten und Überlegen in Verbindung gebracht werden können. Und doch hat jeder Mensch seinen Teil künstlerischer Einbildungskraft, seinen Trieb, das Schöne mit seinem Geist zu schaffen. Aus der Entwicklung dieses Triebes stammt der ganze reiche Kunstschatz, der wie Goldstaub überall dort ausgebreitet ist, wo intensives kulturelles Leben geherrscht hat; überall dort, wo die Intelligenz Zeit hatte, in Frieden zu reifen… Diese vielfältige Schöpfung des inneren Menschen umhüllt ihn dann und schützt seine geistigen Bedürfnisse wie die schillernde Muschel das Weichtier.

Außer der Tätigkeit der Beobachtung der materiellen Wirklichkeit gibt es eine schöpferische Arbeit, die den Menschen von der Erde erhebt und ihn in eine höhere Welt trägt, in die jede Seele gemäß ihrer eigenen Grenzen gelangen kann.“ (2,227)

Was ist diesem Text zu entnehmen?

Jeder Mensch hat die Fähigkeit und das Bedürfnis, sich schöpferisch durch künstlerisches Gestalten auszudrücken; wenn man so will, kann man von einer Gestaltungs- oder Kreativ-Nebula im Denken Montessoris sprechen: Schöpferisches Gestalten gehört zur humanen Grundausstattung. Daraus hebt sie allerdings deutlich die Menschen heraus, deren Genialität sie zur Schaffung großer Kunstwerke befähigt.

Diese Kreativ-Nebula differenziert sich dreifach:

Kreatives Gestalten im Blick auf Sprache (dazu gehört auch Theaterspielen).

Kreatives Gestalten im Blick auf Bildende Kunst.

Kreatives Gestalten im Blick auf Musik.

Aus anderen Äußerungen kann man noch einen vierten Aspekt hinzufügen: Rhythmus, Bewegung und Tanz gehören bei ihr zu den wichtigsten Ausdrucksformen; es kommt also hinzu:

Kreatives Gestalten im Blick auf Körpersprache (auch hier kommt der Aspekt des Theaterspielens noch einmal ins Spiel).

Dies fasse ich in einer Übersicht zusammen:

Montessori hat sehr genaue Vorstellungen, wie künstlerische Gestaltungen zu Stande kommen: „Niemand kann jedoch sagen, dass der Mensch die künstlerischen Erzeugnisse aus dem Nichts erschaffe. Das, was Schöpfung heißt, ist in Wirklichkeit eine Komposition, eine Konstruktion aus dem einfachen Material des Geistes, das mit den Sinnen aus der Umgebung aufgenommen werden muss.“ (2, 227)

An diesem Satz fallen zwei Gedanken auf:

Einmal: Schöpferisches Tun ist eine Komposition aus dem durch die Sinneswahrnehmung gewonnen Material – hier zeigt sich ein fast konstruktivistischer Ansatz. Allerdings geht es um einen frei gestaltenden, souveränen Umgang: „Natürlich setzt der Künstler nicht, wenn er schafft, die einzelnen Teile wie in einem Mosaik zusammen: Im Schwung der Inspiration sieht er in sich die aus seinem Genie geborene neue Gestalt; aber sie wird von den angehäuften Einzelheiten genährt, so wie das Blut den neuen Menschen im Mutterleib nährt.“ (2, 233)

Und: Schöpferisches Tun ist ohne Rückgriff auf die sinnliche Wahrnehmung nicht möglich; sonst wäre es nichts anderes als ein „zügelloses Schweifen der Phantasie in Bildern von Licht, Farben, Klängen…“. (2, 230) Erst „Maß und Gestalt verleihen der geistigen Schöpfung Kraft.“ (2, 232)

Ganz allgemein hält sie fest: „Der Geist, der allein arbeitet, unabhängig von der Wirklichkeit, arbeitet im Leeren.“ (2, 225)

4. Die Förderung des schöpferischen Potentials – Zur praktischen Lerngestaltung bei Montessori

Wie unterstützt Montessori die Ausbildung der gestalterischen Fähigkeiten?

4.1. Kunsterziehung in den Entwicklungsphasen

Montessoris Ideen zur bildenden Kunst sind in ihren eigenen Werken nicht so reich dokumentiert wie etwa die Ausführungen zur musikalischen Erziehung.

Im Blick auf das Kinderhaus können wir v.a. auf die knappe Darstellung in „Entdeckung des Kindes“ zurückgreifen. Montessori beginnt mit einer zugespitzten Aussage: „Das sogenannte freie Zeichnen hat in meiner Methode keinen Eingang gefunden, ich vermeide unreife Versuche, die unnötig anstrengen, sowie die abscheulichen Zeichnungen, die in modernen fortschrittlichen Schulen so sehr geschätzt werden. Wie dem auch sei, unsere Kinder zeichnen ornamentale Motive und Figuren sehr viel klarer und harmonischer als es bei dieser seltsamen Kleckserei des sogenannten ‚freien Zeichnens’ möglich ist, wo das Kind erklären muss, was es mit seinen unverständlichen Versuchen darzustellen beabsichtigt.“ (1, 310)

Statt dessen stellt sie fest: „Wir lehren Zeichnen nicht durch Zeichnen, sondern indem wir die Möglichkeit zur Schulung der Ausdrucksmittel geben.“ (1, 310). Sie bevorzugt also eine „indirekte Methode“ (1, 311). Als Basis ist wieder an die Umgebung zu denken. Die Erzieher sollten die „großen Kunstwerke“ und „Kulturleistungen der Wissenschaft“ (2, 238) als vorbereitete Umgebung für die Entwicklung der schöpferischen Einbildungskraft auffassen und bereit stellen.

Weiterhin geht es auch am Anfang der Kunsterziehung um eine intensive Wahrnehmungsschulung mit Hilfe der Sinnesmaterialien. Das bezieht sich ganz allgemein auf die Fähigkeit zur Beobachtung. Montessori ist überzeugt, dass die aufmerksame Beobachtung der Wirklichkeit eine unabdingbare Voraussetzung für kreative Aktivitäten ist und hält fest: „Wenn also die Einbildungskraft die Beobachtung der Wirklichkeit zur Grundlage hat und wenn ihre Vervollkommnung in Beziehung zur Genauigkeit der Beobachtungen steht, muss man die Kinder darauf vorbereiten, exakt die Dinge ihrer Umgebung wahrzunehmen, um ihnen auf diese Weise das Material für die Einbildungskraft zu sichern.“(2, 236) Sie berichtet aber auch ausführlich über die Schulung des Farbsinns durch die Farbtäfelchen (1, 179 f)

Schließlich ist als indirekte Schulung die Ausbildung der Hand zu nennen. Hier verweist sie vor allem auf die Übungen zur Vorbereitung des Schreibens.

Im Blick auf das methodische Erlernen gestalterischer Techniken bevorzugt Montessori bei der Schulung der zeichnerischen Fähigkeiten das „Schraffieren“, d.h. das methodische Ausfüllen vorgegebener Formen, das auch aus der Vorbereitung des Schreibens bekannt ist.

Bei der Übung farblicher Gestaltung notiert sie: „So stellen wir Pinsel und Wasserfarben zur Verfügung, mit denen man Zeichnungen machen kann, ohne dass ihre Umrisse vorher gezogen wurden. Wir geben den Kindern auch Pastellstifte und zeigen, wie sie zu benutzen sind.“ (1, 311)

Als drittes Element benennt Montessori Kompositionsübungen durch Ausschneiden kolorierter Karten.

Insgesamt orientiert Montessori sich am Prinzip der Analyse bzw. Isolierung der Schwierigkeit.

Für die zweite Entwicklungsphase ist in der deutschsprachigen Montessori-Literatur zum Thema „Kunsterziehung“ wenig Praktisches zu finden. Zwar hat sie in „Schule des Kindes“ ein ausführliches Kapitel über „Die Einbildungskraft“ geschrieben, doch hier geht es vor allem um eher grundsätzliche Aspekte der Entwicklung des schöpferischen Potentials. Für die Praxis müssen wir auf Passagen aus der italienischen Fassung zurückgreifen, die in der deutschen Übersetzung des Buchs fehlen. (9) Im Blick auf diese Phase hat Montessori das intensivierte und vertiefte Erlernen der gestalterischen Mittel im Auge. Sie schreibt: „Alle frühen Übungen bereiten die Kunst des Zeichnens vor. Sie entwickeln im Kind die Geschicklichkeit der Hand, eine geometrische Zeichnung auszuführen und sie bereiten sein Auge vor, die Harmonie der Verhältnisse zwischen Figuren zu schätzen. Die zahllosen Erfahrungen bei den Zeichnungen, die Gewohnheit genauer Beobachtung natürlicher Gegenstände sind andere Vorbereitungen. Wir können jedoch sagen, dass die ganze Methode, die zugleich Auge und Hand erzieht und das Kind darin übt, zu beobachten und Arbeiten mit intensiver Hingabe auszuführen, die mechanischen Mittel für das Zeichnen vorbereitet, während der Geist, der frei bleibt, seinen Flug zu nehmen und zu schaffen, bereit ist zu produzieren.

Durch seine Entwicklung wird das Kind vorbereitet auf den wundervollen Ausdruck der menschlichen Intelligenz, worin das Zeichnen besteht. Die Fähigkeit, Wirklichkeit zu sehen in Form, in Farbe, in Proportion und die Bewegungen der eigenen Hand zu meistern – das ist es, was notwendig ist. Inspiration ist eine individuelle Sache und wenn beim Kind diese bildenden Vorbereitungen da sind, so kann es allem Ausdruck geben… Die Vorbereitung der Sinne und der Hand für das Zeichnen ist nichts anderes als ein Alphabet.“ (9,16f)

An diesem Abschnitt sind zwei Punkte interessant: Die Methoden, die die Kinder bereits (teilweise) im Kinderhaus kennen gelernt haben, werden nun sicher und gezielt gehandhabt.

Und: Montessori weist sehr entschieden darauf hin, dass diese „Alphabetisierung“ nicht nur eine Vorbereitungs-, sondern auch eine Entlastungsfunktion für den Schaffensprozess wahrnimmt: Werden die Gestaltungsmittel sicher beherrscht, bleibt der Geist frei zum kreativen „Fliegen.“ Sie trägt hier einen ganz ähnlichen Gedankengang vor wie in Ihrem bereits genannten Vortrag zur „Analyse“ in Bezug auf kreatives Schreiben und auf musikalisches Gestalten: „Wenn wir der schöpferischen Tätigkeit freien Lauf lassen und sie von anderen Elementen vorbereitender oder vervollkommender Art freihalten, werden wir höchst überraschende Fortschritte erleben. Die Tätigkeit wird dann eine echte Innovation darstellen und Merkmale wirklicher Originalität tragen. Die Elemente, die zur Vorbereitung dienen, können für sich herausgearbeitet werden und können nach und nach dazu beitragen, den Aufsatz zu vervollkommnen, genauso wie der Verfasser Schritt für Schritt in seiner Bildung fortschreitet. Die schöpferischen Fähigkeiten können frei und ungehemmt wie aus einer Quelle fließen. Kurzum, wir sollten eher den Menschen als den Aufsatz verbessern und vollkommener machen. Regeln und Gesetzmäßigkeiten kann das Kind schon viel früher und bei ganz anderen Gelegenheiten erlernen als dann, wenn es von der Inspiration ergriffen wird. Solche auch für sich interessanten Regeln und Gesetze könnten noch interessanter sein, wenn sie sich als Hilfe angesichts eines spürbaren Bedürfnisses herausstellen und nicht als Hindernis für die Schaffensfreude und für die Freude am Denken erscheinen.“ (10, 70)

Die dritte Phase (12-18) charakterisiert Montessori so: Sie ist „durch einen Zustand der Erwartung gekennzeichnet, durch die Bevorzugung von schöpferischen Arbeiten und durch das Bedürfnis, das Selbstvertrauen zu stärken.“ (4, 133)

Montessori hat im Rahmen des Bildungsprogramms „Erdkinderplan“ als einen zentralen Studieninhalte genannt:

„1. Den Weg zu den Möglichkeiten eines persönlichen Ausdrucks des Jugendlichen öffnen, d.h. durch Übungen und durch äußere Mittel die Entwicklung seiner inneren Personalität erleichtern“. (4,148) Sie nennt als Formen zur Förderung der Ausdrucksfähigkeit: Musik - Sprache - Bildnerisches Arbeiten in verschiedenen Formen. Offenbar hat Montessori ein Lernen in der Art der heutigen Ausdruckspädagogik im Sinn, die die ganzheitliche Förderung der Persönlichkeit durch expressives Tun anstrebt.

Heranwachsende, die auf diesem Weg des aufschluss-reichen Lernens den sicherem Umgang mit den eigenen Ausdrucksmittel erlernt haben, können in freier Gestaltung verarbeiten, was sie sehen und erleben und damit ihre Person aufbauen.

Ausdrücklich betont sie: „Es handelt sich nicht darum, diese Arbeiten als ein echtes künstlerisches Studium zu betrachten; sie sind lediglich dazu bestimmt, den persönlichen, künstlerischen Ausdruck der Empfindungen zu erleichtern, verbunden mit einer manuellen Tätigkeit, um die modernen Techniken zu erlernen.“ (4, 149)

4.2. Übersicht über die Lerninhalte der bildnerischen Erziehung

Auch hier bietet sich ein zusammenfassender Überblick an.

4.2.1. Vorbereitende Übungen

Montessori legt großen Wert auf die Wahrnehmungsschulung und Befähigung zur genauen Beobachtung als Voraussetzung für bildnerisches Gestalten; das ist in anderem Zusammenhang noch ausführlich zu diskutieren.

Außerdem ist hier die Schulung der Hand zu nennen, die nicht nur für das Schreiben, sondern auch für das Gestalten von großer Bedeutung ist.

4.2.2. Übungen zur direkten Vorbereitung des bildnerischen Gestaltens

Montessori hat sehr klare Vorstellungen über das planvolle Erlernen bildnerischer Methoden. Dies zieht sich durch alle Entwicklungsphasen hindurch. Offensichtlich ist dies ihr wichtigstes Angebot für die künstlerische Ausbildung der Kinder: Wo die Techniken sicher beherrscht werden, öffnet sich der Raum für eigenes schöpferisches Tun der Kinder und Jugendlichen.

4.2.3. Kunstwerke betrachten

Montessori misst der Betrachtung von Kunstwerken große Bedeutung zu. Diese haben ihren Ort in der vorbereiteten Umgebung; sie haben die Funktion, die Kreativität der Kinder anzuregen, zu klären und zu vertiefen. Allerdings fällt auf, dass Montessori offenbar nicht an das verstehende Erschließen denkt, wie es im musikalischen Lernen zu erkennen ist. Ganz deutlich zeigt sich dies im Blick auf die dritte Entwicklungsphase: In der musikalischen Erziehung lernen die Jugendlichen durch Aufführungen Komponisten und die charakteristischen Merkmale ihrer Tonsprache kennen; etwas Vergleichbares ist für den Bereich "Kunst" nicht ausdrücklich vorgesehen.

Insgesamt muss man feststellen, dass der Aspekt der Kunstbetrachtung bei Montessori eher stiefmütterlich behandelt wird.

4.2.4. Bildnerisch gestalten

Es versteht sich (fast) von selbst, dass das kreative Tun der Kinder und Jugendlichen breiten Raum einnimmt. Wie beim musikalischen Lernen ist dies immer eine spontane Arbeit der Kinder. Montessori gibt keine Anregungen oder Anweisungen für die Erzieherinnen und Lehrerinnen, sondern berichtet immer wieder fasziniert von bildnerischen Aktivitäten, die sie beobachtet,

Insgesamt fällt auf, dass die Hinweise und Berichte Montessoris zum bildnerischen Lernen deutlich schmaler ausfallen als im Bereich des musikalischen Lernens. Das hat wohl verschiedene Ursachen. Einmal kommen ganze Erfahrungs- und Arbeitsfelder bei der Kunst nicht zum Zug, vor allem die Bereiche des Reproduzierens und des ganzheitlichen Erlebens, die sich bei der Musik fast von selbst anbieten. Außerdem ist - wie bereits angesprochen - der Aspekt der reflexiven Auseinandersetzung weitgehend ausgeblendet.

Vermutlich hängt die Enthaltsamkeit im Blick auf die Kunst auch damit zusammen, dass sie hier nicht - wie in der Musik - kongeniale und die Sache vorantreibende Mitarbeiterinnen hatte; Anna Maccheroni und Elise Braun-Barnett haben sie sicher beflügelt. - Dann ist auch daran zu denken, dass im musikalischen Bereich interessante und attraktive Materialien zur Verfügung standen, die für die Kunst nicht vorlagen… daran hat sich bis heute kaum etwas geändert.

5. Montessori zeitgemäß lesen

5.1. „Montessori-Hermeneutik“

Nach der Darstellung der mehr praktischen Aspekte der Musik- und Kunstziehung bei Montessori bleibt ein gewisses Unbehagen zurück:

War das schon Alles? Eigentlich hätte man sich von ihr wohl anregendere und reichhaltigere Ideen versprochen.

Was ist zu tun? Müssen wir Montessoris Vorschläge zur ästhetischen Bildung respektvoll bedauernd aus der Hand legen, weil sie nicht ergiebig genug sind?

Oder zeigen sich Wege zu einem vertieften Verständnis?

Ich konnte nicht glauben, dass das in Montessoris Schriften Beobachtete zum Thema „Bildnerisches Gestalten“ schon alles ist, was sie dazu zu sagen hat! Ich begann, nach einem „hidden curriculum“ hinter ihren Ausführungen zu suchen.

Wir stoßen hier auf ein Problem, das sich immer wieder bei Lektüre von Montessori-Texten stellt, nämlich die Frage des zeitgemäßen Verstehens, also die Entwicklung einer Montessori-Hermeneutik.

Beim Studium der Sekundärliteratur fällt auf, dass die Montessori-Rezeption sich nicht selten in der Ordnung, Reflexion und Wiedergabe ihrer Prinzipien, Gedanken und Konzepte erschöpft. Zweifellos ist diese Treue zum Werk ein unabdingbares Element in der Montessori-Rezeption; aber sie ist in meinen Augen der erste Schritt; als zweiter Schritt muss eine produktive, den Problemen, Fragestellungen und Einsichten unserer Zeit und Situation verpflichtete Reflexion hinzukommen. Wird dieser nicht getan, dann bleibt die Besinnung auf Maria Montessori in einer feierlichen, aber letztlich folgenlosen Rezitation des veröffentlichten Werks stecken. Ich meine, Montessoris eigenes Denken war in ihrer Zeit so fruchtbar, dass es ihren eigenen Grundsätzen zuwiderläuft, ihre Gedanken einfach nur als "versiegelte Pakete, die niemand öffnet", weiter zu reichen. Sie selbst ging produktiv, weiterführend, widersprechend mit den Gedanken derer um, auf die sie sich bezog. Diese Freiheit und Produktivität des Denkens und Verarbeitens muss auch für die heutige Rezeption der Montessori-Pädagogik gelten!

Wenn es darum geht, Montessoris Werk zu verstehen, müssen auch Widersprüche und offene Fragen erkannt und anerkannt werden.

Sie kommen u.a. zustande durch:

Weiterentwicklungen ihres Denkens im Lebenslauf. Teilweise hat sie diese Entwicklungen auch ausdrücklich wahrgenommen und geäußert; rückblickend: auf ihre Anfangszeit bemerkt sie: "Indessen war ich zu dieser Zeit materialistisch genug, solche Reflexionen nicht anzustellen; ich war zu sehr Arzt und Psychologe, d.h. experimenteller und medizinischer Psychologe, also oberflächlich.“ (11, 75)

Dies wird bei Montessori dadurch verstärkt, dass sie sich ja oft nicht in systematischen Abhandlungen geäußert hat, sondern vielfach in Vorträgen, die einen spezifischen Kontext bieten.

Bei Darstellungen von Montessoris Denken sind diese Widersprüche zu verorten und stehen zu lassen (gegen alle Versuche, so etwas wie „die“ Montessori-Pädagogik zu beschreiben. Dies ist auch ein gutes Warnzeichen im Blick auf die Gefahr der Ideologisierung!)

Bevor ich versuche, Montessoris Grundgedanken zum ästhetischen Lernen in die Gegenwart weiterzuführen, werfe ich noch einen Blick auf die bisher geläufige Rezeption, vor allem von Paul Drücke vertreten.

5.2. Die Montessori-Rezeption bei Paul Drücke