Kinder psychisch kranker Eltern in der Kita - Anja Thürnau - E-Book

Kinder psychisch kranker Eltern in der Kita E-Book

Anja Thürnau

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Beschreibung

Anschaulich und praxisnah führt das Buch in ein unbequemes und bislang noch viel zu wenig beachtetes (Tabu-)Thema ein. Pädagogische Fachkräfte erhalten Hintergrundwissen genauso wie Handlungsempfehlungen und Handwerkszeug. Kinder psychisch kranker Eltern gibt es in jeder Kita − häufig werden sie jedoch nicht erkannt. Dabei kommt gerade pädagogische Fachkräften die wichtige Rolle zu, Kinder zu stärken und so entscheidend zu ihrer gesunden Entwicklung beizutragen. In jeder Kita sollte das Thema spielerisch, kind- und altersgerecht angegangen werden. Denn am Ende profitieren alle Kinder, ob betroffen oder nicht, von dieser Form der Psychoedukation.

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Anja Thürnau

Kinder psychisch kranker Eltern in der Kita

Für meine Mutter, die als Kriegskind aus ihrer Heimat flüchten mussteund ihr Leben mit viel Resilienz gemeistert hat.

Dank

Ich möchte mich bei all denen bedanken, die mich in meinem Buchprojekt unterstützt haben: bei meinem Mann und meinen Söhnen Finn und Aaron, meiner Mutter und meinem Bruder Michael, meiner Lektorin Franziska Martinet und beim Verlag Herder, meinen Kooperationspartner*innen Michael Hipp und Tania Herr, meinen Kolleginnen und den Kitas im Landkreis Hildesheim, meinen Netzwerkpartnerinnen aus dem Netzwerk Hikip (Hilfen fur Kinder psychisch kranker Eltern im Landkreis Hildesheim), bei all denen, die mich in meiner Entwicklung über die Jahre begleitet haben – und last but not least bei den Kindern und ihren Familien, von denen ich so viel gelernt habe!

Anja Thürnau

Kinder psychischkranker Elternin der Kita

erkennen − verstehen − stärken

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

Umschlagmotiv: © MomentousPhotoVideo – iStock

Fotos im Innenteil auf den Seiten 11, 69, 83: © FatCamera – Getty Images, 17: © Juanmonino –

Getty Images, 33: © superelaks – AdobeStock, 43: © altmodern – Getty Images, 55: © Cultura –

Mauritius Images, 117: © Halfpoint – GettyImages, 125: © kupicoo – Getty Images,

143: © romrodinka – Getty Images

Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG

ISBN EBook (PDF) 978-3-451-82191-2

ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-82190-5

ISBN Print 978-3-451-38906-1

Inhalt

Geleitwort

Einleitung

1. Einführung: Kleine Drahtseilakrobaten, vergessene Kinder oder die unauffällige Auffälligkeit

1.1 Psychische Erkrankungen – das letzte große Tabu

1.2 Psychische Erkrankungen – ein Feld mit hoher Dunkelziffer

1.3 Unauffällige Auffälligkeit der Kinder – ein großes Risiko

1.4 Kindertageseinrichtungen – eine riesengroße Ressource

2. Krankheitsspezifische Aspekte & Risiken

2.1 Kinder suchterkrankter Eltern

2.2 Kinder schizophren erkrankter Eltern

2.3 Kinder affektiv erkrankter Eltern

2.4 Kinder angst- und zwangserkrankter Eltern

2.5 Kinder von Eltern mit Persönlichkeitsstörungen

3. Schutzfaktoren & Resilienz

3.1 Der salutogenetische Blick oder wie Gesundheit entsteht

3.2 Zusammenfassung der resilienzfördernden Schutzfaktoren

3.3 Das Selbstwertgefühl & dessen Bedeutung für Kinder psychisch kranker Eltern

3.4 Die Sprache der Resilienz: Ich habe – Ich bin – Ich kann

4. Bindung – ein Schlüsselaspekt

4.1 Transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen, Bindungsmustern und Traumata

4.2 Parentifizierung – wenn Kinder kleine Erwachsene sind

4.3 Oxytocin – das Bindungshormon

4.4 Bindung ist Bildung

5. Kinder psychisch kranker Eltern in der Kita stärken

5.1 Haltungsnoten zum Thema

5.2 Gut gemacht ist besser als gut gesagt

6. Psychoedukation als Instrument sozialer Bildung in der Kita

6.1 Psychoedukation als resilienzfördernder Schutzaspekt

6.2 Entwicklungspsychologische Aspekte

7. Psychoedukative Erklärungen: Kinderliteratur, Spiele & erprobte Methoden zum Thema

7.1 Kinderbücher, Broschüren & Materialien

7.2 Singen, Spielen, Klopfen & Quatschmachen

8. Selbstreflexion der Fachkräfte: Hab’ ich selbst was damit zu tun?

8.1 Embodimentale & selbstwertstärkende Selbstfürsorgetools

8.2 Wenn jeder für sich sorgt, ist für jeden gesorgt

8.3 Big-Five-Lösungsblockaden

9. Aspekte zur Gesprächsführung mit psychisch erkrankten Eltern in der Kita

9.1 Genogrammarbeit nutzen

9.2 Tipps für eine gelingende Gesprächsführung

9.3 Hinweise für Gespräche mit psychisch erkrankten Eltern

9.4 Stress & Konflikte im Gespräch

9.5 Darf es eine Prise Humor & Leichtigkeit sein?

9.6 Grenzen in der Zusammenarbeit mit Eltern?!

10. Was immer ich tue, verändert die Welt!

10.1 Kinderschutz im Blick behalten & Hilfe in Anspruch nehmen

10.2 Verbindungen schaffen & Netzwerke nutzen

10.3 Erfahrungen nutzen & weitergeben

Kernthesen & Ausblick

Literatur

Über die Autorin

Geleitwort

Allzu lange wurden die Auswirkungen psychischer Erkrankungen der Eltern auf ihre Kinder aus dem fachlichen Diskurs verbannt, weil sie bei den Fachkräften in den Bildungsinstitutionen als nicht erkennbar, nicht verstehbar oder nicht beeinflussbar galten. Doch mit diesen Vorurteilen möchte sich die Autorin nicht abfinden. Sie glaubt an die Kraft der Aufklärung, mit deren Hilfe sie die Wahrnehmung, das Verständnis und die Handlungskompetenz der Fachkräfte unterstützen möchte.

Aus diesem Grund werden in diesem Buch die zentralen Aspekte der komplexen Thematik konsequent beleuchtet und didaktisch aufgearbeitet. So gelingt es in einem systemischen Ansatz, die betroffenen Familien als Einheit – gleichzeitig aus der Eltern- und Kinderperspektive – wahrzunehmen. Die Zeitdimension beschränkt sich dabei nicht nur auf die Gegenwart. Es wird die transgenerationale Dynamik von Bindungsbelastungen und Traumatisierungen in ihren Auswirkungen auf epigenetische Phänomene und elterliche Fürsorgequalitäten berücksichtigt. Die Fachkräfte in der Kita erscheinen nicht als funktionalisierte Dienstleister, die bezüglich ihrer Betreuungsarbeit entsprechend informiert werden müssen. Sie werden als Bindungspersonen verstanden, die in ihrer emotionalen Resonanzfähigkeit in erheblichem Ausmaß von ihrer eigenen Bindungsbiografie beeinflusst werden. Gerade im Umgang mit „haltlosen“ Kindern psychisch kranker Eltern werden sie immer wieder herausgefordert, durch empathisches Fürsorgeverhalten regulatorisch einzugreifen. Dies kann nur gelingen, wenn sie im turbulenten Interaktionsgeschehen nicht allzu stark an die eigene schmerzhafte Bindungsgeschichte erinnert und dadurch in ihrem Handlungsrepertoire eingeschränkt werden.

Darüber hinaus wird die Bedeutung einer engen systemübergreifenden Vernetzung der Kitas in der psychosozialen Versorgungsregion hervorgehoben. Psychisch kranke Eltern sind nicht nur in ihrer Erziehungskompetenz eingeschränkt. Häufig finden sich in den Familien Bildungsferne, Armut, Arbeitslosigkeit, Konflikte mit den Behörden, Haushaltsdesorganisation sowie heftige, zum Teil gewalttätig ausgetragene Partnerschaftsstreitigkeiten. Diese Multiproblemkonstellationen erfordern multimodale und multiinstitutionelle Antworten. Gerade beim Hervorteten einer starken elterlichen Psychopathologie ist die Einbeziehung der Psychiatrie und im Falle einer Kindeswohlgefährdung des Jugendamtes unabdingbar. Mithilfe eines Überblicks über die aktuelle Klassifikation der psychischen Störungen ermöglicht das Buch einen orientierenden Einblick in die Symptomatologie der unterschiedlichen Krankheitsbilder.

Anja Thürnau verschweigt nicht die verwirrenden Widersprüchlichkeiten und belastenden Spaltungstendenzen im Kontext psychischer Krankheiten. Und dennoch gelingt es ihr durchgängig, Verständlichkeit, Kohärenz und Praktikabilität der Informationsinhalte aufrechtzuerhalten. Zur integrierenden Kraft wird dabei ihre stringente Haltung, die sich in jedem Kapitel des Buches wiederfindet. Diese lässt sich in den Begriffen Bindungsfokussierung und Ressourcenorientierung zusammenfassen. So beschreibt die Autorin die betroffenen Kinder als „Drahtseilakrobaten“, womit sie deren Bindungsnot und Geschicklichkeit gleichermaßen gerecht wird.

Kinder psychisch kranker Eltern können in ihrer Resilienz gestärkt werden, wenn in der Kita ein passgenaues Sicherheitsnetz geknüpft wird. Dazu müssen die Fachkräfte verstehen, dass das teilweise störende Verhalten der Kinder oder die instabilen Reaktionen ihrer Eltern „gute Gründe“ haben. Die Kinder sind wie ihre Eltern Überlebende von „Beziehungskatastrophen“. Sie haben in ihren von Mangel und Bedrohung geprägten Familien nur mit spezifisch angepassten Verhaltensstrategien überlebt, die sie auch in der Kita zeigen, im dortigen Kontext aber unverständlich und dysfunktional erscheinen. Und doch sind sie entwicklungslogisch und stellen wichtige Handlungsbotschaften dar, von deren Entschlüsselung eine nuancierte Resonanz der Fachkräfte abhängt.

Aus ihrer salutogenetischen Einstellung heraus bezieht sich Anja Thürnau auf eine beeindruckende Vielfalt an Methoden, die es den Fachkräften erlaubt, in der Kita für die Kinder einen Unterschied zu ihren Familien zu kreieren. Ein zentraler Wirkfaktor bei der Resilienzförderung ist die Psychoedukation. Die Kinder werden nach Einwilligung der Eltern alters- und entwicklungsabhängig über die Erkrankung aufgeklärt. Zur Veranschaulichung des Themas steht eine große Zahl an Kinderfachbüchern zur Verfügung. Bedenken gegenüber einer Überforderung der Kinder begegnet die Autorin mit dem Hinweis, dass die aus dem Nicht-Wissen hervorgehende Desorientierung mit den damit zusammenhängenden Bedrohungsfantasien eine wesentlich stärkere Belastung der Kinder darstellt. Erst die Aufhebung des Schweigegebotes eröffnet den Raum für die Bearbeitung von Schuld- und Schamgefühlen sowie Wut und Verzweiflung. Videogestützte Methoden – wie Marte Meo oder Klopftechniken (PEP) – bieten den Fachkräften Interventionsoptionen zur Interaktionsförderung oder Stressregulation.

Das Fundament der Förderung bleiben die Feinfühligkeit und Responsivität der Fachkraft. In der achtsamen Zuwendung mit einem „guten Gesicht“ werden die Kinder gesehen, gespiegelt und gesichert. Nur in dem Prozess der „bezogenen Individuation“ (Helm Stierlin) entwickeln sie Neugier, Selbstwert und Handlungskompetenzen auf dem langen Weg zur Autonomie des Erwachsenen.

Anja Thürnau ist es mit ihrem Buch überzeugend gelungen, die Komplexität der Thematik Kinder psychisch kranker Eltern in einem ausgewogenen Verhältnis von Theorie und Praxis verständlich abzubilden. In ihrer unerschrockenen, ziele- und werteorientierten Haltung bietet sie den Fachkräften in der Kita Sicherheit und Orientierung beim Umgang mit den „haltlosen“ Kindern und ihren emotional instabilen Eltern. Über allem aber steht die Hoffnung – die Hoffnung, dass die bedrängten Kinder in einem bindungssensiblen Umfeld ihren heilsamen Weg in eine Zukunft voller Chancen finden können.

Dr. med. Michael Hipp

Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie

Einleitung

In meiner Arbeit im „Allgemeinen Sozialen Dienst“ des Jugendamts, kurz ASD, traf ich auf viele Familien mit multiplen Problemlagen, die sogenannten Multiproblemfamilien. Bei einem sehr hohen Prozentsatz würde ich mit meinem Wissen von heute bei den Eltern vor allem Bindungsstörungen vermuten wie auch verschiedenste psychische Erkrankungen, die zu einem großen Teil nicht diagnostiziert waren. Seitdem beschäftigte ich mich mit dem Thema Kinder psychisch kranker Eltern und lerne stetig über krankheitsspezifische Aspekte, Belastungen und Risikofaktoren, über Ressourcen und Schutzfaktoren sowie den gesamten bindungstheoretischen Hintergrund dazu. Es ist ein sehr komplexes Thema, das ein vielfältiges Wissen benötigt. Dieses Wissen half mir dabei weiter, die Situation der Kinder besser zu erkennen, zu verstehen und ihnen in vielen Fällen helfen zu können. Wenig überraschend für mich begegnet mir das Thema auch in meinem aktuellen Arbeitsfeld als Kita-Fachberaterin und Fachberatung im Kinderschutz (InsoFa) regelmäßig. Ich bin jedoch immer wieder erstaunt, dass es so oft ein – manchmal paradoxerweise lange für das kurze Leben der Kinder – nicht erkanntes Hintergrundthema darstellt.

Ich habe in dieses Buch sowohl meine langjährigen Praxiserfahrungen in Form von Fällen und Praxisbeispielen1 mit einfließen lassen als auch viele Sichtweisen und Ergebnisse geschätzter Expertinnen berücksichtigt. Hier und da habe ich immer wieder versucht etwas über den Tellerrand des Themas Kinder psychisch kranker Eltern zu schauen. Sie können das Buch in Reihenfolge der Kapitel von vorn nach hinten lesen oder auch kapitelweise. Zwischendurch finden Sie für sich immer mal wieder kleine Selbstreflexionseinheiten. Wenn Sie mögen, notieren Sie sich Ihre Antworten. Hier folgt gleich die erste „Reflexionstankstelle“, viel Spaß!:

Reflexion

Was hat Sie zu diesem Buch greifen lassen? Welche wichtigen Gedanken gehen Ihnen diesbezüglich durch den Kopf, die wichtig sind, gleich zu Beginn festzuhalten?Was interessiert Sie am Thema Kinder psychisch kranker Eltern?Welche Antworten, Ideen und Lösungen möchten Sie nach dem Lesen dieses Buches mit in Ihre Praxis nehmen?

In den folgenden ersten Kapiteln werden Sie sowohl eine Einführung in das Thema sowie wichtige Grundlagen kennenlernen. Die Risikofaktoren sind teilweise sehr ausführlich beschrieben. Damit möchte ich Ihnen keinesfalls nahelegen, dass in der Kita eine Art Diagnostik durchgeführt werden sollte. Der Grund ist eher, dass Sie, je mehr Sie über die Risikofaktoren und krankheitsspezifischen Aspekte wissen, diese in der Praxis leichter wiedererkennen können. Für eine psychiatrische Diagnostik benötigen die Eltern, und damit auch wir pädagogischen Fachkräfte, unbedingt die interdisziplinäre Kooperation mit anderen medizinischen und psycho-sozialen Fachkräften. Deshalb halte ich auch die Arbeit in Netzwerken in den Kommunen für so ungeheuer wichtig. Dazu lesen Sie mehr im Kapitel 10.2Verbindungen schaffen, Netzwerke nutzen. Pädagogische Fachkräfte ermuntere ich indes sehr gern, sich eine pädagogische Diagnostik zuzutrauen, die sich auf unseren Bereich der Kindheitspädagogik, Pädagogik und Sozialen Arbeit konzentriert.

1.

Einführung: KleineDrahtseilakrobaten,vergessene Kinder oderdie unauffällige Auffälligkeit

In diesem Kapitel erfahren Sie

warum das Thema „psychische Erkrankung“ weitgehend übersehen und tabuisiert wirdwas dieser Umstand für die betroffenen Kinder und ihre Familien bedeutetwarum Kitas hier eine große Ressource und Unterstützung darstellen

Als ich gemeinsam mit meiner Kooperationspartnerin Julia Krankenhagen von nifbe2 einen Fachtag zum Thema „Kinder psychisch erkrankter Eltern“ plante, haben wir uns für den Titel Kleine Drahtseilakrobaten entschieden, dem folgendes Bild zugrunde liegt:

© narvikk – Getty Images

Kinder psychisch kranker Eltern bewegen sich in ihrem jungen Leben bildlich gesprochen wie kleine Akrobaten auf dem Drahtseil. Sie brauchen ein Sicherheitsnetz. Doch gibt es genügend verlässliche Personen, die einen möglichen Sturz sichern können? Ist es nur der erkrankte Elternteil oder steht bereits eine Kita-Fachkraft oder eine Kindertagespflegeperson zur Seite? Sind weitere Bindungspersonen für das Kind zur Stelle, wie zum Beispiel ein gesunder Elternteil oder andere Familienangehörige? Gibt es weitere Helferinnen, die das Netz spannen, wie etwa eine Patenfamilie? Je weniger Personen um das Sicherheitsnetz stehen, desto gefährlicher ist die Situation für das betroffene Kind.

Was können pädagogische Fachkräfte also tun, um die Situation für Kinder psychisch kranker Eltern zu verbessern, was kann die Kita aus sich heraus leisten? Ich möchte Sie nun in die Welt dieser kleinen Drahtseilakrobaten einladen:

1.1 Psychische Erkrankungen – das letzte große Tabu

Eine psychische Erkrankung bei den Eltern oder bei einem Elternteil stellt einen oft noch tabuisierten Hochrisikofaktor für die Entwicklung der Kinder dar, denn sie kann die Ausübung der Elternrolle grundlegend beeinträchtigen. Und Kinder psychisch kranker Eltern (KPKE) wachsen mit einem erhöhten Risiko auf, ebenfalls im Verlauf ihres Lebens eine psychische Erkrankung zu entwickeln (vgl. Plass & Wiegand-Grefe 2012).

Deshalb ist ein differenzierter pädagogischer Blick der Fachkräfte in der Kita im Sinne einer frühen Förderung der Entwicklung sinnvoll und hilfreich. Kinder profitieren davon, über die Krankheit ihrer Eltern informiert zu werden und darüber mit weiteren Bezugspersonen in der Kita reden zu dürfen. Insbesondere, weil diese Kinder oft den subjektiven Eindruck haben, dass es verboten ist, über die Situation in ihrer Familie zu sprechen. Eltern geben oft an, dass sie besonders ihre jüngeren Kinder schützen möchten, indem sie ihre Erkrankung nicht thematisieren (vgl. ebd.). Kinder nehmen jedoch spätestens im Vorschulalter wahr, dass die Situation in der eigenen Familie anders ist als zum Beispiel bei ihren Freunden.

Die „psychische Erkrankung darf als das letzte große Tabu in unserer ‚Spaßgesellschaft’ angesehen werden“ (Pretis & Dimova 2016, S. 27). Kinder psychisch kranker Eltern haben kaum eine Lobby in der Gesellschaft und sind häufig sozialer Stigmatisierung und Ausschluss ausgesetzt sind. Denn psychische Symptome werden noch immer stark mit Schuld in Verbindung gebracht. Vonseiten der Eltern können die Kinder mit einem Kommunikationsverbot belegt werden, da diese befürchten, dass ihnen bei Bekanntwerden des „Geheimnisses“ die Kinder weggenommen werden (ebd., S. 13ff.). Häufig besteht für die Kinder auch ein aktives oder unausgesprochenes Kommunikationsverbot in der Familie. Die Kinder befürchten dann, ihre Eltern zu verraten, wenn sie über ihre Schwierigkeiten zu Hause erzählen (Mattejat & Lisofsky 2014).

1.2 Psychische Erkrankungen – ein Feld mit hoher Dunkelziffer

Aktuelle Erhebungen gehen von 3,8 Millionen Kindern aus, die in Deutschland im Laufe eines Jahres mit einem psychisch erkrankten Elternteil leben (vgl. Pillhofer u.a. 2016; Müller & Schmergal 2017) – mit steigender Tendenz. Wenn ich in diesem Buch über Kinder psychisch kranker Eltern3 (KPKE) schreibe, beziehe ich mich einerseits auf diese statistischen Zahlen von Kindern, bei deren Eltern eine diagnostizierte psychische Erkrankung vorliegt. Ich meine damit aber auch explizit die große Dunkelziffer von Kindern, deren Eltern über keine Diagnose verfügen. Und aus meiner Praxiserfahrung heraus kann ich sagen, dass die Gruppe von Eltern ohne Diagnose größer ist, als man allgemein denkt. Gründe, weshalb Eltern eine Diagnose vermeiden, können vielfältig sein, zum Beispiel die Unkenntnis der eigenen Krankheit oder der des Partners, die Scham über die persönliche Situation oder die Angst davor, die Kinder durch das Jugendamt weggenommen zu bekommen, die Arbeitsstelle zu verlieren oder auf andere Art und Weise stigmatisiert zu werden.

Diese Dynamik kann die Kommunikation innerhalb der Familien einschränken und dafür sorgen, dass die Familienmitglieder seltener mit ihrem sozialen Umfeld in Kontakt treten – die Familie wird dann zu einem geschlossenen System. Bei den Kindern wie auch bei ihren Eltern entsteht ein zunehmendes Gefühl der Isolierung bis hin zu einer realen Isolierung der Familie. So erklärt sich auch, dass für die Kinder direkt oder indirekt ein Redeverbot verhängt wird: „Darüber spricht man nicht!“ Dies führt dazu, dass für die Kinder tragende außerfamiliäre Beziehungen als Bewältigungsressource nicht zur Verfügung stehen. Bereits erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern berichten oft in der Rückschau von den Folgen dieser sozialen Isolation: von einem überdauernden Gefühl der Einsamkeit und des Alleingelassenseins und der Überzeugung, dass es „keinen interessiert, wie’s mir geht“ (Müller 2008, S. 145).

1.3 Unauffällige Auffälligkeit der Kinder – ein großes Risiko

Ein großes Risiko von Kindern psychisch kranker Eltern liegt in ihrer unauffälligen Auffälligkeit (Pretis & Dimova 2016, S. 13ff.). Deswegen werden sie oft auch als „vergessene Kinder“ bezeichnet, denn:

ihre Botschaften werden vonseiten der Erwachsenen – auch der Fachkräfte – oft nicht gesehen, missdeutet oder erst sehr spät wahr- und ernstgenommen;

„Fachkräfte (auch berufserfahrene) unterschätzen noch häufig die Anzahl psychisch erkrankter Eltern, sodass die von den Kindern kaum zu artikulierende Belastung auch nicht erkannt wird (Bauer u.a. 1998). 40 Prozent der Kinder psychisch verletzlicher Eltern hatten z.B. keinerlei institutionelle Unterstützung (Gundelfinger 2002)“ (ebd., S. 31);

Fachkräfte, vor allem Psychiater im Erwachsenenbereich, schenken der Entwicklung der Kinder ihrer Patienten kaum Beachtung – sei es, dass die Behandlung selbst sehr viel Energie bindet oder das professionelle Wahrnehmungssystem Angehörige erst im Zuge der Öffnung der Psychiatrie langsam zu integrieren beginnt, jedoch noch nicht die Kinder psychisch Erkrankter erreicht hat (ebd., S. 26);

Mit Ausnahme des Bereichs der Alkoholerkrankungen sind bis auf einige Modellprojekte kaum institutionalisierte Strukturen für Kleinkinder vorhanden, deren Eltern psychisch erkrankt sind. Im Schulkind- und Jugendalter gibt es dagegen niedrigschwellige Angebote, auch mittels neuer Medien, wie Internetnotrufe, Telefonhotlines, Kummernummern (ebd., S. 26).

1.4 Kindertageseinrichtungen – eine riesengroße Ressource

Erfreulicherweise ist jedoch zu beobachten, dass in den letzten Jahren die Kinder psychisch erkrankter Eltern in den Fokus der psycho-sozialen Fachkräfte gerückt sind und so nicht länger nur vergessen, übersehen oder unsichtbar scheinen (vgl. Müller 2008). Es geht verstärkt darum, das Verhalten dieser Kinder zu erkennen und zu verstehen. Hier mag als Grundhaltung der aus der Traumapädagogik stammende gute Grund (Weiß in: Thürnau 2020; Weiß & Picard in: Thürnau 2020) nützlich sein. Nämlich, dass Kinder psychisch kranker Eltern durch ihr (Symptom-)Verhalten in der Kita den verzweifelten Versuch unternehmen, eine unerträgliche häusliche Situation zu kontrollieren und sich dabei durchaus entwicklungslogisch verhalten (vgl. Hipp 2018). Sie bieten uns durch ihr Verhalten eine Art Barometer, wie es ihnen geht. Man kann dies auch als ihre eigene Sprache bezeichnen, die den Fachkräften wichtige Informationen gibt. Wir helfen ihnen, indem wir ihre Sprache entschlüsseln und mit ihnen kommunizieren, selbst wenn die Kinder in ihrer unauffälligen Auffälligkeit schwierig zu verstehen sind.

Berücksichtigt man dazu noch den aktuellen Hintergrund der Corona-Pandemie, unter der die Kinder aus belasteten Familien besonders leiden, hat das Thema eine neue Brisanz: „Die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, dass wir die Interessen der Kinder stets besonders im Blick behalten müssen, dies aber leider noch nicht überall selbstverständlich ist. Umso wichtiger ist es deshalb, gerade jetzt die Kinderrechte großzuschreiben – in unser Grundgesetz“ (Giffey 2021).

Demzufolge stellen aus meiner Sicht die Einrichtungen der Kindertagesbetreuung eine riesengroße Ressource dar, im Besonderen die Kitas. Denn Sie als pädagogische Fachkräfte können die psychische Gesundheit und Resilienz dieser Kinder nachhaltig fördern und im Sinne der Prävention die Kita zu einem gesundheitsförderlichen Ort für Kinder (vgl. Rönnau-Böse & Fröhlich-Gildhoff 2020) gestalten. Der Untertitel dieses Buches verrät bereits, welche Kernkompetenzen für die pädagogischen Fachkräfte dazu notwendig sind:

eine gute Beobachtung, Selbstreflexion und Selbstfürsorge (erkennen),

die Fähigkeit, die kindlichen Verhaltensweisen und Signale zu deuten (verstehen),

die bindungsfokussierte Arbeit in der Kita in Form von stressreduzierenden, selbstwertstärkenden und resilienzfördernden Angeboten (stärken).

Das Thema der psychischen Erkrankungen von Eltern wird nach wie vor tabuisiert – dabei leben derzeit fast vier Millionen Kinder in Deutschland im Laufe ihres Lebens mit einem erkrankten Elternteil zusammen. Die Kinder verhalten sich zunächst scheinbar unauffällig, was einen hoch differenzierten Blick pädagogischer Fachkräfte erforderlich macht. Einrichtungen der Kindertagesbetreuung stellen für diese Kinder eine ganz entscheidende Ressource dar, indem sie diese Kinder mit hohen und meist vielfältigen Risikofaktoren erkennen, verstehen und stärken.

2.

KrankheitsspezifischeAspekte& Risiken

In diesem Kapitel erfahren Sie

was das Leben von Kindern psychisch kranker Eltern und ihrer Familien prägtwelche krankheitsspezifischen und diagnostischen Aspekte Sie kennen solltenwelche Risikofaktoren für die Kinder damit verbunden sind.

Familien mit psychisch kranken Eltern (oder Elternteilen) gelten als Hochrisikofamilien, denn viele psychische Erkrankungen beeinträchtigen grundlegend die Ausübung der Elternrolle. Allgemeine psychosoziale Risikofaktoren für Kinder psychisch kranker Eltern sind:

sozioökonomische Aspekte,

wie zum Beispiel Armut der Familie, Arbeitslosigkeit der Eltern, enge oder unzureichende Wohnverhältnisse;

soziokulturelle Aspekte,

wie soziale Randständigkeit oder Isolation, kulturelle Diskriminierung;

niedriger Ausbildungsstand

bzw. Berufsstand der Eltern,

unzureichendes oder

fehlendes soziales Unterstützungssystem

der Familie;

geringe reale und emotionale Verfügbarkeit von Bezugspersonen

außerhalb der Familie;

Misshandlung und/oder

Vernachlässigung;

Verlust wichtiger Bezugspersonen

(Plass & Wiegand-Grefe 2012; Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass 2011).

Die Risiko- und Belastungsfaktoren mit ihren Auswirkungen interagieren, das heißt, sie beeinflussen sich gegenseitig und multiplizieren sich dadurch (Plass & Wiegand-Grefe 2012).

Praxisbeispiel „Arians Rückzug“

Die Mitarbeiterinnen einer Kita bitten um eine Fachberatung, da sie sich Sorgen um den vierjährigen Arian aus ihrer Gruppe machen. Der Junge lebt gemeinsam mit seinen Eltern und seinem zweieinhalb Jahre älteren Bruder seit zwei Jahren in Deutschland, nachdem die Familie aus dem Iran immigriert ist. Die pädagogischen Fachkräfte konnten beobachten, dass der Junge in der Gruppe so gut wie nichts isst oder trinkt. Außerdem vermeidet er den Toilettengang. Die Mutter, die sich nach einem Sprachkurs recht gut mit den pädagogischen Fachkräften verständigen kann, bestätigt die Sorge, da Arian zu Hause ebenfalls die Toilette meidet. Die Eltern hatten schon versucht, ihm wieder eine Windel anzulegen. Der Kinderarzt stellte fest, dass Arian unter einer starken Verstopfung leidet. Er scheint den Kot zurückzuhalten, musste bereits starke Schmerzen haben und wurde daraufhin medizinisch behandelt.

In einem darauffolgenden Elterngespräch in der Kita kann die Einrichtungsleitung die Eltern zu bestehenden Belastungen und Sorgen befragen. Unter anderem, ob es physische oder psychische Krankheiten in der Familie gibt. Die Mutter berichtet, dass beide Eltern im Iran studiert haben. Sie war dort Lehrerin, ihr Mann Physiker. Seit der Flucht aus ihrem Heimatland entwickelte der Vater Symptome einer Depression, die zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht diagnostiziert war, ihm also bisher noch keine Hilfe zugutekam. Der Vater stimmt im Gespräch zu, dass seine Kontaktdaten an den Sozialpsychiatrischen Dienst weitergeleitet werden. Darüber hinaus entscheiden sich die Eltern dazu, eine Sozialpädagogische Familienhilfe beim Jugendamt zu beantragen. Dieser Kontakt wird durch die Kita und die Fachberatung in einer Art Lotsenfunktion übergeleitet.

Arian integriert sich in der nächsten Zeit besser in der Kita, beginnt regelmäßig zu essen und mehr zu sprechen. Als sein Vater eine Psychotherapie in der Tagesklinik beginnt, können die Eltern und die Fachkräfte gleichermaßen beobachten, wie sich die Situation des Vierjährigen mehr und mehr entspannt und normalisiert.

Die unterschiedlichen Reaktionsweisen von Kindern auf die Belastungen weisen alterstypische Charakteristika auf. Das kindliche Erleben ist abhängig vom kognitiven Reifungsgrad, von den emotionalen Bedürfnissen und den sozialen und körperlichen Fertigkeiten. Ein Kind, das seit dem Säuglingsalter aufgrund stationärer Behandlungen eines Elternteils (speziell der Mutter) wiederkehrend Trennungen durchlebt hat und keine tragfähige Bindung entwickeln konnte, ist in seiner psychischen Entwicklung stärker gefährdet (vgl. Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass 2011; Pretis & Dimova 2016) als ein älteres, sicher gebundenes Kind, dessen Vater oder Mutter eine psychische Krankheit entwickelt.

Kinder psychisch kranker Eltern haben ein erhöhtes Risiko, selbst einmal psychisch zu erkranken und weisen die drei- bis siebenfach erhöhte Rate4 internalisierender5 und externalisierender6 Auffälligkeiten gegenüber der Normalbevölkerung auf. Alle Kinder psychisch erkrankter Eltern zeigen sowohl ein erhöhtes spezifisches als auch ein erhöhtes allgemeines psychiatrisches Erkrankungsrisiko. Insgesamt entwickeln rund 60 Prozent der betroffenen Kinder in ihrem Leben irgendeine psychische Auffälligkeit (vgl. Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass 2011, S. 16f.).

Lassen Sie uns nun in die unterschiedlichen Bereiche psychischer Erkrankungen schauen und auf deren Bedeutung für die Kinder, die mit Eltern und Elternteilen leben, die diese Krankheiten entwickelt haben.

2.1 Kinder suchterkrankter Eltern

„Alkohol macht, dass man so schummrig wird, und dann kann man nicht mehr normal sprechen und laufen. Oder man schreit laut und wird richtig böse und gefährlich“ (Koller 2016, S. 76).

Die Anzahl der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren, die in Deutschland in einer Familie mit mindestens einem Elternteil mit Alkoholabhängigkeit leben, wird auf 1,8 bis 2 Millionen geschätzt (Plass & Wiegand-Grefe 2012, S. 21). Kinder suchterkrankter Eltern entwickeln in einer höheren Rate die folgenden Auffälligkeiten und leiden unter folgenden Risiken und Belastungen:

fetales Alkoholsyndrom,

fetale Alkoholeffekte,

neonatales Abstinenzsyndrom,

externalisierende/internalisierende Auffälligkeiten,

affektive Störungen,

ADHS,

Abhängigkeitserkrankungen,

Angststörungen,

Essstörungen(vgl. ebd., S. 49; Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass 2011, S. 48).

Die Kindheit in Familien mit einem alkohol- oder drogenabhangigen Elternteil ist oft gepragt von Vernachlassigung, Missbrauch, Gewalterfahrungen und widerspruchlichem, unbestandigem Erziehungsverhalten (Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass 2011, S. 46). Auserdem findet man in diesen Familien ein hohes Ausmas an intrafamiliaren Konflikten (vgl. Plass & Wiegand-Grefe 2012, S. 49).

Da die vorgeburtlichen Risiken von Kindern suchtabhängiger Eltern so schwerwiegend sind, folgt hier eine Vertiefung:

Risiken für das ungeborene Leben während der Schwangerschaft entstehen durch plazentagängige Substanzen wie Alkohol, Medikamente und andere Drogen. Diese Substanzen wirken toxisch (Nikotin, Haschisch, Heroin, Polamidon, Medikamente) und/oder teratogen7 (Alkohol, Amphetamine, Barbiturate, Kokain, Crack, LSD) (Plass & Wiegand-Grefe 2012, S. 46f.).

Das fetale Alkoholsyndrom (FAS) kann durch Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft entstehen und in unterschiedlicher Schwere ausgeprägt sein – mit den folgenden Hauptsymptomen: Untergewicht, Kleinköpfigkeit (Mikrozephalie), mangelhafte Muskelentwicklung, typische Gesichtsveränderungen (ein flach wirkendes Profil, fliehendes Kinn, flache Nase), kognitive Entwicklungsverzögerungen (z.B. im Bereich der Sprache und Motorik) und psychische Auffälligkeiten (Hyperaktivität, Defizite in der sozialen Entwicklung und emotionalen Regulation). Viele der betroffenen Kinder weisen eine Intelligenzminderung (IQ <70) auf. Manche Kinder zeigen nicht das Vollbild, sondern nur einzelne Symptome, die dann als fetale Alkoholeffekte (FAE) bezeichnet werden (ebd., S. 47).

Von dem neonatalen Abstinenzsyndrom (NAS) sind 50 bis 95 Prozent Kinder drogenabhängiger Schwangerer betroffen. Dieses Syndrom macht beim Säugling eine mehrwöchige stationäre Drogenentzugsbehandlung erforderlich. Danach sind die Kinder von der körperlichen Abhängigkeit befreit, bleiben jedoch psychisch labil, sind hoch irritabel, erleben Panikanfälle, schreien viel und lassen sich schwer beruhigen (ebd.).

Zusätzlich sind folgende geschlechtsspezifischen Gefährdungen bei Kindern mit suchterkrankten Eltern zu beobachten (Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass 2011, S. 46):

Ist die Mutter suchterkrankt, wird das Kind oftmals nicht ausreichend vor externen negativen Einflüssen geschützt, wie vor missbrauchenden Erwachsenden.

Liegt eine Suchterkrankung auf Seiten des Vaters vor, ist das Risiko für physische Gewalt oder sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie erhöht.

Häufig müssen Kinder mit suchtabhängigen Eltern schon früh Verantwortung für ihre Eltern tragen oder sogar die Elternrolle übernehmen. Zur Parentifizierung von Kindern psychisch kranker Eltern können Sie im vierten Kapitel mehr erfahren.

2.2 Kinder schizophren erkrankter Eltern

„Der Name ist so komisch, den kann ich mir nicht merken, aber bei der Krankheit macht man auch komische Sachen und hat komische Gedanken im Hirn“ (Koller 2016, S. 66).

Das Erkrankungsrisiko eines Kindes mit einem Elternteil, der an Schizophrenie leidet, erhöht sich bei einer Lebenszeitprävalenz für schizophrene Erkrankungen von einem Prozent (Risiko der Gesamtbevölkerung) auf 13 Prozent. Bei ein bis zwei von tausend Geburten treten bei den Müttern erstmalig schizophrene Psychosen auf. Demnach sind in Deutschland jährlich circa 680 bis 1.380 Babys8 mütterlichen schizophrenen Psychosen ausgesetzt (Wiegand-Grefe, Halverscheid & Plass 2011, S. 16).

Die Erscheinungsbilder der Schizophrenie sind vielfältig und scheinen im Widerspruch zu den kulturell akzeptierten Annahmen über unsere Realität zu stehen. Die Schizophrenie ist eine psychische Krankheit, die mit Realitätsverlust, Trugwahrnehmungen, Wahnvorstellungen, Störungen des Denkens und der Gefühlswelt einhergeht. Ohne dies anfangs zu erkennen, versuchen gesunde Familienmitglieder – auch die Kinder –, das Verhalten oder die Äußerungen der erkrankten Person durch realitätsbezogene Erklärungen und Argumente zu korrigieren. Diese Bemühungen bleiben jedoch in der Regel ohne Erfolg (Pretis & Dimova 2016, S. 147). Pretis und Dimova beschreiben die folgenden Aspekte aus der Sicht von Kindern, die mit einem an Schizophrenie erkrankten Elternteil leben:

Unverständliche Signale für das Kind – Äußerungen, die Kinder nicht verstehen: Die Kinder können oft die Aussagen des erkrankten Elternteils (z.B. beim Verfolgungswahn) nicht nachprüfen und verstehen bzw. sogar für glaubwürdig halten. Diese Äußerungen werden die Kinder jedoch verunsichern und Angst verursachen, da sie immer mit negativen Folgen verbunden zu sein scheinen. Beim Beziehungswahn schildern die Eltern zum Beispiel, dass hinter ihrem Rücken über sie gelacht oder im Fernsehen über sie gesprochen wird. Die Kinder können sich davon in ihrem Sicherheitsgefühl massiv bedroht fühlen. Angst, Unruhe und Überforderung, das Gehörte in die kindliche Vorstellungswelt zu integrieren, kann die Folge sein. Die Überzeugung, dass sich Gedanken nach außen ausbreiten (Gedankenausbreitung) oder entzogen werden (Gedankenentzug) oder der erkrankte Elternteil von anderen kontrolliert wird (Kontrollwahn), können beim Kind sogar die Entwicklung einer induzierten Psychose auslösen. Das Kind glaubt, selbst verfolgt zu werden (Pretis & Dimova 2016, S. 147f.).

Verhaltensweisen, die Kinder nicht verstehen, sind zum Beispiel akustische Halluzinationen: Kinder sehen und hören, wie der erkrankte Elternteil allein mit sich redet und unpassend zur realen Situation verhält. Es können auch scheinbar sinnlose und stereotype Bewegungen wie plötzliches Schreien, Springen, Hochheben des Beines sein oder unverständliche Erklärungen an Außenstehende, wie „Man könne mit Gott kommunizieren und müsse jederzeit bereit sein, dessen Anweisungen entgegenzunehmen“ (ebd., S. 148).

Alltagsstrukturen, die zusammenbrechen, und die Veränderungen durch die Krankheit treten meist allmählich im Alltag auf. Die erkrankten Personen erleben die Symptome intensiv und sind mehr und mehr damit beschäftigt. Der Alltag, die Kindererziehung und der Haushalt geraten in den Hintergrund. Die Vernachlässigung der Bedürfnisse der Kinder ist eine der Folgen. So können gerade bei Kindern, die mit dem erkrankten Elternteil allein leben, sehr oft existenzielle Bedürfnisse unbefriedigt bleiben (ebd., S. 149).

Besonderen Auswirkungen und Belastungen für Kinder mit an Schizophrenie erkrankten Eltern sind:

selteneres Spiel und weniger Lernerfahrung,

geringere emotionale und verbale Beteiligung,

desorganisiertes Bindungsmuster,

bizarres Elternverhalten, gekennzeichnet durch unvorhersehbare, wechselhafte bis hin zu feindseligen Handlungen,

Widersprüche, insbesondere durch den schizophrenie-typischen Kommunikationsstil „Double Bind“, der typischerweise zwei völlig widersprüchliche Aussagen, Botschaften oder auch Aussagen beinhaltet, durch die das Kind in eine Art „Zwickmühle“ gerät und die Erfüllung dadurch unlösbar erscheint,

Vernachlässigung,

verzerrte Vorstellungen vom Kind; hier wird das Kind ins Wahnsystem des erkrankten Elternteils miteinbezogen (Achtung: Kinderschutz beachten!).

Zu den Risiken im Kindesalter gehören in dieser Gruppe:

Ein desorganisiertes Bindungsverhalten

Defizite in der affektiven Kontrolle: emotionale Instabilität, Stressübererregbarkeit, leichte Reizbarkeit, Ängstlichkeit und Stimmungsabhängigkeit

Emotionale Symptome (ängstlich, zerstreut, zurückgezogen, depressiv)

Defizite in der Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung, Beeinträchtigungen der schulischen Leistungen, vermeidendes, ambivalentes Bindungsverhalten und soziale Hemmungen

Forschungen zeigen, dass Kinder schizophrener Eltern neben dem Risiko, schizophreniespezifische Symptome zu entwickeln, auch ein erhöhtes Risiko haben, vermehrt kognitive, emotionale und somatische Auffälligkeiten zu zeigen. Eine Trennung vom erkrankten Elternteil reicht in aller Regel, diese Symptome wieder abklingen zu lassen.

Pädagogischen Fachkräften fallen sicherlich zuerst die „Exklusivität“ und „das Fremde“ als Erscheinungsbild der Schizophrenie auf. Dies ruft bei den beteiligten Menschen meist Reaktionen wie Angst, Verunsicherung und Ratlosigkeit hervor (vgl. Pretis & Dimova 2016, S. 148ff.).

Besteht der Eindruck oder die Sorge, dass sich das Kind im Wahnsystem des erkrankten Elternteils befindet und das Kindeswohl gefährdet ist, sollte der Kinderschutz