Kindertrauer verstehen - Christiane Mathis - E-Book

Kindertrauer verstehen E-Book

Christiane Mathis

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Beschreibung

"Kann mal bitte jemand in meine Welt kommen, und mir helfen?" Kindertrauer ist sowohl für Erwachsene als auch für trauernde Kinder selbst nicht immer einfach zu verstehen. Dann kann es hilfreich sein, Brücken zu finden oder zu bauen, um sich gegenseitig gut erreichen zu können. Dieses Buch bietet vielfältige Ideen und Gedankenimpulse zum Verstehen und Unterstützen von trauernden Kindern und Familien an, die auf langjähriger Erfahrung basieren. Egal, ob Sie diese als von Trauer selbst Betroffene, Privatpersonen oder Fachkräfte lesen möchten: Es wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, wie Hospiz- und Trauerbegleitung von Familien und Kindern warmherzig, feinfühlig, kompetent und lebensnah gelingen kann.

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Seitenzahl: 411

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INHALTSVERZEICHNIS

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DISCLAIMER UND GENDERHINWEIS
DISCLAIMER

Dieses Buch enthält sensible Inhalte über trauernde Kinder und Familien, sowie über lebensverkürzend erkrankte und sterbende Menschen. Bitte refl ektieren Sie sich selbst vorher feinfühlig darüber, ob Sie dieses Buch lesen möchten und mit welchen Inhalten Sie sich die Auseinandersetzung selbst zutrauen.

Des Weiteren ist es mir wichtig anzumerken, dass dieses Buch kein Leitfaden zur Selbstdiagnose oder Eigen- bzw. Fremdbehandlung ist. Ich lege Ihnen daher wärmstens ans Herz, sich professionelle Hilfe (zum Beispiel bei Ärzten, Therapeuten oder einem Trauerbegleitungsanbieter) zu suchen, wenn Sie das Gefühl haben, dass innerhalb des Buches genannte Aspekte der Trauer auch auf Sie oder Ihre Kinder zutreffen und wenn Sie sich Hilfe wünschen.

GENDERHINWEIS

Die in diesem Buch verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern es nicht anders kenntlich gemacht wird – immer gleichermaßen auf alle Geschlechter. Auf eine Doppelnennung und gegenderte Bezeichnungen habe ich zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichtet.

VORWORT

Wenn dieses Buch Ihr Interesse geweckt hat, berührt Sie das Thema Kindertrauer vielleicht aus berufl ichen oder privaten Gründen, oder es befi ndet sich ein von Trauer betroffenes Kind in Ihrer Familie oder in Ihrem Umfeld. Auf den folgenden Seiten lade ich Sie herzlich dazu ein, Gedankenimpulse, Anregungen oder Unterstützung für Ihren ganz eigenen Weg zu finden, diesen Lebensbereichen zu begegnen. Vielleicht spricht Sie ja etwas von dem, was Sie lesen werden, an.

Als Gesellschaft sind wir oft ungeübt im Umgang mit schwerer Krankheit, Verlust, Tod und Trauer. Es sind uns existentiell berührende Themen, die viele meiden und die im Alltag wenig sichtbar sind. Glücklicherweise besteht ein großes Mitgefühl gegenüber trauernden Kindern und Familien, sowie das Bedürfnis, sie zu unterstützen und achtsam zu begleiten.

Dann wird es wichtig, kindliche Trauer gut lesen und verstehen zu können, sowie feinfühlige Zugangswege zu den betroffenen Kindern und Familien zu finden.

Zum Schutz der betroffenen Kinder und Familien habe ich mich dafür entschieden, in diesem Buch repräsentative, jedoch fiktive Fallbeispiele aus meinen verschiedenen Begleitungen der letzten dreißig Jahre zu präsentieren.

Sie bilden die häufigsten Situationen, Konstellationen und Verläufe in palliativen oder trauernden Kontexten ab, um für Sie als Leser konkret hilfreich und unterstützend zu sein. So basieren die Fallbeispiele zwar auf verschiedenen realen Begebenheiten, sind jedoch so von mir so verfremdet worden, dass keine Rückschlüsse mehr auf lebende oder verstorbene Personen daraus gezogen werden können.

Dies ist kein Fachbuch, sondern ein praxisorientiertes Buch für Ihre Begleitung von trauernden Kindern und Familien, das auf meiner langjährigen Erfahrung mit sterbenden und trauernden Menschen basiert. Es ist als Wegweiser für Sie gedacht, der zu verschiedenen Gedanken, Ideen, Impulsen, Haltungen und Sichtweisen leitet, die Sie als unterstützend empfinden könnten. Er gibt Ihnen einen Einblick in diese sensiblen Lebensbereiche. Die Kategorien „Richtig“ und „Falsch“ können der Komplexität eines trauernden Menschen nicht gerecht werden, ebenso wenig wie Methoden zur Trauerbewältigung oder Ratschläge zur schnellen Verarbeitung eines Verlustes. Deshalb werden Sie keine davon in diesem Buch finden.

Kinder trauern anders als Erwachsene und manchmal anders, als wir es uns vorstellen. Deswegen kann es bei der Begleitung von Kindern nie „diesen einen richtigen Weg“ der Begleitung oder Trauerbewältigung geben, der für alle gleichermaßen passt. Wenn Sie mögen, teile ich gerne meine Haltung, meine Sichtweise, meine persönlichen Erfahrungen und Gedanken zu diesem Thema mit Ihnen, damit Sie selbst wählen können, ob etwas davon für Sie und Ihre Familie vielleicht hilfreich sein kann.

Um den Rahmen dieses Buches nicht zu sprengen, habe ich bewusst die komplexeren Bereiche der Kindertrauer wie zum Beispiel zusätzliche psychiatrische Erkrankungen, Bindungsstörungen, Traumatisierungen oder auch den sensiblen Fall, dass Kinder selbst versterben werden, bewusst ausgelassen. Diese Bereiche sind zu umfangreich und so vielschichtig, dass man ihnen hier meiner Meinung nach nicht verantwortungsbewusst gerecht werden kann.

Während des Lesens werden Ihnen manche Geschichten, Kontexte oder Fragen vermutlich näher gehen als andere. Dieses Buch ist deshalb so aufgebaut, dass Sie es nicht von Anfang bis Ende durchlesen müssen, um die jeweiligen Inhalte zu verstehen.

Sie können selektiv nur das Kapitel oder den jeweiligen Abschnitt lesen, der für Sie gerade bedeutsam ist und zu dem Sie ein inneres „JA“ verspüren. Alles andere kann ruhig weggelassen werden. Bitte seien Sie beim Lesen liebevoll und fürsorglich mit sich selbst und achtsam auf Ihre eigenen Grenzen bedacht.

Für mich ist jedes Kind einzigartig, hoch sozialkompetent und sehr weise, allerdings auch unerfahren im Umgang mit Tod und Trauer. In diesen Momenten braucht es deshalb Erwachsene, die es empathisch, warmherzig, wertschätzend, offen und zugewandt begleiten, es so weit wie möglich verstehen wollen und ihm Stabilität und Sicherheit schenken.

Damit das leichter gelingen kann, habe ich dieses Buch geschrieben in dem Wunsch, Ihnen einen kleinen Überblick über diese inneren und äußeren Lebenswelten zu geben und mit der Hoffnung, dass Ihnen meine Erfahrung vielleicht ein wenig nützt.

KAPITEL 1 WAS IST TRAUER EIGENTLICH?
WAS IST TRAUER EIGENTLICH?

Verschiedene Formen der Trauer begegnen uns täglich. Gleichzeitig kann es geschehen, dass wir sie entweder nicht bewusst wahrnehmen oder leicht ausblenden. Das ist ein häufi g auftretendes Phänomen im Alltag und im gesellschaftlichen Miteinander. Mit schmerzhaften Emotionen, seelischen Verletzungen und dem empfundenen Unbehagen Verlust und Tod gegenüber wollen wir uns häufi g nicht so gerne befassen.

Umso ungeübter können wir dann sein, wenn uns Trauer so nahekommt, dass wir ihr nicht mehr ausweichen können. Es lohnt sich, den Mut und die Offenheit aufzubringen, sich diesem Thema behutsam und bewusst zu nähern.

Trauer ist ein Selbstheilungsmechanismus unserer Psyche. Das bedeutet, sie ist zuerst einmal eine sehr gesunde Reaktion auf einen Verlust.

Da Menschen von Natur aus grundsätzlich auf Heilung ausgelegt sind, geschieht eine Trauerreaktion nach einem Verlust einfach von selbst und unterliegt nicht unserer Kontrolle.

Nun kann man sich fragen: „Wie kann sich etwas anscheinend so Gutes und Heilsames so schlecht anfühlen?“ Genauso, wie Medizin manchmal auch bitter schmecken kann, kann sich Heilsames manchmal auch schmerzlich anfühlen.

Wenn wir uns selbst in unseren eigenen Trauerreaktionen bis jetzt nicht gut kennenlernen konnten (oder durften), fällt es uns vermutlich schwerer, eigene oder fremde Trauer genauer zu lesen oder verstehen zu können. Noch schwerer fällt es uns vermutlich sogar, kindliche Trauer zu lesen, zu verstehen und Kinder in ihrer Trauer zu begleiten, denn Kinder trauern anders als Erwachsene.

Deshalb ist eine Reflexion und ein Verstehen unserer eigenen Trauerreaktion und Trauerbewältigung hilfreich. Denn um trauernde Menschen gut begleiten zu können ist es existenziell, unsere eigenen inneren, vielleicht noch unbewältigten Themen in eine Begleitung nicht mit hineinzubringen damit wir Kinder dadurch in ihrem Trauerprozess nicht beeinflussen.

SELBSTHEILUNG

Genau wie unser Körper hat auch unsere Psyche verschiedene Selbstheilungsmechanismen und -strategien. Mit unserer körperlichen Selbstheilung kennen wir uns normalerweise gut aus. Wenn wir uns zum Beispiel in den Finger schneiden wissen wir, wie unser Körper reagieren wird.

Zuerst empfinden wir Schmerz, es kommt vielleicht zu einer kleinen Blutung. Schwellung und Empfindlichkeit treten ein und dauern meist eine Weile an. Nach einiger Zeit stellt sich dann die vollständige, meist folgenlose Abheilung ein.

Wenn wir uns verletzen, wissen wir bereits aus Erfahrung, wie sich der Heilungsprozess anfühlt, wie er normalerweise verläuft und was zu tun ist: Wir versorgen die Wunde und schonen sie vor äußeren Einflüssen. Wir wissen auch, dass körperliche Verletzungen unterschiedlich schwer sein können und dementsprechend unterschiedlich verheilen. Wir vertrauen den Selbstheilungsvorgängen unseres Körpers.

Ähnlich den Selbstheilungskräften unseres Körpers verfügt auch unsere Psyche über eigene Kräfte und Mechanismen, um sich selbst zu heilen. Trauer ist eine solche Heilreaktion, wenn wir Verletzung durch einen Verlust erleben.

So wie bei unserem Körper die Heilung von dem umliegenden gesunden Gewebe ausgeht, so entsteht auch bei unserer Psyche die Heilung aus unseren gesunden Anteilen heraus.

Die meisten Menschen haben in ihrem Leben nur stückweise gelernt, diese psychischen Selbstheilungskräfte in sich selbst zu entdecken, sie im Alltag zu erkennen und bei Bedarf als Ressource nutzen zu können.

Trauer ist, je nachdem wie nahe uns ein verstorbener Mensch stand, eine leichte, mittlere oder schwere Verletzungsreaktion unserer Psyche. Trauer ist jedoch noch bedeutend mehr: Sie ist ebenso unsere persönliche Beziehung, die wir mit einer verstorbenen Person haben und gestalten können.

Da wir mit dem Tod einer Person nicht aufhören, diesen Menschen in der gleichen Intensität zu lieben wie bisher, leiden wir. Denn nun hat unsere Liebe kein reales Gegenüber mehr, bei dem sie ankommen kann und von dem sie ihrerseits erwidert wird. Wir empfinden Verlassenheit, Schmerz und Liebeskummer. Das tut manchmal so weh, dass wir meinen, wir könnten es nicht aushalten.

Trauer beginnt in dem Moment, in dem eine Person entweder von dem Tod eines geliebten Menschen erfährt oder zu dem Zeitpunkt, an dem sie erfährt, dass ein geliebter Mensch in näherer Zukunft versterben wird. Letzteres wird als vorweggenommene Trauer bezeichnet, da die Trauer in dem Moment anfängt, in dem das Realisieren darüber einsetzt, dass Abschied genommen werden muss.

Die Zeit bis zum Versterben der Person, die letzte gemeinsame Lebenszeit, ist dann bereits Teil des Trauerprozesses.

So individuell wie jeder einzelne Mensch in seinem Wesen, seinen Gedanken und seinen emotionalen Reaktionen ist, so individuell trauert er auch. Deshalb kann es keine richtige oder falsche Art zu trauern geben, sondern nur den individuellen Ausdruck des eigenen inneren Erlebens.

Im Folgenden möchte ich den Unterschied zwischen Kinderund Erwachsenentrauer beschreiben, da trauernde Kinder meist auch trauernde Eltern haben.

So manches Missverständnis zwischen ihnen rührt daher, dass die einzelnen Familienmitglieder davon ausgehen, dass der jeweils andere seine Trauer genauso erlebt, wie man sie selbst empfindet. In einer Familie sind das emotionale Erleben, die Bedürfnisse und das Verhalten natürlich individuell unterschiedlich. Deshalb ist es wichtig, sich gegenseitig verstehen zu wollen, und in gutem Kontakt und Austausch miteinander zu sein.

WIE TRAUERN ERWACHSENE?

Wenn erwachsene Menschen trauern, nehmen sie sich selbst häufig als geschwächt und leichter verwundbar wahr. Deshalb ziehen sie sich oft instinktiv sozial zurück. Das ist ein Zeichen von Selbstfürsorge in einem verletzlichen Zustand, da sich Trauernde leicht überreizt, manchmal auch überfordert fühlen und die Grenzen ihrer eigenen psychischen Belastbarkeit schneller erreichen als sonst.

Ihre Wahrnehmung im Alltag kann sich ein wenig verschieben, ebenso wie ihr Zeitempfinden. Körperliche Bewegung kann sie ungewöhnlich anstrengen, sogar deutlich über das ihnen bisher bekannte Maß hinaus. Trauernde sagen zum Beispiel häufi g so etwas wie: „Ich schaffe kaum noch den Weg vom Bett bis zur Couch, so etwas habe ich noch nie erlebt. An meine gewohnte Sportroutine ist nicht mal zu denken!“

Es kann sehr verunsichernd sein, mehrmals täglich bei der gewohnten Alltagsbewältigung in Überforderung zu geraten. Oft leiden Konzentration und Aufmerksamkeitsspanne unter dem psychischen Stress und geistige Anstrengung kann zur manchmal unlösbaren Aufgabe werden. Bei einfachen Alltagsaufgaben wie zum Beispiel ohne Einkaufszettel einkaufen zu gehen, Pausenbrote zu schmieren und erst recht bei größeren Anforderungen (wie zum Beispiel den Nachlass regeln zu müssen) können sich Trauernde als ohnmächtig und überfordert empfinden. Der Kopf fühlt sich einfach leer an und die Psyche ist energielos.

Häufig werden sie überraschend und unvorhergesehen von Trauergefühlen überwältigt und den subjektiven Eindruck, keine Haut mehr zu haben und ungeschützt zu sein, kennen viele Trauernde nur zu gut. Die Emotionen überkommen sie plötzlich und unerwartet und nehmen auf aktuelle Situationen und Kontexte keine Rücksicht.

Nicht selten schämen sich Trauernde dann dafür, wenn sie plötzlich von Tränen überwältigt werden oder fluchtartig einen Raum verlassen, weil die Trauer sie in diesem Moment unvorhergesehen überschwemmt. Das Umfeld zeigt aus mangelnder eigener Trauererfahrung manchmal nur begrenzt Mitgefühl oder Verständnis für diese plötzlichen emotionalen Ausbrüche.

Vor dem eigenen Kind zu weinen oder auf der Arbeitsstelle einfach nur vor sich hin zu starren scheint für viele Trauernde deshalb erst einmal nicht akzeptabel zu sein und wird möglicherweise unterdrückt. Das Fatale daran ist, dass sich der soziale Rückzug aus Angst, sich zu blamieren oder durch Blicke oder Kommentare beschämt zu werden, dadurch verstärken kann. Die Gefahr sozialer Isolation ist dann durchaus real.

Gerade an diesem Punkt brauchen Trauernde ein Gegenüber, das einfach nur wohlwollend, verständnisvoll und ohne Erwartung Zeit mit ihnen verbringt und ihre Trauer einfach gemeinsam mit ihnen aushält. Das nicht meint, helfen zu müssen, sondern auch einmal mitfühlend schweigen kann. Ein Gegenüber, das nicht zum Ziel hat, Trauernde aufzuheitern, abzulenken oder „zwangszubeglücken“, sondern sie kommentarlos und feinfühlig einfach so sein lässt, wie sie in diesem Moment gerade sind.

WIE SICH TRAUERNDE ERWACHSENE VERHALTEN

ZU Beginn einer Trauer kann eine große innere Unruhe und Sprunghaftigkeit auftreten. Das ist meist eine unbewusste Reaktion auf die eigene veränderte Lebenssituation, die darauf beruht, dass man instinktiv nach einem äußeren Ort oder einem inneren Zustand sucht, der sich entspannter, leichter und vor allem sicherer anfühlt.

Sie entspringt unserem Bedürfnis nach Schutz, Sicherheit und Kohärenz (die eigene Welt als überschaubar, berechenbar, bewältigbar und damit sicher zu erleben). Diese Unruhe erscheint in Trauernden normalerweise ausgeprägter bei Todesfällen, die plötzlich und unerwartet eingetreten sind.

Bei diesen gibt es im Vorfeld nicht die Möglichkeit der vorweggenommenen Trauer, das bedeutet, man konnte sich nicht gedanklich und emotional damit vertraut machen, die geliebte Person in der näheren Zukunft zu verlieren.

Es ist oft zu beobachten, dass trauernde Erwachsene anfangs verschiedene Arztpraxen, Beratungs- und Anlaufstellen nacheinander aufsuchen in dem Wunsch, schnelle professionelle Hilfe für sich selbst zu erhalten. Ihre verständliche Hoffnung dabei ist, ihren seelischen Schmerz zügig wieder loszuwerden.

Die Anpassung an den Verlust und die eigene veränderte Lebenssituation ist ihnen noch nicht gelungen. Objektiv gesehen wäre eine zeitnahe Anpassung auch zu viel erwartet, jedoch setzen sich Trauernde in ihrem Schmerz manchmal unter diesen nahezu unmenschlichen Leistungsdruck, ihre Trauer schnell überwinden zu müssen, um wieder ein normales Leben führen zu können.

Das kann auf Außenstehende manchmal irrational und unvernünftig wirken. Wer jedoch schon einmal tief getrauert hat, erkennt die innere Logik und Sinnhaftigkeit dieses Phänomens. Täglich mit diesem unvorstellbaren seelischen Schmerz einzuschlafen und aufzuwachen, ist für viele Trauernde eine völlig neue und kaum auszuhaltende Erfahrung. Wenn Trauernde nach einer längeren Phase der Erholung und Heilung auf diese Zeit zurückblicken, ist ihnen aus dem inneren Abstand der geglückten Bewältigung heraus klar, dass ihnen zu diesem Zeitpunkt kein anderer Mensch wirklich dabei hätten helfen können, ihre Trauer schnell vorbei gehen zu lassen.

Heilung braucht Zeit, und die Bewegungen der Seele sind langsam.

Dennoch gibt es Möglichkeiten, Trauer zu erleichtern und miteinander zu tragen. Trauernde empathisch zu unterstützen und einfach füreinander da zu sein, ist für Außenstehende oft gut machbar.

Ab dem Moment, an dem Trauernde langsam erahnen, dass es bis zur Bewältigung ihres Verlustes vielleicht längere Zeit dauern könnte, spüren sie zum ersten Mal ganz bewusst die immense Erschöpfung und Schwäche, die diese Anpassungsleistung an ihre veränderte Lebenssituation in ihnen verursacht. Es entstehen oft ängstliche Fragen:

Wann wird das endlich vorbei gehen?

Wie lange brauchen andere Betroffene für diesen Prozess? Bin ich zu langsam?

Werde ich mich je vollständig davon erholen, oder wird irgendetwas zurückbleiben?

Wie verläuft eigentlich ein normaler und gesunder Trauerprozess, und woran merke ich, dass ich vielleicht depressiv werde?

Bin ich noch gesund oder schon krank? Brauche ich eine Psychotherapie?

Wie werden meine Kinder das verkraften?

Wir stark muss ich für meine Kinder sein? Welche eigene Trauer darf ich meinem Kind zumuten und zeigen?

Brauche ich Hilfe oder Unterstützung in meiner Alltagsbewältigung? Wenn ja, wer ist dafür der richtige Ansprechpartner?

Ist der Besuch einer Trauergruppe oder eines Trauertreffs für mich hilfreich? Und wenn ja, wann ist ein guter Zeitpunkt dafür?

Brauchen meine Kinder professionelle Begleitung in ihrer Trauer?

Wie sage ich es der Kita/Schule? Wieviel Kita/Schule verträgt mein Kind jetzt? Was bedeutet die Trauer meiner Kinder für die Einrichtung? Bei Schulkindern: Muss ich jeden Tag um Hausaufgaben kämpfen? Gibt es Sonderregelungen oder Erleichterungen?

Wie schaffe ich meinen Alltag und meine Arbeit?

Kann ich eigentlich etwas falsch machen?

Woran erkenne ich, ob etwas in unserer Familie „schiefläuft“ oder „noch normal“ ist?

Werde ich für immer alleine bleiben?

Bleibt bei der Rücksicht und Trauerbegleitung der Kinder Raum für mich? Wer sollte wie viel Raum bekommen und wofür?

Darf ich zu trauernden Kindern „Nein“ sagen?

Diese und ähnliche Fragen sind untrennbar mit jedem individuellen Trauerprozess von Erwachsenen und von trauernden Eltern verbunden.

WIE ERWACHSENE VERSUCHEN, IHRE TRAUER ZU BEWÄLTIGEN

Wir sind es gewohnt, uns in Krankheit oder Krise dem Thema Selbstheilung und Bewältigung über den Weg der Selbstfürsorge zu nähern, indem wir zum Beispiel Dinge tun, die „uns guttun“ und mit denen wir uns besser fühlen. Die meisten von uns sind darin geübt und mit sich selbst und den eigenen Emotionen diesbezüglich vertraut.

Im Normalfall funktionieren deshalb unsere Lösungs- und Bewältigungsstrategien relativ zuverlässig und wir sind erfahren darin, unsere psychische Stabilität wiederherzustellen. Im Trauerfall kann es jedoch sein, dass uns unsere bisher erworbene Krisenkompetenz kaum eine Hilfe oder Erleichterung ist.

Wir kennen uns zwar selbst aus bereits durchlebten Krisen und haben deshalb Ideen, auf welche Art wir die aktuelle Krise bewältigen wollen, doch leider nutzt uns unsere bisherige Erfahrung hier häufig wenig. Wir bemerken, dass das, was uns früher gutgetan hat, gerade nicht mehr der Weg zu unserer Stabilität und Erleichterung zu sein scheint.

Eigentlich hilft zu diesem Zeitpunkt nichts gegen die empfundene Leere und ohrenbetäubende innere Stille. Das Gefühl, komplett den Boden unter den Füßen verloren zu haben und im zeitlosen, luftleeren Raum zu schweben, ist für viele Trauernde überwältigend.

Plötzlich sind wir uns selbst fremd in unseren Emotionen und Reaktionen, und wir fühlen uns unserem eigenen Innenleben ausgeliefert.

Unsere bisherige Krisenerfahrung ist deshalb nur begrenzt hilfreich, weil unsere Psyche bei solch schweren Verletzungen die zur Heilung notwendigen Anpassungsleistungen nach ihren eigenen Gesetzen vollbringt. Diese sind uns bis zu diesem Moment verborgen geblieben, wir haben sie in unserem bisherigen Leben glücklicherweise noch nicht bewusst kennenlernen müssen. Deshalb erkennen wir sie nicht, wenn sie geschehen und haben schon gar kein Vertrauen in sie.

Wir vermuten vielleicht, wir müssten jetzt alles selbst machen und uns um Heilung bemühen. Wir denken und verhalten uns so, als hinge eine gelungene Trauerbewältigung von unserer jetzt zu erbringenden Selbstheilungsleistung ab.

In Bezug auf trauernde Kinder denken wir vielleicht, wir müssten ihnen bei ihrer Trauer helfen oder Rahmenbedingungen für sie schaffen, die sie möglichst zuverlässig von ihrer Trauer ablenken oder diese sehr sanft verlaufen lassen. Psychische Selbstheilungsprozesse sind jedoch weder bewusst steuer- noch kontrollierbar.

Im Vergleich dazu sind wir mit unseren körperlichen Heilungsabläufen meistens gut vertraut. Wir wissen genau, dass wir unseren Körper nicht zur Heilung zwingen oder Heilung selbst „vollbringen“ können. Wir haben gelernt, mit medizinischen Maßnahmen dafür zu sorgen, dass unser Körper die besten Voraussetzungen zur Selbstheilung hat.

Genauso ist es auch bei psychischen Verletzungen: Unsere Psyche können wir ebenfalls nicht dazu zwingen, heil zu werden, oder diesen Prozess willentlich beschleunigen. Deshalb kann man nicht „mal eben schnell“ eine Psychotherapie machen, oder kurz einen Ratgeber oder ein Selbsthilfebuch lesen, damit in kürzester Zeit wieder alles nach unseren Wünschen funktioniert und in Ordnung kommt.

Therapie beabsichtigt normalerweise Heilung oder Linderung, und beides braucht individuell seine Zeit. Genauso wenig, wie wir unseren Körper zur Heilung zwingen können, so wenig sind von außen auferlegte „Psychoprogramme“ zur schnellen Trauerbewältigung zielführend. Vernunft, Erkenntnisse und das Verstehen von Trauer werden uns nicht retten, obwohl sie den Trauerprozess lindern und unterstützen können.

Wir können uns nicht ausschließlich durch Denken und Erkennen entwickeln. Heilung braucht Zeit, Erholung und Ruhe.

Wenn Trauernde bei Außenstehenden nach Hilfe suchen, treffen sie nicht selten auf Menschen, die selbst keine eigene Trauererfahrung besitzen und nicht wissen können, „wie es sich anfühlt“. In bester Absicht – und weil sie aufrichtig helfen wollen – greifen sie bei Unterstützungsangeboten auf die eigenen Krisenbewältigungsstrategien zurück. Diese sind jedoch bei Trauer manchmal nutzlos oder können sogar trotz bester Absicht ungewollt verletzen.

Gutgemeinte Ideen, Hilfsangebote und Kommentare Außenstehender sind für Trauernde manchmal eine große Belastung. Mit Impulsen und Gedanken dazu, wie man Trauernde unterstützen könnte, fühlen sich Menschen, die selbst darin ungeübt sind, ebenfalls häufig überfordert. Wenn sie selbst noch nie tiefe Trauer durchleben mussten, geben sie trotzdem gutgemeinte Ratschläge, die manchmal leider ungewollt unsensibel sind. Oder sie sind selbst durch die Trauer ihres Gegenübers so verunsichert, dass sie sich komplett von der trauernden Person zurückziehen aus Angst, vielleicht etwas falsch zu machen.

Trauernde fühlen sich dann oft noch unverstandener, einsamer und verlorener, und ziehen sich aus Schutz vor neuen Verletzungen noch konsequenter zurück. So kann eine negative Dynamik entstehen.

Noch weniger geübt sind Menschen normalerweise bei der Begleitung trauernder Kinder und Familien. Nicht selten wird von Familien erwartet, dass sie in ihrer Trauer ihre Pflichten (Arbeit, Schule, Haushalt, etc.) auf keinen Fall vernachlässigen sollten. Kindern wird schulischer Leistungsdruck zugemutet und Eltern die entsprechende Alltagsbewältigung mit gleichzeitiger Normalitätsverantwortung und „Vorbildfunktion“ abverlangt.

Das ist eine unrealistische Erwartung, die weder funktionieren kann noch ihnen aufgebürdet werden sollte. Wie kann also bedürfnisorientierte Unterstützung trauernder Kinder und Familien gelingen? Menschen, die selbst einen Trauerprozess bewältigt haben, unterstützen andere Trauernde mit feinfühligen Sätzen wie: „Ich habe das in solchen Fällen so und so gemacht, und ihr müsst einfach selbst herausfinden, was euch guttut. Es gibt kein „Richtig“ oder „Falsch“. Setzt euch bloß nicht unter Druck.“

Manchmal besteht die pragmatischste Unterstützung Trauernder einfach darin, sie nicht unnötig zusätzlich zu belasten. Bitte seien Sie äußerst vorsichtig mit Ratschlägen darüber, was einer trauernden Familie helfen könnte, wenn Sie selbst noch nie getrauert haben. Gut gemeint ist eben manchmal das Gegenteil von gut. Davon können Trauernde abendfüllend Geschichten erzählen.

WAS IM ALLTAG UNTERSTÜTZEN KANN

Da jeder Mensch seine Krisen und seine Trauer individuell bewältigt, gibt es auch Trauernde, die sich durch Normalität und leichte Alltagsroutine eher stabilisiert als belastet fühlen. Routine, leichte Arbeiten und ein flexibel gestalteter Tagesablauf ohne größere Anstrengungen können ihnen Struktur und Halt geben. Im Idealfall kann eine trauernde Person im Tageslauf ihren aufkommenden Gefühlen und ihrer eigenen Bewältigung individuell Raum geben und sich Aktivitäts- und Ruhephasen dem jeweiligen Bedürfnis entsprechend selbst gestalten.

Kontakt mit anderen Menschen kann, besonders während der ersten Trauerwochen und Monate, guttun, manchmal jedoch auch belasten. Deshalb ist es für Trauernde hilfreich, einen Freundeskreis zu haben, der sich seelenruhig und entspannt auf die spontanen Entscheidungen und veränderten Lebensbedingungen der trauernden Person, beziehungsweise der trauernden Familie, einlassen kann und ohne Erwartung einfach mitfühlend für diese da ist.

Die beste Trauerbegleitung liegt im Wechsel vom Tun zum Sein.

Weniger tun, mehr da sein. Einfach so. Im Zuhören, Schweigen, füreinander verfügbar sein, den anderen annehmen, wie er ist und Nichts erwarten liegt eine immense unterstützende Kraft. Auch praktische Hilfe bei der Alltagsbewältigung wie Kochen, Putzen, gemeinsam einkaufen gehen, die Kinder zum Sport oder Musikkurs fahren, oder am Wochenende zum Ausflug abholen, kann Trauernden große Erleichterung verschaffen.

Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, solange die trauernde Person, beziehungsweise die trauernde Familie, dem auch gerne zustimmt und sich nicht zur Gegenleistung oder zu Dankbarkeit verpflichtet fühlt.

Bei aller Unterstützung ist es hilfreich, sich selbst nicht bis zu dem Punkt zu verausgaben, an dem man negative Gefühle der trauernden Person oder Familie gegenüber entwickelt, weil diese sich nicht schnell genug besser fühlt. Behutsame Selbstfürsorge und möglichst wenig eigene Erwartungen sind hier hilfreich.

Deshalb ist es für alle Beteiligten umso entlastender, je mehr Außenstehende unterstützend zur Seite stehen. So tragen viele Schultern gemeinsam und die Hilfe wird auf viele Hände verteilt.

WIE TRAUERN KINDER?

Kinder trauern ganz anders als Erwachsene. Sie stehen mitten in ihrer eigenen Entwicklung und ihrem Wachstum, für das sie eine Menge Energie, Raum und Zeit benötigen. Diese Entwicklungsprozesse können nicht einfach abgeschaltet oder in den Hintergrund geschoben werden, damit ein Kind in Ruhe trauern kann.

Das bedeutet, dass ein Kind beides, die eigene Entwicklung und die Trauer, parallel bewältigen muss. Ein Kind kann das und es gelingt ihm meist besser, als Erwachsene es erwarten würden. Dafür braucht es nur feinfühlige Erwachsene, die es verstehen und entsprechend seiner jeweiligen Bedürfnisse begleiten können.

Erwachsenentrauer verläuft, bildlich gesprochen, ein wenig wie ein dauerhaft klingender Ton im Hintergrund, der immer präsent ist, manchmal lauter, manchmal leiser, manchmal unerträglich.

Kindertrauer hingegen ist ein bisschen wie in Pfützen hüpfen. Kinder laufen ihren Weg der Alltagsnormalität entlang und springen manchmal in eine Trauerpfütze. Danach geht ihr Leben einfach wieder weiter.

Im Gegensatz zu Pfützen jedoch, die normalerweise unwiderstehlich sind und Spaß verheißen, stehen trauernde Kinder in diesen Momenten buchstäblich mit den Füßen im unangenehmen, kalten Nass. Es ist erleichternd, wenn Erwachsene ihnen dann eine Hand reichen, um sie aus dieser Pfütze hinauszubegleiten. Oder wenn Erwachsene selbst Gummistiefel tragen, mitfühlend zu dem Kind hineinsteigen und mit ihm gemeinsam aus ihr heraussteigen. Manchmal braucht ein Kind auch einen Arm, um aus einer tiefen Pfütze hinausgetragen zu werden. Damit das jeweils gelingen kann, ist es wichtig zu verstehen, was in trauernden Kindern vorgeht.

Für alle Menschen gilt gleichermaßen, dass jede ihrer Verhaltensweisen zu jedem Zeitpunkt sinnvoll ist. Es gibt kein unsinniges Erleben und Verhalten; alles, was wir tun, ergibt in diesem speziellen Moment für uns einen Sinn.

Diese innere Sinnhaftigkeit ist für Außenstehende nicht immer leicht nachzuvollziehen oder zu verstehen. Es ist auch nicht notwendig, das Verhalten einer anderen Person stets zu verstehen oder gutzuheißen. Es genügt, ein grundlegendes Zutrauen in die verborgene Sinnhaftigkeit ihres Verhaltens zu besitzen und es erst einmal so hinzunehmen, wie es gerade ist.

Wenn also ein trauerndes Kind beispielsweise ein Hilfsangebot verweigert, wütend wird und den Raum verlässt, handelt es weise und selbstfürsorglich. Es folgt seiner eigenen inneren Logik, die mit unserer Logik nicht unbedingt übereinstimmen muss.

Menschliches Verhalten ist zu jedem Zeitpunkt zusätzlich Ausdruck der eigenen innewohnenden Weisheit, die jeder von uns besitzt. Um also adäquat auf unser Gegenüber reagieren zu können ist es deshalb wichtig, es verstehen zu wollen.

Als Erwachsene sind wir nicht offen für Einsicht, Verständnis, Lernen oder Kooperation, wenn wir wütend, frustriert, traurig oder verletzt sind. Kindern geht es ebenso. Wenn ich ein frustriertes, verärgertes Kind wütend sein lassen kann und nicht versuche, es in seinem Verstehen und Verhalten zu korrigieren oder gar von meinen guten Absichten oder Gründen überzeugen zu wollen, sondern es erst einmal entspannen lasse, ins Herz nehme und verstehen möchte, lege ich einen Zugangsweg zu ihm.

Erst dann habe ich die Möglichkeit, es in seiner Not zu erreichen. Es ist hilfreich, sich diese Gedanken innerlich vor Augen zu führen, wenn wir mit Kindern, Familien, sowie allgemein mit Menschen in Kontakt sind, die gerade eine persönliche Krise durchleben.

Ob Trauerbegleitung gelingt, hängt bei Kindern jeweils davon ab, inwieweit wir Erwachsene uns in die individuelle kindliche Erlebniswelt hineinversetzen können, um sie zu verstehen.

Gewöhnlich liegt uns diese ferner, als es uns unsere erwachsene Erlebniswelt tut. Je nachdem, wie weit unsere eigene Kindheit zurückliegt, oder in welcher Erinnerung wir sie haben (vielleicht mögen wir uns nicht gerne daran zurückerinnern oder es gelingt uns nur schwer), fordert uns ein Perspektivwechsel mehr oder weniger heraus.

Perspektivwechsel bedeutet: Ich verlasse meine eigene Sicht auf diese Situation. Ich denke nicht von außen über mein Gegenüber nach oder versuche, mich in mein Gegenüber hineinzuversetzen, denn damit sähe ich immer noch durch meine eigenen Augen.

Stattdessen versuche ich, durch die Augen meines Gegenübers zu sehen, zu fühlen, zu begreifen, zu erleben und zu verstehen, was diese Person gerade erlebt, wie es sich für sie anfühlt und was sie mit ihrem Verhalten vielleicht ausdrücken möchte. Wem das zu Beginn nicht gleich gelingt, könnte versuchen, sich vorzustellen, wie diese Situation für ihn selbst wäre, würde es ihn gleichermaßen betreffen.

Diese Transferleistung im Alltag zu praktizieren ist normalerweise nicht weit verbreitet. Anfänglich kann ein echter Perspektivwechsel vielleicht ungewohnt sein, deshalb braucht das Erlangen dieser Fähigkeit eine Weile Übung und Geduld.

Da wir Menschen Beziehungswesen sind, ist es unerlässlich, darüber nachzudenken, welches Beziehungsangebot wir trauernden Kindern und Familien machen. Beziehungsorientierte Trauerbegleitung bedeutet, dass die Beziehungsqualität im Familienleben und in einer Trauerbegleitung sowohl eine wichtige Rahmenbedingung, als auch den Dreh- und Angelpunkt für eine gelungene Begleitung darstellt.

Im besten Fall bieten wir selbst eine Beziehung an, die gleichwürdig, empathisch, respektvoll, feinfühlig, herzoffen, authentisch, beständig, ausgewogen, integer und verantwortungsvoll ist.

Wie Sie bemerken, kann man diese Beziehungsqualitäten weder vorspielen noch vortäuschen, sondern wir strahlen sie aus, wenn wir sie in uns tragen. Falls wir an manchen dieser Eigenschaften noch ein wenig Nachhol- und Entwicklungsbedarf haben, sind Kinder gute Hinweisgeber und machen uns direkt oder indirekt darauf aufmerksam.

Deshalb ist gute Trauerbegleitung stets ein gemeinsamer Entwicklungsweg, und keine Einbahnstraße von uns zum Kind. Wir entwickeln uns gemeinsam.

DER ZEITPUNKT

Kindertrauer findet gar nicht so selten zeitversetzt zum Todesfall statt. Das hat einen guten Grund. Er liegt darin begründet, dass Kinder nach einem Verlust instinktiv um ihr eigenes Überleben bemüht sind und alles tun, um dieses sicherzustellen.

Je existentieller ein Verlust für sie ist, umso deutlicher zeigt sich das in ihren Reaktionen. Evolutionär ist körperliches Überleben bei allen Menschen mit oberster Priorität angelegt.

Für Kinder bedeutet körperliches Überleben, zusätzlich zu ihrem Selbstschutz sicherzustellen, dass es auch den sie versorgenden Erwachsenen in ihrem Umfeld gut geht und ihr gemeinsames Beziehungssystem stabil ist. Denn Erwachsene sichern Kindern ihr Überleben. Eltern würden grundsätzlich ihr Leben für ihre Kinder geben – und Kinder ihr eigenes für ihre Eltern.

Es ist in Kindern von Natur aus angelegt, instinktiv zu spüren, dass sie ohne Erwachsene nicht überleben könnten und je jünger Kinder sind, umso deutlicher spüren sie dies. Sie sind auf die Fürsorge von Erwachsenen angewiesen; je jünger das Kind, desto umfangreicher die Abhängigkeit. Es wird deshalb instinktiv alles tun, um das Familiensystem nach seinen Möglichkeiten zu stabilisieren und das Wohlergehen der Erwachsenen sicherzustellen, koste es, was es wolle.

In jedem Trauerfall wird die familiäre Stabilität etwas brüchiger, da mitbetroffene Erwachsene häufig selbst belastet und damit nicht voll leistungsfähig sind.

Kinder setzen alles daran, um Schutz, Sicherheit und Stabilität für die Familie wiederzuerlangen oder mitzugestalten. Das tun sie, indem sie mit Erwachsenen und deren Erwartungen kooperieren, um diese nicht zusätzlich zu belasten.

Diese Stabilisierung eines Familiensystems kann ungefähr ein bis vier Jahre dauern und nimmt im Durchschnitt erfahrungsgemäß etwa zwei Jahre in Anspruch.

Bis dahin nehmen sich Kinder in ihren Bedürfnissen, Wünschen, Emotionen und auch Entwicklungen zurück und passen sich sowohl den veränderten Rahmenbedingungen, als auch den Bedürfnissen der Erwachsenen an. Aus ihrer Sicht sorgen sie so nach bestem Vermögen für die Stabilität der Erwachsenen, indem sie ihnen nicht zur Last fallen, sondern sie unterstützen.

Bis sie sich dann selbst gestatten, dem Familiensystem ihre eigene Trauer zuzumuten, vergehen im Durchschnitt ungefähr besagte zwei Jahre.

Das ist eine lange Zeit nicht ausgedrückter Emotionen, Bedürfnisse und Wünsche, sowie eine Zeit, in der manches hinuntergeschluckt und beiseitegeschoben wird. Wenn sich die angestaute Trauer dann Bahn bricht, ist das Familiensystem selten darauf vorbereitet.

Nach so langer Zeit und erstaunlicher Kooperation des Kindes müsste doch „das Schlimmste überstanden sein“? Das ist die Sicht der Erwachsenen. Aus Kindersicht können sie ihre Trauer nun endlich offener zeigen, die sie oft selbst nicht so genau verstehen, benennen oder zuordnen können, aber ausdrücken müssen, um sich stabil zu halten. Dann werden diese Kinder „plötzlich aus heiterem Himmel verhaltensauffällig“, aber ihr verändertes Verhalten wird von Erwachsenen nun nicht mehr als Trauerreaktion erkannt.

Es sieht auf den ersten Blick schließlich nicht nach Trauer aus, da aus Erwachsenensicht der zeitliche Zusammenhang zum Todesfall fehlt und die betroffenen Kinder nicht einfach nur traurig sind.

Wenn sich ihre Trauer, die Kinder bis dahin vor Erwachsenen eher verborgen haben, dann offener zeigt, kann sie das auf vielfältige Weise tun. Kinder, Jugendliche und Adoleszenten (junge Erwachsene) können dann zum Beispiel Nägel kauen, in ihren Leistungen einknicken, verändertes Essverhalten zeigen, hyperaktiv und unkonzentriert sein, bettnässen, Tics entwickeln, aggressiv erscheinen, lustlos und unmotiviert wirken, sich isolieren, sehr risikofreudig oder selbstgefährdend handeln, lügen, stehlen, delinquent und zerstörerisch sein, unkontrollierte Wutausbrüche erleben und ausagieren, Dunkelangst oder Schlafstörungen entwickeln, sich distanzlos oder promiskuitiv zeigen, und vieles mehr.

Diese Liste ließe sich vielfältig verlängern, aber Sie ahnen das Ausmaß der emporsteigenden und vielfältig ausgedrückten Gefühle.

Im schulischen Kontext kann es beispielsweise geschehen, dass trauernde Kinder öfter unaufmerksam oder träumerisch wirken. Dann, für Außenstehende wie aus heiterem Himmel, beginnen sie plötzlich mit einem Sitznachbarn zu sprechen, Geräusche von sich zu geben oder Quatsch mit anderen Kindern anzufangen. Lehrer und Mitschüler könnten sich gestört fühlen und bei häufiger Wiederholung dieses Verhaltens ist das Kind nach einer Weile nicht weit von dem stigmatisierenden Begriff „verhaltensauffällig“ entfernt.

Was Erwachsene hier oft nicht erkennen können, ist, dass sich trauernde Kinder häufig erschöpft fühlen und sich in ihre innere Welt zurückziehen. Dann kann ganz plötzlich eine schmerzliche Erinnerung, eine belastende Angst oder ein Trauergefühl in ihnen aufsteigen und sie emotional ins Bodenlose ziehen.

Instinktiv versuchen Kinder nun, diese so schnell wie möglich loszuwerden, da eine Schule kein emotional sicherer Trauerort für sie ist. Verdrängung gelingt ihnen hier instinktiv mit verschiedenen Mitteln: Sie nutzen hierfür zum Beispiel unbewusst die Möglichkeit, innere Anspannung körperlich auszuagieren, was sich dann als motorische Unruhe zeigen kann. Sie reden vielleicht mit Mitschülern, lenken sich durch Dinge ab, die mit dem Unterricht gerade nichts zu tun haben oder entlasten sich, indem sie sich auf dem schnellsten Weg mit ihrer eigenen Lebendigkeit verbinden.

Letzteres gelingt ihnen über die effiziente Abkürzung zu unserer eigenen Lebendigkeit: Humor und Lachen. Quatsch machen bei bedrückenden Gefühlen kann für Kinder ein emotionaler Lebensretter sein. Leider empfinden das manche Außenstehende in diesem Moment jedoch als Störung.

Diese Verhaltensweisen sind ein Hilferuf und ein Wegweiser zur inneren Not dieses jungen Menschen. Wenn dann versucht wird, kindliches Verhalten auf Symptomebene zu modifizieren („Wenn dieses Verhalten verschwindet, wird alles wieder gut, wir Erwachsenen helfen dir gerne dabei“) und darauf der Blick und die Mühen der Erwachsenen liegen, fühlt sich ein Kind zu Recht falsch gemacht. Denn seine Not liegt ja nicht in seinem Verhalten, sondern ist die Ursache dessen.

Die Definitionsmacht über das Erleben und Verhalten des Kindes, sowie über „das Problem“ übernehmen dann Erwachsene. Es ist, als würden sie die Wegweiser zur kindlichen Not einfach abmontieren und durch eigene Wegweiser, die in eine ganz andere Richtung weisen, ersetzen und dann erwarten, dass das Kind diesen dann folgen soll.

Seiner inneren Not kann dann nicht gut begegnet werden und der Hilferuf des Kindes bleibt schlimmstenfalls ungehört.

In ihrer Überraschung über die verzögerten Traueräußerungen ihres Kindes neigen überforderte Erwachsene manchmal dazu, psychiatrische Diagnosen zu vermuten. Diese Problematik ist zu weitreichend, um sie hier zu erörtern, denn selbstverständlich können Kinder in dieser Zeit tatsächlich genannte Erkrankungen parallel zu ihrer Trauer entwickeln (man kann schließlich Flöhe und Läuse gleichzeitig haben).

Deshalb ist es für die diagnostische Abklärung wichtig, in der biographischen Anamnese (der fachlichen Begutachtung der Lebensgeschichte) eines betroffenen Kindes Verlust und Trauer etwas genauer zu beleuchten, besonders dann, wenn Kinder sich nach einem familiären Todesfall sehr kooperativ verhalten haben. Kinder können oft nur durch ihr Verhalten mitteilen, wenn sie etwas schmerzt. Dann brauchen sie feinfühlige Erwachsene, die mit ihnen auf die Suche nach dem Ursprung ihrer Not gehen und sie auf dem Weg hinaus begleiten.

KAPITEL 2 TRAUER ENTWICKLUNGSBEZOGEN VERSTEHEN
TRAUER ENTWICKLUNGSBEZOGEN VERSTEHEN
BINDUNGS- UND BEDÜRFNISORIENTIERT

Um trauernde Kinder gut zu verstehen und Familien bindungsund bedürfnisorientiert begleiten zu können ist es hilfreich, sowohl Trauer- als auch Todeskonzepte von Kindern (was sie über Tod und Sterben kognitiv verstehen und wie sie es emotional bewältigen) in Grundzügen zu kennen.

Das folgende Kapitel ist deshalb entwicklungsbezogen und durch Fallbeispiele praxisnah gestaltet. Ich möchte vorab zur besseren Nachvollziehbarkeit kurz beschreiben, was ich unter bindungs- und bedürfnisorientiert verstehe.

Bindungsorientiert bedeutet, dass mir die Beziehung zu einer beteiligten Person wichtiger ist als die Sache, um die es gerade geht; und dass die inhaltlichen Themen oder der Kontext eine der Beziehung untergeordnete Priorität besitzen.

Das möchte ich gerne kurz veranschaulichen. Nehmen wir an, der sechsjährige Sohn kommt am frühen Abend vom Fußballspielen mit seinen Freunden nach Hause. Er ist verschwitzt, im emotionalen Überschwang und hat einen Bärenhunger. Die Mutter deckt gerade den Tisch, denn in zehn Minuten gibt es Abendessen.

Ihr Sohn sagt: „Mama ich will Schokolade. Oder ein Eis.“ Wahrscheinlich antwortet ihm die Mutter: „Wir essen gleich zu Abend. Iss jetzt bitte keine Süßigkeiten mehr. Als Nachspeise kannst du später ein Eis oder Schokolade haben.“

Die Motivation der Mutter besteht offensichtlich aus Verantwortung, Fürsorge und Liebe. Vermutlich wird der Junge, der sein Augenmerk auf ihr „Nein“ legt, mit Worten, Gesten oder Lauten seinen Unmut über ihre Entscheidung ausdrücken und auf seinem Wunsch bestehen: „Ich will aber Schokolade!“

An diesem Punkt passiert etwas Interessantes: Die innere Stabilität und Geklärtheit der Mutter (auf welche Weise sie mit ihrem eigenen Sozialisationsprozess und mit ihrer Mutterrolle im Reinen ist), sowie vielleicht zusätzlich ihre aktuelle Gemütsverfassung entscheiden zum Großteil darüber, wie sich Situation und Atmosphäre in diesem Moment weiterentwickeln.

Wenn die Mutter ihr Selbst mit ihrer Entscheidung verknüpft, wird sie vielleicht den Widerstand und die Frustration ihres Sohnes persönlich nehmen, das heißt, sie wird dessen Reaktion vielleicht auf sich beziehen und als Hinweis darauf deuten, dass sie als Mutter nun verpflichtet ist, hier erzieherisch tätig zu werden, um ihre Mutterrolle ihren eigenen Ansprüchen entsprechend zu erfüllen.

Ist das der Fall, könnte sie beispielsweise damit beginnen, um seine Zustimmung zu werben, indem sie versucht, ihn von ihren guten Gründen und Absichten bezüglich ihres Neins zu überzeugen. Der Sohn jedoch ist frustriert, hungrig, müde und hat gerade überhaupt keine innere Kapazität, der Mutter zuzuhören, geschweige denn ihr zuzustimmen. Ihn interessieren ihre Gründe verständlicherweise gerade gar nicht.

Welches sechsjährige Kind würde der Mutter in so einer Situation ruhig und offen zuhören, kurz nachdenken und dann antworten: „Natürlich Mama, du hast Recht. Ja, ich bin müde und hungrig, und ich will unbedingt sofort Schokolade, aber nach genauem Nachdenken über deine Gründe und nach dem ich mich in dich hineinversetzt habe, verstehe ich deine Entscheidung vollkommen. Ich stelle mich und meinen Wunsch zurück, und warte geduldig bis nach dem Abendessen.“?

Verständnis oder gar Zustimmung ist hier eine unrealistische Erwartung an ein sechsjähriges, müdes und hungriges Kind. In dieser Situation passen die Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche von Mutter und Kind einfach nicht zueinander. Das ist ganz normal. Nun kann sich die Mutter entweder sachorientiert oder bindungsorientiert verhalten.

Sachorientierung stellt den Inhalt des Interessenkonfliktes in den Mittelpunkt und bezieht sich auf den Wunsch nach Schokolade kurz vor dem Abendessen.

Bindungsorientierung bedeutet, den Fokus auf die Beziehung zu lenken: Wie geht es uns damit und wie wollen wir jetzt miteinander und mit deinem Wunsch umgehen?

Wenn der Fokus in solch einem Moment auf der Sache liegt, könnte die Mutter vielleicht antworten: „Du weißt genau, dass es vor dem Essen keine Süßigkeiten gibt. Wenn du jetzt etwas Süßes isst, hast du beim Abendessen keinen Hunger mehr. Wasch dir bitte die Hände und komm dann zum Essen, und gib, wenn du hochgehst, bitte auch deiner Schwester Bescheid, dass es gleich Essen gibt.“

Was sagt das über die Beziehungsgestaltung der Mutter aus und wie fühlt sich das Kind dabei?

Wenn der Fokus auf der Beziehung liegt, könnte die Mutter vielleicht antworten: „Ich kann deinen Ärger gut verstehen und bleibe trotzdem bei meiner Entscheidung. Bitte wasche dir die Hände und wenn du willst, kannst du dir ja schonmal überlegen, was du zum Nachtisch magst. Ich sage deiner Schwester kurz Bescheid, dass wir gleich essen.“

Was sagt das über die Beziehungsgestaltung der Mutter aus und wie fühlt sich das Kind dabei?

Keiner der beiden Wege, mit dieser Situation umzugehen, soll elterliches Verhalten als gut oder schlecht bewerten. Wenn beide Möglichkeiten nebeneinanderstehen, wird einfach deutlich sichtbar, dass die Beziehungsaussagen unterschiedlich sind, ebenso das elterliche Bild vom Kind und die eigene Haltung.

Deshalb ist auch das Beziehungsergebnis im jeweiligen Fall ein anderes. Es ist hilfreich, als Eltern grundsätzlich darüber zu reflektieren und sich miteinander auszutauschen, welche Beziehungen wir uns als Familie wünschen und welchen Weg wir konkret gehen wollen, um dann dort auch anzukommen.

Natürlich gibt es noch weitere Handlungsoptionen. Die Mutter könnte dem Sohn ein Stück Schokolade vorher und einen weiteren Teil später geben. Oder sie könnte ihm den Wunsch unbegrenzt gewähren damit er selbst herausfindet, ob ihn das zufrieden stellt. Oder sie könnte ihm bei Süßigkeiten auch generell wenige Beschränkungen auferlegen, damit sie den Nimbus des Verbotenen und Unerreichbaren verlieren, und damit weniger interessant werden. Eine weitere Option wäre es, dem Kind eine Banane anzubieten (süß und hochkalorisch).

Es gibt viele Handlungsmöglichkeiten und jede Familie findet ihren eigenen Umgang damit. Kinder wissen meistens genau, was sie wollen, aber nicht immer, was gut für sie ist. Diese Tragweite zu überblicken und daraufhin zu entscheiden ist Aufgabe der Eltern.

Macht es in unserer Sichtweise einen Unterschied, ob wir davon ausgehen, dass es sich bei obigem Beispiel entweder um ein trauerndes Kind oder um ein nicht trauerndes Kind handelt? Lesen wir das Beispiel dann unterschiedlich?

Dürfen wir uns trauernden Kindern gegenüber „ganz normal“ verhalten?Ja, das ist sogar sehr wichtig!

Zu trauernden Kindern „Nein“ zu sagen fällt manchmal schwer. Gleichzeitig stehen sie mitten in ihren wichtigen, normalen Entwicklungsprozessen und sind auf uns als empathische „Sparringspartner“ und Entwicklungsbegleiter angewiesen. Was bei allen Situationen das aus meiner Sicht Wichtigste bleibt, ist die Beziehung. In welcher Beziehung findet etwas statt?

Bei der ersten, sachbezogenen Aussage der Mutter entsteht möglicherweise ein Gegeneinander, beide Seiten fühlen sich vermutlich eher nicht gut gehört und verstanden.

In der zweiten, beziehungsorientierten Aussage steckt die innere Freiheit der Mutter, emotional stabil zu bleiben und allen Beteiligten (auch ihr selbst) ihre Gefühle zu lassen, ohne diese zu bewerten. Gleichzeitig bleibt sie empathisch sowohl bei ihrem Kind als auch bei sich selbst und ihrer Entscheidung.

Aus dieser inneren Freiheit heraus kann sie als Mutter jeweils situationsbezogen entscheiden, wie sie reagieren möchte. Sie ist frei in ihren Entscheidungen und Handlungen. Frust im Miteinander macht etwas anderes mit den Beteiligten und mit ihrer Beziehung als Frust im Gegeneinander.

Wenn unsere Kinder später einmal erwachsen sind, werden wir die meisten dieser Situationen vergessen haben, denn sie sind im Einzelnen eher nicht relevant. Das Beziehungsgefühl jedoch, dass Kinder in diesen Situationen jeden Tag mit ihren Eltern erleben, prägt sie und sie verinnerlichen es so tief, dass es entscheidend dafür ist, welche Beziehung sie auch im Erwachsenenalter zu ihren Eltern haben. Diese emotionalen Erinnerungen sind nicht einfach „löschbar“.

Deshalb ist für mich bezüglich bindungsorientierter Haltung die bedeutsamste Frage:

Welche Beziehung will ich zu (m)einem Kind / meinem Gegenüber haben, und welcher Mensch will ich sein?

Das sind für mich zwei hilfreiche Grundfragen und besonders bei der Begleitung von belasteten und trauernden Kindern und Familien wertvoll.

Bei einer bedürfnisorientierten Begleitung spielt die Unterscheidung zwischen geäußerten Wünschen und Bedürfnissen eine große Rolle. Bedürfnisse sollten prompt, feinfühlig, angemessen und zugewandt erfüllt werden, Wünsche müssen das nicht. Letztere können je nach Situation erfüllt, verschoben oder verweigert werden.

Was ist ein Wunsch, und was ein Bedürfnis?

Bedürfnisse sind aus meiner Sicht die körperlichen Grundbedürfnisse eines Menschen wie Essen und Trinken, Schlafen, Hygiene, Toilettengang, Gesundheitsversorgung und so weiter. Bei Kindern kommt das Bedürfnis nach körperlicher Bewegung hinzu.

Ebenso gibt es psychische Grundbedürfnisse wie beispielsweise das Bedürfnis nach sicherer Bindung, Schutz und Sicherheit, Wertschätzung, Spiel, Verständnis, Inspiration, Autonomie oder Selbstverwirklichung.

Sind die Bedürfnisse erfüllt, sind alles Weitere meist dementsprechend Wünsche, die natürlich auch als stark und drängend empfunden werden können und Bedürfnissen sehr ähnlich sehen.

Bedürfnisse sollten prompt, feinfühlig, angemessen und zugewandt erfüllt werden, Wünsche müssen das nicht. Letztere können je nach Situation erfüllt, verschoben oder verweigert werden. Wichtig ist hierbei:

Menschen jeden Alters können meistens damit leben, nicht zu bekommen, was sie wollen, aber sie können nicht gut damit leben, nicht gesehen oder nicht ernstgenommen zu werden.

Darauf sind besonders Kinder sehr empfindsam. Ein Kind kann den folgenden Satz verstehen: „Ich sehe, was du von mir möchtest und das kannst du gerade nicht bekommen.“

Es muss mir nicht zustimmen und meine Entscheidung auch nicht gutheißen, aber es weiß, es wird gesehen, selbst wenn es seinen Wunsch nicht erfüllt bekommt. Darüber darf es frustriert sein und diesen Frust auch ausdrücken.

Von Erwachsenen jedoch für die wiederholte Äußerung von Wünschen, Bedürfnissen oder Frustration falsch gemacht zu werden („Wieso fragst du schon wieder, du weißt doch, dass das nicht geht“, „Da musst du dich gar nicht so aufregen“, „Ich habe meine Gründe“), lässt Kinder glücklicherweise mit sehr gesundem Widerstand und hoffentlich Protest reagieren.

Trauernde Kinder können an diesem Punkt jedoch auch mit Überkooperation reagieren. Da Überkooperation weder ihnen noch der Familie auf Dauer guttut, ist hier deshalb ein besonderes Feingefühl der Erwachsenen wichtig.

Im Folgenden möchte ich anhand von jeweils alters- und entwicklungsbezogenen Fallbeispielen auf die verschiedenen inneren Erlebniswelten und Verhaltensweisen von Kindern bezüglich Tod und Trauer eingehen.

Ganz bewusst habe ich dabei palliative Situationen mitbeleuchtet und mitbeschrieben, da es für den kindlichen Trauerprozess einen großen Unterschied macht, wie das Kind die Zeit vor dem Versterben der ihm nahen Person erlebt hat. Sein Trauerprozess fängt ja dort an: an dem Punkt, an dem die Zeit der Abschiednahme und damit der vorweggenommenen Trauer beginnt.

Konnte das Kind in diesen Prozess mit einbezogen werden? Hat es sich verstanden gefühlt? Wurde es gesehen und gehört? Durfte es mitentscheiden? Gab es Raum für seine Abschiednahme und vorweggenommene Trauer? Wie ging es seiner Familie und den Erwachsenen in dieser Zeit? Was haben sie gemeinsam erlebt?

Es besteht ein wichtiger Zusammenhang zwischen der Zeit vor und nach dem Versterben eines geliebten Menschen. Für den späteren Trauerprozess von Kindern und Familien ist es deshalb sehr relevant, dass die vorher palliativ begleitenden Fachkräfte sich mit Kindertrauer auskennen.

Dadurch können sie bewusst Einfluss auf ihre Entscheidungen und Gestaltung in dieser Phase nehmen, um betroffenen Kindern und Erwachsenen die nachfolgende Trauer zu erleichtern. Wenn Trauerbegleiter wiederum über die vorangegangene palliative Zeit, den Tod und die Beerdigung der verstorbenen Person gut Bescheid wissen, können sie die Familie und das Kind individueller und damit heilsamer begleiten.

Wichtig ist für alle Fachkräfte, die Kinder und Familien unterstützen, deshalb Folgendes: Zum einen eine gute interdisziplinäre Transparenz, gute Hintergrundinformationen bezüglich einer Familie und der zu einer Familie gehörigen Personen, aktuell zuständige Ansprechpartner, sowie ungefähre Kenntnisse über die bisherigen Ereignisse und die jetzigen Lebensumstände. Zum anderen benötigen alle Beteiligten Grundkenntnisse über den Arbeitsbereich, sowie die Zuständigkeiten der weiteren Begleitenden.

Das sind wichtige Rahmenbedingungen für qualitativ hochwertige Trauerbegleitung von Kindern und Familien. Deshalb umfassen folgende Fallbeispiele und Betrachtungsweisen grundsätzlich die palliative Zeit einer Familie, das Versterben der Person und die Trauerphase der Angehörigen danach.

0-3 JAHRE: „IN DIESEM ALTER KRIEGEN SIE NOCH NICHT VIEL MIT“

Die 34-jährige Mutter einer jungen Familie ist an Ovarialkarzinom (Eierstockkrebs) erkrankt, und wird mittlerweile palliativ betreut. Die Erstdiagnose wurde vor zwei Jahren während der Schwangerschaft gestellt. Liam ist jetzt 19 Monate alt.

Die Eltern sind bei aller Verzweiflung sehr darum bemüht, ihm möglichst viel Normalität zu schenken und ihn bewusst in diesen familiären Prozess mit einzubeziehen, den sie miteinander achtsam gestalten wollen. Sie suchen sich dazu Unterstützung und wenden sich an eine hospizlich erfahrene Dame mit der Frage, was Liam wohl von der Situation bereits bewusst mitbekommt, kognitiv verstehen kann, und was er nun braucht.