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Jedes Kind erlebt diese unlösbaren Konflikte: Einerseits braucht es die elterliche Hilfe und Anerkennung, andererseits will es selbst über sich bestimmen. Erziehungskunst besteht dann darin, Mittler zu sein, anstatt als Kontrahent einen Machtkampf vom Zaun zu brechen. Und im Erkennen: Psychisch gesunde Kinder müssen auch ungehorsam sein. Nicht immer, aber immer wieder. Das Ziel von Erziehung heißt darum schon längst nicht mehr Gehorsam. Es heißt Kooperation. Kinder lernen sozialverträgliches Verhalten überwiegend aufgrund von Identifikation mit den Bezugspersonen, die sie lieben und von denen sie geliebt werden, nicht durch das Verteilen von Gummibärchen und auch nicht durch Fernsehverbote. Sie verhalten sich dann kooperativ, wenn ihnen feinfühlige Bezugspersonen eine sichere Bindung ermöglichen sowie ihre Integrität und ihr Autonomiestreben achten. Dazu gibt der Diplompädagoge, Elterncoach und Vater von drei erwachsenen Kindern wertvolle Anregungen. Dieses Buch ist das zweite in der Reihe Elterndialog. Es ist das Ergebnis vieler Gespräche mit Eltern, Lehrern und Erziehern und der Erfahrungen mit drei eigenen Kindern. Es zeigt auf, wie Eltern das Wichtigste über Erziehung statt von Erziehungs-Ratgebern von ihrem Kind selbst lernen können. Das gelingt, wenn sie mit ihm in Resonanz leben, Konflikte nicht scheuen, sondern austragen und ihre eigenen Werte, Ziele, Haltungen und Erwartungen kritisch reflektieren und den realistischen Möglichkeiten anpassen.
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Seitenzahl: 149
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Für Julie Johanna
Vorwort
Gehorsam ist kein Erziehungsziel
Warum Kinder ungehorsam sind
Stress
Autonomiestreben
Emigration
Das Elternnetz – Ein Modell
Vorbild
Liebe
Führung
Mit der Gehorsamskultur brechen.
Eskalation stoppen
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
„Unterordnung und Gehorsam sind keine Tugenden mehr, die Menschen gut auf die Lebensführung in pluralen, modernen und globalisierten Gesellschaften vorbereiten.“1 Dieser Satz der Erziehungswissenschaftlerin Meike Sophia Baader aus dem Jahr 2008 charakterisiert eine ganze Epoche eines gesellschaftlichen Umbruchs und der damit verbundenen Folgen für die pädagogische Diskussion bis in unsere Tage: Gemeint sind die 68-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Sie waren u.a. gekennzeichnet durch heftige und kontroverse Diskussionen um die „Abschaffung der Pädagogik“ (Braunmühl, 1976) bzw. die sogenannte antiautoritäre Erziehung, um die Methoden der Kindererziehung im englischen Summerhill (Neill, 1971 (1960)), in berühmtberüchtigten deutschen „Kommunen“ und vor allem in den Berliner „Kinderläden“. Als zentrales Erziehungsziel wurde die Erziehung zur Selbständigkeit formuliert, in der Überzeugung, dass nur so eine Wiederholung der furchtbaren Ereignisse des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges ein für allemal auszuschließen sei.
Gehorsamserziehung, das bedeutete in dieser Lesart die Programmierung von Kindern zu manipulierbaren Wesen. Gehorsam=Hörigkeit, nach dieser Formel wurden die gesellschaftlichen Institutionen vom Kindergarten über die Schule und Universitäten bis hin zu den Staatsorganen Polizei, Parlament und Regierung einer radikal-kritischen „Analyse“ unterzogen. Manche der daraus gezogenen Folgerungen haben die Zeit nicht überlebt (z.B. die Ablehnung des parlamentarischen Systems durch die „APO“). Durchgesetzt hat sich bis heute jedoch das Ziel der Erziehung zur Selbständigkeit und der daran geknüpfte Erziehungsstil. Sein Name hat sich gewandelt: Wir sprechen nicht mehr von antiautoritärer, sondern von sozial-integrativer oder auch von autoritativer Erziehung. Damit wurden auch theoretisch Einseitigkeiten, Übertreibungen und gelegentliche Fehlinterpretationen der antiautoritären Ära revidiert.
Doch allzu viel ist mit dem neuen Etikett „autoritative Erziehung“ noch nicht gewonnen. Betrachten wir die pädagogische Diskussion der letzten 20 Jahre, dann fällt auf, dass sich Gehorsamserziehung scheinbar sehr gut mit dem Autonomieziel verträgt. Manche Autoren vertreten sogar mehr oder weniger offen die Position, dass es durchaus erstrebenswerte Formen von Gehorsamkeit gibt, die geradezu die Voraussetzung für die Integration der Heranwachsenden in eine Gesellschaft bilden und ihnen damit Autonomie überhaupt erst ermöglichen. Andere sehen in der Gehorsamserziehung vornehmlich die Taktik, Kinder durch Drill zu willfährigen Befehlsempfängern auszubilden. Wer hat Recht?
Ist Gehorsam nicht länger eine Tugend? Oder ist er notwendig, damit Kinder lernen, sich in die Gesellschaft einzufügen und zu anerkannten und gleichwertigen „Mitspielern“ zu werden? Kann nur dasjenige Kind wirklich zur Selbständigkeit heranreifen, das frühzeitig gelernt hat, den Anordnungen seiner Eltern zu folgen und so seine egoistischen und nicht-sozialen Triebe zu unterdrücken oder zu sublimieren? Oder laufen so erzogene Kinder eher Gefahr, zu indifferenten Mitläufern zu werden? Wie viel oppositionelles Verhalten ihres Kindes ist gestressten Eltern im Alltag zuzumuten, ohne dass sie selbst unter der Erziehungsaufgabe leiden oder gar daran zerbrechen? Werden Kinder, die „an der langen Leine laufen dürfen“ unglücklicher als jene, die klare Grenzen und nicht verhandelbare elterliche Forderungen erleben?
Es ist das Anliegen des vorliegenden Buches, diesen Fragen nachzugehen, d.h. basierend auf dem aktuellen pädagogischen Diskurs sowie aufgrund meiner eigenen Erfahrung als Vater von drei erwachsenen Kindern und mittels kritischer Beobachtung des Erziehungsgeschehens in meinem alltäglichen Umfeld, ein Bild zu entwerfen, das engagierten Eltern Anregung und Orientierung für ihr eigenes Erziehungshandeln geben kann.
Börtlingen, im April 2016
1http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/51961/erziehung-und-68?p=all. (15.11.2015)
Stellen wir uns vor: Wir fragen am Bahnhof einen Schaffner, von welchem Gleis der nächste Zug nach Frankfurt fährt. »16:22 Uhr, Gleis 8.« Wir bedanken uns und eilen zum bezeichneten Bahnsteig. Weit und breit kein Zug. „Verspätung“, denken wir. Um 16:22 Uhr rollt dann tatsächlich unser ICE aus dem Bahnhof, allerdings auf Gleis 6. Hat uns der Schaffner belogen? Wir würden wohl kaum auf die Idee kommen, dem Mann bewusste Irreführung vorzuwerfen. Vielleicht hat er sich geirrt, vielleicht haben wir ihn falsch verstanden. Ärgerlich, aber kein Grund, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, obwohl er „objektiv gesehen“ möglicherweise die Unwahrheit gesagt hat.
Stellen wir uns vor: Der vierjährige Sascha hat aus dem Küchenschrank eine ganze Packung Marzipan gemaust. Seine Mutter ärgert sich, denn sie hatte sich vorgenommen, die ruhigen Abendstunden für ihre Weihnachtsbäckerei zu nutzen. Die Läden sind geschlossen, Ersatz also nicht mehr möglich. Sascha hat nicht nur ein Verbot missachtet, er hat auch Mutters Pläne durchkreuzt. Zur Rede gestellt streitet er auch noch alles ab, obwohl die Mutter die Reste der Aktion in Saschas Kinderzimmer entdeckt hat. Er ist also eindeutig der Lüge überführt, darum redet ihm die Mutter ins Gewissen: »Du weißt doch ganz genau, dass du nicht einfach etwas nehmen darfst, was nicht dir gehört. Und dann lügst du mir auch noch frech ins Gesicht. Also fernsehen ist heute und für den Rest der Woche gestrichen, damit du lernst, was sich gehört. Und jetzt marsch ins Bett, ohne Widerrede!« Hier liegt der Fall völlig anders, als im Beispiel mit dem Bahnschaffner, nicht wahr? Aus der Erwachsenenperspektive schon. Aus der Perspektive des Kindes vielleicht doch nicht so eindeutig:
Mit seinen vier Jahren lebt Sascha in einer Phase des Umbruchs. Einerseits hat er den Impuls, etwas Leckeres zu nehmen und zu essen, sobald es in seiner Reichweite auftaucht. Hierin gleicht er noch einem Baby (dem würde die Mutter das natürlich sofort verzeihen, weil sie von ihm noch keine „Vernunft“ erwartet). Andererseits kennt Sascha natürlich Regeln und Verbote schon recht genau und kann sich auch oft daran halten, weil er solche spontanen Impulse schon kontrollieren kann. Doch die für diese Impulskontrolle zuständigen Strukturen seines Gehirns sind noch nicht voll ausgereift. Deshalb siegt immer wieder mal die Impulsregion über die Kontrollregion. Das erscheint dann aus der Erwachsenenperspektive als Ungehorsam, aus der Kindperspektive ist es ein unbewältigter innerer Konflikt und aus der Neuroperspektive das Ergebnis einer noch nicht ausreichenden Gehirnreife.
Stellt die Mutter nun Sascha in einem vorwurfsvollen Ton zur Rede, dann schlittert er in einen neuen Konflikt. Er fühlt sich schuldig, weil seine „interne Kontrolle“ versagt hat und fürchtet sich gleichzeitig vor den drohenden Konsequenzen: Vorübergehender Entzug von Mutters Zuneigung oder/und eine Strafe in Form von Fernsehverbot. Sascha weiß zwar sehr wohl, dass er nicht lügen darf, aber eine geniale kindliche Fähigkeit kommt ihm scheinbar zur Hilfe, das magische Denken2. Wenn er seine Schuld einfach leugnet, dann verschwindet sie und damit auch die drohende Strafe.
Dass er damit die Sache nur schlimmer macht, kann er noch nicht vorhersehen. Sascha lügt also nicht, um seine Mutter zu hintergehen, sondern um sein Fehlverhalten scheinbar ungeschehen zu machen. Dass ein Eingeständnis und die anschließende Bitte um Entschuldigung der richtige (und zielführende) Weg wäre, das muss Sascha erst noch lernen. Das wird ihm umso leichter und schneller gelingen, je einfühlsamer ihm die Mutter dies erklären – und natürlich auch selbst vorleben – kann. Strafaktionen werden diesen Lernprozess höchstwahrscheinlich nicht beschleunigen.
Zurück zu unserem Bahnschaffner: Es wäre natürlich lächerlich, diesem eine willentliche Irreführung zu unterstellen, denn falls wir uns wirklich nicht verhört haben, hat er sich einfach geirrt. Und hier berühren sich unsere beiden Beispiele eben doch: Auch Sascha hat sich geirrt als er glaubte, sein Leugnen schaffe seine Schuld aus der Welt. Während wir niemals auf die Idee kämen, dass eine Strafe den Bahnschaffner künftig zu mehr Aufrichtigkeit erziehen würde, könnte es uns durchaus als geboten erscheinen, Sacha durch eine angemessene „Konsequenz“ den Irrtum auszutreiben, dass Leugnen ein schuldhaftes Verhalten ungeschehen macht.
Was würde Sascha dabei aber wirklich lernen? Dass seine Strategie zur Herstellung seines inneren Gleichgewichts nicht aufgeht und dass es nur einen Weg gibt, der Strafe zu entgehen und sich die mütterliche Zuneigung zu erhalten: Gehorsam! Denn die Fähigkeit, erstens in allen Situationen seine spontanen Impulse so zu kontrollieren, dass sie nicht das elterliche Gebot »du darfst nicht stehlen« verletzen, diese Fähigkeit ist – wie wir gesehen haben – noch nicht ausreichend entwickelt. Sie hängt ab von der Gehirnreife und diese lässt sich weder durch Liebesentzug noch durch Strafen beschleunigen3. Zweitens kann Sascha nicht willentlich sein magisches Denken einfach ausknipsen, er kann nur lernen: »Ich darf nicht lügen, weil Mama das so verlangt, sonst gibt’s Strafe.«
Kritische Leser werden jetzt wahrscheinlich einwenden: »Aber Sascha muss doch lernen, dass er seine Mutter nicht durch eine Lüge hintergehen darf.« Ja, das stimmt! Doch er kann dies erst dann lernen, wenn seine Fähigkeit gereift ist, sich in seine Mutter hineinzudenken, ihre Perspektive einzunehmen. Und dazu ist ein Vierjähriger noch nicht in der Lage, dazu braucht er einfach noch ein oder zwei Jahre Zeit.
Zugegeben, Eltern können die Auswirkungen dieses Mangels an Reife durch ein systematisches Gehorsamstraining und eine „konsequente“ Haltung wahrscheinlich bei den meisten Kindern unterdrücken4. Doch der Preis ist hoch: Auf Gehorsam dressierte Kinder können nur schwer oder gar nicht lernen, Selbstverantwortung zu übernehmen. Die Gefahr ist groß, dass ihre Ich-Entwicklung rudimentär bleibt und sie lebenslang anfällig sind für Manipulation durch Autoritäten (Juul, 2012 (2002)).
Das Erziehungsziel lautet also nicht „Gehorsam“, es heißt „Fähigkeit zu selbstverantwortetem und sozialverträglichem Handeln“. Die elterliche Furcht, dass ihr Kind dies nur durch Gehorsamserziehung lernt, wurzelt einerseits in ihren eigenen Kindheitserfahrungen, andererseits in den aktuell gültigen Normen, die ihnen durch die Gesellschaft vorgegeben erscheinen. Wenn sich Eltern in der Öffentlichkeit schämen, weil ihr Kind trotz aller Ermahnung oder Drohung „seinen Kopf durchsetzt“, dann geben sie möglicherweise dem (tatsächlichen oder bloß erwarteten) öffentlichen Druck selbst dann nach, wenn sie wissen, dass ihr Kind sich gerade in einem ausweglosen inneren Konflikt befindet, der ihm Gehorsam gar nicht möglich macht. Sie maßregeln es dann übermäßig, schreien es an oder schlagen es gar und rechtfertigen sich vor ihrem schlechten Gewissen im Nachhinein damit, dass das Kind eben Gehorsam lernen muss, weil es ihnen sonst bald auf der Nase herumtanzt.
Dass diese Furcht unberechtigt ist, können Eltern erkennen, wenn sie die Bedingungen kennen, die dem Kind den Erwerb selbstverantworteter und sozialverträglicher Handlungsoptionen erst ermöglichen:
Eine hinreichende Ausreifung und Funktion jener kindlichen Hirnareale, die ihm Impulskontrolle, Handlungsplanung und das Abschätzen von Folgen ermöglichen.
Eine intakte Eltern-Kind-Beziehung, die seinem Bedürfnis entspricht, von den Eltern wahrgenommen, geachtet, geschätzt und geliebt zu werden.
Das Vorbild von Erwachsenen, die sich selbst verantwortungsvoll und sozialverträglich verhalten.
Sich häufig wiederholende Erfahrungen der
Selbstwirksamkeit
, also Erlebnisse, aus denen das Kind lernen kann, welche Auswirkungen sein eigenständiges Handeln auf seine Umwelt und auf sein inneres Erleben hat. Gehorsamsdressur verhindert diese Erfahrungen, weil es sie durch elterliche Sanktionen ersetzt. Anstatt herauszufinden, wie die Umwelt auf sein Tun und Lassen reagiert, lernt das
dressierte
Kind: Tun und lassen, was die Eltern von ihm verlangen, um Liebesentzug oder Strafe zu vermeiden.
Natürlich gibt es Situationen, die verlangen, dass Kinder einer elterlichen Anweisung unbedingt und ohne Diskussion folgen, damit Schaden von ihnen abgewendet wird. Dann geht es nicht um Gehorsam gegenüber den Eltern, sondern darum, ein Warnsignal zu verstehen und zu befolgen. Lerntheoretisch betrachtet also um Konditionierung: Ein Auslösereiz, die elterliche Warnung, muss mit einer bestimmten kindlichen Vermeidungsreaktion gekoppelt werden. Solange die Einsichtsfähigkeit eines Kindes noch nicht wirklich ausgereift ist, kann man dies tatsächlich nicht durch Ermahnungen und Diskussion erreichen, sondern durch ein Training mit entsprechender positiver oder negativer Verstärkung. Das kann man, wenn man will, als Dressur interpretieren. Es ist aber etwas völlig Anderes, ob das Kind beim Austesten seiner Autonomie in Gefahr gerät, Schaden zu nehmen, oder ob dabei einfach seine Bedürfnisse mit den Bedürfnissen der Erwachsenenwelt kollidieren.
Dazu ein Beispiel aus einem meiner Elterngespräche. Die Mutter des vierjährigen Jens berichtet zunächst über einen positiven Wandel ihres Sohnes: Fast genau seit seinem vierten Geburtstag haben seine schrecklichen Trotzanfälle aufgehört. Allerdings hatte er gestern einen Rückfall, der sie sehr überrascht hat. Sie hat ihn vom Kindergarten abgeholt und auf dem Weg zum Auto findet Jens einen sehr langen Stock, den er unbedingt mit nach Hause nehmen will. Die Mutter versucht ihm klar zu machen, dass er schon sooo viele Stöcke zu Hause hat und dass dieser hier sowieso nicht ins Auto passen würde. Es entwickelt sich eines jener Dramen, die sie schon endgültig überwunden glaubte. Schließlich entreißt sie ihm den Stock und wirft ihn fort. Jens holt ihn zurück, brüllt und weint und weigert sich, ohne Stock ins Auto zu steigen. Schließlich packt ihn die Mutter mit Gewalt in seinen Kindersitz und schnallt ihn fest. Auf dem Nachhauseweg beruhigt sich Jens allmählich und zu Hause scheint er die Episode schnell vergessen zu haben.
Nicht jedoch Jens‘ Mutter. Sie fragt sich jetzt, ob sie überreagiert, ihrem Sohn vielleicht sogar bleibenden Schaden zugefügt hat. Andererseits argumentiert sie, dass Jens schließlich lernen müsse, dass nicht alles nach seinem Willen geht. Sie gesteht in der Elterngruppe ein, dass sie völlig verunsichert ist, welche der beiden Sichtweisen die Richtige ist.
Ich verweise auf das Vier-v-Prinzip (siehe S. →): Verstehen ->verständigen ->vereinbaren ->verantworten. Dass die Mutter versucht hat, sich mit Jens durch Argumente zu verständigen („du hast schon viele Stöcke und dieser ist zudem zu groß für unser Auto“), das ist im Prinzip nicht falsch, aber ungünstig, weil der erste Schritt zur Vermeidung eskalierender Konflikte immer heißen sollte die Kindperspektive zu verstehen: Jens hat eine Entdeckung gemacht, einen besonders großen Stock, der seine Sammlung zuhause wunderbar ergänzen würde. Er hofft darauf, dass seine Mutter seinen Entdeckergeist lobt, seine Bewunderung für den Stock teilt und ihm hilft, das gute Stück im Auto zu transportieren. Doch die Mutter reagiert völlig anders als Jens es erwartet. Weder anerkennt sie seine Entdeckerleistung, noch teilt sie seine Bewunderung und sie ist schon gar nicht bereit, ihm beim Transport des völlig nutzlosen Gegenstandes zu helfen. Aus der Erwachsenenperspektive hat sie dafür gute Gründe. Was sie in diesem Moment jedoch nicht erkennt: Für Jens droht keine Gefahr, die seinen unbedingten Gehorsam erfordern würde. Der Konflikt mit der Mutter entzündet sich vielmehr an der Kluft zwischen der Sicht des Kindes und ihrer eigenen. Die gälte es zu überbrücken, um eine Eskalation zu vermeiden.
Durch Jens‘ Weigerung schlittert die Mutter ohne es zu bemerken oder gar zu wollen in einen unfruchtbaren Machtkampf, den sie zwar gewinnt, doch um den Preis eines schlechten Gewissens, das sich offensichtlich auch durch die Rationalisierung »Jens muss eben Gehorsam lernen« nicht wirklich beruhigen lässt. Natürlich geht es hier nicht darum, ihr Vorwürfe zu machen, ihr Verhalten ist vollkommen nachvollziehbar. Sie will schnell nach Hause, muss das Mittagessen kochen, das Auto ist bepackt mit dem Einkauf aus dem Supermarkt, außerdem macht sie sich Sorgen um einen Vorfall an ihrer Arbeitsstelle und für den Nachmittag hat sie einen eng getakteten Terminkalender. Für den fünfundzwanzigsten Stecken, den ihr Jens mitschleppen will, hat sie wirklich keinen Raum in ihrem Kopf. Vielleicht hätte sie sich ja anders entschieden, wenn sie nicht so gestresst gewesen wäre.
Vielleicht hätte sie sich gefreut, dass Jens nicht nur blind zum Auto trottet, sondern dass er auch die unscheinbaren Dinge am Wegrand wahrnimmt. Vielleicht hätte sie Jens gefragt, ob der riesige Stock wohl in ihr kleines Auto passt. Vielleicht hätte sie ihn sogar ermutigt, es zu probieren. Und vielleicht hätte sie versucht, ihn zu trösten, wenn er dabei gescheitert wäre und deshalb einen Wutanfall bekommen hätte.
Sehen wir noch einmal ganz genau hin, wie aus einem scheinbar nichtigen Anlass ein eskalierender Konflikt entstanden ist. Die Perspektive der Mutter unterscheidet sich in dreifacher Hinsicht gravierend von der Kindperspektive: Erstens kann sie sofort erkennen, dass der Stock nicht ins Auto passt, also sagt sie „nein“. Zweitens hat sie ihr Zeitmanagement im Kopf und das duldet keine Verzögerungen. Drittens fühlt sie sich dafür verantwortlich, dass Jens gut erzogen wird und elterliche Anweisungen respektiert. Zunächst steht also der Sachaspekt im Vordergrund („der Stock ist zu lang“). Würde Jens ihn dann wegwerfen, wäre der Fall erledigt. Da er sich aber weigert, drängt sich nun ein Gefühlsaspekt auf („ich fürchte, mein Zeitplan gerät durcheinander“). Jetzt argumentiert die Mutter nicht mehr, sie handelt: Sie entreißt ihm den Stock und wirft ihn fort. Als Jens ihn dann einfach wieder zurückholt, wird der Beziehungsaspekt alarmiert: Jens ist ungehorsam, als Mutter muss sie sich durchsetzen, weil sie glaubt, ihn sonst zu verwöhnen.
Damit handelt sie durchaus in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Vertreter einer konsequenten Erziehung. Aus dieser Sicht wäre ihr anschließendes schlechtes Gewissen nur Ausdruck einer Verwöhnhaltung, die es ihr nicht erlaubt, dem Kind einen Wunsch abzuschlagen. Doch es gibt auch einen anderen Standpunkt:
Eltern haben ein Recht darauf, Entscheidungen zu revidieren, wenn ihre Emotionen und/oder irgendwelche Erziehungsdogmen einen Eltern-Kind-Konflikt zu dominieren drohen. Sie müssen nicht ihr Gesicht wahren und sie müssen nicht jeden Konflikt gewinnen. Eltern können ihrem Kind sagen, dass sie zu einem anderen Schluss gekommen sind und sie können aus einem eskalierenden Konflikt jederzeit „aussteigen“ wenn sie dafür gute Gründe haben. Die Vorstellung, dass Kinder dadurch lernen, wie man Eltern austrickst, beruht auf einem mechanistischen (genauer, einem behavioristischen) Menschenbild. Ratten ist es völlig gleichgültig, ob der Versuchsleiter sie liebt oder hasst, sie gieren nach Belohnung und vermeiden Bestrafung. Deshalb lassen sie sich leicht dressieren. Kinder wollen von ihren Eltern geliebt, geachtet und geführt(!) werden und sie wollen sich am Vorbild ihrer Eltern orientieren können. Sie würden selbst darunter leiden, wenn sie diesen nach Belieben auf der Nase herumtanzen könnten. Werden sie durch Strafen systematisch einem Gehorsamstraining ausgesetzt, dann erleben sie zwar elterliche Führung, sie erleben aber nicht ihre Liebe.
Sind Liebe und Einfühlungsvermögen also die Wundermittel, mit denen Eltern Gehorsam erreichen, ohne dass es immer wieder zu heftigen Konflikten und Trotzreaktionen kommt? Für einige wenige besonders harmoniebedürftige Kinder mag das vielleicht zutreffen. Die meisten Kinder, denen ich begegnet bin, haben jedoch etwa ab dem zweiten Lebensjahr ein ausgeprägtes Bedürfnis zur Selbstbehauptung. Das führt im Idealfall dazu, dass die daraus entstehenden Eltern-Kind-Konflikte dazu beitragen können, dass diese Kinder im Laufe der Jahre zu beziehungs- und kompromissfähigen Individuen heranreifen.