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Hoyerswerda – einst DDR-Musterstadt, in der morgens die Eltern in Schichtbussen davonrollten und die Kinder in einem Kollektiv aufwuchsen - erlangte durch die rassistischen Ausschreitungen 1991 traurige Berühmtheit. In ihrem dokumentarischen Roman verschränkt Grit Lemke die Stimmen der Kinder von Hoy zu einer mitreißenden Oral History und gibt einer Generation Gehör, für die Traum und Trauma dicht beieinanderlagen. Sie versammelt Gespräche mit Freunden und Familie und erzählt von ihrem eigenen Leben als Teil einer proletarischen Boheme um Gerhard Gundermann, die sich nachts im Kellerclub trifft und tagsüber malocht. Als nach der Wiedervereinigung Neonazis das erste Pogrom der Nachkriegszeit verüben, bleibt die Kulturszene tatenlos. Danach ist nichts mehr, wie es war …
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Seitenzahl: 296
Grit Lemke
Kinder von Hoy
Freiheit, Glück und Terror
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5329.
suhrkamp taschenbuch 5329© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2021
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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagfoto: Gilles Peress/Magnum Photos/Agentur Focus
eISBN 978-3-518-76988-1
www.suhrkamp.de
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.
Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Motto
Prolog
I Michel in den weißen Bergen
Kittelschürze. Mütter und Väter
Wer möchte nicht im Leben bleiben
Erster, zweeter, dritter Durchgang
Kanimambo Frelimo. Die Mauer
Buden bauen und Automaten
Die Reihen der Erwachsenen
II Country Roads, Take Me Home
Wir heißen alle Torsten. Schichtbrot
Druckbetankung
Unterwegs
Kraniche
The Place I Belong
III Die Avantgarde ergibt sich, aber sie stirbt nicht
Hinter’n Vorhang
Hippie-Brigade
Underground im Kinderzimmer
Drei Meter breit, zwei Meter hoch. Bücher
Blasse Blume
Bunte Rohre
Schulhof, Laden, Bums
Distanzieren Sie sich von Dada!
Plattenhasche. Eh’s verboten wird – weg!
Der Tunnel: Stop. Making. Sense
Gaswerk
Um fünfzehn Uhr verhaftet. Wendeschleife
IV Saxen macht mal Faxen. Anarchie
Bumm bumm. Nachrichten aus der Schrankwand
Die Entdeckung der Gallone
Ladanier aller Länder, vereinigt euch!
Ohne Schuhe
Gegen alles. Links und rechts
V Die mit den Wolfsaugen. Havarie
Zwanzig Pfennige
Wolfgang und so weiter. Jagd
Antilopen
VI Kampfübungen
Pflastersteine
Fuß inner Tür. Zecken
Unterm Bus
VII Kippen
Flugzeug
Aufsichtspflicht
Haus am Markt. Gesellschaft
Ich male alles grau
Das geht so ni. Grundbruch
Epilog
Danksagung
Die Personen
Einwurf, Februar 2023
Literaturverzeichnis
Zitatnachweise
P
rolog
Wer möchte nicht im Leben bleiben
Kanimambo Frelimo
Country Roads, Take Me Home
Hippie-Brigade
Distanzieren Sie sich von Dada
Die Entdeckung der Gallone
Blasse Blume
Ladanier aller Länder, vereinigt euch!
Gegen alles. Links und rechts
Zwanzig Pfennige
Fuß inner Tür. Zecken
Ich male alles grau
Danksagung
Informationen zum Buch
Kinder von Hoy
Nullte Stunde, Montagmorgen, Planetarium. Die haben sie extra für uns erfunden. Es gibt einfach zu viele Kinder in dieser Stadt. Man hat sie eigens für junge Arbeitskräfte errichtet, und wider Erwarten produzieren sie nicht nur Kohle, Gas und Energie, Schwarze Pumpe liefert sie im Akkord. Mit gleichem Fleiß machen sie Hoyerswerda zur kinderreichsten Stadt des Landes. So viele Schulen sie auch bauen – immer, wenn sie die nächste feierlich eröffnen, wird sie schon wieder zu klein sein. Die Zahl der Kinder steigt schneller, als sich die Kräne drehen. Ein ewiges Hase-und-Igel-Spiel. Da hilft nur List.
Für uns Kinder haben sie zuerst den Schichtunterricht erfunden. Kein Problem für Kinder von Bergarbeitern, leben doch auch wir im Rhythmus von Früh-, Spät- und Nachtschicht, die sich zur rollenden Woche vereinen. Schon bald gehen wir als Früh- oder Spätschicht zur Schule. So kehrt nur für wenige Stunden Ruhe in den Klassenräumen und auf den langen Schulfluren ein.
Selbst das aber scheint undenkbar an einem Ort, wo auch die Kohlebänder ohne Unterlass rollen. Und so hat man der Nacht noch ein Stück genommen und es an die Frühschicht rangepappt, die nun noch früher beginnt: nullte Stunde. Um sieme gilt hier als Ausschlafen, bringen doch die Schichtbusse der ersten Welle kurz vor fünf schon Arbeiter ins Gaskombinat, nach Pumpe.
Deshalb stehen wir jeden Montagmorgen müde im Planetarium. Gleich wird das Licht gnädig verlöschen, und Herr Scholze im blauen Kittel wird den knarrenden Mechanismus der Sternwarte in Bewegung setzen. Zuvor aber gilt es, den Tag mit einem Lied zu beginnen.
Weil wir in einer Stadt leben, wo man alles effektiviert, singen wir jeden Morgen dasselbe: Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum. Unser Heiligtum, das Planetarium, wurde für uns Kinder errichtet – im sechsten Wohnkomplex. Jeder hier sagt dazu nur Weka sechs oder schreibt »WK VI«. Als würden die römischen Zahlen dem, was woanders »Stadtviertel« hieße, mehr Gewicht verleihen.
Zahlen sind hier wichtig, denn auf WK VI folgen schon bald Nummer VII und VIII. Erst bei X wird das stetige Wachstum der Stadt wider Erwarten ein jähes Ende finden. Aber das ahnen wir noch nicht, und es wäre uns auch egal an diesem Montagmorgen. Wir wollen uns nur setzen dürfen, zur Stunde der toten Augen. Denn dann öffnet sich der bestirnte Himmel über uns.
Die Sternwarte ist in den Sechzigern errichtet worden – für uns, die Kinder der neuen Stadt. Auf Bildern sieht man, wie die ersten Bewohner mit Fleiß und nach Feierabend bei der Sache sind. 680 Einwohner der Stadt errichten sie in 24000 Stunden, wird später in der Zeitung stehen. Die Frauen tragen Kopftuch. Die Kinder Baumwolltrainingshosen, deren Bund knapp über der Brust sitzt, weil man den stets ausgeleierten Gummi vorn raus- und über den Kopf ziehen muss (so passt’se gut, nur untern Achseln drückt’se bissl). Man sieht, wie sie Ziegel weiterreichen von Hand zu Hand und Mörteleimer auf das Gerüst schleppen. In karierten Hemden die Männer, verwegene Hüte auf den Köpfen. Wie sie die Kellen schwingen, wie das runde Gebäude Stück für Stück wächst. Ungeheuerlich in unserer sonst so quadratischen Stadt, die doch als erste der Welt aus vorgefertigten Elementen montiert wird (»Wo ein Bauhaus ist, da lass dich ruhig nieder. Böse Menschen haben keine Quadrate«, werden wir viel später dichten). Ganz altmodisch, Stein für Stein von Hand gemauert, wuchs das Haus, das uns doch einmal in die Zukunft katapultieren sollte.
Auf der Suche nach Zukunft waren auch die, die in den Fünfzigern hierherkamen, um das neue Hoyerswerda zu bauen. Maurer und Zimmerleute, auch ungelernte Bauhelfer. Die einfach auf der Suche waren nach einer Arbeit und einem Dach überm Kopf. Viele von ihnen hatte man woanders rausgeschmissen, oder sie kamen aus dem Knast. Glücksucher und Goldgräber. Heimatlose, für die es sonst auf der Welt keinen Platz gab. Man hatte sie gerufen, um hier – mitten in der Kiefernheide – ein riesiges neues Werk und eine Stadt für die Arbeiter zu bauen. Eine »sozialistische Wohnstadt« sollte es werden.
Als die Erbauer ankamen, war Hoyerswerda noch eine verschlafene Kleinstadt inmitten sorbischer Dörfer. An ihrem Rand hatten sie eilig ein paar Baracken zusammengezimmert. Dort hausten sie zu mehreren in kleinen Räumen mit Doppelstockbetten, im ewigen Gedudel der Radios und im Lärm vom Gang durch die dünnen Bretterwände.
Von jetzt ab zählte alles in großen Einheiten: »1000-Mann-Lager« hieß ihre erste Unterkunft. Auch die war bald zu klein, und mitten im Wald entstand die nächste, »Wohnlager I«. Deren Name bald schon geändert wurde in: »Wohnstadt Frohe Zukunft«. Anfangs nicht mehr als ein Versprechen. Mit ihm beginnt unsere Geschichte.
Denn nichts weniger als eine frohe Zukunft verhieß das neu erbaute Gaskombinat »Schwarze Pumpe«, das alle schon bald nur Pumpe nannten. Arbeit sollte es hier geben und Wohnungen dazu. Den Bauarbeitern folgten jene Scharen junger Leute von überall aus dem ganzen kleinen Land, und sie schickten sich an, »Berg- und Energiearbeiter« zu werden. Massen ungelernter Arbeitskräfte, die generalstabsmäßig ausgebildet wurden zu Maschinisten, die man schon bald nur Maschis nannte. Sie würden hier Familien gründen oder ihre Kinder – die sie in ihren Dörfern zurückgelassen hatten – in die neue Stadt holen.
»31. August 1955« steht nun auf einem verwitterten Schild, das an die Grundsteinlegung der neuen Stadt erinnert. Dabei entstanden die ersten Häuser der neuen Stadt am Rand der alten, wie zur Probe. Die eigentliche Neustadt aber begann mit dem Bau von WK I – auf der anderen Seite des träge fließenden Flüsschens namens Schwarze Elster, das Hoyerswerda einst begrenzt hatte. Und das fortan Alt- und Neustadt nicht verbinden, sondern auf ewig trennen würde. Auf der einen Seite die Alteingesessenen, die seit Generationen in Hoyerswerda wohnten und oft kleine Handwerksbetriebe geführt hatten. Nie würden diese Alteingesessenen die Neustadt betreten. Auf der anderen Seite des Flüsschens: die Horden der Neuankömmlinge, die die Altstadt gern besuchen, aber nie als etwas Eigenes empfinden würden.
Die neue Stadt sollte schön werden, und so glich anfangs kein Gebäude in ihr dem anderen. Schmiedeeiserne Gitter zierten die Fensterbrüstungen der ersten Häuser, Sgraffitos oder Mosaike die Portale und Fassaden. Sie zeigten Blätter, Blumen und Ornamente, Vögel und Fische in filigranen Posen. Aber so schön die Häuser auch waren, dienten sie zu Beginn doch schnöde als Wohnheime. Denn das Kombinat wuchs schneller als die Stadt, und es brauchte Arbeitskräfte. Die teilten sich die ersten Wohnungen und warteten auf eigene. Zwischenbelegung hießen deshalb die ersten Häuser – ein Wort, das sich unauslöschlich und über Generationen ins Gedächtnis der Stadt einschreiben würde. Es bezeichnete nicht nur ein Ausweichquartier und eine Übergangslösung, sondern würde auf ewig mit dem Odem des Abenteuers verbunden sein. Der Sound der Zwischenbelegung – wie wir Nachgeborenen ihn uns vorstellten – war das Grölen der Besoffenen, wenn sie die Treppe vom Eingang des Bahnhofseck herabstolperten. Sieben Stufen würde die Kneipe noch Jahrzehnte später bei uns heißen. Und bis in unsere Kindheit würden die Erzählungen und Legenden aus der Zeit der Zwischenbelegung schwappen.
WK um WK war die neue Stadt gewachsen, von WK I bis WK X. Die ersten Erbauer, die wilden Habenichtse und Halsabschneider, waren irgendwann weitergezogen. Die, die gekommen waren, um in Pumpe zu arbeiten, waren geblieben: unsere Eltern. Sie wollten ihren Kindern alles geben. Die Wärme, die sie im Kraftwerk erzeugten. Die afrikanische Savanne, die sie in engen Tierparkgehegen in die Stadt holten. Und das Universum. Ihre Kinder sollten die Sterne sehen. Sie sollten nicht eines Tages erste, zweete, dritte Welle nach Pumpe fahren, sondern vom sowjetischen Sternenstädtchen Baikonur aus geradewegs zum Mond. Alles schien möglich zu sein: Strom aus Kohle machen, eine Stadt aus dem Heideboden stampfen und die Sterne in die Stadt holen.
Das Planetarium hatten sie direkt neben eine Schule gebaut. Wir, ihre Kinder, sollten nicht einfach lesen und schreiben lernen, addieren und subtrahieren, nicht nur wissen, wie Pantoffeltierchen sich vermehren, wie Wolken entstehen oder wie man auf Russisch Nina Nina tam kartina buchstabiert. Wir sollten die Mendel’schen Gesetze erkunden und lernen, warum ebenso gesetzmäßig der Sozialismus siegt. Und das Universum sollte vor Ort sein, stets griffbereit, uns zu Diensten: nullte Stunde.
Damit wir das nie vergessen, hatten sie die Straßen im Umkreis des Planetariums nach den Eroberern des Alls benannt: Ziolkowski, Lilienthal, Gagarin. Jeder Versuch allerdings, dem Volksmund die Bezeichnung »Kosmonautenviertel« statt WK VI aufzudrücken, war zum Scheitern verurteilt. Ebenso wie niemand die Namen »Musikerviertel« oder »Ärzteviertel« benutzte – vielleicht, weil das Viertel, in dem alle Straßen nach erschossenen Grenzsoldaten benannt waren, ja auch einfach »WK VIII« hieß.
Die Welt, in der wir an diesem Montagmorgen »Freude schöner Götterfunken« singen, ist schlüssig in Komplexe geordnet. In der Mitte von jedem Wohnkomplex befindet sich der Nahversorgungskomplex, mit Kaufhalle, Gaststätte und Dienstleistungen. Im WK VI gehört zur Nahversorgung der Intershop – direkt neben dem Planetarium; ein komplexer Blick in unsere Zukunft, die uns einerseits ins All führen soll, andererseits in den Kommunismus – wenn alle alles haben, wie es schon bald der Fall sein wird.
Vorerst brauchen wir noch Westgeld, um eine Runde durch den Shop zu drehen, in dem es gut riecht und alles immer gibt. Wenn wir uns mit Tintenkillern und Wrigley’s Spearmint eingedeckt haben, befinden wir uns wieder in der Gegenwart und in Hoy. Die Tereschkowastraße ist noch da, so wie die Kaufhalle Waren täglicher Bedarf und die Komplexannahmestelle des VEB Schwanenweiß, wo die Wäsche des gesamten WK vom Volkseigenen Betrieb dreckig in Empfang genommen und eine Woche später schwanenweiß und in eckige Pakete verschnürt wieder ausgeteilt wird. Die Wohngebietsgaststätte Libelle sieht haargenau so aus wie alle anderen ihrer Art. In die Weinstube Csárdás führen die Kumpel am Wochenende ihre frisch ondulierten Frauen und spendieren eine Flasche Lindenblättrigen oder gar, falls vorhanden, Rosenthaler Kadarka. Die Sonnenuhr auf dem Platz davor, gefertigt von der »KPG Neue Form«, ist noch da, so wie die Springbrunnen und die Wand mit den Keramiktellern. Auf denen sind die gleichen Sternzeichen abgebildet wie am sich dahinter befindlichen Planetarium – obwohl wir an Sternzeichen natürlich nicht glauben.
Wir glauben daran, dass die Schichtbusse weiter nach Pumpe und zurück in die Stadt rollen. In einem ewigen Kreislauf, wie die Gestirne. Erste, zweete, dritte Welle. Mit etwas Glück werden wir eines Tages nicht darin sitzen.
I
PfeffiDie ham uns alle beneidet, meinen Bruder und mich: Wo zieht ihr hin? Nach Hoyerswerda? Oooh, da möchten’ma ooch hin. Da gibt’s ja nich’ma Schornsteine auf den Häusern!
Anfang der Siebziger stehen wir Kinder das erste Mal vor den neuen Häusern, die unsere Eltern bereits bezogen haben. An den Eingangstüren glänzen Klingelschilder voller Namen. Unzählige sind es bei den Hochhäusern, scheint uns. Wie Besucher stehen wir davor. Alles hier ist neu. Da, wo wir herkommen, sind neue Sachen – so wie die gute Stube, die nur sonntags und nie im Alltag benutzt wird – für inne Stadt, für gut. Deshalb hat man uns angescheuselt. Mit unseren guten Sachen stehen wir vor den Häusern, die schon bald nicht mehr für gut sein werden.
Denn es wird sich herausstellen, dass man in Hoy genauso ausgeleierte Trenningshosen trägt wie auf unserem Dorf in der Heede. Der gute Mantel, das orntliche Hemde und die weißen Strumpfhosen sind die Uniform, die die Hoyerswerdschen am Sonntagnachmittag anlegen, wenn sie in Familienformation – sehen und gesehen werden! – eene Runde durchs WK drehen. Und auch hier geht man inne Stadt, wie wir schon bald wissen werden.
Inne Stadt wird für uns immer die Altstadt von Hoy – wie Hoyerswerda irgendwann von allen genannt wird – meinen. Nie aber unsere Neubauten auf der anderen Seite des Flusses, in denen wir nun staunend ein ums andere Mal den Wasserhahn aufdrehen und die Klospülung ziehen. Bis wir uns daran gewöhnt haben, dass wir off Klo nicht mehr über den Hof müssen und dass warmes Wasser aus der Wand kommt. Das Messing der Klingelschilder ist bald schon stumpf, und ihre Oberfläche zerkratzt.
Die neue Stadt ist also nicht mehr für gut, und inne Stadt geht man in die Altstadt. Sie hat enge Gassen und Kopfsteinpflaster. In kleinen Bäcker- und Fleischerläden stehen Verkäuferinnen hinter hohen Tresen. Auf ihren toupierten Ponys thronen weiße Spitzenborten. Jede Ware holen sie einzeln aus dem Regal hinter sich – so, wie wir es vom Konsum auf unseren Heimatdörfern kennen.
In der Neustadt geht man in die Koofhalle – ein neues Wort! In jedem WK gibt es eine. Die Waren werden nicht mehr einzeln von einer Frau Drogan über die Theke gereicht. Nein, man spaziert entlang von Regalen voller Dinge, nach denen man nur zu greifen braucht! So sieht sie also aus, die neue Zeit.
Die Neustadt füllt sich erst nach und nach mit Kindern. Anfangs haben unsere Eltern uns in den Dörfern oder kleinen Orten zurückgelassen, aus deren Enge sie aufgebrochen waren. Nun laufen sie aber trotzdem täglich an spielenden Kindern vorbei, denn im gleichen Tempo wie die WKs gebaut werden, entstehen in der Neustadt Kunstwerke. Stetig werden es mehr Skulpturen, Reliefs und Wandbilder, und oft tanzen darauf Kinder im Reigen oder sitzen auf dem Schoß ihrer Mutter. Sie sind wie die Raketen, aus denen Kosmonauten winken, auf den Mosaiken: ein Versprechen.
RöhliIch war bei meinen Großeltern. Das war zu der Zeit normal. Wo ich drei Jahre alt war, ham meine Eltern die erste Wohnung in Hoyerswerda gekriegt. Das war auch nich ideal, weil, dann kam ich inne Wochenkrippe und war nur am Wochenende zu Hause.
YvonneDie Woche über war ich bei meiner Oma. Das war die »Mama«, und meine Mutter war die »Anna«. Ich kann mich sogar noch erinnern, als ich drei Jahre war und von dort wegmusste. Dass ich geheult hab. Weg von meiner Mama, zur Anna!
HausiMeine Oma war die »Mama«. Meine Mutter war die »Mutti«. Aber die war halt viel unterwegs und arbeiten – dann war ich bei der Frau Kuhlee unter uns. Und dadurch, dass deren Kinder immer »Mami« gesagt haben, war das irgendwann für mich und meine Schwester die Mami – und das war’se bis zum Schluss. Also ich hatte drei Mütter: Mami, Mama und Mutti.
Irgendwann holen unsere Eltern uns alle nach. Und sobald wir angekommen sind, lernen wir: Hier gilt ein allumfassendes, gemeinsames Sorgerecht. Das Hochhaus ist jetzt unser Dorf. Zehn Stockwerke, drei Eingänge, davor ein Trafohäuschen mit Spielplatz und Äonen von Wäschestangen. Die Reihen der Wäscheleinen sind seit Generationen und auf ewig eingeteilt. Hunderte Augenpaare wachen darüber Tag und Nacht aus den Fenstern. In einer Stadt voller Schichtarbeiter ist immer jemand heeme.
RöhliDie Wäschestangen … Was’de aus denen alles gemacht hast! Es gab natürlich ewigen Streit, weil: Keener konnte dort seine Wäsche aufhängen! Die Wohngebiete waren ja voll mit Kindern. Es klingelte immer jemand: »Kommste runter?«
YvonneAlle sind da gemeinsam hingezogen. Die Kinder waren alle ungefähr im gleichen Alter. Und auch im Haus – jeder kannte jeden. Ich hab in jeder Badewanne mal gebadet.
Allzu häufig sehen wir unsere Eltern nicht, denn sie arbeiten den ganzen Tag. Aber das Gute ist: In Hoy kann niemand verloren gehen. Gelegentlichen Fluchtversuchen begegnet die Hausgemeinschaft, indem sie gemeinsam WK für WK systematisch durchkämmt. Die Ausreißer werden triumphal in den Schoß des Kollektivs zurückgeführt. Wenn ein Kind am Abend nicht gefunden ist, verkünden grüne Toniwagen über scheppernde Lautsprecher die Botschaft. Daraufhin durchstreifen die Lichter der Taschenlampen die Wildnis, die sich vor jedem WK ausbreitet. Vom Fenster in der neunten Etage sieht es aus, als wären hunderte Glühwürmchen freigelassen worden. Die gesammelte Kraft spürt jeden Delinquenten auf. Von hier gibt es kein Entrinnen.
In den Häusern herrschen die Mütter – zumindest jene, die gerade nicht off Orbeet sind. Sie bevölkern auch das Elternaktiv, Hausgemeinschafts- und Betriebsgewerkschaftsleitungen, Plankommissionen, Festausschüsse und Wohngebietskomitees. Väter sind Winterkämpfer und Kampfgruppenkommandeure, vor allem aber: nicht anwesend. Ihr Lebensraum außerhalb des Betriebs ist die Garage. Am Rande jedes WKs haben sie sich zu Garagengemeinschaften zusammengeschlossen. Andere Städte haben Stadtmauern, bei uns begrenzen Garagenkomplexe die Stadt in alle Richtungen. Sie sind Bollwerke gegen den Autodieb, den Klassenfeind, die Frau. Ein Mann auf dem Klappfahrrad – wichtigstes Utensil! – ist unzweifelhaft unterwegs zur Garage, um das Auto zu besuchen.
RöhliDas Auto war für gut. Dafür war das Benzin zu teuer und das Auto zu wertvoll, als dass man Ausflüge macht und das nur für’n Spaß benutzt!
In den Garagen werden sie ausgehandelt: die legendären Tauschringe, die unsere Stadt überziehen wie ein unsichtbares Geflecht. Von der Zündkerze bis zur Wohnung gibt es hier alles. Was die Väter in der Garage tun, üben wir im Hausflur.
RöhliTraditionsgemäß wurde auf der Treppe gekaupelt, da hat man das Zeug ausgepackt – egal, ob Leute hoch- oder runterwollten. Mosaikhefte gegen Eisenautos. Das waren keene Matchbox, das waren Eisenautos! Eenmal hab ich zwölf Kaugummibilder gegen eins getauscht. Das hatte zwar keene Räder mehr, aber es war wirklich ’n Eisenauto. Und es kamen immer so Gerüchte auf: Es gibt jemanden in WK acht, der hat »Mosaik« Nummer fünf! Oh!
Wichtig beim Kaupeln: Nicht erwischen lassen von der Kittelschürze! Mit ihr haben unsere Mütter nicht unbedingt das bessere Statussymbol abbekommen. Aber sie müssen nicht jahrelang darauf warten, sondern können es jederzeit im CENTRUM-Warenhaus koofen. Man muss es nicht hegen und pflegen, und es ist egal, wer das schönste hat. Für derlei Kokolores fehlt den Müttern die Zeit. Früh schmieren sie Berge von Stullen, setzen Mützen auf, knoten Schals um Kinderhälse, verteilen Küsse und eene hinter die Löffel. Dann pesen sie zum Schichtbus, dritte Welle. Nachmittags inne Koofhalle, Küche, Wäsche, Hausaufgaben. Ausziehn, Waschen, Bette. Abends müssen die Erwachsenen lernen, wie das geht mit Kohle Gas und Energie. Auf den Wohnzimmertischen erscheinen Berge von Büchern, hinter denen unsere Eltern verschwinden.
ClaudiaMan hat die Eltern nich so viel gesehen. Meine Mutter ist früh ausm Haus gegangen, dann bin ich offgestanden. Abends wurde vielleicht mal zusammen eingekauft. Abendbrot essen – und dann hat meine Mutter gearbeitet. Meine Eltern sind beide sehr intelligent, aber kamen aus ganz kleinen Verhältnissen. Und hatten eben die Chance, etwas zu werden. Deshalb waren sie der DDR extrem dankbar. Meine Mutter hat sich mit viel Fleiß wirklich hochgearbeitet. Am Ende war sie in der Brikettfabrik Direktor für Ökonomie. Sie hatte immer das Gefühl, sie muss doppelt so viel arbeiten wie ein Mann. Und die hatte nie viel Zeit. Das war eher so: Dreimal Sex gehabt – drei Kinder. Aber es wurde ooch nich gejammert, dass man die Kinder hatte. Wir waren halt da. Ich würde ooch nich sagen, dass wir gestört haben. Aber man musste sich schon manchmal einreden, dass’se eenen lieb haben.
YvonneMeine Mutter hat immer gesagt: »Wenn’s die Pille schon gegeben hätte, hätt’ich keene Kinder gekriegt.« Die kommen aus dem Weltkrieg. Das war’ne Angstgeneration, die waren froh, wenn’se sich durchgewurschtelt haben.
SchudiDieses behütete Helikopter-Ding von heute war es mit Sicherheit nicht. Es war ein sehr viel weitläufigeres Behütet-Sein, mit vielen unterschiedlichen Menschen. Kinderkrippenerzieherinnen und Kindergärtnerinnen. Der Spielplatz. Die Nachbarn. Der Block, der Wohnkomplex, der Schulweg. Keine Sorge der Eltern, dass man über die Straße gehen muss. Sehr viel Vertrauen aller Erwachsenen in die Dinge, die da kommen – und in die Kinder. Ich bin schon zum Kindergarten alleine gegangen.
Das Vertrauen in die Welt beginnt mit der Kittelschürze. Die Uniform der Mütter ist dezent in sich gemustert, mit Karos oder Rosen, ärmellos und aus Dederon, das sich elektrisch auflädt und im Sommer knisternd am Körper klebt. Was egal ist, denn in Kittelschürze ist man unter sich. Das Wichtigste an der Kittelschürze sind die Taschen. Darin befindet sich alles, was der Mensch braucht: zerknüllte Taschentücher, Bleistiftstummel, halb vollgekritzelte Zettelchen, Konsummarken, verklebte Bongse und angelutschte Lollis, Wäscheklammern, Sicherheitsnadeln, Kleingeld. Was auch immer herumliegt, wandert in die unergründlichen Tiefen der Kittelschürzentasche. In Wahrheit ist sie es, und nicht die Hausgemeinschaftsleitung, die unsere Gemeinschaft vor Unordnung und Chaos bewahrt. Zudem kann die Kittelschürzenträgerin jederzeit schnell in die Koofhalle springen. In ihrer Tasche findet sie mit Sicherheit ein paar Markstücke und ein winziges, aber endlos dehnbares Silastik-Mininetz. Mit dem trägt sie geschwind fünf Kilo Kartoffeln nach Hause.
Eine Kittelschürze ist alle Kittelschürzen. Hat man etwas ausgefressen, geht man besser jeder aus dem Weg. Hat man ein aufgeschlagenes Knie oder eine Rotznase, kann man sich an jede wenden. Was meist nicht nötig ist, steht doch der Wäscheplatz unter permanenter Kittelschürzenüberwachung von der Fensterfront. Nähert sich eine Schürze persönlich, ist Gefahr im Verzug.
Normalerweise werden Kinder, sobald sie laufen können, der Obhut älterer Geschwister oder Nachbarskinder übergeben. Die Aufsichtsfunktion der Erziehungsberechtigten beschränkt sich auf ein markiges Runta da!, wenn man aufs Trafohäuschen klettert, oder ein freundschaftliches Ich wer’ dir Beene machen! Nie kämen sie auf die Idee, sich zu uns in den Sandkasten zu hocken. Ihr Ich mach glei’ mit, Freundchen ist rein rhetorisch. Ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht da sind, kennen unsere Mütter nicht. Wenn sie wegmüssen, hängen sie die Schürze in den weißen Einbauschrank, der sich in allen Wohnungen gleich neben der Tür befindet, und fertig. Sie sind abwesend und doch da. Im Flurschrank riecht es nach unseren Müttern. Stets finden wir darin Taschentücher, Trost und Sicherheit.
Frau Kraatz hat den Text ihres Lieblingslieds fünfunddreißig Mal aufgeschrieben. Jedes Kind in unserer Klasse bekommt so ein Blatt. Darauf legen wir Transparentpapier. Mit wackliger Hand und klecksendem Füller ziehen wir die exakt geschwungenen Bögen ihrer Schönschrift nach:
Wer möchte nicht im Leben bleiben, / die Sonne und den Mond besehn, / mit Winden sich umherzutreiben / und an Wassern still zu stehn.
In Wahrheit stehen wir selten still – noch nicht einmal, wenn beim Fahnenappell der Befehl dazu ertönt. Nur für das Klassenfoto am ersten Schultag glückt es Frau Kraatz, dass wir für einen Moment alle in Richtung unserer versammelten Familien sehen. Am Morgen hat sich deren Strom aus den umliegenden Hauseingängen Richtung Schule ergossen. Schulanfang ist ein Festtag in Hoy, fast so wichtig wie der »Tag des Bergmanns«, der 1. Mai oder Weihnachten. Die Männer legen den guten Anzug an, die Frauen das großgeblümte Sonntagskleid mit Perlenkette. Uns Schulanfänger steckt man in kurze Hosen und frisch gebügelte Hemden oder kratzende Silastik-Kleidchen samt weißer Kniestrümpfe und Lackschuhe. Dabei verschwinden wir doch sowieso hinter den riesigen Zuckertüten, die wir kaum tragen können. Argwöhnisch begutachtet von den anderen Familien: Hat eener ’ne größere wie wir?
Es soll das einzige Mal bleiben, dass jemand uns zur Schule und zurück bringt. Unsere Stadt ist so gebaut, dass man förmlich aus jedem Hauseingang in die nächste Schule fällt. Kein Kind muss eine große Straße überqueren, sehr zum Leidwesen der Schülerlotsen mit den schneeweißen Käppis. Kein Auto, das sie stoppen müssten, um die Schulanfänger passieren zu lassen – hier fahren alle Bus, mit’n Rod oder loofen. Der allmorgendliche Strom von Kindern nimmt allerdings nie den vorgeschriebenen Weg um die Schule herum. Hunderte Füße trampeln den Maschendraht, der den Schulhof zu den Häusern hin abgrenzt, nieder. Jahr für Jahr wird der Hausmeister den Zaun in den Ferien aufrichten und flicken, Jahr für Jahr werden wir ihn wieder bezwingen. Vor Grenzen hat keinen Respekt, wer in Hoy zur Schule geht.
Nun aber schiebt uns Frau Kraatz – für den Schulanfang fein gemacht im Minikleid und mit hochtoupiertem Dutt – mit weit geöffneten Armen so weit zusammen, dass wir auf das Klassenfoto passen. Die meisten Kinder, zwischen denen wir hier stehen (während wir überprüfen, ob eins der Mädchen etwa größere Propellerschleifen an den Zöpfen hat), werden noch auf dem Abschlussbild der zehnten Klasse mit uns zu sehen sein. Dann werden wir nicht nur ihre Namen, sondern auch die ihrer Geschwister, Tanten und Onkels kennen. Wir werden wissen, von wo die Eltern nach Hoy gekommen sind, werden an den Familientischen gesessen, Geburtstage, Silvester und Urlaube zusammen gefeiert haben. Jetzt aber schiebt uns Frau Kraatz in den Klassenraum und wird uns gleich nachsprechen lassen:
Wir wollen lernen, / wir wollen studieren / das Einmaleins und das Buchstabieren. / Dann werden wir schlaue und fleißige Leute. / Wann fangen wir an? Morgen? / Nein, heute!
Gern würden wir heute anfangen, aber die Schulen werden erst morgen fertig gebaut sein. In unserer steigen wir anfangs über Bretter, der Beton riecht muffig feucht wie der in unseren gerade bezogenen Häusern, und auf dem Schulhof liegen zu unserer Freude vergessene Kieshaufen. Noch in der Nacht vor dem ersten Schultag haben die Lehrer Bänke und Stühle in die Räume getragen.
Auf den Schulkorridoren stapeln sich weitere Möbel, geliefert für Schulen, die noch gar nicht gebaut sind. Dummerweise wurden auch wir Kinder schon geliefert, und so quetschen sich in der ersten Schulstunde über vierzig von uns in den Raum. Wenn alle ganz still auf ihren Plätzen sitzen und vorschriftsmäßig beide Arme hinter die Stuhllehne klemmen, geht es.
Im Lauf der Jahre verschwinden die Möbel von den Gängen und die Klassen schrumpfen auf Normalgröße. Und irgendwann, wir haben bereits das Einmaleins und das Buchstabieren gelernt, ist Frau Kraatz verschwunden.
Jeden Morgen haben wir mit ihr gesungen: »Wer möchte nicht im Leben bleiben?« Sie selbst, stellt sich nun heraus. Dabei leben wir doch im ewigen Takt der Schichtbusse, der ein Ende nicht vorsieht.
Hatten wir den Tod nicht zurückgelassen, in den Dörfern? Dort gab es Friedhöfe mit verwitterten Steinen. Auf manchen standen die Namen unserer Familien. Anfangs waren unsere Eltern noch jedes Wochenende mit uns an diese Orte gefahren, die wir zunächst noch Zuhause nannten. Damals fragten wir uns auf den Schulfluren, deren Wände noch nicht bekritzelt waren, gegenseitig: Wo kommt’n ihr her? Die Antwort war noch nicht: Hoyerswerda. Damals waren wir samstags oder am letzten Schultag vor den Ferien noch direkt nach dem Unterricht in die Bautzner Straße gelaufen. Dort hatten wir auf die Busse gewartet, die uns zurück in unsere Dörfer brachten.
Schon bald aber standen wir seltener an den Haltestellen. Wir, unsere Familien, hatten zu tune – wie es bei uns statt zu tun heißt. Die Hausgemeinschaft veranstaltete am Samstag Subbotnik, bei dem wir die Rabatten harkten und abends Wurscht vom Grill aßen. Im Tierpark mussten Gräben ausgehoben werden. Die Hasenbande, mit der man neuerdings an den Bahngleisen umherstreifte, musste am Wochenende Bude bauen. Wir begannen, die Bushaltestelle zu vergessen.
Wenige Jahre später, als Frau Kraatz in ihrer kleinen Neubauküche den Gashahn aufdreht, kommen wir schon aus WK III, WK V E oder WK VIII. Und an der Bushaltestelle steigen nur noch alte Frauen aus den Bussen: unsere Großmütter, die wir immer noch »Mama« oder »Mutti« nennen. Fremd gehen sie durch die schnurgeraden Straßen. Sie verwechseln unsere Häuser, die in ihren Augen alle gleich aussehen. Weil sie inne Stadt gefahren sind, haben sie sich angescheuselt, die dünnen Haare in Wellen gelegt und mit einem fast unsichtbaren Haarnetz fixiert. In ihren riesigen Taschen tragen sie Äpfel aus dem Garten, eine Tüte Bongse aus dem Dorfkonsum und ein Kopftuch, das sie in der Stadt nicht mehr aufsetzen, aber immer mit sich führen.
Irgendwann kommen sie dann auch nicht mehr. Unsere Eltern begraben sie auf Friedhöfen, die nichts zu tun haben mit der Welt, in der wir jetzt leben. Die Geschichte beginnt mit uns.
Auch Hoyerswerda hat einen Friedhof; aber er liegt in der Altstadt. Der Weg zur Neustadt führt genau durch die Reihen der alten Grabsteine. Und irgendwann kommen Bagger und schieben sie beiseite, wie alles, das mit uns Neustadt-Bewohnern nichts zu tun hat.
Bevor die Fläche planiert und zu einem Park wird, suchen wir Kinder in der aufgerissenen Erde nach Resten von Knochen. Haben wir tatsächlich mit den Totenköpfen Fußball gespielt? Oder ist das eine jener Legenden, die sich schon bald um den Tod ranken; in unserer neuen Stadt, wo es ihn eigentlich nicht gibt?
RöhliIch werd das nie vergessen, diese Horrorgeschichten, die man sich immer erzählt hat. Die Kreuze auf den Hochhausdächern im Stadtzentrum. Da soll immer, wenn jemand aus Depression oder Verzweiflung vom Dach gesprungen is, eins draufgesetzt worden sein. Ich hab mal sieben Kreuze gezählt dort oben.
Später wird es heißen, unsere Stadt sei nicht nur die kinderreichste des Landes, sondern auch die mit den meisten Selbstmorden. Wer hier nicht in der Grube umkommt, springt vom Dach oder dreht den Gashahn auf. Wer sollte in Hoy auch einfach so sterben?
Die Alten sind in den Dörfern geblieben. Bis auf die alte Frau Beer. Schnell hat sich rumgesprochen, dass in unserem WK eine echte Rentnerin wohnt. Das stimmt, wie sich herausstellt – aber sie sieht anders aus als unsere Großmütter, die immer eine Arbeitsschürze über dem weiten Rock tragen, nie ohne Kopftuch aus dem Haus gehen und schwielige Hände haben. Frau Beer ist stets sorgsam frisiert, trägt edle Kleider und ausgesuchten Schmuck. Niemand weiß, wie und warum sie bei uns gelandet ist.
Ihre Wohnung ist so geschnitten wie alle hier und erscheint uns doch unfassbar exotisch. Dort steht nicht an der rechten Wand des Wohnzimmers die Schrankwand, davor die Couchgarnitur und links vor der Durchreiche der Esstisch mit vier Stühlen. Die alte Frau Beer – das alte wird stets mit genannt, wenn von ihr die Rede ist – ist ein Stück Vergangenheit in einer Welt, die doch nur aus Zukunft zu bestehen scheint. In dieser neuen Welt braucht man kein Altersheim. Zwar steht am Rand der Neustadt eines. Aber nur in der Altstadt gibt es Menschen jenseits der sechzig.
Also wird das Altersheim zur Geburtsklinik umfunktioniert. Die brauchen wir dringender. Hier wird alles täglich neu geboren. So wie Frau Kraatz es mit dem Füller auf weiße Blätter geschrieben und auf jeden Platz in unserer Klasse eins gelegt hatte, fünfunddreißig Mal: Wer möchte nicht im Leben bleiben?
Im Sommer meldet Hoy sich mehr oder weniger geschlossen ab. Es beginnt damit, dass die Dauercamper am Knappensee ihre Zelte aufschlagen. Der See, der vor unserer Zeit eine Grube war, ist eine halbe Fahrradstunde entfernt. Im Lauf der Jahre entsteht hier ein Mini-Hoyerswerda für den Sommer: Zeltplätze und Bungalows, so weit das Auge reicht, die Betriebsgaststätte Knappenhütte, Minigolf-Anlage, Eisstände und Koofhalle, Angelvereine und Bootsverleih, ja sogar die Betriebssportgemeinschaft Aktivist Schwarze Pumpe ist vor Ort mit der Sektion Rudern.
Die Hoyerswerdschen Camper schlagen ihre Zelte nicht irgendwo auf. Sie besetzen genau das Parzellenstück, dessen Grenzen die Familie – gefühlt seit Jahrzehnten!, mindestens aber seit letztem Jahr – durch eine Blumenrabatte liebevoll kennzeichnet.
Die Neustadt ist wenig älter als wir – aber ihre ungeschriebenen Regeln scheinen seit Menschengedenken zu existieren. Jeder weiß, was zu tun ist. Konzertierte Aktion. Hier zelten die, die immer hier zelten. Kein Fremder sollte sich einfallen lassen, Anspruch auf genau diese fünf Quadratmeter zu erheben. Sie werden in der Nacht vor der Parzellenvergabe Jahr für Jahr von der Familie besetzt. Nach Sonnenaufgang geht die Vertretung des Gesetzes mit dem Klemmbrett umher, vergibt Nummern, und Ordnung Sicherheit Disziplin sind gerettet. Der Sommer kann kommen.
Mit den ersten Sonnenstrahlen werden Campingmöbel und Fernseher an den See geschleppt, Kühlbehälter eingebuddelt und Luftmatratzen aufgeblasen. Wer kann, wird den ganzen Sommer über direkt von hier erste, zweete, dritte Welle nach Pumpe und zurück fahren.
Hinter dem Platz, wo sich Zelt an Zelt reiht, geht es steil hinab zum See. Wir wissen, dass er mal ein Tagebau war, und davor ein Dorf. Auf seinem Grund, heißt es, stehe noch der alte Kirchturm, dessen Glocke manchmal schlage. Nach der Schule treiben wir in Booten auf dem See und springen dort, wo wir seine Mitte vermuten, mit mulmigem Gefühl hinein: die Augen weit aufgerissen auf der Suche nach der Spuk-Kirche. Das Wasser aber bleibt schwarz, was nicht nur an der Tiefe liegt, sondern auch einer dünnen Schicht von Kohlestaub. Von der Brikettfabrik kommend, treibt sie auf der Oberfläche und wird allmorgendlich von den Rettungsschwimmern aus dem Badebereich auf den See geschoben.
Wer nicht campt, fährt in’ Gorten. An sämtlichen Rändern der Stadt bricht sich der Gestaltungswille der Neustädter – deren Häuser nicht wie die der Altstädter von Gärtchen umgeben sind – Bahn. Gartensparten werden gegründet. »Neue Zeit« heißt die erste, es folgen »Freizeit«, »Kuckucksruf«, »Am Betonwerk« und »An der Zentralküche«, »Sommerfreude«, »Frohe Zukunft« und »Glück auf«. Direkt hinter den Baracken des einstigen 1000-Mann-Lagers entsteht eine Ansammlung von ihnen: Parzellen, so weit das Auge reicht, ein WK-gewordener Kleingärtnertraum. Von nun an werden in Hoy nicht nur Kohle Gas und Energie in Massen produziert, sondern auch Möhren, Kohlrabi und Radieschen.
YvonneWir ham’n Bungalow gebaut, weil man ja sonst nur in diesem Arbeiterschließfach im WK