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Mord in der DDR: 1965 findet man in einer Klärgrube die Leiche eines Neugeborenen. Die Kriminalpolizei macht die Eltern ausfindig. Kann sie auch die Mörder überführen? Mit ungewöhnlichen Untersuchungsmethoden trägt die Polizei Indizien zusammen, die alles erhellen. Diesen und zwei weitere Fälle von Kindsmord in ihrer Region rekonstruiert die Autorin auf der Basis von polizeilichen Ermittlungs- und Gerichtsakten.
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Seitenzahl: 278
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Impressum
ISBN eBook 978-3-360-50007-6
ISBN Print 978-3-360-01976-9
© 2012 Verlag Das Neue Berlin, Berlin
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin unter Verwendung von picture alliance/ZB
Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH
Neue Grünstraße 18, 10179 Berlin
Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin
erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe
www.das-neue-berlin.de
Eveline Schulze
Authentische Kriminalfälle aus der DDR
Babyleichen in Tiefkühltruhen, mumifiziert im Dach einer Garage, vergraben im Garten, versteckt in Blumenkübeln, versenkt in Dorftümpeln, verwahrloste Kleinkinder, verdurstete Säuglinge, erschlagen, gegen die Wand geschleudert, aus dem Fenster geworfen … Es vergeht kaum eine Woche, in der in den Medien nicht über einen grausamen Fall von Kindesmisshandlung oder -tötung berichtet wird. Im Sommer 2005 erschütterte die Meldung die Republik, dass in Frankfurt an der Oder eine Mutter neun Kinder geboren, getötet und in Blumentöpfen auf ihrem Balkon vergraben hatte. Entdeckt wurde das Verbrechen von Verwandten, bei denen die Frau nach der Zwangsräumung ihrer Wohnung Blumentöpfe und Pflanzenbehälter vorübergehend untergestellt hatte. Als diese sie leerten, fanden sie winzige Skelette.
Die Presse schrieb von einem »privaten Friedhof«, und nachdem publik wurde, dass dieser zwischen 1988 und 1998 von der Mörderin angelegt worden war, traten wie stets auch die Interpreten auf den Plan. Der Innenminister des Landes Brandenburg, in welchem der Fall angesiedelte war, provozierte mit seiner Deutung zwar heftigen Widerspruch auch bei den eigenen Parteifreunden – schließlich standen Bundestagswahlen ins Haus –, allerdings fand er mit seiner Haltung auch viel Zustimmung, insbesondere im Westen. Jörg Schönbohm (CDU), vor seiner Politikerkarriere Bundeswehrgeneral, hatte in einem Interview erklärt: »Jetzt werden natürlich wieder viele sagen, der Wessi tritt uns Ossis ins Kreuz. Aber ich glaube, dass die von der SED erzwungene Proletarisierung eine der wesentlichen Ursachen ist für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft.«
Der in der deutschen Kriminalgeschichte beispiellose Fall einer sehr wahrscheinlich psychisch kranken Frau wurde in ein ideologisch determiniertes Deutungsmuster gepresst. Diese Praxis war namentlich den Ostdeutschen durchaus vertraut. Dort wurde bis 1989 jede Erscheinung ebenfalls auf diese Weise erklärt. Und wenn die Wirklichkeit sich dem vorgegebenen Erklärungsmuster entzog, verschwieg man sie. So verhielt es sich beispielsweise auch mit jenen nachfolgenden drei Kriminalfällen, die sich in den 60er und 70er Jahren in Görlitz zutrugen. Eine Frau tötet unmittelbar nach der Geburt ihr Kind, ertränkte es im Eimer wie eine junge Katze; zwei Jahre später besorgte es der Vater, indem er das Neugeborene mehrmals gegen die Tür eines Kühlschranks schlug. Die Barbarei wurde aufgeklärt, juristisch verfolgt und – unter den Teppich gekehrt. Sie passte nicht ins gesellschaftliche Bild, richtiger: in das Bild, von dem man meinte, dass die Gesellschaft auszusehen habe.
Sie passt auch nicht in Schönbohms Bild.
Jener Totschläger aus Görlitz war keineswegs proletarischer, sondern gutbürgerlicher Herkunft. Mehr als zwei Drittel seines Lebens verbrachte er vor der DDR-Zeit.
Bei genauerem Hinsehen wird offenbar, dass viele Verbrechen wenig bis nichts mit den gesellschaftlichen Umständen zu tun haben, unter den sie stattfinden. Wir haben es oft mit psychischen Defekten oder mit Ursachen zu tun, die in konkreten Lebensumständen wurzeln und fernab der politischen Gegebenheiten liegen. Symptomatisch dafür die zweite Geschichte in diesem Buch. Mit 14 wird Karin S. in einem fränkischen Dorf erstmals von ihrem Onkel vergewaltigt, der Missbrauch geht über Jahre, und als sie, mit 18, schwanger wird, flüchtet sie zur Großmutter nach Görlitz, also in den Osten. Sie heiratet, bekommt zwei weitere Kinder. Doch ihr ganzer Hass richtet sich gegen das Erstgeborene. Wenn sie das Mädchen sieht, erkennt sie ihren einstigen Peiniger. Und darum lässt sie sich an dem unschuldigen Kind aus. Eine solche abscheuliche Tat passt in jedes Psychologielehrbuch, es passt aber nicht ins Raster kurzschlüssiger Politpropaganda.
Nahezu klassisch die dritte Geschichte. Bekanntlich führt Euripides mit »Medea« den Kindermord in die Literatur ein: Medea, Königstochter aus Kolchis, verlässt für ihren Mann Jason die Heimat und folgt ihm nach Korinth. Dort angekommen, möchte er eine Jüngere zur Frau nehmen. Aus Rache tötet Medea die beiden gemeinsamen Kinder. Medea heißt im vorliegenden Fall Maruth und ist eine lebenshungrige, junge Frau aus Görlitz, deren erste Ehe, aus der zwei Kinder hervorgingen, scheiterte. Sie trifft einen anderen Mann, den sie geradezu anhimmelt, er ist die Inkarnation all ihrer Träume, doch die Partnerschaft hat keine gemeinsame Basis, und Maruths Versuch, den Mann mit einem Kind an sich zu binden, scheitert folgerichtig. Sie fühlt sich verschmäht und abgewiesen und richtet ihren Hass zunehmend gegen dieses Kind. Als ein neuer Mann in ihr Leben tritt und sie wieder schwanger wird, beschließt sie die von ihr inzwischen seit zwei Jahren drangsalierte Tochter zu töten: Sie rächt sich an dem Mann, der sie abwies, indem sie dessen Tochter beseitigt und damit Platz für eine neue Liebe schafft.
Eveline Schulze hat vor zwei Jahren schon einmal über Kriminalfälle aus ihrer Görlitzer Heimat berichtet, an deren Aufklärung sie seinerzeit direkt oder indirekt mitgearbeitet hatte. Ihre »Mordakte Angelika M.« wurde zum Bestseller, was weder von ihr noch vom Verlag so erwartet worden war. Vermutlich gründete sich der Erfolg auf die Tatsache, dass die von ihr geschilderten Fälle sich tatsächlich zugetragen hatten, also authentisch waren. In einer Welt, in der das meiste künstlich, konstruiert, erfunden und ausgedacht ist, nimmt das Interesse an Echtem und Unverfälschtem offenbar zu. Zumal das wahre Leben mitunter derart absonderlich ist, wie es sich kein noch so phantasiebegabtes Hirn ausdenken kann. Nichts ist so unglaublich wie die Wirklichkeit.
Die in Görlitz lebende Autorin vom Jahrgang 1950 ist fünffache Mutter und bei diesem Thema besonders sensibilisiert. Sie hat angesichts der Debatte, die sich am Fall von Sabine H. aus Frankfurt an der Oder entzündete, drei Kriminalfälle aus ihrer Heimat dargestellt. Diese widerlegen de facto alle politischen und akademischen Deutungen. So hatte seinerzeit ein häufig zitierter Kriminologe aus Niedersachsen, der im kollektiven Topfen in den DDR-Kinderkrippen die Ursache für eine erhöhte Gewaltbereitschaft bei Ostdeutschen erkannte, nach Sabine H. ermittelt: Die Statistik für die Jahre 1995 bis 2004 weist im Westen durchschnittlich 1,08 Totschlagsopfer unter sechs Jahren pro 100.000 Einwohner dieser Altersgruppe aus, im Osten liegt die Zahl fast dreimal so hoch, bei 2,9. Bei Mordfällen an Kindern unter sechs Jahren liegt die Durchschnittsquote der Jahre 1995 bis 2004 bei 0,46 im Westen und bei 0,72 je 100.000 Kinder unter sechs Jahren im Osten, also auch hier deutlich höher. (Die Zeit 33/2005)
Nicht nur die abstrakten Zahlenspielereien nervten Eveline Schulze, schließlich stand hinter jeder Ziffer, selbst hinterm Komma, ein Menschenschicksal. Sie wehrte sich auch gegen das offensichtliche Bestreben, aktuelle Kindstötungen in eine postum geführte Auseinandersetzung mit der DDR einzubinden und einen Ost-West-Konflikt zu inszenieren. Dafür taugte das Thema nun wahrlich nicht.
So sind die von ihr geschilderten drei Kriminalfälle weder typisch noch atypisch für die DDR. Sie hätten damals oder heute, so oder so ähnlich, auch anderswo stattfinden können, und sie finden ja auch statt, leider. In Köln, Chemnitz, Hamburg, Schwerin, überall dort, wo Mütter mit ihrem Los überfordert sind, wo charakterliche Defizite und psychische Deformationen in den Vordergrund drängen, wo es kein Mit-, sondern nur ein Gegeneinander gibt. Wo man die Augen vor der Wirklichkeit verschließt und lieber weg als hin schaut.
Der Verlag
Wenn ich mich richtig erinnere, fing alles auf einem Spielplatz an, auf den ich eine Freundin, die vor eineinhalb Jahren Mutter geworden war, begleitet habe, und das Kind hatte grad wieder seine absolute Nervphase und irgendwann sagte diese Freundin, den, wie ich fand, sehr bedeutsamen Satz: Ach, manchmal ist der Grat zwischen – ich liebe mein Kind und ich schmeiß es zum Fenster raus – verdammt schmal!
Thea Dorn,in: Die Brut, München 2004
Ach, denkt Franz, der Freizeitphilosoph, was für ein Tag – und was für eine Scheißarbeit. Kanalmeister nennt sich die Funktion. Er hat die Ausscheidungen ganzer Görlitzer Generationen an sich vorüberziehen sehen, na und, aber klüger ist er davon nicht geworden. Solch Blick ins Leben bildet nicht. Er schärft nicht mal die Sinne.
Hensels Augen schauen in die Ferne, über den Fluss, der seit ‘45 die Stadt trennt und Grenze ist. Für Politik hat sich der Kanalmeister nie interessiert. Früher lag dort Schlesien, jetzt Polen. Das haben sich die Siegermächte so ausgedacht. In Potsdam, wo sie das Fell des Bären zerlegten, hatte einer bei Stalin nachgefragt, welche »Neiße« er in Jalta gemeint habe, die die künftige Ostgrenze von Deutschland bilden werde. Und dieser soll dem Vernehmen nach einen Bleistiftstummel genommen und jenen blauen Strich nachgezeichnet haben, der in die Oder mündete. So trennte man am Ende eines Krieges mitten in Europa die Völkerschaften und verschob deren Heimat auf der Landkarte.
Franz Hensel also lässt seinen Blick schweifen. In Polen, jenseits der Neiße, lodern die ersten Kartoffelfeuer. Er sieht den hellen Rauch in den blauen Septemberhimmel steigen. Das Kraut ist trocken. Der Spätsommer hat den letzten Saft getrunken. Auch diesseits des Flusses macht man sich an die Kartoffelernte. Doch hierzulande rattern Kartoffelkombines über die großen LPG-Äcker, der »sozialistische Frühling« hatte auch im Kreis Görlitz vor einigen Jahren gesiegt. Hensel weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist, wenn die Bauern ihren Klumpatsch zusammenwerfen und die Äcker gemeinsam bestellen. Er ist Städter, kein Landwirt. Er ist mit der letzten und nicht mit der ersten Stufe der Nahrungskette befasst. Ihn interessiert nur, ob er nach der Schicht eine ordentliche Scheibe Wurst auf der Stulle hat oder nicht. Nach den Jahren des Hungers und des Mangels hat er sie jetzt. Man schreibt das Jahr ’65.
Franz Hensel verdient sein Brot im Städtischen Klärwerk. Nicht viel. Aber zum Leben reicht’s. Er macht die Arbeit, weil sie gemacht werden muss. Eine andere hatte er nach Krieg und Gefangenschaft nicht gefunden. Also war er froh, sie bekommen zu haben. Inzwischen gehört er hier zu den Alten. Alljährlich, zum 1. Mai oder am 7. Oktober, wenn sich dieses Land feiert, gibt es eine Prämie für die Treue. Und natürlich für die Arbeit. Mal reicht der Betriebsleiter dazu Blech, wie man den »Aktivisten« oder anderes schmückendes Geschmeide nennt. Was, denkt Hensel bei solchen Anlässen, schon wieder ein Jahr vorüber? Und wieder nichts passiert.
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