Kinder mit herausforderndem Verhalten - Maja Nollau - E-Book

Kinder mit herausforderndem Verhalten E-Book

Maja Nollau

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Beschreibung

Verhaltensauffällige Kinder stellen im pädagogischen Alltag oft eine Herausforderung für Erzieher und Erzieherinnen dar. Welches kindliche Verhalten wird in der fachlichen Auseinandersetzung als auffällig verstanden? Welche Ursachen und welche Bedeutung hat es? Und welche Unterstützung kann und muss eine pädagogische Fachkraft für eine gute Entwicklung des Kindes leisten? Anhand zahlreicher Praxis-Beispiele vermittelt das Buch neben Fachwissen und methodischen Handlungsaspekten auch Grundlagenwissen zu Ursachenforschung, Intervention und Prävention. Mit Checklisten und Arbeitshilfen zur Reflexion und Planung des eigenen pädagogischen Handelns.

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Seitenzahl: 260

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Maja Nollau

Kinder mit herausforderndem Verhalten

Maja Nollau

Kinder mit herausforderndem Verhalten

wahrnehmen – verstehen – begleiten Ein heilpädagogisches Handlungskonzept

Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe des TitelsKinder mit auffälligem Verhalten 2020 (2. Gesamtauflage)

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, KarlsruheUmschlagmotiv: © Klara Killeit, Freiburg

Fotos im Innenteil auf den Seiten 11: © anaumenko – AdobeStock, 33: © Juanmonino – iStock, 55: © Bicho_raro – iStock, 65: © Jan Tepass – Mauritius Images, 93: © Angela Reik – Mauritius Images, 119: © MIA Studio – AdobeStock, 149: © Mr. Nico – Photocase

Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG

ISBN EBook (PDF) 978-3-451-82161-5ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-82174-5ISBN Print 978-3-451-38786-9

Inhalt

Vorwort

1. Was heißt das: herausforderndes Verhalten?

1.1 Verhalten versus Verhaltensauffälligkeit

1.2 Verhaltensstörung

1.3 Erscheinungsformen von Verhaltensauffälligkeiten

1.4 Bedeutung der Sichtweise

2. Wie entsteht herausforderndes Verhalten?

2.1 Ursachenanalyse: Risiko- und Schutzfaktoren in der Entwicklung

2.2 Biophysische und psychologische Erklärungsmuster

2.3 Soziologische Erklärungsmuster

2.4 Das biosozial-interaktionistische Erklärungsmodell

3. Heilpädagogik – Erziehung unter „erschwerten Bedingungen“

3.1 Heilpädagogik – Ethos, Beruf und Handlungswissenschaft

3.2 Grundlagen des heilpädagogischen Handlungskonzepts

4. Welche Bedeutung haben Bindung, Beziehung und Gesellschaft?

4.1 Bindung und Beziehung in der Entwicklung

4.2 Bedeutung der Spiegelneuronen

4.3 Rolle der Bezugsperson und der gesellschaftlichen Konventionen

4.4 Heilpädagogische Beziehungsgestaltung

5. Welche Phänomene menschlicher Existenz betrachtet die Heilpädagogik?

5.1 Die Phänomene Leiblichkeit, Sprachlichkeit, Bewegung und Tätigkeit

5.2 Die Phänomene Spielen und Lernen

5.3 Entwicklungsbegriff in der Heilpädagogik

6. Wie wird herausforderndem Verhalten in der heilpädagogischen Praxis begegnet?

6.1 Verhalten wahrnehmen und verstehen

6.2 Bedeutung heilpädagogischer Diagnostik

6.3 Hilfe- und Förderplanung

7. Welche Handlungsmöglichkeiten sind bedeutsam in der heilpädagogischen Praxis?

7.1 Gestaltung der Lebenswelt

7.2 Zusammenarbeit mit den Eltern

7.3 Systemische Fallarbeit

7.4 Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Schlusswort

Anhang

Vorgehen bei der Anamnese

Beobachtungskriterien für die förderdiagnostische Einschätzung

Beobachtungsbogen – Beobachtungsprotokoll

Differenzierung und Konkretisierung der einzelnen Entwicklungs- und Förderbereiche

Literatur & Links

Über den Autor

Vorwort

In der aktuellen Diskussion in pädagogischen Tätigkeitsfeldern, den Medien, in der Politik oder auch in Alltagsgesprächen stehen immer wieder Phänomene, die verstärkt auftreten, im Mittelpunkt. Dazu gehören Gewaltbereitschaft, Schulphobien oder -verweigerung, Mobbing bei Jugendlichen sowie Kinder, die als hyperaktiv, aufmerksamkeitsgestört, sprachentwicklungsverzögert oder als in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung auffällig erscheinen.

Nicht selten reduziert sich der soziale, gesellschaftliche und politische Umgang mit Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen dabei auf die medizinisch-therapeutische Behandlung. Kinder, die schwierig oder auffällig erscheinen, werden als störend erlebt und bezeichnet, weil sie Eltern und Fachleute aus Pädagogik und Therapie in Schwierigkeiten bringen.

Häufig gerät dabei aus dem Bewusstsein, dass es sich zunächst einmal um eine Zuschreibung durch die Erwachsenenwelt handelt. Erwachsene besitzen die Macht, kindliches Verhalten als schwierig, auffällig oder gestört zu definieren und die Lebenswelt des Kindes wesentlich zu beeinflussen. Dabei wird vergessen, dass alle Menschen grundsätzlich Teil eines gesellschaftlichen Systems sind und damit auch stets nach dem gesellschaftlichen Anteil an derartigen Phänomenen zu fragen ist.

Die Tendenz, herausforderndes Verhalten zu individualisieren („Das Kind hat eine Störung“), zu biologisieren („Es ist ein medizinisch-organisches Problem“) oder zu pathologisieren („Es ist eine Krankheit“), widerspricht jedoch den Grundannahmen einer modernen Pädagogik, der Heil- und Sonderpädagogik, die dieses Verhalten als ein pädagogisches bzw. erzieherisches und gesellschaftliches Phänomen anerkennt.

Die fachliche (heil-)pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit auffälligem, herausforderndem Verhalten beginnt mit der Auseinandersetzung mit den persönlichen (Lebens-)Erfahrungen. Das Bewusstmachen und Bewusstwerden eigener stärkender und schwächender Erfahrungen und damit der Anteil der eigenen reifen (erwachsenen) Persönlichkeit sind neben spezifischem Fachwissen die Voraussetzung für eine unterstützende, qualitative und wirksame Begleitung eines Kindes. Diese bewusste Auseinandersetzung und eine reflektierter Haltung der Fachkräfte sind besonders im elementarpädagogischen Bereich notwendig, da in diesem Lebensabschnitt die Grundlage insbesondere der sozial-emotionalen Entwicklung (Bindungs- und Beziehungs-, Lern- und Leistungsfähigkeit, Selbst- und Weltvertrauen, Motivation), aber auch der Kommunikations-, Sprach- und Intelligenzentwicklung gelegt wird.

Die Erzieherin und der Erzieher (griech.: pädagogos) sind Begleiter auf dem Lebensweg eines Menschen. Sie begleiten ein Kind auf seinem Weg zu Bildung, Partizipation und Enkulturation. Insbesondere im Tätigkeitsbereich Tagespflege, Kinderkrippe, Kindergarten und Grundschule ist zudem die Fähigkeit der Pädagogin bzw. des Pädagogen, über den „eigenen Tellerrand“ hinauszuschauen, wichtig, um qualitativ hochwertige Arbeit leisten zu können. Das bezieht sich sowohl auf persönliche Vorstellungen, Erwartungen, Werte und Normen als auch auf das Berufsfeld. Es genügt nicht, die eigene berufliche (und private) Alltagswelt zu erkennen und sich darauf in seinem beruflichen Verstehen und Handeln zu beschränken. Das Interesse am vergangenen und zukünftigen Leben des zu begleitenden Kindes – über die Kindergartenzeit und die Erreichung der Schulfähigkeit hinaus – gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen (heil-)pädagogischer Arbeit.

Dieses Buch nähert sich der Thematik „Kinder mit herausforderndem Verhalten“ über verschiedene Fragestellungen:

Was unterscheidet herausforderndes Verhalten von Verhaltensauffälligkeit und Verhaltensstörung?Wie entsteht herausforderndes Verhalten?Welche Ursachen und Erscheinungsformen sind bekannt?Welche Bedeutung hat (heil-)pädagogische Arbeit für die Verringerung, gar Beseitigung von auffälligem, herausforderndem Verhalten?Wie beeinflusst ein umfassendes Verstehen das erzieherische Handeln?Welche Handlungsschritte sind notwendig und möglich?Welche Rolle spielen in der pädagogischen Arbeit mit Kindern mit herausforderndem Verhalten die Zusammenarbeit mit Eltern (u.a. niedrigschwellige Angebote), Teamarbeit, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Netzwerkarbeit?Aus welchen Gründen ist ein heilpädagogisches und inklusives Verständnis für eine „nachhaltig“ wirksame Pädagogik notwendig?

Im Fokus moderner (heil-)pädagogischer Zielsetzung scheinen zunehmend wieder Aspekte wie Leistung, Effizienz, Förderung und Training kognitiver und sozialer Fähigkeiten und der Erwerb kultureller (Vor-)Fertigkeiten zu stehen. Diese Entwicklung und die zunehmende Fixierung auf Förderdiagnostik und Förderpläne bei abweichenden kindlichen Entwicklungsverläufen sind bedenklich und (sehr) kritisch zu betrachten.

Beispiel aus der jüngsten Praxis einer integrativen Kindertagesstätte

Eine Mutter antwortet auf die Frage der Heilpädagogin, was sie sich für ihr dreijähriges Kind in der Tageseinrichtung wünsche und erwarte: „Ich erwarte, dass Sofie endlich ordentlich laufen und sprechen lernt, und Sie alles dafür tun, dass sie die Dinge aufholt, die sie bis jetzt noch nicht gelernt hat. Sie soll mal den bestmöglichen Abschluss machen und unser Geschäft übernehmen.“

Sitte und Anstand sowie die Einhaltung von Sekundärtugenden und Leistungsfähigkeit sind noch immer zentrale gesellschaftliche Prinzipien. Doch geraten dabei wesentliche Grundlagen in Vergessenheit, die die Basis für kindliche Entwicklung und Bildung darstellen. Dazu gehören:

Zeit, Muße und Ruhe zu haben,

die Notwendigkeit, innere Welten eines Kindes zu erreichen,

die Schaffung echter – für das Kind in seiner Lebensphase bedeutsamer – Erfahrungen in der Beziehung zum Gegenüber,

eine sichere Bindung zu entwickeln,

die Anerkennung der eigenen wie der fremden Persönlichkeitsmerkmale und schließlich

das notwendige Wissen – auch im Kontext des Lernens, der Gemeinschaft –, um Überraschendes, Unplanbares, den Raum für Nicht-Messbares, also spielerische Auseinandersetzung beim Lernen, mit dem Lerngegenstand in Raum und in Bewegung nutzen zu können.

Eine Vertrauen schaffende, auf einen wertschätzenden, gleichberechtigen Dialog orientierte Beziehung ist die Grundlage einer zeitgemäßen Pädagogik. Jedes Kind sollte in seiner Würde geachtet, in seiner Ganzheit wahrgenommen, verstanden, angesprochen, wertgeschätzt und in seiner individuellen Entwicklung seinen Möglichkeiten entsprechend begleitet werden.

Maja Nollau

1.

Was heißt das: herausforderndes Verhalten?

In diesem Kapitel erfahren Sie

was unter Verhalten verstanden wirdwann das Verhalten eines Kindes als auffällig beurteilt werden kannwelche Bedeutung dem Beurteilenden und der Gesellschaft bei der Klassifizierung eines Verhaltens als herausfordernd zukommt

1.1 Verhalten versus Verhaltensauffälligkeit

Die Begrifflichkeiten Verhalten und verhaltensauffällig werden in vielen unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet: „Miriam verhält sich vorbildlich.“ „Warum verhältst du dich so?“ „Jakob stört alle, sein Verhalten ist wirklich auffällig.“

Der Begriff Verhalten entstammt der Alltagssprache und beschreibt die Handlungen eines Menschen, die aus der Auseinandersetzung mit sich und/oder seiner dinglichen und personellen Umwelt entstehen. Daher kann er nicht eindeutig und abschließend geklärt und die folgende Definition als Annäherung verstanden werden.

Verhalten

ist das Ergebnis integrativer Wahrnehmungsfunktionen und -prozesse und zeigt sich im Wechselspiel zwischen Organismus und Umwelt;beschreibt die Gesamtheit aller von außen beobachtbaren Äußerungen, aller äußerlich wahrnehmbaren und daher auch mit technischen Hilfsmitteln erfassbaren, aktiven Veränderungen, Bewegungen, Stellungen, Körperhaltungen, Gesten sowie mimischen und Lautäußerungen eines Menschen;bezeichnet die Summe der Reaktionsweisen eines Menschen auf Reize aus seinem Körperinneren oder seiner Umgebung; das Spektrum reicht von einfachsten Reaktionen, bis zu willentlichen, komplexen und umweltverändernden Handlungen.

Als Verhalten können einerseits die Gesamtheit solcher Lebensvorgänge, andererseits aber auch einzelne Merkmale in einer bestimmten Zeitspanne bezeichnet werden.

Verhaltensbiologisch wird Verhalten verstanden als eine durch Gene und Lernen beeinflusste Anpassungsleistung eines intakten Organismus an seine Umwelt. Verhalten bezeichnet die Summe der Reaktionsweisen eines Lebewesens (Pflanze, Tier, Mensch) auf Reize aus seiner Umgebung. Auf jeden Trigger folgt eine Reaktion, denn diese „Reizbarkeit“ ist Teil der grundlegenden Definition des Lebens.

Der Begriff der Handlung umfasst neben den Verhaltenskomponenten meist noch die der Motive, also innere bzw. subjektive Elemente. Der Soziologe Max Weber (1864–1920) unterscheidet vier Typen sozialen Handelns:

Zweckrationales Handeln

: Dem Handeln liegt ein bewusstes Zweck-Mittel-Kalkül zugrunde.

Wertrationales Handeln

: Es ist bestimmt durch den bewussten Glauben an den ethischen, ästhetischen oder religiösen Eigenwert eines Verhaltens, unabhängig vom Erfolg.

Affekthandeln:

Dazu gehört insbesondere emotionales Verhalten, das durch situative Affekte bestimmt ist.

Traditionelles Handeln

: Es richtet sich stark nach Gewohnheiten“ (Gabler Wirtschaftslexikon o. J.).

Soziales Handeln umfasst nach Max Weber idealtypisch drei Dimensionen: Tun, Dulden (zulassen) und Unterlassen (nicht handeln).

Beispiel für die Dimensionen

Eine Heilpädagogin beobachtet die Jungen Eric und David, die im Garten des Kindergartens aneinander vorbeigehen. David schleudert Eric derbe Schimpfworte entgegen. Eric schaut hilfesuchend um sich.

Die pädagogische Fachkraft hat drei Möglichkeiten, in dieser sozialen Situation zu handeln:

Sie tut etwas, indem sie l interveniert, David aufhält, eine Klärung der Situation begleitet und dieses Geschehen als inakzeptabel begreifbar werden lässt.Sie duldet das Geschehen, indem sie David seiner Wege gehen lässt, scheinbar ohne zu intervenieren. Sie erwidert Erics Blick bedauernd und beschwichtigendSie handelt nicht, indem sie sich abwendet oder fortgeht.

In einer weiteren Differenzierung können drei Ebenen von Verhalten unterschieden werden:

Unbewusste, biophysiologische oder biochemische Reaktionen des Organismus

(wie Darmtätigkeiten)

Gelernte, routinierte, aber nicht bewusst oder nur unterbewusst gesteuerte Verhaltensweisen (z.B. Angststarre, Flucht)

Bewusstes, gesteuertes Handeln (vgl. Gabler Wirtschaftslexikon o. J.).

Grundsätzlich werden zwei Arten von Ursachen für Verhalten unterschieden und voneinander abgegrenzt:

Proximate Ursachen

sind die unmittelbaren Ursachen: Welche inneren (physiologischen, neurologischen, hormonellen) und äußeren (von der Umwelt verursachten) Faktoren erzeugen ein gerade beobachtbares Verhalten?

Ultimate Ursachen

sind die im Verlauf der Evolution entstandenen Eigenschaften: Auf der Grundlage welcher Gene und welcher ererbten Verhaltensprogramme vollzieht sich das beobachtbare Verhalten?

Häufig muss zudem eine dritte Ursache berücksichtigt werden:

Die Einflüsse früher gezeigter Verhaltensweisen: Welche individuellen Erfahrungen (Lernen, Prägung) beeinflussen den Ablauf des beobachtbaren Verhaltens?

Menschliches Verhalten

ist der Ausdruck inneren Erlebens, Denkens und Fühlens eines Menschen und kann nur im Zusammenspiel von Beziehungen verstanden werden,„ist Ergebnis und Ausdruck situativer Bedingungen, Strukturen, Prozesse und Spielregeln und ist nicht in (der) Person begründet“ (Palmowski 1996, S.198).

Auf der Grundlage dieses Begriffsverständnisses kann man auffälliges Verhalten besser definieren.

Auffälliges Verhalten – Verhaltensauffälligkeit

In der Praxis und Literatur existiert eine Vielzahl an Begriffen, die auf ein Verhalten hinweisen, das vom üblichen Verhalten von Kindern und Jugendlichen gleichen Alters abweicht. Dieses Phänomen ist im Laufe der Entwicklung eines Menschen mitunter stärker, mitunter schwächer zu beobachten und nicht selten Ausdruck einer entwicklungsbezogenen Krise oder temporären Belastung, die mit dem Erreichen des Entwicklungsschrittes oder der Beseitigung der belastenden Bedingungen überwunden ist.

Auffälliges Verhalten

ist eine sensible Reaktion und Ausdruck gestörter Entwicklungs- und Beziehungsverhältnisse, eine Störung in den Systemen (Mikrosysteme: Freundeskreis, Kindergruppe, Familie, Kindertagesstätte, Schule/Hort) oder des gesamten Systems (Makrosystem: gesamtgesellschaftlich, weltpolitisch, global);ist ein kontraproduktiver Versuch, einen Ausgleich zu schaffen, ein verloren gegangenes Gleichgewicht wieder herzustellen. Das Kind kann also als Symptomträger dieser Störungen verstanden werden. Es zeigt stellvertretend für das System auffällige Symptome.

Das Erleben, Fühlen, Denken und Verhalten eines Menschen hängt eng mit seinen basalen Grundbedürfnissen zusammen. Diese sind:

das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung,

das Bindungsbedürfnis, das heißt, ein Bedürfnis nach sozialem Eingebundensein und Zugehörigkeit,

das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle,

das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung,

das Bedürfnis nach Kompetenz und (Selbst-)Wirksamkeit,

das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz (vgl. Grawe 2004).

Beispiel: Katzenkind I

Die Kindertagesstätte liegt in einer Großstadt und verfügt über 212 Plätze für Kinder im Alter von sechs Wochen bis zum Schuleintritt, davon 25 Plätze für Kinder mit bestätigtem besonderem (Förder-)Bedarf. Die Mehrzahl der Familien hat großen Unterstützungsbedarf, zum Teil Fluchterfahrungen hinter sich und verfügt so oft über einen noch ungeklärten Aufenthaltsstatus. Das Team ist seit Jahren unterbesetzt und erklärt, kaum inhaltlich arbeiten zu können und sich häufig überlastet zu fühlen. Die Fluktuation der Fachkräfte in der Kita war in den vergangenen fünf Jahren sehr hoch.

Die Leitung bittet die Fachberatung um Unterstützung bei der Entwicklung der konzeptionellen Arbeit. Gegen acht Uhr morgens betritt die Fachberaterin in der nächsten Woche das Haus: Das neuerrichtete Gebäude wird von einem großen Atrium dominiert, dort befindet sich für alle Kinder der Einrichtung das Kinderrestaurant, in dem Frühstück, Mittagessen und Vesper rotierend eingenommen werden. Eine weite Treppe führt vom Atrium in das obere Geschoß. Ein Kreisgang, von dem die verschiedenen Räume abgehen, umschließt das Atrium. Am Ende der Treppe begegnet der Fachberaterin ein etwa sechsjähriges Mädchen, das auf allen vieren schleicht, dann faucht und mit der „Tatze“ nach ihr schlägt: „Ich bin ein Jaguar. Das bin ich hier immer und ich kann dich kratzen.“ Die Fachberaterin zeigt sich erschrocken: „Oh je, dann muss ich hier gut auf mich aufpassen. Oder kann ich dich zähmen?“ Das Mädchen schaut sie an, schmiegt sich an ihre Beine und sagt: „Manchmal bin ich auch eine Katze und Du kannst mich streicheln.“

Zur Verdeutlichung des Zusammenhangs dieser basalen Grundbedürfnisse eines Kindes und seines Verhaltens dient die folgende Abbildung des konsistenztheoretischen Modells der psychischen Regulation nach Grawe (2004):

Abbildung 1: Adaption des Modells zur Konsistenztheorie nach Grawe 2004 (vgl. Sappok, 2019)

Das innere Fühlen, Denken und Erleben und das beobachtbare Verhalten eines Kindes sind geprägt von motivationalen Mustern. Abhängig vom jeweiligen emotionalen Entwicklungsstand des Kindes dominieren die emotionalen Grundbedürfnisse des Kindes, die derartige motivationale Muster hervorrufen. Diese beeinflussen wiederum das Erleben und Verhalten des Kindes.

Das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung äußert ein hungriges drei Wochen altes Kind durch Weinen, ein neun Monate altes Kind bei der zu nahen Konfrontation mit einer fremden Person durch das Wegdrehen des Köpfchens, ein dreijähriges Kind durch das Verstecken hinter der Mutter. Das fünfjährige Kind behauptet beim Ertapptwerden einer untersagten Tat, das habe der unsichtbare Freund gemacht. Der erwachsene Mensch reagiert eventuell durch die konstruktive Veränderung einer unbefriedigenden Lebenssituation, z.B. durch den Kauf einer Brille bei schlechter werdendem Sehvermögen.

Entsprechen die Ansprüche und Reaktionen aus der Umwelt nicht den Bedürfnissen des Kindes, entsteht durch die Nichtvereinbarkeit gleichzeitig aktivierter psychischer bzw. neuronaler Prozesse (brauchen – wollen – sollen) ein neurologischer Spannungszustand. Erleben, Denken und Fühlen entstehen und der Versuch eines inneren Ausgleiches (Spannungsreduktion) folgt (Verhalten). Die Überwindung des Inkonsistenzkonfliktes ist von einer erhöhten Dopaminausschüttung im Gehirn begleitet. Dies führt zu einem Neuwachstum von synaptischen Verbindungen zwischen den Neuronen im Gehirn – zu dem, was Grawe (2004) neurologisch unter Lernen versteht (vgl. Sappok 2019).

Dieser Prozess ist auch ein wesentlicher neurophysiologischer Teil der Entstehung und Etablierung von herausforderndem Verhalten. Aus den konditionierenden Prozessen entstehen Symptome herausfordernder Verhaltensweisen. Weil das Symptom die Spannung (vorerst) reduziert, wird der Prozess verstärkt und etabliert sich.

Jedes Kind strebt nach innerer Homöostase. Dieses innere psychische Gleichgewicht entsteht durch das Erleben innerer Konsistenz (Stimmigkeit) und äußerer Kongruenz (Übereinstimmung im Sinne einer optimalen Passung) im Kontakt mit der Umwelt.

Beispiel: Katzenkind II

Die Bezugserzieherin berichtet der Fachberaterin später: „Das Mädchen verharrt bereits seit Monaten in diesem Spiel und ist zu keiner anderen Tätigkeit zu bewegen. Es streift den ganzen Tag als Raubkatze durch die Einrichtung.“

Auffälliges Verhalten ist ein kontraproduktiver Versuch, einen Ausgleich zu schaffen, ein verloren gegangenes Gleichgewicht wieder herzustellen.

Bereits vor einigen Jahrhunderten wurde von Kindern berichtet, die aufgrund unerwünschter, als störend empfundener Verhaltensweisen als schwer- oder unerziehbar bezeichnet wurden. Diese Kinder gibt es seit jeher und es wird sie wohl auch immer geben. In der aktuellen Diskussion finden sich Begrifflichkeiten wie „schwierige Kinder“ oder „Systemsprenger“. Als solche werden Kinder und Jugendliche bezeichnet, die nur schwer oder gar nicht durch pädagogische Interventionen, Angebote und Maßnahmen erreichbar scheinen. Doch zeigt sich Sprache heute wie damals als verräterisch, sie konstruiert scheinbare Wirklichkeiten und ein absurdes Bild vom Kind. Das Kind wird vom Subjekt zum Objekt, es wird ihm (un-)gewollt Schuld und eine Gefährlichkeit, Aggressivität und Macht zugeschrieben, die ein intersubjektives Handeln – als das sich heilpädagogisches Handeln versteht und das es sein muss – beinahe verunmöglicht. Wo Nähe sein sollte, wird Distanz geschaffen. Letztlich ist es der Versuch der Ablenkung von der eigenen pädagogischen Hilflosigkeit und Ohnmacht (siehe Seite 130) und aus dieser heraus entsteht der Fehler, diesen Kindern böse Absicht zu unterstellen, ihnen mit Argwohn zu begegnen und schnelle Lösungen für hochkomplexe Fragestellungen zu postulieren oder sogar unpädagogische Maßnahmen anzuwenden und zu rechtfertigen.

Neben diesen kritisch zu betrachtenden Begrifflichkeiten existieren Begriffe, wie Verhaltensbesonderheiten oder Verhaltensoriginalität. Beide Begriffe entstammen dem Wunsch, Kinder mit auffälligen, störenden und herausfordernden Verhaltensweisen nicht als „in sich falsch“ zu stigmatisieren. Doch werden auch diese Begriffe der Notlage des Kindes und dem Anteil der materiellen und personalen Umwelt daran, den Veränderungsmöglichkeiten und der Notwendigkeit eines achtsamen, ernsthaften und fürsorglichen Umgangs durch die erwachsenen Begleitpersonen, nicht gerecht.

Abbildung 2: Verschiedene Bezeichnungen für herausforderndes Verhalten

So umschreiben Begriffe wie (hoch-)belastete Kinder oder Kinder mit herausforderndem Verhalten wohl am treffendsten die Verfassung dieser Kinder und die Problematik mit all ihren Facetten.

In der (Heil-)Pädagogik kennzeichnen Verhaltensauffälligkeiten nach der Definition von Theunissen (2016) Verhaltens- und Erlebensweisen, die

als altersunangemessen und normabweichend in einem lebensweltlichen System (z.B. Schule) oder auch in mehreren Lebensbereichen (Sportverein, Freundeskreis, öffentlicher Raum, zu Hause) wahrgenommen und beanstandet werden,

ein irritiertes/gestörtes Verhältnis zwischen einer Person und ihrer (dinglichen, personalen, situativen) Umwelt anzeigen,

die Lebensqualität, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten der betroffenen Person beeinträchtigen,

die Sicherheit der betreffenden Person sowie die Sicherheit anderer Menschen gefährden und für sie ein Gesundheitsrisiko darstellen,

die Kommunikation und Interaktion, das Zusammenleben (und -arbeiten) mit der betreffenden Person belasten,

aus der Perspektive der Person eine Problemlösestrategie (/-muster) darstellen,

für die Person funktional bedeutsam und damit zweckmäßig erscheinen, jedoch sozial nicht akzeptiert sind,

als einzelne Symptome psychischer Störungsbilder, als Vorläufer oder Folge einer psychischen Störung auftreten können, jedoch als solche (noch) kein psychopathologisches Syndrom darstellen,

in der Regel auf keinen organ-pathologischen Hintergrund, sondern auf eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit (durch Schmerzen etc.) und soziale oder pädagogische Kontexte zurückzuführen sind,

von psychischen Erkrankungen (Störungen) abgegrenzt werden müssen,

in Krisensituationen auftreten können und sich in der Regel über einen längeren Zeitraum ausbilden und manifestieren,

aufgrund ihrer Häufigkeit, ihres Schwere- und Belastungsgrades sowie ihrer Chronizität die Handlungsmöglichkeiten im Rahmen allgemein üblicher Erziehungsmaßnahmen begrenzen und

folglich spezielle pädagogisch-therapeutische Interventionen, jedoch keine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung erforderlich machen.

Verhaltensauffälligkeit

Die Beurteilung eines Verhaltens als auffällig ist immer personen- und kontextabhängig. Eine Auffälligkeit oder Störung ist kein Merkmal der Person. Sie entsteht durch die subjektive Bewertung der Betrachtenden. Es gibt keine objektiven Maßstäbe, um ein auffälliges Verhalten als Verhaltensauffälligkeit zu klassifizieren. Jedoch wird ein Rahmen durch kulturelle und gesellschaftlich festgeschriebene Normen und Werte gebildet; Erwartungen und Anforderungen an die kindlichen Kompetenzen, das Leistungsvermögen und an soziale Fähigkeiten spielen eine bedeutende Rolle.

Auffälliges Verhalten fordert Pädagoginnen und Pädagogen bzw. das Bezugssystem heraus, genauer hinzuschauen. Gemeinsam mit dem Kind und den betroffenen Bezugspersonen muss nach Lösungswegen gesucht werden, um die Störungen in den Beziehungs-, Lebensund Lernverhältnissen des Kindes ausfindig zu machen und beseitigen zu können. Herausforderndes Verhalten kann auch ein Hinweis auf ein irritiertes Erlebens- und Lernverhältnis sein, dem Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.

Aktuellen Studien zufolge werden heute circa ein Viertel (20 bis 25%) aller Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren als verhaltensauffällig eingestuft (vgl. Myschker & Stein 2014, S. 71ff.). Der Umgang mit Kindern mit herausforderndem Verhalten ist mittlerweile neben der mangelnden Zeit und der Personalsituation (oder gerade aufgrund dieser) zur größten Herausforderung für Pädagoginnen und Pädagogen in Hort und Kindergarten, für Lehrpersonal in Schulen und andere (heil-)pädagogisch Tätige (sei es in Sportvereinen oder kirchlichen Gemeinden) geworden.

1.2 Verhaltensstörung

Verschiedene Wissenschaften befassen sich seit Jahrzehnten mit unterschiedlichen Klassifizierungs- und Erklärungsversuchen zu Verhaltensstörungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter als Primär- oder Begleiterkrankung. Um ein allgemeingültiges Verständnis einer Störung bzw. eines Krankheitsbildes bestimmen zu können, werden Verhaltensstörungen in verschiedenen Klassifikationen beschrieben. Die bedeutendsten sind das sogenannte „triadische System“ aus der internationalen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die International Classification of Diseases (ICD 10) sowie das Diagnostic and Statistical Manual (DSM-IV).

Der Schweizer Pädagoge Heinrich Hanselmann ging in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts davon aus, dass aller Entwicklung und allem Leben ein „dreieinheitlicher Prozess zugrunde [liegt]: die Aufnahme von Reizen endogener und exogener Herkunft, die Verarbeitung von Aufgenommenen und das Ausgeben der Verarbeitungsprodukte“ (Köhn 2002, S. 26). Daraus leitet Hanselmann die Bezeichnung der Menschen mit „Entwicklungshemmungen“ (ebd.) ab. Entsprechend des dreieinheitlichen Prozesses beschreibt er

die Personen mit Sinnesbehinderungen als die sogenannten „Aufnahmegeschädigten“,

die Menschen mit Lernbehinderung oder intellektueller Entwicklungsstörung als „Verarbeitungsschwache“ und schließlich

jene, die mit Verhaltensstörungen leben, als „Ausgabeabwegige“.

Ist die Dreieinheit des Prozesses in einem Bereich nicht intakt, so wirkt sich das zugleich auch auf die beiden anderen und damit auf die Körper-Geist-Seele-Einheit aus. Störungen, die im Bereich der Seele auftreten können, sind Entwicklungs- und Lernstörungen, emotionale bzw. Erlebens- und Verhaltensstörungen, psychische Erkrankungen, wie psychophysische Störungen und psychopathologische Syndrome (vgl. Myschker & Stein 2014, S. 9ff.). Eine aktuelle Definition der Verhaltensstörung liefern Myschker und Stein (2014):

Verhaltensstörung

„Verhaltensstörung ist ein von den zeit- und kulturspezifischen Erwartungsnormen abweichendes maladaptives Verhalten, das organogen und/oder milieureaktiv bedingt ist, wegen der Mehrdimensionalität, der Häufigkeit und des Schweregrades die Entwicklungs-, Lern- und Arbeitsfähigkeit sowie das Interaktionsgeschehen in der Umwelt beeinträchtigt und ohne besondere pädagogisch-therapeutische Hilfe nicht oder nur unzureichend überwunden werden kann.“ (ebd., S. 51)

Zur Unterscheidung einer Verhaltensstörung und einer Verhaltensauffälligkeit: Erst wenn ein auffälliges Verhalten

über einen längeren Zeitraum (entsprechend dem Lebensalter – sechs Wochen bis 6 Monate), regelmäßig und intensiver werdend,

in mehreren, verschiedenen Lebenswelten des Kindes (Familie, Kindergarten, Freundeskreis) auftritt,

in erheblichem Maße von den zeit- und kulturspezifischen Erwartungen abweicht,

zu deutlichen Einschränkungen im sinnvollen Lebensvollzug aller Beteiligten führt,

im Kind, bei seinen Bezugspersonen sowie in seiner Umgebung ein Leidensdruck entsteht,

wird von einer Verhaltensauffälligkeit gesprochen, die die Lebens- und Entwicklungsprozesse des Kindes nachhaltig bedroht und sich zu einer Verhaltensstörung (pathologische Dimension) entwickeln kann.

Um diesen Entstehungsprozess zu erkennen, zu verstehen und idealerweise sinnvolle Maßnahmen zur Unterbrechung zu finden und anzuwenden, ist es wichtig, die Ursachen zu erkennen. Bei der Entstehung von Verhaltensstörungen wirken zumeist in einem längeren Prozess verschiedene pathogene Faktoren und sind ursächlich für die Ausprägung. Dabei können verschiedene Ursachen gleiche Erscheinungsformen und gleiche Ursachen sehr unterschiedliche Erscheinungsformen hervorbringen.

Folgenden Faktoren können in ihrem individuellen Zusammenwirken ursächlich für Verhaltensstörungen sein:

die biologischen, (neuro-)physiologischen Anlagen des Menschen,

individuelle Wahrnehmungsverarbeitung (Aufnahme und Verarbeitungsmuster von Sinneseindrücken),

Selbstbestimmungs- und Selbstorganisationstendenzen (Regulation und Resilienz, Temperament, Motivation etc.),

Lernbiografie,

übergeordnete soziokulturelle Bedingungen und

die verschiedenen sozialen Systeme – mit ihren sich mitunter widersprechenden Regeln und Werten –, in denen das Kind lebt, wobei die Familie die größte Wirkkraft innehat.

Jeder psychischen Erkrankung und Verhaltensstörung gehen verschiedenen Phasen der Verfestigung voraus. Als Ausgangspunkt (Phase 1) steht eine Problemstellung (Herausforderung), die eine Krise für das Kind bedeutet. Das können die Geburt eines Geschwisterchens, ein Kindergarten- oder Gruppenwechsel, der Wechsel von zu Hause in eine Kindertagesstätte, die Einschulung, ein Umzug, die Trennung der Eltern, Dauerstreitigkeiten der Eltern, Gewalterfahrungen (direkt und indirekt), langandauernd oder akut (traumatisierend), die Erkrankung oder der Verlust einer Bezugsperson etc. sein. Dies alles bedeutet Veränderung oder Belastung als solche und wird damit als krisenhaft erfahren. Das Kind zeigt sich irritiert und etabliert ein ungewohntes oder situationsunangemessenes Verhalten (auffälliges Verhalten). So zeigt es zum Beispiel regressive Verhaltensweisen, fordert wieder einen Schnuller, sein Schnuffeltuch und/oder seine Windel ein, ist besonders anhänglich, zeigt ein verändertes Spielverhalten, verweigert (schulisches) Lernen, spricht nicht mehr oder reagiert aufbrausend, trotzig und/oder opponierend.

Kann das Kind diese Krise aus „eigener Kraft“ lösen oder erfährt es ausreichend emotionale Unterstützung durch seine Bezugspersonen und -systeme, bewältigt es die Herausforderung (Problemstellung), adaptiert sich an die Situation, gewinnt wieder emotionale Sicherheit (siehe „Grundbedürfnisse“), kann sich wieder angemessen verhalten und (ist ge-) wachsen.

Abbildung 3: Drei-Phasen-Modell der Entstehung von Verhaltensstörungen (vgl. Myschker & Stein 2014, S. 92)

Stehen dem Kind diese Möglichkeiten zur Krisenbewältigung nicht zur Verfügung, etablieren sich kontraproduktive, auffällige Verhaltensweisen zu einer Verhaltensauffälligkeit(Phase 2). Mit der Unterstützung durch niedrigschwellige helfende Maßnahmen, wie (systemische) Eltern- oder Familien-, Paar- und/oder Team-Beratungen, Supervision der betroffenen Bezugspersonen zum Beispiel in der Kita und dem Erkennen und Beseitigen der belastenden Faktoren, kann der Prozess unterbrochen, und entwicklungsförderliches Erleben und Verhalten können (wieder) ermöglicht werden.

Werden keine geeigneten Maßnahmen eingesetzt, kann aus der Verhaltensauffälligkeit eine (generalisierte) Verhaltensstörung (Phase 3) entstehen. Dieser ist, wie in der Definition beschrieben, nunmehr mit größerem Kraftaufwand für alle Beteiligten und nur noch mit multiprofessioneller Intervention (Heilpädagogen, Therapeuten, Ärzte etc.) zu begegnen.

Abweichende Verhaltensweisen eindeutig als Verhaltensauffälligkeit bzw. Verhaltensstörung zu erkennen, stellt sich in der Praxis der Elementarpädagogik häufig als schwierig dar. Denn nicht jedes Verhalten, das einen Menschen stört, ist bereits eine Störung. Verhaltensauffälligkeiten und Verhaltensstörungen sind multifaktoriell bedingt. Das heißt, an ihrer Entstehung wirken verschiedene ungünstige, pathogene Faktoren über einen längeren Zeitraum zusammen.

Daraus wird deutlich, dass die wesentliche pädagogische Aufgabe darin besteht, in einem ersten Schritt ungünstig wirkende Bedingungen zu erkennen und in einem zweiten Schritt unterstützende Interventionen einzusetzen (Früherkennung/Frühförderung) (vgl. Myschker & Stein 2014, S. 92).

Schwerpunkt „Subjektebene“

Entgegen dem medizinisch-psychologischen ist im heilpädagogischen Verständnis die Subjektebene, das heißt, die aus der seelischen Störung entstandene Befindlichkeitsstörung und „das Leid und Leiden der betroffenen Person“ (Köhn 2002, S. 44) ausschlaggebend.

In der Heilpädagogik wird das von der WHO entwickelte Klassifizierungssystem International Classification of Functioning, Disability and Health – children and youth (ICF–CY) genutzt, da hier neben möglichen Ursachendimensionen die besonderen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt werden, die an der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten und Verhaltensstörungen beteiligt sein können. Die ICF–CY ermöglicht die Beschreibung der (Entwicklungs- und Lebens-)Zustände eines Kindes und seiner Umwelt sowie die Ableitung notwendiger Leistungen und individuell geeigneter, ressourcen- und teilhabeorientierter Interventionen.

1.3 Erscheinungsformen von Verhaltensauffälligkeiten

In der (heil-)pädagogischen, der psychologischen und der psychiatrischen Praxis begegnen den Fachleuten die unterschiedlichsten Ausdrucksformen kindlichen Erlebens und Fühlens – und damit auch ganz unterschiedliche kindliche Verhaltensweisen. Dazu gehört auch auffälliges, normabweichendes und/oder herausforderndes Verhalten von Kindern. In der folgenden Übersicht ist eine Auswahl an – als auffällig und/oder pathologisch definierten – Verhaltensweisen aufgeführt:

Abbildung 4: Erscheinungsformen von Verhaltensauffälligkeiten (nach Myschker 1993)

In elementarpädagogischen Arbeitsfeldern wie Frühförderung, Kitas (Krippe und Kindergarten), Grundschulen und Horten begegnen den Pädagoginnen und Pädagogen folgende Erscheinungsformen auffälligen Verhaltens aktuell besonders häufig:

Interaktions-und Kommunikationsbeeinträchtigungen

Sprachentwicklungsverzögerungen/Sprachstörungen

Sprechstörungen

Mutismus

Konzentrations-und Aufmerksamkeitsstörung

ADS/ADHS

Hyperaktivität

Hyperkinetisches Syndrom

Aggression

Verweigerung

Kindliche Depression

Überängstlichkeit

Soziale Unsicherheit/Gehemmtheit

Ängste

Einnässen

Einkoten

Auffälliges Essverhalten

Schlafprobleme und -störungen

Kopf- und Bauchschmerzen

Stehlen, lügen, petzen

Haare zwirbeln, Nägelkauen, Daumenlutschen

Motorische Koordinationsstörungen

Die verschiedenen Symptome können unterschiedlich klassifiziert und zusammengefasst werden. So kann man unterscheiden nach Symptomen im physischen Bereich (z.B. Essstörungen, Daumenlutschen, Nägel kauen, Haare zwirbeln), im psychischen Bereich (Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Depressivität, Ängste etc.) sowie im sozialen Bereich (z.B. Aggressivität, Befangenheit, Scheu).

Zudem bietet sich eine Unterscheidung internalisierter und externalisierter Formen von Verhaltensauffälligkeiten an.

Externalisierte Verhaltensweisen:

hyperkinetische Verhaltensweisen (hohe Ablenkbarkeit, motorische Unruhe, Zappeligkeit, Impulsivität etc.) und aggressive Verhaltensweisen (Beleidigen, Schlagen, Treten von Personen, Beschädigen und Zerstören von Gegenständen)

Internalisierte Verhaltensweisen:

Trennungsängste, Überängstlichkeit, Kontaktabwehr oder -vermeidung, ängstlich-depressives Verhalten, soziale Überangepasstheit

Eine weitere Klassifikation ist über den Fachzugang möglich:

Psychiatrische Sicht(vgl. Myschker & Stein 2014, S. 58)

Pädagogische Sicht(vgl. Theunissen 1997, S. 24f.)

• Kinder und Jugendliche mit externalisierendem, aggressiv-ausagierendem Verhalten

• Kinder und Jugendliche mit internalisierendem, ängstlich-gehemmten Verhalten

• Kinder und Jugendliche mit sozial- unreifem Verhalten

• Kinder und Jugendliche mit sozialisiert-

• delinquentem Verhalten

• Auffälligkeiten im Sozialverhalten

• Auffälligkeiten im psychischen (emotionalen) Bereich

• Auffälligkeiten im Arbeits- und Leistungsbereich

• Auffälligkeiten gegenüber Sachobjekten

• Auffälligkeiten im somato-physischen

• (körperlichen) Bereich

• Selbstverletzende Verhaltensweisen

Symptome, die durch die Betrachtenden (auf Grundlage einer einseitigen, undifferenzierten Sichtweise) als pathologisch eingeordnet werden, sind Ausdruck einer schwierigen, inkonsistenten Lebenslage. Sie werden in einem sozialen Raum sichtbar und können somit auch nur dort und nicht in einer auf das kindliche Störverhalten fixierten Behandlungssituation jenseits dieses Raumes aufgelöst werden. Es müssen also vor allem die typischen Beziehungen und Beziehungsgefüge, die Kommunikations- und Interaktionsstrukturen, die subjektive emotionale Bewertung des Geschehens und die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen betrachtet werden, um die Wirkgefüge von Handlungsweisen mit ihren spezifischen Zielen zu verstehen.

1.4 Bedeutung der Sichtweise

Da die Einstufung von Verhalten als auffällig, unangemessen oder störend von vielen Faktoren abhängig, also person- und kontextabhängig ist – folglich die Sichtweise der beobachtenden und beurteilenden Person ausschlaggebend ist –, sollte es Grundlage des professionellen Selbstverständnisses sein, das eigene Fachwissen, die innere Haltung und Einstellung zu überprüfen sowie eigene Möglichkeiten und Grenzen zu erkennen und anzunehmen. Denn grundsätzlich ist immer ein subjektiver Bezugsrahmen entscheidend: „Eine Störung ist das, was mich stört.“ Nur so kann auffälliges Verhalten identifiziert und verstanden, und nur so können sinnvolle Handlungsmöglichkeiten gefunden werden.

Im Folgenden sollen vier wichtige Faktoren näher betrachtet werden:

das eigene Wertesystem

die eigenen Kommunikationsstrukturen,

der Perspektivenwechsel

die Selbstreflexivität (vgl. Braun & Schmischke 2006, S. 13f.)

Eigenes Wertesystem

Im menschlichen Miteinander fallen Menschen auf, weil sie sich in einer Art und Weise verhalten, die auf den Beobachtenden irritierend, störend oder im besten Falle merkwürdig wirken. Das Bewusstmachen des eigenen Wertesystems, der eigenen Haltung zum Menschen, zur Welt und zum Leben sowie der eigenen Erwartungen und der damit verbundenen subjektiven Theorien über einen Menschen hat nach Braun und Schmischke mehrere Vorteile (vgl. Braun & Schmischke 2006, S. 14):

Intersubjektivität:

Das eigene und die Wertesysteme der anderen werden als legitim anerkannt.

Transparenz:

Das eigene Wertesystem ist der Person bewusst, sie kann es anderen Menschen deutlich machen.

Kommunikation und Diskurs:

Das meint die Bereitschaft zum Austausch über die jeweiligen Ansichten und Werte.

Entwicklung:

Die Person ist bereit, sich weiterzuentwickeln und die eigenen Sichtweisen gegebenenfalls zu verändern.

Fallbeispiel für die Bedeutung des eigenen Wertesystems

In einer Fallsupervision des Teams einer Kindertagesstätte wird über den fünfjährigen Mio berichtet, den eine Erzieherin als sehr auffällig und schwierig erlebt. Die Mutter des Jungen hat dem Leiter der Einrichtung wiederholt von unangemessenen „Maßnahmen“ der Erzieherin gegen ihren Sohn erzählt. In der näheren Auseinandersetzung und Analyse wird deutlich, dass die Erzieherin den Jungen nicht ertragen kann, weil seine Mutter mit einer Frau verheiratet ist. Die Frauen hatten sich für eine künstliche Befruchtung mit einem unbekannten Samenspender entschieden, aus der Mio hervorgegangen war.

Die Supervision hat die Erzieherin dazu gebracht, sich ihrer eigenen Werte zum Thema Familie bewusst zu werden (Transparenz), sie zu hinterfragen (Kommunikation und Diskurs) und einen professionellen Umgang mit verschiedenen Familienformen zu finden (Intersubjektivität, ggf. Entwicklung).

Dieses Bewusstwerden kann beispielsweise über den Versuch gelingen, nach Sätzen oder Erfahrungen aus der eigenen Kindheit und Jugend zu suchen, die von wichtigen Bezugspersonen wie Eltern, Großeltern, Paten, Erzieherinnen oder Lehrkräften, geprägt oder formuliert wurden. Dies können Aussagen sein, wie „Wir haben dich lieb und stehen hinter dir, egal, was du tust“, „Pass auf dich auf“, „Alles was du wirklich willst, kannst du schaffen“. Oder: „Sei doch mal lieb, was sollen denn die Nachbarn denken …“, „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Solange du deine Füße unter meinem Tisch hast“. Es können aber auch Erfahrungen sein, die sich in Sätze wie „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu“, „Wenn du ein Mädchen wärst, könnte ich dich lieben“ oder „Legt dir jemand einen Stein in den Weg, nimm ihn auf und bau etwas Gutes daraus“ kleiden lassen. Das Verstehen der eigenen Sozialisation und der damit verbundenen Moral- und Werteentwicklung ist hochbedeutsam für die entwicklungsförderliche, würdevolle und wertschätzende Begleitung (hoch-)belasteter Kinder und ihrer Bezugspersonen.

Eigene Kommunikationsstrukturen