7,99 €
Er ist bekannt als CEO ohne Herz. Bis sie in sein Leben zurückkehrt und es auf den Kopf stellt ...
Lincoln Coldwell gilt als arrogant, kalt und grausam. Doch als er seine Jugendliebe Violet wiedertrifft, beginnen seine Schutzmauern zu bröckeln. Linc würde alles für Lottie tun, und als sie sich in seinem Club versteigern lassen will, bleibt ihm nur eines: Er bietet ihr das Geld, das sie dringend für ihren kranken Bruder benötigt, im Austausch gegen ein Jahr Ehe an. Weil Lottie keine andere Lösung sieht, willigt sie ein, fest entschlossen, Linc nicht wieder in ihr Herz zu lassen. Denn er darf niemals erfahren, was zehn Jahre zuvor geschehen ist ...
»Dieses Buch hat einfach alles. Es ist prickelnd, romantisch und bricht dir das Herz. Seid bereit für die komplett Gefühlspalette!« GOODREADS
Auftakt einer neuen Reihe rund um die Inhaber eines exklusiven Clubs von Bestseller-Autorin L. Knight
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 445
Titel
Zu diesem Buch
Prolog
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von L. Knight bei LYX
Leseprobe
Impressum
L. KNIGHT
Kings of Ruin
THE AUCTION
Roman
Ins Deutsche übertragen von Ralf Schmitz
Lincoln Coldwell gilt als arrogant, kalt und grausam. Doch als er seine Jugendliebe Violet wiedertrifft, beginnen seine Schutzmauern zu bröckeln. Linc würde alles für Lottie tun, und als sie sich in seinem Club versteigern lassen will, bleibt ihm nur eines: Er bietet ihr das Geld, das sie dringend für ihren kranken Bruder benötigt, im Austausch gegen ein Jahr Ehe an. Weil Lottie keine andere Lösung sieht, willigt sie ein, fest entschlossen, Linc nicht wieder in ihr Herz zu lassen. Denn er darf niemals erfahren, was zehn Jahre zuvor geschehen ist …
Schlitternd renne ich auf der Suche nach einem Versteck vor meiner Mutter um die Hausecke. Ich bleibe mit dem Fuß an einem Stein hängen, verliere das Gleichgewicht und lande ächzend im Kies der Auffahrt. Mein Rettungsversuch bringt mir stechende Schmerzen in Knien und Händen ein, und Tränen brennen in meinen Augen, doch ich verkneife sie mir und schlucke den Schmerz hinunter, während ich bereits aufspringe und weiterrenne.
Ich darf mich hier nicht erwischen lassen; ich muss mich verstecken. Ich muss Hausaufgaben machen, was echt blöd ist. Ich will nicht lesen, Lesen ist schwer, und ich hasse es. Ich biege um die Mauer zu meiner Lieblingsstelle auf dem Grundstück und seufze erleichtert. Alles an dem Rosengarten gefällt mir. Die schönen Farben, der liebliche Duft, selbst die spitzen Dornen ziehen mich an, am meisten aber liebe ich den Frieden, den ich hier finde.
Ich bücke mich unter dem Rosenbogen hindurch, laufe nach hinten, wo die Gartenschuppen stehen, und lasse mich ins angenehm riechende Gras plumpsen. Die Feuchtigkeit unter dem Po macht mir nichts aus. Hier bin ich sicher, hier kann ich meinen Tagträumen nachhängen, hier bin ich frei davon, irgendetwas beweisen zu müssen.
Ich mustere meine Hände, die aufgeplatzte, verschrammte Haut und beäuge vorsichtig meine Knie. Ich hasse Blut, mir wird bei dem Anblick ganz komisch, als müsste ich mich übergeben, und mir wird schwindlig im Kopf, als wollte mein Gehirn einschlafen. Nach einem Blick gebe ich mein Vorhaben, mich zu säubern auf, und hoffe, dass sich einfach eine Kruste bildet.
Meine Nase kraust sich und brennt, und mir wird das Herz schwer, als ich daran denke, was mein Lehrer heute gesagt hat. Dass ich dumm sei und es Zeitverschwendung wäre, einer Idiotin etwas beibringen zu wollen. Ich hasse die Schule, es wimmelt dort von reichen Kindern mit schicken Kleidern und Spielsachen. Reiche Leute sind oft fies und gemein. Mr Coldwell ist gemein; er sagt zwar nie was zu mir, aber ich erkenne es daran, wie er mich ansieht, als wäre ich ein Ärgernis, eine Fliege, die er am liebsten zerquetschen würde.
Mrs Coldwell ist anders, aber sie wirkt immer so traurig, als wollte sie weinen. Vielleicht war ihr Lehrer ja auch nicht nett zu ihr. Sie kann lesen, ich sehe sie manchmal in der Bücherei, und ich beneide sie darum. Sie erkennt die Wörter, von denen meine Mutter behauptet, dass sie in den Büchern stehen, aber ich bin dumm, sodass die Buchstaben sich immer bewegen, wenn ich zu lesen versuche.
Da knarrt das Tor, das auf der anderen Seite des Rosengartens zum See führt, und ich schmiege mich in der Hoffnung, dass, wer auch immer das sein mag, mich nicht entdeckt, dichter an meine Mauerseite. Ich höre die Schritte näher und näher kommen und mache die Augen zu. Wenn ich denjenigen nicht sehe, sieht er mich vielleicht auch nicht. Das Geräusch kommt näher, bis ich weiß, dass der Neuankömmling in meiner Nähe ist, also blinzle ich und schaue in die Augen von Lincoln Coldwell hinauf.
»Lottie, was tust du hier?«
Lincoln ist mit neun drei Jahre älter als ich, und alle lieben ihn, sogar die Lehrer. Alle reden sie mit ihm, die Mädchen kichern, wenn er in der Nähe ist, und alle Jungs sind seine Freunde und lachen über alles, was er sagt oder tut. Ich würde ihn gerne dafür hassen, aber er ist nett zu mir und nimmt sich immer Zeit, auf mich zu warten, wenn man uns vor der Schule absetzt. Jetzt hockt er sich vor mich hin, und ich sehe, wie ihm sein dunkelbraunes Haar in die Stirn fällt, das er sich mit einer lässigen Handbewegung zurückstreicht.
»Lottie!«
Als ich zusammenzucke, macht er sofort ein zerknirschtes Gesicht und lässt sich neben mir im Gras nieder. Er zieht die Knie an und stützt die Ellbogen darauf. »Möchtest du mit mir sprechen und mir verraten, warum du weinst und blutest?«
»Ich bin gefallen«, schniefe ich und versuche tapfer zu wirken.
»Warum?«
»Weil ich gerannt bin und mich verstecken wollte.«
Er bietet mir ein Taschentuch an, und ich nehme es; ich wische mir damit über das Gesicht und ziehe eine Fratze, als ich sehe, wie schmutzig ich es gemacht habe. »Tut mir leid.«
Sein hübsches Gesicht verzieht sich zu einem freundlichen Grinsen. »Es ist für Popel und Tränen da, Lottie. Es ist nicht schlimm, wenn es dreckig wird.«
Ich muss kichern, schon wird mir wieder leichter ums Herz.
Lincoln verdreht die Augen, lächelt aber weiter. Er sieht so viel älter aus als sein Bruder Clark. Clark ist auch mein Freund. Wir sind gleich alt, gehen jedoch nicht in dieselbe Klasse, denn er ist wirklich, wirklich schlau, und ich bin einfach dumm. Es verdirbt mir die Laune, als ich an die Schule vorhin denke, wie alle mich ausgelacht haben, als der Lehrer diese Sachen über mich gesagt hat. Am liebsten würde ich weinen, doch ich schlucke die Tränen hinunter, weil ich nicht will, dass Lincoln mich weinen sieht und für ein Baby hält.
»Hey, warum so ein langes Gesicht?«
Ich zucke nur die Achseln, ich will nicht, dass Linc erfährt, was sie gesagt haben. »Wegen nichts.«
»Es sieht aber nicht nach nichts aus, wenn du deswegen weinst.«
»Ich hasse die Schule.«
»Wieso?«
»Weil ich dumm bin.«
Ich höre, wie er Luft holt, und drehe den Kopf so, dass ich ihm ins Gesicht sehen kann. Seine Brauen senken sich tief über seine blauen Augen, die Lippen hat er aufeinandergepresst. »Sag das nicht.«
»Warum nicht. Es stimmt ja; mein Lehrer hat es heute selbst zu mir gesagt. Ich wünschte, ich könnte von der Schule abgehen und Astronautin werden.«
»Astronautin?«
»Ja, dann könnte ich mir die Sterne aus der Nähe anschauen und nachsehen, ob der Mond wirklich aus Käse ist. Ich mag Käse nämlich gern.«
»Das wäre ein cooler Job.«
»Und was willst du werden, wenn du mal groß bist?«
Lincoln blickt in den Himmel, die Spätsommersonne scheint warm auf unsere Haut, und ich betrachte sein Profil. Er ist immer nett zu mir, aber wenn sein Vater dabei ist, kann er auch ganz anders sein, kühler, als hätte er Angst, er könnte ihn auf die Palme bringen. Ich kann ihn trotzdem gut leiden. Clark scheint es egal zu sein, was sein Vater denkt, er ist immer mein Freund.
»Ich wäre gerne Dinosaurierjäger.«
Ich ziehe die Nase kraus. »Dinosaurier sind gruselig.«
Lachend legt er einen Arm um mich. »Keine Sorge, Lottie, ich passe auf dich auf.«
»Ja?«
Er schaut auf mich hinunter, und ich sehe ihm an den Augen an, dass er die Wahrheit sagt. »Immer.«
Der Moment dehnt sich zwischen uns aus, als ich den Kopf gegen seine Schulter sinken lasse und mir wünsche, er könnte in meiner Klasse sein, weil mich dann keiner mehr hänseln würde.
Da springt er plötzlich aus dem Gras auf, und ich beobachte angespannt, wie er in einem Gartenschuppen verschwindet. Mommy sagt, ich darf da nicht reingehen, weil dort gefährliches Zeug aufbewahrt wird, das Ungeziefer von den Pflanzen fernhalten soll.
Ich lasse mich erleichtert zurückfallen, als er eine Minute später mit einem grünen Kasten in der Hand zurückkommt. Dann setzt er sich vor mich hin, stellt den Kasten ins Gras und klappt ihn auf. Mommy hat auch so einen, den braucht man, wenn man sich wehgetan hat.
»Machen wir dich sauber.«
Lincoln streckt behutsam mein Bein aus, dann nimmt er ein Tuch und wischt das Blut ab. Ich schaue weg und beiße mir auf die Lippe, als das Brennen mir Tränen in die Augen treibt.
»Kannst du immer noch kein Blut sehen, Lottie?«
Lincoln ist der Einzige, der Lottie zu mir sagt, alle anderen nennen mich Vi oder Violet, aber mir gefällt, dass er es tut. Das macht es besonders. Als Clark mich einmal Lottie genannt hat, fand ich es blöd, und ich hab ihm gesagt, er soll es lassen. Ich glaube, damit habe ich seine Gefühle verletzt, aber er war nicht sehr lange beleidigt. Clark ist nie lange sauer. Er ist der beste Freund auf der Welt, aber Lincoln habe ich auch sehr gern. Er ist bloß anders. Bei ihm hab ich ein komisches, aufregendes Gefühl im Bauch.
»So, alles erledigt.«
Ich war so mit meinen Tagträumen beschäftigt, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie er mir ein Pflaster aufs Knie klebte. Mein Knie ist jetzt rundum sauber, wodurch der ganze andere Dreck umso schlimmer aussieht. »Danke, Linc.«
Er nickt, dann bringt er den Erste-Hilfe-Kasten weg, die Verpackungen und benutzten Tücher lässt er im Gras liegen.
Ich seufze, als er wiederkommt, da ich weiß, dass ich mich nicht ewig verstecken kann, was ich aber nur zu gerne tun würde. Ich wünschte, ich wäre schon groß und könnte selber entscheiden, ob ich in die blöde Schule gehen oder lieber lesen lernen will.
»Wir gehen besser zurück ins Haus. Deine Mutter macht sich sicher schon Sorgen.«
Mom ist die Haushälterin des Kennedy Estate, und wir haben hier ein Heim ganz für uns alleine. Es ist ganz hübsch, und ich liebe mein eigenes Zimmer; es ist violett, so wie ich heiße, und ich habe da einen eigenen Schreibtisch, an dem ich zeichnen kann und so was alles.
Er hält mir seine Hand hin, die ich ergreife, sodass er mich hochziehen kann. Als wir zum Haus gehen, verdreht sich mein Magen mit jedem Schritt mehr, also gehe ich langsamer, bis ich fast stehen bleibe.
»Am liebsten würde ich weglaufen.«
Linc wendet sich mir zu und legt den Kopf schief, wieder rutscht ihm die Locke auf die Stirn. »Warum?«
»Weil ich hier nicht hingehöre, Lincoln. Ich bin nicht wie die anderen Kinder. Meine Mom ist nicht reich, und einen Daddy habe ich auch nicht. Ich bin dumm, und ich trage alte Sachen auf. Alle hier hassen mich.«
»Ich hasse dich nicht. Und dumm bist du auch nicht.«
»Doch, bin ich. Ich kann ja nicht mal lesen.«
Ein heißer, peinlicher Fleck breitet sich in meinem Gesicht aus, als ich das zugebe, und ich würde am liebsten im Erdboden versinken und verschwinden. Warum habe ich ihm das gesagt. Jetzt wird er mich bestimmt auch hassen.
Eine Hand auf meiner Schulter lässt mich durch meine Wimpern nach dem so großen, hübschen Jungen schielen. Ihn würde nie jemand »dumm« nennen; er hat alles, trotzdem ist er weiter nett zu mir.
»Ich kann dir helfen. Lesen ist am Anfang nicht leicht, und bei manchen ist es so, dass die Buchstaben sich bewegen, wenn sie lesen wollen, und das macht es dann noch schwerer. Bei meinem Freund Peter ist das auch so, aber er hat eine speziell getönte Brille, die ihm hilft.«
»Wirklich?« Hoffnung flackert in mir auf, sodass ich mich leichter fühle und denke, dass ich am Ende vielleicht doch nicht dumm bin.
»Ja, und spezielle Bücher mit besonderer Schrift und so. Und mittlerweile kann er richtig gut lesen.«
»Und du würdest mir helfen?«
»Klar. Aber nur, wenn du nicht wegläufst.«
»Na gut.«
Ich springe auf und schlinge meine Arme um ihn; lachend erwidert er meine Umarmung. »Komm, lass uns nachsehen, ob deine Mom ihre fantastischen Butterkekse gemacht hat, die ich so mag.«
Hat sie. Mom liebt Clark und Lincoln und Mrs Coldwell, Mr Coldwell kann sie allerdings nicht leiden. Gesagt hat sie das nie, aber ich weiß es trotzdem. Ich sehe es ihr an. Sie macht dann immer so ein verkniffenes Gesicht, wie mein Lehrer am Montagmorgen.
Ich werfe einen Blick auf Lincoln neben mir, und mir wird ganz warm. Ich hoffe, wir bleiben immer Freunde, und dass er mich nie verlässt.
»Linc, darf ich dich heiraten, wenn wir größer werden?«
Er geht neben mir zur Küche. »Warum?«
»Weil du dann nicht von mir weggehst.«
Er rümpft die Nase, und ich warte auf seine Antwort. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt eine Frau will, aber wenn, nehme ich dich, okay?«
»Abgemacht.«
Ich reiche ihm meinen kleinen Finger. Er hakt seinen eigenen unter und drückt leicht zu.
»Los jetzt. Dein Unterricht fängt an, sobald ich von meiner Klavierstunde zurück bin.«
»Hilfe, muss ich wirklich?«
»Ja. Du hast es versprochen.«
Ich blicke in sein ernstes Gesicht und hoffe, dass er es sich wegen einer Frau noch anders überlegt. Dann könnten wir verreisen und mit meinem Raumschiff nach Dinosauriern suchen, dann könnte er mich beschützen, und vielleicht könnten wir Clark auch mitnehmen.
»Vi, ein Anruf für dich.«
Ich gieße dem Anzugträger in meinem Bereich die dritte Tasse Kaffee ein und sehe Joe, den Inhaber des Diners im Central Park, in dem ich arbeite, stirnrunzelnd an. Nervosität pulsiert in mir, mein Magen zieht sich zusammen, und ich frage mich, wie viel davon Hunger und wie viel gutem herkömmlichen Stress zu verdanken ist. »Komme!«
Ich lächle den Anzugträger in der Hoffnung an, dass er für die ganze Aufmerksamkeit, die er mir abverlangt, wenigstens ein anständiges Trinkgeld dalässt, weiß aber im Voraus, dass er es vermutlich nicht tun wird. In dem Job lernt man ziemlich schnell, solche Typen zu erkennen, trotzdem muss ich freundlich bleiben, für alle Fälle. Das Geld ist knapp, und ich kann jeden Cent gut gebrauchen.
Ich hebe den Hörer ab und wappne mich gegen alles, was da auf mich zukommen mag, denn irgendwas ist schließlich immer. »Hallo?«
»Spreche ich mit Violet Miller?«
»Ja.«
»Hier ist Mrs Cantrell von der Riverdale School.«
Besorgnis legt sich mit einem eisigen Griff um meine Brust, und ich kämpfe gegen die Panik an, als ich spüre, wie mein Herz zu rasen anfängt, als hätte ich einen Marathon hinter mir. »Geht es Eric gut?«
»Deshalb rufe ich Sie an. Eric hatte einen hypoglykämischen Schock. Ich habe einen Krankenwagen gerufen, er ist jetzt auf dem Weg ins Riverdale General.«
Mein Blick verengt sich, als Angst mich erfasst. Eric ist krank. Ich muss zu ihm. Dieses Mantra geistert plötzlich unablässig durch meinen Kopf, während ich versuche, äußerlich ruhig zu bleiben. »Ich mache mich sofort auf den Weg.«
»Bis Sie im Krankenhaus sind, wird jemand bei ihm bleiben.«
»Danke.«
Meine Hand hört nicht auf zu zittern, als ich aufhänge und hinter mich greife, um mir die Schürze aufzubinden. »Joe, tut mir leid, dass ich dir das antue, aber ich muss los. Eric hatte in der Schule einen Anfall. Er wird ins Riverdale General gefahren.«
Joe winkt Richtung Ausgang. »Geh schon! Wir kommen zurecht!«
Ich lange hinter den Tresen nach meiner Tasche und laufe zur Tür, halte nur kurz inne, um mich auf die Zehenspitzen zu recken und Joe einen Kuss auf die wettergegerbte Wange zu drücken. Er ist so gut zu mir und lässt mir weit mehr Beinfreiheit, als er müsste, wofür ich ihm unendlich dankbar bin. Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen zu steigen drohen. »Danke.«
Ich sause durch die Tür und schlage die Richtung zum Bahnhof ein, bleibe jedoch stehen, als direkt vor mir ein Taxi abbremst und jemanden am Straßenrand rauslässt. Eigentlich kann ich mir kein Taxi leisten, doch die Sorge um Eric sitzt mir im Nacken. Ich muss zu ihm, um seine kleine Hand zu halten und ihm zu versichern, dass alles wieder gut wird. Ich bin alles, was er hat auf der Welt, und ich werde ihn in dieser Lage keine Sekunde länger alleine lassen als unbedingt nötig. Also laufe ich kurz entschlossen zu dem Yellow Cap und gleite, Kopf voran, auf die Rückbank.
»Zum Riverdale General, bitte.«
Der Taxifahrer mustert mich, und ich spüre seinen abschätzenden Blick, als wüsste er, dass ich mir den Fahrpreis nicht leisten kann, womit er vollkommen recht hat. Mir steht ein weiterer Abend ohne Essen bevor, aber das interessiert mich gerade nicht. Im Moment geht es mir allein um Eric.
»Ich habe das Geld.« Ich zeige ihm eine Handvoll Scheine, für die ich mir normalerweise was zu essen gekauft hätte, und er nickt, tritt aufs Gaspedal und fährt uns auf schnellstem Weg zum Krankenhaus. Ich sehe dem Frühlingsregen zu, der draußen fällt, und mir wird erst in diesem Augenblick klar, dass ich nass bin bis auf die Haut. Ich erschaure und weiß nicht, ob es an der Sorge oder an der Kälte liegt.
Seit meine Mutter starb und mich mit der Verantwortung für meinen kleinen Bruder allein gelassen hat, fühle ich mich wie betäubt. Das ist jetzt drei Jahre her, fühlt sich aber noch wie gestern an, seit sie von uns genommen wurde und eine Lücke hinterließ, die ich wohl niemals werde füllen können, doch ich habe ihr versprochen, mich um Eric zu kümmern, und das werde ich auch.
Das Taxi hält an, ich drücke dem Fahrer das Geld in die Hand, springe hinaus und laufe zum Eingang. Warme Luft schlägt mir entgegen, als ich die Empfangshalle betrete. Die Notaufnahme ist überfüllt, aber ich kenne nur ein Ziel, als ich zum Schalter eile, und das ist Eric.
»Eric Miller, er wurde mit dem Rettungswagen eingeliefert.« Ich versuche nicht an die Kosten zu denken und wie ich die Rechnungen diesmal bezahlen soll. Ich bin nur um Haaresbreite davon entfernt, meine tote Mutter und meinen Bruder zu enttäuschen. Es schnürt mir die Kehle zu, als die Last der Verantwortung mich beinah erdrückt, aber ein Nervenzusammenbruch ist auch etwas, das ich mir jetzt unmöglich leisten kann. Also straffe ich die Schultern und warte ungeduldig darauf, dass die Frau am Empfang ihre Tasten drückt und meinen Bruder ausfindig macht.
»Sind Sie verwandt?«
»Ja, ich bin seine Schwester und habe das Sorgerecht.«
»Gut, Ms Miller, er wurde auf die Kinderstation gebracht, durch die Tür dort auf der linken Seite.«
Meine nassen Sohlen quietschen auf dem grauen Vinyl des Krankenhausbodens, als ich zum Aufzug laufe. Als die Tür vor meiner Nase zugleitet, würde ich am liebsten frustriert dagegenhämmern. Ich blicke mich um, entdecke das Hinweisschild für die Treppe und stoße die Tür auf.
Ich nehme zwei Stufen auf einmal und stehe schließlich in der Kinderstation, wo ich das gleiche Brimborium wie vorhin über mich ergehen lasse und mit der Stationsschwester spreche, die meinen Bruder ausfindig macht. Als ich seine Lehrerin entdecke, eile ich zu ihr, komme schlitternd zum Stehen und werde abgelenkt, da Dr. Stanley gerade aus dem Krankenzimmer kommt.
»Ah, Violet, da sind Sie ja.«
»Wie geht es ihm?«
Der freundliche Arzt, der Eric behandelt, seit bei ihm vor zwei Jahren Diabetes Typ I diagnostiziert wurde, schenkt mir ein beruhigendes Lächeln. »Gehen wir irgendwohin, wo es ruhig ist, und wir uns unterhalten können.«
Seine Worte, die nichts Gutes bedeuten können, drehen mir den Magen um. »Ja, gut, aber darf ich ihn vorher kurz sehen?«
»Natürlich.«
Dr. Stanley drückt die Tür auf und geht ins Zimmer. Da sehe ich meinen Bruder, der in dem riesigen Krankenhausbett winzig aussieht, die Bettwäsche ist fast so weiß wie seine Haut. Seine Augen bleiben geschlossen, als ich zu ihm gehe und mit den Fingern über sein kurzes dunkles Haar streiche. Schwere Lider öffnen sich langsam, und er lächelt mich an. Mit neun ist er klein für sein Alter, und ich mache mir Sorgen, dass er nicht die Ernährung bekommt, die er zum Wachsen benötigt. Ich tue, was ich kann, doch es ist nicht genug. Trotzdem schaut er mich mit Liebe und Zuneigung in den blauen Augen an.
»Hey, Kumpel.«
»Vi, ich glaube, mir geht’s nicht so gut.«
Das ungute Gefühl in der Magengrube steigt in meine Brust, lässt sich dann in meiner Kehle nieder und würgt mich. Vor lauter Angst und Sorge kämpfe ich gegen Tränen an und setze ein beruhigendes Lächeln auf. Dieser kleine Junge bedeutet mir alles, und ihn so krank zu sehen, macht mich fertig. »Ich weiß, Kumpel, aber wir kriegen dich schon wieder hin.«
Ich hauche einen Kuss in sein Haar und atme mit geschlossenen Augen seinen Duft ein. Er ist mein Zuhause. Er wird immer mein Zuhause sein. Ich bin jetzt seine Beschützerin. Bevor ich ihn noch einmal im Stich lasse, werde ich kämpfen, bis der Körper, den Gott mir gegeben hat, einknickt und aufgibt. Es gibt nichts, das ich nicht für ihn tun würde, nicht eine einzige verdammte Sache.
»Ich muss jetzt mit Dr. Stanley sprechen. Warum ruhst du dich nicht aus, bis ich wiederkomme und dir etwas vorlese?« Der Gedanke, Eric aus seinem Lieblingsbuch vorzulesen, lässt mich an ihn denken, doch ich verdränge den Gedanken. Ich kann es mir nicht leisten, ihm auch nur eine Sekunde der Schwäche zu gönnen, die ich noch immer für ihn hege, weil die Erinnerung daran, was er früher mal war, mir endgültig das Herz brechen würde.
»Okay, Vi.«
Die leise Stimme reißt mich aus meiner Starre, und ich lächle erneut. Der sonst so lebhafte, voller Energie steckende kleine Junge liegt nach dem Anfall lethargisch und erschöpft da, und es geht mir tief unter die Haut, ihn so zu sehen.
Als ich auf den Gang hinaustrete, sehe ich, dass Ms Powell immer noch dort wartet, und ich fühle mich mies, weil ich ihr keine Beachtung geschenkt habe. »Ms Powell, vielen, vielen Dank, dass Sie bei ihm geblieben sind.«
Ihr freundliches Lächeln wirkt auf meine rohen Nervenenden wie Schmirgelpapier. Meine Fassung hängt am seidenen Faden, und wenn sie mir jetzt freundlich begegnet, breche ich in Tränen aus, obwohl ich es mir unmöglich leisten kann, jetzt zusammenzuklappen.
Doch sie scheint das zu spüren und drückt mir nur kurz den Arm. »Ich fahre in die Schule zurück. Geben Sie mir in ein paar Tagen Bescheid, wie es ihm geht.«
»Mache ich. Danke noch mal.«
Als sie durch die Tür geht, wende ich mich Dr. Stanley in dem Wissen zu, dass ich jedes Quäntchen Kraft zusammennehmen muss, um das, was nun folgt, ohne Zusammenbruch zu überstehen.
Er führt mich in ein ruhiges Zimmer, zwei Türen von dem entfernt, in dem Eric schläft, und deutet auf einen Stuhl. Froh, meine schmerzenden Beine zu entlasten, setze ich mich. Das Kellnern hält mich fit, ist aber die Hölle für die Beine und Füße. »Sagen Sie mir, wie schlimm es ist, Doc. Ich kann es verkraften.«
Er lächelt freundlich, und mir sinkt der Mut.
»Eric hatte einen ernsten Zuckerschock. Er kann von Glück sagen, dass er nicht im Koma liegt. Wir werden ihn in den nächsten Tagen streng überwachen, denn entweder schlagen seine Medikamente nicht an, oder er nimmt sie nicht.«
Ich bin ihm dankbar für seine Offenheit, auch wenn mir seine Andeutung, Eric könnte seine Medikamente nicht bekommen, nicht gefällt. Er verhält sich deshalb nicht unfreundlich, doch jeder, der Augen hat, kann erkennen, dass ich finanziell auf dem letzten Loch pfeife, und Insulin ist horrend teuer. »Er bekommt seine Medikamente«, sage ich mit fester Stimme, jedes einzelne Wort betonend. Entschieden und stolz drücke ich unter seinem Blick das Rückgrat durch.
»Ich wollte Ihnen nicht unterstellen …«
»Doch, das wollten Sie, und, ehrlich gesagt, verstehe ich das sogar, Dr. Stanley. Ich weiß, wie wir rüberkommen, und, bei Gott, ich wünschte, ich könnte behaupten, Sie liegen falsch, aber das tun Sie nicht. Ich bin arm wie eine Kirchenmaus, aber, selbst wenn ich alles dafür opfern muss, was ich habe, Eric bekommt seine Medikamente.«
»Nun, wenn das so ist, werden wir seine gegenwärtige Medikation wohl anpassen müssen. Die Dosis raufsetzen und ihn noch genauer beobachten.«
»Tun Sie, was immer Sie tun müssen, Doc. Ich werde einen Weg finden. So wie immer.«
Dabei darf ich nicht mal an die Kosten für den Krankenhausaufenthalt denken, oder daran, dass ich bald in so vielen Arztrechnungen ertrinken werde, dass selbst Essen zum Luxus werden wird. Vielleicht finde ich eine billigere Wohnung und ergattere mehr Schichten im Diner, doch tief im Herzen weiß ich, dass auch das nicht genügen würde. Dieses Mal benötige ich ein Wunder. Meine abschweifenden Gedanken werden unterbrochen, als Dr. Stanley weiterspricht.
»Kommt Ihre Versicherung für irgendwas hiervon auf? Wir haben Hilfsprogramme, die Sie ausprobieren können, und medizinische Unterstützung.«
Ich weiß seine Freundlichkeit zu schätzen, aber ich habe das alles längst versucht, und es hat trotzdem hinten und vorne nicht gereicht. Ich bezahle sogar noch die Arztrechnungen meiner Mutter ab. Es heißt, Krebs sei für die Armen in Amerika ein Todesurteil, und das stimmt auch. Krank werden ist viel zu teuer, und gute Gesundheit ist nur was für Reiche. Aber davon sage ich Dr. Stanley nichts. Obwohl er ein netter Mann ist, würde er mich nicht verstehen, denn er gehört zum Club der Reichen.
Ich packe meine Tasche fester, bis meine Knöchel weiß hervortreten, während ich mit aller Kraft versuche, nicht den Mut zu verlieren. »Ich schau’s mir mal an.«
Er nickt und erklärt mir dann im Einzelnen, was jetzt passieren soll und was er versuchen will, und ich bekomme das meiste davon mit, während ein Teil von mir den Kopf über Wasser zu halten versucht, damit ich nicht gegen die schiere Ungerechtigkeit anschreie.
Später, als ich an Erics Bett sitze und seinen tiefen Atemzügen zuschaue, zermartere ich mir auf der Suche nach einem Ausweg das Hirn, finde aber keinen. Ich könnte versuchen, mich an seinen Vater zu wenden, weiß jedoch, dass ich lieber sterben würde, als diesen Dreckskerl um irgendwas zu bitten. Er würde vermutlich sowieso ablehnen, was bedeutet, dass mir nur noch ein Weg offensteht.
Ich muss die beiden einzigen Besitztümer an den Nagel hängen, die mir noch geblieben sind, meinen Stolz und meine Menschenwürde, und das Undenkbare tun. Einen Aktivposten habe ich noch, meinen Körper. Wie es aussieht, ist mir nichts sonst geblieben, was ich noch verkaufen könnte.
Ich kippe den Scotch und halte dem Barmann das leere Glas hin. Es ist Freitagabend im Club Ruin, mein Lieblingsabend der Woche, da die Erregung und die Vorfreude aufs Wochenende die Stimmung im Laden anheizen. Ich habe ein Meeting mit meinen Geschäftspartnern angesetzt, um mit ihnen das Clubgeschäft zu diskutieren. Harrison Brooks, einer der Partner und der Mann, der für den Erfolg des Clubs Ruin verantwortlich zeichnet, hat mich heute angerufen und mir mitgeteilt, dass er mit uns reden muss. Harrison ist als Teil seiner unzähligen Bestandsimmobilien auf dieses Gebäude gestoßen.
Der Mann, der sein Geld an der Börse gemacht und anschließend in Gebäuden und Grundstücken angelegt hat, verfügt auf der ganzen Welt über Eigentum. Inzwischen leitet er den Club Ruin und bezahlt einen Manager dafür, sich um sein gewaltiges Portfolio zu kümmern. Ich glaube, Harrison langweilt sich zu schnell, weshalb er ständig neue Herausforderungen sucht, was für uns allerdings ein Segen ist, weil er sich auf unseren kleinen Club gestürzt und ihn in die Erfolgsstratosphäre katapultiert hat, in der er heute schwebt.
Der Beat der Musik stampft, und ich fühle, dass Kopfschmerzen im Anmarsch sind. Ich darf indes nicht sauer sein, denn Harrison beruft normalerweise kein Meeting ein, wenn es nicht wichtig oder heikel wäre, die meiste Zeit lässt er den Rest von uns als stille Teilhaber im Hintergrund agieren. Deshalb habe ich meiner Verabredung für heute Abend nach seinem Anruf abgesagt.
Ehrlich gesagt, hatte ich heute sowieso keine große Lust. Kopfschüttelnd frage ich mich, was zum Teufel mit mir los ist. Sienna ist eine sichere Nummer, mit großen Titten und rundem Arsch, die jedes Mal entzückt ist, wenn sie sich hinknien und mir den Schwanz lutschen kann, als wäre es ihre Aufgabe. Ohne dass ich sie überhaupt darum bitten müsste. Da ich das Interesse verliere, drängt sich die Frage auf, ob ich der anonymen Ficks überdrüssig bin. Frauen gibt es im Dutzend billiger, stets beflissen und willig, doch ich vermisse die Jagd und wie mein Blut in Wallung gerät, wenn ich eine Frau dazu bringe, sich mir zu unterwerfen. Vielleicht kann ich nach dem Meeting in den zweiten Stock hoch und mich dort ein wenig vergnügen.
Der Club Ruin wurde an einem Abend vor fünf Jahren von mir und drei Collegefreunden aus der Taufe gehoben, dann stieß noch meine Cousine Audrey dazu. Wir hatten damals keine Ahnung von diesem Metier und begannen mit einem ganz normalen Club, in dem man trinken, tanzen und Leute kennenlernen konnte. Doch vor zwei Jahren wurde viel mehr daraus, als Audrey vorschlug, auch die zweite Etage zu nutzen, und obwohl wir es vorsichtig angingen und skeptisch waren, wie unsere Idee aufgenommen würde, hatte sie recht behalten.
Ich war nicht gerade glücklich darüber, dass meine Cousine einen Sexclub im obersten Stockwerk vorgeschlagen hatte, aber sie ist eine smarte Geschäftsfrau und keine, der man etwas abschlägt, also hatten wir uns darauf eingelassen, und seitdem strömt das Geld nur so in unsere ohnehin übervollen Taschen.
Und mit drei Etagen hat der Club Ruin nun für jeden Geschmack etwas zu bieten.
Im Parterre befindet sich der »normale« Club, für die Leute, die Party machen und sich amüsieren wollen. Aber nur die Bestaussehenden erhalten Einlass, denn wir sind elitär, und uns ist gleichgültig, wem das nicht passt. Wir vertreten eine Marke, und wem das nicht gefällt, kann sich verpissen und woanders feiern. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Launen von Leuten zu befriedigen, die Anstoß nehmen, als wäre es ihr Job. Unsere Richtlinien sind so streng wie unser Dress-Code. Wer Gesindel reinlässt, bekommt nie die Kundschaft, die wir bevorzugen, die Sorte nämlich, die Tausende für Schnaps ausgibt. Und die sich um den Block windenden Schlangen legen den Schluss nah, dass wir uns richtig entschieden haben.
Aber das ist nicht das eigentliche Amüsement, das findet auf den beiden übrigen Etagen statt. Der erste Stock beherbergt den VIP-Bereich, ausschließlich mit Kellnerinnen und Kellnern, die an den Tischen bedienen. Die Mädels und Jungs sehen alle verdammt heiß aus und tragen völlig andere Uniformen als die Barbesetzung im Erdgeschoss. Das normale Personal trägt enge schwarze T-Shirts mit dem Ruin-Logo, dazu schwarze Jeansröcke oder -hosen. Die VIP-Girls haben kurze schwarze Kleider an und müssen mehr vorzuzeigen haben, um die Gäste dazu zu animieren, ihr hart verdientes Geld auszugeben; die Jungs tragen schwarze Hosen und oben nichts, bis auf eine schwarze Fliege. Ziemlich prätentiös, aber es funktioniert, und mehr interessiert uns nicht.
Meine Überlegungen werden von Ryker Cabot unterbrochen, unserem Tech-Genie und Social-Media-Mogul der Extraklasse, und einer meiner besten Freunde aus Collegetagen.
»Lincoln, du bist ausnahmsweise mal früh dran.« Ryker klopft mir auf die Schulter, und ich wende mich ihm mit einer hochgezogenen Braue zu. »Gesprächig wie immer, wie ich sehe. Welche Laus ist dir jetzt wieder über die Leber gelaufen?«
»Abgesehen davon, dass ich meinen Freitagabend mit euch Arschlöchern verbringe?«
Ryker schlägt eine Hand über sein Herz. »Das trifft mich zutiefst.«
Ryker ist der Spaßvogel von uns, auf den man sich stets verlassen kann, wenn es darum geht, die Stimmung aufzuhellen oder die Lage zu entspannen. Er wirkt wie der leicht Durschaubare von uns vieren, aber das anzunehmen wäre ein Irrtum. Er lässt immer nur durchblicken, was er durchblicken lassen will.
Ich reibe Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »Hörst du das, Midas? Hier spielt die Musik.«
Er lacht. »Idiot.«
»Ich hab nie behauptet, was anderes zu sein.«
Ryker ist groß und breitschultrig, seine blonden Haare müssten dringend geschnitten werden, und die Frauen scheinen schon beim Anblick seiner blauen Augen schwach zu werden. Ryker flirtet gerne und hat jeden Abend eine andere am Arm, und obwohl er kaum eine häufiger als einmal trifft, sind am Ende alle verliebt in ihn.
Er ist ein Playboy, doch jeder, der den Fehler begeht, nicht mehr in ihm zu sehen, wäre schlecht beraten. Er ist der gewiefteste IT-Hexer der Welt, und es gibt nichts, was er am Computer nicht bewerkstelligen könnte. So hat er eine Social-Media-Plattform entwickelt, die ihn reicher gemacht hat als König Midas, daher der Spitzname.
»Irgendeine Ahnung, weshalb Harrison uns sprechen will?«
Ryker macht den Barmann, Marc, mit erhobenem Zeigefinger auf sich aufmerksam, der nickt und Ryker den Vodka einschenkt, den er am liebsten trinkt.
»Nicht die geringste.«
Dann lässt er sich von einer Gruppe strahlend lächelnder Frauen in Miniröcken ablenken. »Ladys.«
»Hey, Ryker.«
Als sie stehen bleiben, lasse ich träge Blicke über sie schweifen, um abzuschätzen, ob sich der Aufwand für mich lohnen könnte. Nicht, dass dazu viel gehört, es ist nicht schwer, sich flachlegen oder einen blasen zu lassen, wenn man über Geld und gutes Aussehen verfügt, doch in letzter Zeit langweilt mich der ständige bedeutungslose Sex.
Vielleicht sollte ich mich regelmäßig mit jemand treffen, aber ich zucke schon bei dem Gedanken daran zusammen. Meine letzte Freundin hatte es so nötig, dass sie mir ohne Unterlass Nachrichten schickte, mich ständig sehen wollte und darauf bestand, irgendwas mit mir zu unternehmen. Aber ich will meine Entscheidungen nicht von jemand anderem abhängig machen. Außerdem glauben Frauen, mit denen man regelmäßig ausgeht, immer, permanent Zugriff auf mich und das Recht erworben zu haben, bei mir zu übernachten. Ich verbringe mit keiner die Nacht. Ich stehe nicht auf Kuscheln, ich bestehe auf meiner Privatsphäre, und es gefällt mir, wenn die Frauen sich nach dem Sex wieder verpissen. Aber das ist offenbar zu viel verlangt und macht mich zu einem kalten und emotional verkümmerten Mann, zumindest laut meiner letzten Ex.
Aber dank meiner Familie bleibt mir womöglich nicht viel mehr übrig. Ich lege die Stirn in Falten, und meine Laune verdüstert sich weiter, als ich an das letzte Gespräch mit meinem Vater am vergangenen Wochenende denke.
»Na, dann lass uns mit dem Meeting mal anfangen. Je eher wir alles Geschäftliche besprochen haben, desto früher können wir uns ins Vergnügen stürzen.«
Ich folge Ryker durch den Club hinauf in den VIP-Bereich, in dem vier Rausschmeißer postiert sind, deren schiere Größe jeden, der darauf aus ist, Ärger zu machen, auf andere Gedanken bringen würde; von dort bewegen wir uns zu der in den zweiten Stock führenden Treppe im Hintergrund. Ich nehme auf dem Weg dorthin zu niemandem Blickkontakt auf, und niemand würde es wagen, mich anzusehen. Niemand ist scharf auf meinen Zorn, und ich bin dafür bekannt, jeden zu feuern, der nicht ordentlich gekämmt ist. Ich erhebe allerhöchste Ansprüche, und wer die nicht erfüllen kann, ist Geschichte. Ich habe weder Zeit noch Geduld für Schwachköpfe.
Der Club Ruin ist dunkel, mit schwarzen Wänden und einem bis zum vier Stockwerke höher gelegenen Dach reichenden Deckengewölbe, das Platz für die dramatische Beleuchtung und die Galerie im zweiten Stock bietet, von der aus man den gesamten Club überblicken kann. Audrey und Harrison haben das alles entworfen und ihre Aufgabe meisterhaft gelöst, indem sie unser aller Ideen miteinander verschmolzen und etwas geschaffen haben, worauf wir gemeinsam stolz sind.
Auf der zweiten Etage sehe ich sechs weitere Sicherheitsleute. Hier oben geht es diskret zu, schwarze Wände und ebenso schwarze schalldichte Türen. Wir bieten unseren Gästen hier oben absolute Diskretion und Privatsphäre.
Als ich das große, allen zugängliche Büro betrete, das wir vor allem für Besprechungen nutzen, spüre ich unter der Haut Verärgerung prickeln. Ich weiß, ich bin ein launischer Bastard, doch irgendetwas macht mich grundlos wütend, und ich kann diese Stimmung oder das komische Gefühl einfach nicht abschütteln.
Ich nehme meinen Platz am Ende des gläsernen Konferenztischs ein und sehe zu, wie nach Ryker und mir Harrison, Audrey und Beck den Raum betreten.
»Cousin.« Audrey küsst mich auf die Wange und setzt sich neben mich.
»Audrey. Hast du eine Ahnung, worum zum Henker es hier geht?«
»Um die zweite Etage.«
»Aha.«
Harrison nimmt auf dem heißen Stuhl Platz und blickt uns nacheinander an.
»Was liegt an, Harry?«
Ich grinse, als Harrison eine Braue hebt, weil ich ihn »Harry« genannt habe. Er hasst das, weshalb ich es nur umso häufiger mache.
»Wir brauchen mehr Mädchen auf der Zweiten. Unsere Warteliste wird immer länger, die Nachfrage ist hoch, wir sollten also Kapital daraus schlagen.«
»Dann stell mehr Mädchen für den Zweiten ein.« Ich zucke mit den Achseln und frage mich, warum zum Teufel er uns deshalb zusammengetrommelt hat.
»So einfach ist das nicht. Unsere Kunden bevorzugen einen bestimmten Typ. Diese Männer und Frauen stehen auf Unschuld.«
Ich beuge mich vor. »Wir werden in diesem Club auf keinen Fall Minderjährige anheuern. Die perversen Neigungen dieser Kerle kümmern mich einen Dreck.«
»Ich rede auch nicht von Minderjährigen, aber Jungfrauen sollten sie schon sein.«
»Na, dann viel Glück bei der Suche nach hübschen Mädchen über einundzwanzig, die plötzlich auf die Idee verfallen, fette reiche Schwänze vögeln zu wollen.« Beck trinkt einen Schluck, nachdem er seinen Spruch aufgesagt hat.
»Ich weiß ja nicht, Beck, aber bei dir herrscht kein Mangel.«
Ich grinse über Audreys Stichelei und nippe meinerseits an meinem Drink.
»Du willst ja bloß selbst mal bei mir ran.«
»Da träumst du von, Arschloch.«
Ihr Geplänkel ging mir früher auf die Nerven, bis ich kapierte, dass Beck und Audrey nur miteinander schäkern, weil sie sich damit nichts vergeben. Zwischen ihnen hat es null gefunkt, und ich war erleichtert, denn ich wollte mir dieses Geschäft, das mir ans Herz gewachsen war, nicht dadurch vermasseln lassen, dass die beiden was miteinander anfangen und sich anschließend verkrachen.
»Das ist der Punkt. Ich habe da eine Idee, für die ich eure Zustimmung benötige«, fällt Harrison ein, als hätten die beiden überhaupt nichts gesagt. Das Glänzen in seinen Augen verheißt für gewöhnlich, dass er uns mit einem Vorschlag kommen will, bei dem sich mir die Haare sträuben würden.
»Weiter.« Audrey beugt sich vor, und ich erkenne den bedeutungsvollen Glanz in ihren Augen.
»Wir kündigen eine Virginity-Versteigerung an, bei der die Mädchen dem Meistbietenden unter unseren Clubmitgliedern ihre Jungfräulichkeit verkaufen, dafür erhalten die Frauen fünfzig Prozent des Ertrags, vorausgesetzt, sie verpflichten sich vertraglich, zwölf Monate exklusiv für den Club Ruin zu arbeiten.«
»Wäre das legal?«
Beck nickt. »Ich müsste mich mit unserer Rechtsabteilung kurzschließen, aber, ja, so gerade eben. Das bewegt sich, wie alles, was wir hier oben treiben, gerade noch im Rahmen des Erlaubten. Im Vertrag müsste nur stehen, dass die Mädchen ein Antrittsgeld kassieren.«
Beck ist ein weltbekannter Herzchirurg, aber sein Verstand macht niemals Pause, und er ist versessen auf Details, wenn er also nicht gerade in medizinischen Fachzeitschriften nach neuen Techniken forscht, sorgt er dafür, dass unser geliebter Club immer auf der sicheren Seite bleibt.
»Genau. Der Vertrag wird derselbe sein, den alle auf der zweiten Etage unterschreiben. Offiziell bieten die Frauen einen Begleitservice an, was sie hinter verschlossenen Türen sonst noch treiben, liegt ganz bei ihnen.«
»Schön, mach das, aber ich schlage vor, das Ganze auf einmal im Jahr und auf fünf Mädchen zu beschränken. Das wird den Preis und die Nachfrage in die Höhe treiben.«
Audrey nickt. »Gute Idee. Wir müssen die Frauen durchleuchten und uns vergewissern, dass sie kapieren, worum es geht, und dass sie damit einverstanden sind.«
Harrison nickt zustimmend. »Ich würde sagen, wir lassen alle fünf Kandidatinnen vorher eine Woche lang im zweiten Stock arbeiten, damit sie sich wirklich darüber klar werden, was hier oben abgeht.«
»Das halte ich für eine gute Idee. Lass sie mit einer der erfahrenen Frauen mitlaufen, damit sie wissen, was auf sie zukommt. Wie wir wissen, haben einige der Männer und Frauen einen sehr speziellen Geschmack, bei dem sich so ein Unschuldslamm womöglich zu Tode ängstigt.«
Ich merke, wie mich bei der Vorstellung Erregung durchflutet und frage mich, ob es das ist, was ich brauche, um mich aus meinem Tief zu ziehen.
Harrison senkt den Kopf. »Das lässt sich einrichten. Dürfen wir mitbieten?«
Ryker lässt mich ein freches Grinsen sehen und blickt Harrison finster an. »Ich denke, besser nicht. Wir wollen doch nicht, dass die Leute denken, wir hätten das Ganze irgendwie getürkt.«
Ich nehme seine Bemerkung zur Kenntnis und halte den Mund.
»Also, alle einverstanden?« Harrison schaut in die Runde, und ich nicke, wie alle anderen auch.
»Dann wäre das geklärt. Ich mache mich an die Arbeit und liefere euch am Montag Einzelheiten.«
Ich kehre in die erste Etage zurück und mache Monica auf mich aufmerksam, eine der Frauen, die dort arbeiten. Sie legt ihre Hände auf meine Brust, als sie sich an mich schmiegt. Ich streife mit den Fingern über die glatte Haut ihres Oberschenkels. Sie lehnt sich weit aus dem Fenster, indem sie mich ohne Erlaubnis anfasst, und das weiß sie auch.
»Was kann ich für Sie tun, Mr Coldwell?«
Ihre Stimme gleicht einem Schnurren, und ich überlege, ob ich sie bitten soll, eine Pause zu machen. Die Frau ist wild und zu fast allem bereit, außerdem klammert sie nachher nicht, was sie zur perfekten Kandidatin für einen schnellen Fick macht. »Mir einen Scotch on the Rocks bringen.«
»Weiter nichts?« Ihre Hände wandern über meinen Körper, doch ich packe mit brutalem Griff ihre Handgelenke und stoße sie zurück, bevor sie Hand an meinen Schwanz legen kann.
»Fürs Erste nicht.«
Ich sehe, wie sie schmollt, ehe sie wieder zu sich kommt und davonstolziert, um mir meinen Drink zu holen. Ich trete derweil auf die Galerie hinaus, lehne mich auf das hüfthohe verstärkte Glasgeländer und genieße den Anblick, der sich mir bietet.
Ich bin stolz auf den Club Ruin, den wir gemeinsam aufgebaut haben, ohne das Geld oder irgendeinen Beitrag meines Vaters oder meiner Familie. Den Erfolg haben wir uns selbst und sonst niemandem zu verdanken. Ich lasse den Blick über die Tanzfläche schweifen, über die Menge, die sich dort austobt. Körper wiegen sich zu einem aufreizenden Beat und lassen den Stress der Arbeitswoche von sich abtropfen. Das ist unser Angebot, Vergnügen für jeden Geschmack, ganz nach den persönlichen Vorlieben.
Als wir über die Idee mit dem Club sprachen, kam Beck mit dem Vorschlag einer exklusiven VIP-Etage nur für Mitglieder, aber erst Audrey führte das oberste Stockwerk ein, in dem alles möglich ist, solange es einvernehmlich bleibt.
Die Frauen und Männer, die dort arbeiten, wurden alle auf Herz und Nieren geprüft und müssen jeden Monat zur Gesundheitskontrolle, und der Gebrauch von Kondomen ist Vorschrift. Außerdem unterziehen wir alle, ehe wir ihnen einen Vertrag über zwölf Monate anbieten, einer strengen Leumundsprüfung. Wir wollen, dass unsere Mitarbeiter uns lange erhalten bleiben, aber auch die Möglichkeit, für frisches Blut zu sorgen, um eine ausgewogene Mischung zu gewährleisten. Deshalb bitten wir unsere Mitglieder jedes Jahr, einen Fragebogen auszufüllen und unsere Mitarbeiter zu bewerten, worauf wir die beiden Letztplatzierten feuern und durch neue Kräfte ersetzen.
Der oberste Stock gleicht dem Rest des Clubs, auch dort gibt es eine kleine Tanzfläche und eine Bar, wo man sich zeigen und miteinander bekannt machen kann, sowie eine Bühne für alle, die sich gerne etwas öffentlicher präsentieren wollen, mit einem Andreaskreuz in der Mitte sowie verschwiegenen Nischen und hochbeinigen Tischen. Die eigentliche Attraktion jedoch sind die Privaträume. Jeder Raum ist einem bestimmten Thema gewidmet, und es gibt sämtliche Toys, die man benötigen mag, um auf seine Kosten zu kommen, und die nach jedem Einsatz gereinigt und neu versiegelt werden. Einige Räume haben Guckfenster, andere sind völlig abgeschlossen. Außerdem garantieren wir höchste Sicherheitsstandards. Die Räume werden sowohl physisch als auch von Kameras überwacht, und obwohl all das diskret geschieht, ist die Sicherheit aller gewährleistet und jede Form von Gewalt untersagt.
Die Auswahl unserer Mitglieder unterliegt strengen Kriterien, und nur die Auslese der Auslese erhält Zutritt. Schauspieler, Musiker, Politiker, Wirtschaftsmogule und sogar Profisportler verkehren hier. Die Idee mag nicht neu sein, doch wir haben ihr unseren eigenen Anstrich gegeben, wovon jedermann profitiert. Aber kein Geld und kein Ruhm der Welt gibt diesen Leuten die Freiheit, ohne Einvernehmen Gewalt anzuwenden, und auch dann nur bis zu einem gewissen Punkt. Es ist in Ordnung, wenn jemand auf Schmerz steht, aber wir gestatten weder Spielereien mit Messern geschweige denn blutende Wunden.
Das wäre ein Albtraum, mit dem wir nichts zu tun haben wollen, und das Gerichtsverfahren, wenn etwas aus dem Ruder läuft, ist es nicht wert, den wenigen Spielraum zu gewähren, die auf so etwas stehen.
Als ich die Bar absuche, erstarre ich, und mein Blick wandert zum Ende des Tresens zurück, wo Marc sich mit einer unserer Neuerwerbungen unterhält. Mein Körper versteift sich, kein Muskel regt sich mehr, während ich darauf warte, dass sie sich umdreht und mir bestätigt, was ich längst weiß.
Meine Lottie ist hier, und sie arbeitet hinter der Bar meines verdammten Clubs.
Bevor ich mich Marc zuwende, mache ich den Cocktail fertig und füge den Strohhalm hinzu. »Besser?« Hinter der Bar zu stehen ist härter, als ich dachte, und das Tempo viel höher als bei der Arbeit im Diner.
Er lächelt mir sexy zu. »Du schaffst das, schöne Frau.«
Ich werde rot, Marc sieht gut aus, es macht Spaß, mit ihm zu arbeiten, und sein kokettes Augenzwinkern sowie die anzüglichen Bemerkungen schmeicheln meinem Ego, aber ich bin nur aus einem einzigen Grund hier, nämlich um mehr Geld zu verdienen.
Eric geht es nach dem Zuckerschock letzte Woche besser, aber die Rechnungen, die seitdem eintrudeln, sind niederschmetternd, und wenn ich zu lange darüber nachdenke, schlägt das Wasser über mir zusammen, also drehe ich lieber den Hahn zu und mache weiter. Die Arbeit hinter der Bar des Club Ruin ist gut bezahlt, aber mein Ziel ist nicht diese Etage. Ich will es in die erste Etage schaffen, weil ich weiß, dass man dort bessere Trinkgelder bekommt, aber offenbar fängt jeder erst mal in der Bar hier an.
»Hey, Marc, wie lange braucht man, um sich in den ersten Stock hochzuarbeiten?«
Er zieht die gepiercte Braue hoch und sieht mich an. »Du willst im Ersten arbeiten?«
»Nein, will sie nicht.«
Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten, als eine Stimme aus der Vergangenheit mir die Luft wegnimmt. Eine Stimme, die ich niemals wieder zu hören geglaubt hatte. Ich drehe mich um, und es verschlägt mir die Sprache, als ich den Mann vor mir sehe, der mir das Herz gebrochen und mich weggeworfen hat, als wäre ich Abfall.
Lincoln Coldwell.
»Lincoln.«
Seine angeschrägten Brauen, die Kerbe in seinem Kinn mindern nicht im Geringsten den Eindruck seiner vollen Lippen oder seiner blauen Augen, die eher grau wirken, als er mich jetzt mit unverhohlener Geringschätzung anblickt.
»Was zur Hölle machst du hier?«
Ich bekomme mit, wie Marc sich trollt, als befürchte er, unversehens ins Kreuzfeuer dessen zu geraten, was sich hier abspielt, sein Gesicht gleicht einer Maske der Beunruhigung, als hätte er Angst vor dem Mann, der mich mit mörderischem Blick anstarrt.
Kein »Hallo« oder »Wie ist es dir ergangen«, sondern Feindseligkeit ohne Vorspiel. Er ist so ein arroganter Arsch, dass ich mich frage, ob der Junge, den ich mal geliebt habe, überhaupt je existiert hat, oder ob er bloß ein Hirngespinst meiner überhitzten Teenagerfantasie war.
Ich drücke den Rücken durch, finde zu der Stärke zurück, die mich in den letzten Jahren aufrechterhalten hat, und recke mein Kinn. Ich werde diesem Mann nicht zeigen, wie sehr seine Worte mich treffen. »Ich arbeite hier.«
»Nein, tust du nicht.«
Ich lache, als Wut in mir hochkocht, und kehre ihm den Rücken zu. Wegen eines Streits mit einem reichen Vollpfosten, den ich mal kannte, meinen Job hier zu verlieren ist das Letzte, was ich jetzt gebrachen kann. Sei ehrlich, Vi, du hast ihn nicht bloß gekannt, es gab mal eine Zeit, da hat er dir alles bedeutet.
Marc schüttelt hinter mir den Kopf, als wollte er mich vor etwas warnen, bevor er angelegentlich ein Glas zu polieren beginnt.
»Verzieh dich, Lincoln. Ich bin beschäftigt, und wir haben uns nichts mehr zu sagen.«
»Darauf kannst du wetten.«
Ich schnappe nach Luft, als er hinter den Tresen kommt, meinen Arm packt und mich hinter sich herzieht, während ich mich auf meinen bescheuerten Absätzen zu halten versuche.
»Lincoln, was zum Teufel soll das? Wegen dir fliege ich noch raus.«
An der Garderobe stößt er mich durch eine Tür in einen Umkleideraum nur für Personal, wo ich meinen Arm seinem schmerzenden Griff entwinde. Dann weiche ich so weit wie möglich vor ihm zurück.
Dieser Mann hat nichts mit dem Jungen meiner Erinnerung gemeinsam. Dieser Mann stellt auf ganz andere Weise eine Gefahr dar, kalt und grausam blickt er mich voller Verachtung an. Trotzdem reagiert mein Körper auf ihn, mein Handgelenk prickelt, als würde Elektrizität hindurchströmen, sodass ich die Stelle massiere, als wollte ich das irritierende Gefühl daraus vertreiben.
»Wieso bist du hier, Lottie?«
»Nenn mich nicht so. Ich heiße Violet.«
»Nicht für mich. Für mich wirst du immer meine Lottie bleiben.«
Zorn wallt in mir auf, aber nur, weil es wehtut, dass er mich »seine Lottie« nennt. Es hat eine Zeit gegeben, in der ich meine Seele dem Teufel verschrieben hätte, um »seine Lottie« sein zu dürfen, doch das war, bevor er alles, was ich ihm gab, genommen und dann zerstört hat. Nun aber, da ich in sein ausdrucksloses Gesicht blicke, scheint er selbst der Teufel geworden zu sein. »Ich bin gar nichts für Sie, Mister.« Mein Finger stößt gegen seine Brust, doch seine steinharten Muskeln geben nicht nach, als er mich angrinst, allerdings nicht mit dem aufregenden Grinsen, an das ich mich erinnere, diesem Lächeln hier gehen Wärme und Mitgefühl völlig ab.
»Kannst du deine Finger noch immer nicht von mir lassen, Lottie?«
Ich ziehe meine Hand weg, aber nicht schnell genug, denn wieder packt er mit festem Griff mein Handgelenk und drückt meine Hand an sein makellos weißes Hemd, das sich warm anfühlt von seinem Körper darunter.
»Träum weiter. Du widerst mich an.«
Ich gebe ein atemloses Ächzen von mir, als ich mich, seine Hände neben meinen Schultern, hart gegen die Wand gedrückt sehe, sein fester Körper hält mich so gefangen, dass ich seine Erektion an meinem Bauch spüre.
»Echt jetzt, Lottie, nach allem, was wir füreinander waren, lügst du mich an?« Als hätte er mich nicht durchgekaut und ausgespien, greifen seine Worte die Vergangenheit auf.
»Wir waren gar nichts füreinander.« Seine Kiefermuskeln arbeiten wütend, als ich das sage, und ich fühle einen Anflug von Angst mein Rückgrat hinaufkriechen, den ich jedoch sofort unterdrücke. Was auch immer aus diesem Mann geworden ist, ich glaube nicht, dass er mir körperlich wehtun würde.
»Ist das so?« Er legt den Kopf schief, und wieder versuche ich mich loszureißen, doch er verstärkt seinen Griff so, dass es beinah wehtut. »Ich denke, du lügst.«
Wie kann das hier möglich sein? Ist mein Leben zurzeit nicht schon ohne Lincoln Coldwell miserabel genug?
»Ich lüge nicht. Zwischen uns war nichts, ich war dein Spielzeug, bis eine Passendere auf der Bildfläche erschien.«
»Bockmist.«
Seine Stimme ist ruhig, beherrscht und vibriert tief wie ein Schnurren auf meiner Haut.
Ich verspüre den Drang nachzufragen, beiße mir aber auf die Zunge und versuche, mich nicht gegen den handfesten Beweis seines Verlangens nach mir zu drängen, auch wenn mein Körper sich noch so sehr nach dem Gefühl sehnt. Wenn ich reagiere, bekommt er nur, was er will, dabei habe ich mir geschworen, Lincoln Coldwells Willen niemals wieder nachzugeben.
Als seine Hand meinen Arm hinuntergleitet, erschaure ich unwillkürlich, worauf er grinst wie der Teufel, der er heute ist. Ich recke das Kinn und starre ihn an, worüber er noch breiter grinst, seine gleichmäßigen weißen Zähne blitzen.
»Ganz schön angriffslustig, Lottie. Ich hatte vergessen, wie sehr mich dein Temperament immer angemacht hat.«
»Geh sterben!«
»Oh, nicht, bevor ich weiß, ob du mich anlügst.«
Mein Körper erstarrt, als seine Finger meine Erregung finden. Der verfluchte Minirock hat es ihm leicht gemacht, sich von meiner Lüge zu überzeugen. Seiner Brust entringt sich ein Grollen, als er sich weiter vorbeugt, und, überwältigt von allem, was Lincoln Coldwell für mich ist, schließe ich die Augen.
Nun schieben seine Finger den dünnen Stoff meines Höschens zur Seite, teilen meine Falten und hüllen sich in den Beweis meiner Lüge. Ich möchte mich winden, als ich mit der Wucht eines Güterzugs von Verlangen überrollt werde.
»So feucht bist du für mich.«
»Nicht für dich.« Ich hasse die Vorstellung, er könnte denken, dass ich ihn immer noch will.
Während er mich beobachtet, umkreist sein Daumen meine Klitoris.
»Für wen dann? Für einen der Gäste?«
Ich bleibe stumm, in der Hoffnung, dass meine Verachtung unübersehbar ist, während er mich weiter mit seinen magischen Fingern foltert. Voller Sehnsucht nach mehr wiege ich mich in den Hüften, meine Lust sammelt sich feucht an seinen Fingern.
»Vielleicht für Marc, den Barkeeper?«
Ich beiße die Zähne zusammen, um das Wimmern, das mir in die Kehle steigt, zu verdrängen. »Ja«, lüge ich, weil ich ihn glauben machen will, dass mein Körper auf einen anderen so reagiert. Damit er nicht glaubt, irgendwie Macht über mich zu haben.
Ich müsste ihn von mir stoßen, um mich treten und schreien, weil er mich anfasst, als würde ich ihm gehören, doch ich kann es nicht, weil mein Körper immer Lincoln Coldwell gehört hat und weil er ihm offenbar noch immer gehört, aber das werde ich ihn niemals wissen lassen.
Er übt Druck auf meine Klitoris aus und spielt mit mir, und nun entweicht mir, obwohl ich es nicht will, doch ein leises Wimmern, während das Begehren in mir immer stärker wird. Schon stehe ich am Rand eines heftigen Höhepunkts, dabei hat er mich noch kaum berührt. Es ist viel zu lange her, dass ich überhaupt irgendetwas empfunden habe, und nun fühlt es sich an, als hätte jemand den Stöpsel gezogen, und ich will, nein, ich muss so dringend kommen, dass es sich anfühlt, als stünde ich unter Drogen.
»Gut so, Lottie. Reite meine verfluchte Hand, komm über meine Finger!«
Seine Worte drängen gegen meinen Hals, seine Lippen hat er auf meinen Puls gedrückt. Er küsst mich nicht oder fasst mich woanders an, was sich zugleich falsch und absolut richtig anfühlt. Ich reite den Kamm meines Verlangens, hinter meinen geschlossenen Lidern explodieren Sterne.
»Sieh mich an!«