Kirche ist Mission - Roland Hardmeier - E-Book

Kirche ist Mission E-Book

Roland Hardmeier

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Beschreibung

Roland Hardmeier beschreibt in diesem Buch den gegenwärtigen Wandel evangelikaler Missionstheologie hin zur Ganzheitlichkeit des Evangeliums und der Transformation der Welt. Diese radikale Anstiftung bedeutet, dass die Kirche sich neu auf ihre missionarische Aufgabe besinnt und zugleich ihre soziale Verantwortung wahrnimmt - und so zur Heilung der Welt beiträgt. Der Autor liefert eine umfassende biblische Begründung für ein transformatorisches Missionsverständnis. Durch die Aufarbeitung der missiologischen Entwicklungen in der Zwei-Drittel-Welt, die konsequente Einbeziehung des Alten Testaments und den Blick auf Jesus als Mensch und Prophet vermittelt Roland Hardmeier eine für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts relevante Sicht von Kirche und Mission.

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Roland Hardmeier

Kirche ist Mission

Auf dem Weg zu einem ganzheitlichenMissionsverständnis

Zu diesem Buch

Vor unseren Augen vollzieht sich ein dramatischer Wandel – durch Globalisierung und Postmoderne –, der nicht nur Auswirkungen auf die Gesellschaft hat, sondern auch die Christenheit betrifft. Was bedeutet es, in dieser Welt den Auftrag zu erfüllen, den Jesus Christus der Kirche gegeben hat?

Roland Hardmeier beschreibt in diesem Buch den gegenwärtigen Wandel evangelikaler Missionstheologie hin zur Ganzheitlichkeit des Evangeliums und der Transformation der Welt. Diese radikale Anstiftung bedeutet, dass die Kirche sich neu auf ihre missionarische Aufgabe besinnt und zugleich ihre soziale Verantwortung wahrnimmt – und so zur Heilung der Welt beiträgt.

Der Autor liefert eine umfassende biblische Begründung für ein transformatorisches Missionsverständnis. Durch die Aufarbeitung der missiologischen Entwicklungen in der Zwei-Drittel-Welt, die konsequente Einbeziehung des Alten Testaments und den Blick auf Jesus als Mensch und Prophet vermittelt Roland Hardmeier eine für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts relevante Sicht von Kirche und Mission.

Ausgezeichnet mit dem Peters-Preis 2009 des Arbeitskreises für evangelikale Missiologie (AfeM).

Über den Autor

Dr. Roland Hardmeier studierte Biblische Theologie an der Akademie für Weltmission in Korntal und Missiologie an der Universität von Südafrika. Von 1995 bis 2010 war er Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz.

Er ist Autor mehrerer Bücher, selbständiger Dozent und Referent und unterrichtet bei IGW International und anderen Institutionen.

www.roland-hardmeier.ch

Impressum

Dieses Buch als E-Book:

ISBN 978-3-86256-757-7, Bestell-Nummer 588 677E

Dieses Buch in gedruckter Form:

ISBN 978-3-937896-77-9, Bestell-Nummer 588 677

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar

Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson

Umschlagbilder: © ShutterStock®

Lektorat: David Gysel

Satz: TeXService, Bremen

© 2009 Neufeld Verlag Schwarzenfeld

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise,nur mit Genehmigung des Verlages

www.neufeld-verlag.de / www.neufeld-verlag.ch

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INHALTSVERZEICHNIS

Einführung

Ein persönlicher Entwurf

Überblick

Dank

1Die veränderte Welt

kulturell

hermeneutisch

missiologisch

Evangelisation

Soziale Verantwortung

Transformation

Inkarnation

global

2Die radikale Anstiftung

Wheaton und Berlin (1966)

Lausanne (1974)

Die Wirkung von Lausanne

Der Westen

Pattaya (1980)

Die Sondererklärung

Die Zerrissenheit

Grand Rapids (1982)

Der Konferenzbericht

Die Reaktion aus der Zwei-Drittel-Welt

Wheaton (1983)

Transformation

Umfassende Mission

Manila (1989)

Die Armen

Soziale Verantwortung

Quo Vadis?

Manila bis Gegenwart

3Die neue Perspektive

kontextuell

Prämissen

integrativ

Die Befreiungstheologie

Chancen

Gefahren

Der Westen als Kontext

paradigmatisch

Prämissen

Übertragung

Erster Schritt

Zweiter Schritt

Dritter Schritt

Vierter Schritt

Konsequenzen

Sensibilisierung

Kritikbereitschaft

Ergänzung

4Die Vision der Wiederherstellung

Der Verlust

Der Mensch

Die Strukturen

Die Erde

Gott

Das Böse

Das erste Versprechen

Die Bündnisse

Der Bund mit Noach

Der Bund mit Abraham

Der Bund mit Israel

Der Bund mit David

Der neue Bund

Die Bündnisse und Mission

Bilder der Wiederherstellung

Die befreite Schöpfung

Das neue Jerusalem

Ertrag

5Das Licht der Völker

Das Modell

Das Licht der Völker

Die Priesterschaft

Der Exodus

Der Maßstab der Propheten

Der Exodus

Exodus und Theologie

Exodus und Heil

Exodus und Mission

Das Jubeljahr

Funktion

Bedeutung für Israel

Bedeutung für heute

Bedeutung für die Mission

Die Verkörperung

Gemeinschaft

Gerechtigkeit

Gehorsam

Die Kirche

Kirche und Gemeinschaft

Kirche und Transformation

Kirche und Heil

6Das gegenwärtige Reich

Die Vision der Propheten

Die Ausdehnung der Herrschaft

Der Charakter der Herrschaft

Der Ort der Herrschaft

Der Anbruch des Reiches

Der Beginn

Die Zeichen

Das Geheimnis

Das Reich und die Mission

Das Evangelium vom Reich

Der Missionsbefehl

Der Rückbezug zu Matthäus 10

Die schmale Basis

Ein prophetisches Moment

Das Reich und die Kirche

Manifestation

Verkündigung

Demonstration

Alternative

7Der Mensch Jesus

Der Mensch

In der Zwei-Drittel-Welt

In der evangelikalen Bewegung

Im Westen

Der Lehrer

In den Briefen

In Lukas 4,18

In der Gegenwart

Der Prophet

Jesus und die Zeloten

Jesus und der Widerstand

Jesus und die Mächtigen

Jesus und der Tempel

Jesus und die Provokation

Jesus und die Politik

Der Gekreuzigte

Die Tat am Kreuz

Die Wirkung des Kreuzes

Die Auferstehung

Der ganze Jesus

8Das ganze Evangelium

Die ganze Bibel

Der Geltungsbereich

Das Alte Testament

Die Übertragung

Der ganze Jesus

Das ganze Heil

Die persönliche Dimension

Die soziale Dimension

Die kosmische Dimension

Ganzheitlichkeit

Literatur

EINFÜHRUNG

In den evangelikalen Kirchen wächst das Interesse an ganzheitlicher Mission. Das alte Denkmuster, wonach Mission beginnt, wenn jemand in einem fernen Land aus dem Flugzeug steigt, trägt nicht mehr. Es ist Zeit für ein neues missionarisches Paradigma.

In unserer Zeit des Wandels muss die Aufgabe der Kirche neu bedacht werden. Zunehmend wird klar: Mission findet bei uns statt. Die Kirche unterstützt nicht nur Mission, sondern die Kirche selbst ist Mission. Das Bewusstsein wächst, dass die Kirche ihren Auftrag ganzheitlich zu verstehen hat. Doch was ist mit der Rede von der Ganzheitlichkeit gemeint? Handelt es sich um ein biblisches Konzept? Welche biblischen Antworten geben wir auf die Nöte der Welt, in die Jesus uns sendet? Das Gefühl, dass angesichts der sozialen Probleme und der ökologischen Herausforderungen „etwas getan werden muss“ ist deutlich spürbar. Aber: Was genau ist zu tun? Wie sieht ganzheitliche Mission eigentlich aus? Noch fehlt uns eine solide theologische Grundlage, die es uns erlaubt, eine Missionstheologie zur formulieren, die für die Gegenwart relevant ist. Die Diskussion darüber, wie die Kirche in der Welt des 21. Jahrhunderts ihren Auftrag ausführen soll, hat eben erst begonnen. Dieses Buch will einen Beitrag dazu leisten.

Ein persönlicher Entwurf

Im Frühjahr 2008 habe ich meine Dissertation an der Universität von Südafrika mit dem Titel Das ganze Evangelium für eine heilsbedürftige Welt: Zur Missionstheologie der radikalen Evangelikalen abgeschlossen. Die Arbeit daran hat mein Interesse an einem ganzheitlichen Missionsverständnis geweckt. Ich habe im deutschsprachigen Raum jedoch vergeblich nach einer verständlichen Einführung in dieses Thema gesucht. Diesen Umstand habe ich als Aufforderung empfunden, mich selbst an die Arbeit zu machen.

Mit diesem Buch lege ich meinen persönlichen Entwurf eines ganzheitlichen Missionsverständnisses vor. Es scheint mir, dass wir im Westen lange Zeit versäumt haben, eine Theologie zu entwickeln, die relevant für unsere heutige Situation ist. Die Zeit drängt. Die Welt befindet sich im Wandel. Kirche und Mission sind herausgefordert, biblische Antworten zu geben. Aus diesem Grund wage ich es, eine Argumentation für Ganzheitlichkeit vorzulegen, auch wenn ich selbst noch offene Fragen habe. Man muss das Eisen schmieden, wenn es glüht.

Mein Hauptanliegen mit dem vorliegenden Buch ist es, eine gut zugängliche Einführung in die biblischen Themen zu geben, die für ein ganzheitliches Missionsverständnis von Bedeutung sind. Um eine zusammenhängende Argumentation zu erreichen, habe ich mehr in die Breite gearbeitet als in die Tiefe. Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei einiges unscharf bleibt. Es ist meine Hoffnung, dass mein Beitrag andere ermutigt, an einzelnen Themen vertieft zu forschen.

Mit diesem Buch können sich Studierende, aber auch interessierte Christen, die keine theologische Ausbildung haben, mit ganzheitlicher Mission befassen. Auf Fachbegriffe und theologische Auseinandersetzungen habe ich möglichst verzichtet und die Sprache einfach gehalten.

Überblick

Dieses Buch ist aus der Erkenntnis entstanden, dass in der evangelikalen Theologie europäischen Zuschnitts eine ganzheitliche Missionsbegründung fehlt. Das Bewusstsein ist gewachsen, dass evangelikale Kirchen und Missionen eine Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit geben müssen. Es fehlt im deutschen Sprachraum jedoch eine solide biblische Theologie aus evangelikaler Feder, um ein solches Engagement zu begründen und langfristig durchzuhalten. Im Laufe meiner Studien bin ich vor allem auf Theologen aus der Zwei-Drittel-Welt gestoßen, welche in der Verantwortung gegenüber der Bibel als Gottes Wort eine ganzheitliche Missionstheologie entwickelt haben. Ihre Erkenntnisse möchte ich meinen Lesern mit diesem Buch zugänglich machen. Es herrscht Südwind. Es ist Zeit, dass wir auf unsere Brüder und Schwestern im Süden hören. Kirche ist Mission entwickelt sich in 8 Themen:

Kapitel 1 „Die veränderte Welt“ zeigt auf, dass wir in einer veränderten Welt leben und dass diese Tatsache eine Veränderung der Missionstheorie einschließlich ihrer Praxis mit sich bringen muss, wenn evangelikale Christen in Zukunftrelevant sein wollen.

Kapitel 2 „Die radikale Anstiftung“ bietet einen geschichtlichen Abriss der neueren missionstheologischen Entwicklungen der weltweiten evangelikalen Bewegung. Er beginnt im Vorfeld des Weltmissionskongresses von Lausanne 1974 und zeigt anhand der auf Lausanne folgenden Missionskongresse, wie sich das evangelikale Missionsverständnis auf Transformation hin veränderte. Eine zentrale Rolle in dieser Veränderung spielten die so genannten „radikalen Evangelikalen“. Mit ihrer Forderung, Jesus radikal nachzufolgen und sein Leben als Modell der Mission zu begreifen, lösten sie einen Prozess mit nachhaltiger Wirkung aus.

Kapitel 3 „Die neue Perspektive“ deckt die hermeneutischen Vorüberlegungen einer auf Transformation ausgerichteten Missionspraxis auf. Insbesondere in der Zwei-Drittel-Welt setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Evangelium am besten in der Solidarität mit den Armen verstanden werden kann. Aus der Perspektive der Armen und Machtlosen begann eine zunehmende Zahl von evangelikalen Theologen, wichtige biblische Aussagen neu zu verstehen. Es geht ihnen nicht darum, die traditionellen christlichen Wahrheiten zu bekämpfen, sondern die historischen Erkenntnisse des Christentums durch neue Überlegungen zu bereichern, so dass sich der Glaube in einer globalen Welt behaupten kann.

Kapitel 4 „Die Vision der Wiederherstellung“ gibt einen heilsgeschichtlichen Überblick über die missionarische Intention der Bibel. Dieses Kapitel vermittelt sozusagen den theologischen Gesamtüberblick über das Buch. Es setzt beim Sündenfall an und beschreibt, wie Gott in den alttestamentlichen Bündnissen das Versprechen auf die Wiederherstellung aller Dinge gab. Es schließt mit einem Blick in die biblische Zukunftserwartung, mit der angezeigt wird, dass Gott die gesamte Welt erneuern und zum Heil führen will.

Kapitel 5 „Das Licht der Völker“ befasst sich mit der Bedeutung Israels für die Mission. Es geht davon aus, dass Israel als Licht der Völker ein Modell dafür ist, was Gott mit der ganzen Welt im Sinn hat. Der Exodus und das Jubeljahr werden auf ihre missionstheologische Bedeutung hin untersucht. Dabei wird deutlich, dass Gott nicht nur an der Veränderung des einzelnen Menschen interessiert ist, sondern auch an der Transformation der Institutionen und Strukturen, welche das soziale Leben der Menschen prägen. Aus dieser Betrachtung umfassenden Heils, das Gott in Israel zu wirken bereit war, ergibt sich eine starke Motivation für ganzheitliche Mission.

Kapitel 6 „Das gegenwärtige Reich“ ordnet das Missionsgeschehen in eine biblische Reich-Gottes-Theologie ein. Es zeigt auf, dass mit dem Kommen von Jesus das im Alten Testament versprochene Reich gegenwärtig ist. Mission bedeutet im Grunde genommen nichts anderes als die Ausdehnung des Reiches Gottes zu den Völkern. Somit ist die Mission von zentraler heilsgeschichtlicher Bedeutung und der eigentliche Sinn der Zeit zwischen der Menschwerdung Jesu und seiner Wiederkunft. Das Verhältnis der Kirche zum Reich Gottes wird untersucht und es wird argumentiert, dass die Kirche nicht nur die Aufgabe hat, das Heil zu verkündigen, sondern es durch ihre Gemeinschaft auch verkörpern soll.

Kapitel 7 „Der Mensch Jesus“ erfasst das Gesamtwerk Jesu in seiner Bedeutung für die Mission. Es beschreibt Jesus als Gekreuzigten, Mensch, Lehrer und Prophet. In diesem Kapitel wird deutlich, dass der Tod und die Auferstehung von Jesus zentral für eine biblische Missionstheologie sein müssen. Die Missionsbegründung vom Kreuz her wird jedoch erweitert und das gesamte Leben von Jesus missiologisch gedeutet. Jesus kam, um ein Leben zu leben, das profunde Auswirkungen auf die Nachfolge des einzelnen Christen und die Mission der Kirche hat.

Kapitel 8 „Das ganze Evangelium“ ist eine abschließende theologische Standortbestimmung, welche die Relevanz der vorliegenden Ausführungen zusammenfasst.

Die Kapitel 2 und 3 sind eine vereinfachte Version von Teilen meiner Dissertation. Die Kapitel 4–8 enthalten Themen, die in der Dissertation am Rande oder gar nicht behandelt werden.

Dank

Mein herzlicher Dank gilt dem Institut für Gemeindebau und Weltmission, an dem ich als Dozent unterrichte. IGW leistet mit einer innovativen Perspektive einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer gegenwartsrelevanten Theologie. Fritz Peyer bin ich dankbar für das in mich gesetzte Vertrauen als Dozent und Autor. Mathias Burri und David Neufeld danke ich für die unkomplizierte Zusammenarbeit in der Verwirklichung des Projekts. David Gysel hat als Lektor wertvolle Korrekturen angebracht. Die Stiftung Bildung & Forschung, Zürich, die Schweizerische Missions-Gemeinschaft und die Vision Schweiz, Inlandmission der FEG Schweiz, haben mit ihren Druckkostenzuschüssen die Herausgabe mit ermöglicht. Der Freien Evangelischen Gemeinde Kloten, die mich im Sommer 2008 für einige Wochen freistellte, um am Manuskript zu arbeiten, danke ich herzlich für ihre Großzügigkeit. Und meine Frau Elisabeth hat mir geholfen, die letzten Korrekturen anzubringen, damit das Manuskript rechtzeitig fertig wurde.

Roland Hardmeier

Kloten, im Januar 2009

1 | DIE VERÄNDERTE WELT

Dies ist ein Buch über Kirche und Mission im 21. Jahrhundert. Es behandelt eine grundsätzliche Frage: Wie muss die Kirche und ihre Mission aussehen, wenn sie in unserer globalisierten, postmodernen Welt den Auftrag erfüllen will, den Jesus Christus ihr gegeben hat? Durch diese Fragestellung treten zwei besondere Herausforderungen unserer Zeit in den Vordergrund: Die Globalisierung und die Postmoderne.

Die Globalisierung ist ein weltweites Phänomen, das Bewunderung und Kritik hervorruft. Was im 15. Jahrhundert mit dem Befahren der Weltmeere begann, ist zu einer weltweiten Vernetzung geworden. Mit einem Klick habe ich Zugang zu Informationen aus aller Welt. Das T-Shirt, das ich im Laden kaufen kann, wurde irgendwo in einem Entwicklungsland hergestellt – in der Regel zu unwürdigen Bedingungen. Die Globalisierung ist eine Entwicklung mit wenigen Gewinnern und vielen Verlierern. Die Länder der südlichen Halbkugel haben bisher wenig vom wirtschaftlichen Liberalismus profitiert, welcher der Globalisierung zugrunde liegt. Aber gerade die Länder des Südens sind es, die in Zukunft für Kirche und Mission eine wesentliche Rolle spielen werden.

Nebst der Globalisierung wird uns in Zukunft der Begriff der Postmoderne beschäftigen. Die jüngere europäische Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts wird als Moderne bezeichnet. In die Epoche der Moderne fielen die Aufklärung, die Industrialisierung und die Französische Revolution. Traditionelle Werte wurden hinterfragt, bildeten aber immer noch einen gesellschaftlichen Konsens. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts spricht man von der Postmoderne, also der Zeit, die nach (post) der Moderne einsetzte. Zu den Kennzeichen der Postmoderne gehören die Absage an die Vernunft der Aufklärung, eine kritische Betrachtung jeglichen universalen Wahrheitsanspruchs, der Verlust traditioneller Bindung und eine radikale Pluralität.

Vor unseren Augen vollzieht sich ein dramatischer Wandel, der nicht nur Auswirkungen auf die Gesellschaft hat. Auch die Kirche und die Mission sind von diesem Wandel betroffen. „Wir leben in einer Zeit weltweiten Wandels von religionsgeschichtlichem Ausmaß.“ Dieser Satz von Philip Jenkins (2006, 11) trifft in auffälliger Weise auf die evangelikale Bewegung zu. Wenn die evangelikalen Kirchen für die Postmoderne gerüstet sein wollen und ihre Mission eine angemessene Antwort auf die Verwerfungen der Globalisierung geben soll, müssen sie sich der Tatsache des tiefgreifenden Wandels stellen, in dem wir uns befinden.

Die Evangelikalen im Westen haben das Ausmaß dieses Wandels noch kaum wahrgenommen. Für die Zukunft der evangelikalen Kirchen und Missionen wird es nötig sein, sich den gegenwärtigen Veränderungen bewusst zu werden und eine biblische Antwort darauf zu geben. Es ist eine der Absichten dieses Buches, die gegenwärtigen Veränderungen innerhalb der weltweiten evangelikalen Bewegung zu beschreiben. Ich möchte eine biblische Navigation zur Verfügung stellen, die es erlaubt, eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie müssen Kirche und Mission aussehen, wenn sie in unserer Welt des Wandels den Auftrag von Jesus Christus erfüllen wollen?

Wie stark sich die Welt verändert hat, zeigt ein Blick in die Zeit unserer Großeltern. Im Jahr 1910 versammelten sich im schottischen Edinburgh 1400 protestantische Repräsentanten aus Kirche und Mission zu einer der bedeutendsten Konferenz der modernen Missionsgeschichte. Das Motto der Konferenz „die Evangelisierung der Welt in dieser Generation“ war Ausdruck eines glühenden missionarischen Eifers und eines ebenso großen Glaubens an den Erfolg der Mission.

Die Atmosphäre in Edinburgh war optimistisch. Man befand sich in der Hochblüte des Kolonialismus und des aufstrebenden Industriezeitalters. Die Technik machte Quantensprünge. Der Kirche standen durch Eisenbahnen, Dampfschiffe und Printmedien neue Mittel für die Verbreitung des Evangeliums zur Verfügung. Die westlichen Staaten beherrschten weite Teile der Erde. Das koloniale Weltgefüge verschaffte den Missionaren Zugang zu zahlreichen Ländern, in denen das Evangelium noch kaum Fuß gefasst hatte. Durch die wirtschaftliche Vormachtstellung des Westens standen den protestantischen Missionen enorme Geldbeträge zur Verfügung. Die Spendeneingänge für die Mission waren seit Jahren im Steigen begriffen. Die Zukunft war in den Händen der Kirche, die Werkzeuge, um sie zu gestalten, lagen bereit. Zum ersten Mal in der Geschichte setzte die Kirche dazu an, den gesamten Globus innerhalb von nur einer Generation mit dem Evangelium zu durchdringen.

Heute leben wir in einer gegenüber 1910 veränderten Welt. Der Erste Weltkrieg erschütterte den Optimismus von Edinburgh nachhaltig. Der Untergang der Titanic wurde zum Symbol für die Grenzen des menschlich Machbaren. Heute wissen wir längst, dass die Technik nicht nur Probleme löst, sondern auch welche schafft. Der Kolonialismus ist Vergangenheit, die Religionen sind erstarkt, soziale Nöte dringen ins Bewusstsein der Menschen. Die Postmoderne hat Zynismus und die Auflösung traditioneller Werte hervorgebracht.

Mit der veränderten Welt haben sich in den hundert Jahren seit Edinburgh auch die Mission und das Verständnis von Kirche verändert. In diesem einführenden Kapitel skizziere ich einige dieser Veränderungen und deute an, welche Bedeutung sie für das Missionsverständnis und die Kirche in der Postmoderne haben. Die Veränderungen, die ich beschreibe (und im Laufe dieses Buches detaillierter nachzeichne) betreffen:

• Kulturelle Veränderungen (Diese haben nachhaltigen Einfluss auf die Kirche und die Mission.)

• Missiologische Veränderungen (Sie sind eine Reaktion auf die Veränderungen der Kultur.)

• Hermeneutische Veränderungen (Die Hermeneutik ist die Lehre von den Auslegungsregeln der Bibel. Hermeneutische Veränderungen sind der Versuch eines neuen Zugangs zum Verständnis der Bibel aufgrund der veränderten Situation.)

• Globale Veränderungen (Dazu gehören die sozialen Probleme und die Folgen des Klimawandels.)

kulturell

Kultureller Wandel führt zu theologischen Veränderungen, und wenn sich die Theologie verändert, verändert sich auch die Mission. Mission findet nicht in einem geschichtlichen Vakuum statt, sie reagiert auf kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen und prägt die Kultur ihrerseits.

Die größte kulturelle Veränderung in Bezug auf die Mission seit Edinburgh ist das Ende des Kolonialismus. Mission und Kolonialismus waren eng miteinander verbunden. Ähnlich wie die Pax Romana zur Zeit des Apostels Paulus Voraussetzung für die schnelle Verbreitung des Evangeliums im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung war, war der Kolonialismus der Rahmen, der den Erfolg der Mission im 19. Jahrhundert ermöglichte. Doch diese Verbindung hatte auch ihre Schattenseiten. Von Seiten der ehemals kolonialisierten Länder ist der Vorwurf erhoben worden, dass die Missionare bewusst oder unbewusst Pioniere des westlichen Imperialismus gewesen seien (Bosch 1991, 304). Es gab zwar Kritik von Missionaren an die Adresse der lokalen Kolonialadministrationen. Oft waren die Missionare die einzigen, die für die Einheimischen Partei ergriffen, aber die Legitimität des Kolonialismus wurde nicht in Zweifel gezogen. Orlando Costas, ein evangelikaler Missiologe aus Puerto Rico, hatte Recht als er sagte, dass die Mission ein Instrument der Dominanz gewesen sei (Costas 1974b, 245). Das Bewusstsein der Richtigkeit dieser Kritik hat im ausgehenden 20. Jahrhundert Raum geschaffen für eine grundlegende Veränderung der Missionspraxis.

Der Kolonialismus war eng verbunden mit dem Geist der Aufklärung. Obwohl die Evangelikalen der Ideologie der Aufklärung harten Widerstand leisteten, sind doch manche ihrer Ergebnisse auch in die Theorie und Praxis der Mission eingeflossen. Die Vernunft wurde ein wesentliches Element der Theologie. Der Glaube an die menschliche Machbarkeit erhielt durch den wirtschaftlichen und technischen Vorsprung des Westens kräftigen Aufschub. Als in Edinburgh die große Missionskonferenz stattfand, zweifelte kaum jemand an der Überlegenheit der westlichen Kultur. Die Ineinssetzung von abendländischer christlicher Kultur mit dem Evangelium führte dazu, dass die Missionen zusammen mit der Bibel auch die westliche Lebensweise in die Kolonien exportierten. Diese Überlegenheit ist unterdessen Vergangenheit, aber die Verquickung von Mission und Kolonialismus ist eine Last der Geschichte, die noch nicht überwunden ist.

Die kulturellen Veränderungen, die heute auf die Mission einwirken, haben nicht zuletzt mit der massiven Verschiebung des Christentums von Nord nach Süd zu tun. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war das Christentum hauptsächlich eine westliche Angelegenheit. Der überaus größte Teil der Christen lebte in der nördlichen Erdhälfte. Bedingt durch den Erfolg der Mission in den Ländern des Südens und den Niedergang der Kirche in ihren europäischen Stammlanden, hat sich das Gesicht des Christentums entscheidend verändert. Heute befindet sich der weitaus größte Teil der Evangelikalen einschließlich der Pfingstkirchen in der südlichen Hemisphäre. „Das Zeitalter des westlich geprägten Christentums wird noch zu unseren Lebzeiten zu Ende gehen und das neue Zeitalter des ‚südlichen Christentums‘ bricht an“ (Jenkins 2006, 14). Missionare werden längst nicht mehr nur von Norden nach Süden ausgesendet, sondern zunehmend von Süden nach Norden. Die Unterteilung in sendende und empfangende Länder existiert nicht mehr.

Diese Kräfteverschiebung hat nachhaltige Auswirkungen auf die Kirche und die Mission. Das entscheidende Element in diesem Zusammenhang war das Ende des kolonialen Zeitalters. Der Peruaner Samuel Escobar (2002, 12) trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt: „Das Modell der traditionellen Mission, das aus dem Christentum und dem Zeitalter des Kolonialismus hervorging, funktioniert heute nicht mehr.“ Die Untauglichkeit des traditionellen Modells hat damit zu tun, dass mit dem Ende des Kolonialismus die Länder des Südens ihre politische und kulturelle Unabhängigkeit fanden. Im Zuge dieser Unabhängigkeit erwachten die Kirchen der ehemals kolonialisierten Länder zur theologischen Selbständigkeit. Sie erkannten, dass die westliche Theologie keine neutrale Theologie ist und dass sie ihre Ergebnisse oft zu Unrecht über den eigenen Kontext ausgedehnt hatte. Lange Zeit erachtete man die Art und Weise wie im Westen Theologie betrieben wurde als neutral. Theologie war eine akademische Disziplin und wurde in der Sicherheit des Elfenbeinturms betrieben. Sie entstand im Zentrum der Macht und war darum über weite Strecken eine bürgerliche Theologie, welche den Erhalt der Macht zementierte.

Seit die Kirchen des Südens ihre theologische Mündigkeit entdeckt haben, wird auch evangelikale Theologie von einer neuen Perspektive aus betrieben – aus der Perspektive der Armen, Unterdrückten und Ausgebeuteten. Es ist ein Unterschied, ob man sich in Zürich oder Hamburg in relativer Sicherheit bewegt oder in Rio de Janeiro oder Bombay unter den Armen lebt. Wer die Bibel mit vollem Kühlschrank im Haus liest, versteht sie anders als einer, der in einer Blechhütte sitzt oder sich mit den Armen solidarisiert.

hermeneutisch

Damit ist eine hermeneutische Veränderung angesprochen, die zu unumkehrbaren Umbrüchen in der Mission geführt hat. Es ist eines der Anliegen dieses Buches, diese hermeneutischen Veränderungen nachzuzeichnen und zu zeigen, welche Möglichkeiten sie für die Erfüllung des Missionsauftrags in einer sich ständig verändernden Welt bieten. Die Hermeneutik – die Lehre von den Auslegungsgrundsätzen der Bibel – ist für das Missionsverständnis von zentraler Bedeutung. Dieser Punkt kann nicht genug betont werden, denn Mission muss ständig von der Bibel her begründet und ihre Praxis von ihr überprüft werden. Wie aber begründen wir Mission?

Traditionell wurde die Mission mit dem Tod und der Auferstehung von Jesus und dem Missionsbefehl von Mt 28 begründet. Diese Missionsbegründung reichte für das koloniale Zeitalter aus, zumal man Mission hauptsächlich als Herausrettung einzelner Menschen aus der Welt verstand. Für unsere veränderte Weltlage aber ist die traditionelle Begründung eine zu schmale Basis, um Mission langfristig zu sichern. Diese These trifft die evangelikale Theologie an einer empfindlichen Stelle, haben die Evangelikalen sich doch immer durch ihr Bibel- und Missionsverständnis definiert. Ich werde diese These im Laufe dieses Buch erläutern und begründen. Schon jetzt kann gesagt werden, dass Mission aus biblischer Sicht ein viel umfassenderes Geschehen ist als die Rettung von Seelen aus der Welt heraus. Die Begründung der Mission darf sich nicht einzig auf das Kreuz und den Missionsbefehl von Mt 28 stützen – so wichtig diese auch sind. Und die Praxis der Mission muss weiter greifen als die bloße Verkündigung des Evangeliums – auch wenn dies in Zukunft die zentrale Aufgabe bleibt.

Die große missiologische Veränderung im ausgehenden 20. Jahrhundert bestand in hermeneutischer Hinsicht darin, dass Mission nicht mehr nur vom Missionsbefehl her begründet wurde, sondern von der gesamten Bibel her. Die missiologische Basis wurde sozusagen erweitert. Es gab nicht mehr nur einzelne Bibelstellen, welche eine Begründung für die Mission liefern, sondern die ganze Bibel wurde missiologisch gedeutet. Die traditionelle Mission wurde hinterfragt und kritisiert. Dies geschah nicht aus mangelndem Interesse an der Mission. Im Gegenteil: Man nahm die Brille des Kolonialismus ab und versuchte Kirche und Mission von der Bibel her neu zu definieren. Konkret waren es drei Neuerungen, die einen hermeneutischen Paradigmenwechsel herbeiführten, der bedeutende Veränderungen in der Missionstheorie zur Folge hat.

Die erste Neuerung, die zu einem veränderten Missionsverständnis geführt hat, bestand darin, dass der Kontext in den Erkenntnisprozess einbezogen wurde. In der Solidarität mit den Armen erkannte man, dass es keine neutrale Auslegung der Bibel gibt und dass dort die Botschaft des Evangeliums am klarsten erkannt wird, wo Auslegung und Dienst am Nächsten Hand in Hand gehen. Es entstand eine Hermeneutik der Betroffenheit, die ihr Zentrum nicht in der akademischen Disziplin hat, sondern im Dienst am Mitmenschen. Es setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass der Kontext (die Situation) in dem sich der Ausleger oder Missionar befindet, sein Verständnis der Bibel beeinflusst. Damit aber war das Ende einer neutralen und objektiven westlichen Leseart der Bibel besiegelt.

Die zweite Neuerung, die Anstoß zu einem veränderten Missionsverständnis gab war, dass Mission nicht mehr nur vom Tod und der Auferstehung Jesu aus begründet wurde, sondern von seinem Gesamtwerk her. Nicht mehr nur das Leiden und Sterben von Jesus und seine Auferstehung wurden als Grundlage der Mission begriffen, sondern ebenso seine Menschwerdung und damit seine Identifikation mit den Leidenden. Die Stellung Jesu zu den Sündern und den Armen und seine Konfrontation mit den Mächtigen wurden zu wichtigen Grundlagen für die Art und Weise wie Mission geschehen soll. Es kam zu nichts weniger als einer veränderten Christologie (Lehre von Christus). Die evangelikale Christologie des Westens besteht im Wesentlichen darin, dass Jesus geboren wurde, um zu sterben. Das ist natürlich richtig, aber es ist nicht einmal die halbe Geschichte. Jesus kam um ein Leben zu leben, das seine Nachfolger nachahmen sollen. Wenn das Gesamtwerk Jesu Mission definiert, dann muss Mission einen konkreten Bezug zur Welt mit ihren Nöten haben. Sie darf sich nicht auf die Verkündigung beschränken, denn das hat Jesus auch nicht getan.

Die dritte Neuerung war der gewichtige Umstand, dass das Alte Testament als Missionsbegründung herangezogen wurde. Im Leben des alttestamentlichen Israel entdeckte man Elemente, die für eine Missionspraxis mit einem starken Weltbezug relevant sind. Israel erlebte nicht eine bloße geistliche Erlösung. Israels Erlösungwar, wie der Exodus zeigt, ebenso eine politische und gesellschaftliche Befreiung. Die Gesetze, die Jahwe seinem Volk gab, man denke an das Jubeljahr, waren darauf ausgerichtet, dass Israel volles Leben und umfassendes Heil erfahren konnte. Mit dem Blick auf das Alte Testament erkannte man, dass der Gott der Mission das Heilsein seiner ganzen Schöpfung will und dass Mission die Transformation (Umwandlung) der Strukturen (Gesetze, Gesellschaft, Staat) einschließen muss. Diese Erkenntnis wurde insbesondere in den 1980er Jahren auf die evangelikale Missionstheorie angewendet, wenn sie auch nicht ohne Widerspruch blieb.

Die skizzierten Veränderungen vollzogen sich fast ausschließlich unter den Evangelikalen der Zwei-Drittel-Welt. Dieser Umstand kann uns im Westen allein schon wegen des neuen Kräfteverhältnisses im weltweiten Christentum nicht gleichgültig sein. Während in Edinburgh von den 1400 Teilnehmern gerade einmal 17 Personen aus dem Süden kamen, befindet sich das Zentrum des erwecklichen Christentums heute in der südlichen Hemisphäre. Nachdem der Westen während Jahrhunderten seine Sicht des Evangeliums in die Welt exportierte (und dabei zweifellos auch viel Gutes bewirkte), ist es an der Zeit, dass wir im Westen auf unsere Brüder und Schwestern im Süden und im Osten hören. Sie haben in der Solidarität mit den Armen eine missiologische Sichtweise entwickelt, welche für unsere veränderte Welt mit ihren globalen Verwerfungen äußerst relevant ist.

missiologisch

Die angedeuteten kulturellen und hermeneutischen Veränderungen, haben seit den 1960er Jahren zu einer veränderten evangelikalen Missionstheorie geführt. Diese Veränderung kann in den Stichworten Evangelisation, soziale Verantwortung, Transformation und Inkarnation zusammengefasst werden. Sie beschreiben Stadien einer unumkehrbaren Entwicklung, die Anstoß zu einem Missionsverständnis gegeben haben, das auf der gesamten Botschaft der Bibel beruht.

Evangelisation

Bis in die 1960er Jahre setzten die Evangelikalen Mission weitgehend mit Evangelisation gleich. Es gab zahlreiche soziale Tätigkeiten im Umfeld der Mission, aber dieser Einsatz wurde nicht als missionarische Verpflichtung verstanden, sondern der Pflicht der Nächstenliebe zugeordnet. Soziale Verantwortung wurde nicht in erster Linie als Aufgabe der Kirche und der Mission gesehen, sondern als individuelle Pflicht einzelner Christen.

Die Evangelisation wurde als die vorrangige Aufgabe der Kirche verstanden. Es gab noch keine theologische Integration der sozialen Verpflichtung in den Missionsauftrag. Man befand sich im Grunde genommen immer noch auf dem Terrain von Edinburgh, wo Mission als Verkündigung im Vordergrund stand. So sagte Billy Graham an einem Kongress über Evangelisation in Berlin 1966, dass die soziale Verantwortung unter anderem deshalb wichtig sei, weil sie eine Brücke zur Evangelisation bildet (Johnston 1984, 162–163). Die soziale Verantwortung besaß, wie diese Aussage von Billy Graham zeigt, zu jenem Zeitpunkt keine eigenständige missionarische Legitimation. Mission wurde als die verbale Verkündigung der Heilstatsache von Golgata und dem Ruf zum Glauben definiert und diese Aufgabe wurde als das einzige Ziel der Mission betrachtet.

Zweifellos war es wichtig, dass sich die Evangelikalen zur Evangelisation bekannten und darauf bestanden, dass das Heil einzig in Christus zu finden ist. In den ökumenischen Theologien war dieses Ziel zu jenem Zeitpunkt weitgehend aufgegeben worden, und den sozialen Aufgaben wurde vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Wenige Jahre vor Berlin hatte die ökumenische Bewegung eine Humanisierung und Politisierung des Heilsbegriffs eingeleitet. Von diesem Umstand her waren die Ängste der Evangelikalen vor der Preisgabe der Mission als Evangelisation verständlich. Die Veränderungen in der ökumenischen Missionstheologie und das Bewusstsein weltweiter sozialer Nöte blieben dennoch nicht ohne Auswirkungen auf die Evangelikalen und ihr Missionsverständnis.

Mitte der 1960er Jahre erwachte das soziale Gewissen der Evangelikalen wieder, das in der frühen evangelikalen Bewegung des 18. und 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt hatte. In jene Zeit fiel, zusammen mit großen evangelistischen Bemühungen, eine intensive soziale Tätigkeit der Evangelikalen (Tidball 1999, 261–267). Dabei spielten so bekannte Namen wie John Wesley, William Wilberforce, Charles Finney und Jonathan Edwards eine wichtige Rolle. Sie alle hatten ein traditionelles Evangelisationsverständnis, gleichzeitig war die soziale Betätigung, bis hin zum politischen Einsatz einzelner, ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Die soziale Tätigkeit kam auch auf struktureller Ebene zum Ausdruck. So hatte die Evangelische Allianz, die 1846 in London gegründet wurde, von Anfang an eine soziale Agenda. Sie wurde namentlich auch deshalb gegründet, um für das Recht auf Religionsfreiheit auch für die Angehörigen anderer Religionen einzutreten (Randall und Hilborn 2001, 45–70).

Mit dem Aufkommen des protestantischen Fundamentalismus in Nordamerika zu Beginn des 20. Jahrhunderts zerbrach in der so genannten „großen Wende“ das Miteinander von Evangelisation und sozialer Aktion. Edinburgh lag nur einige Jahre zurück, aber die Situation hatte sich für die Kirche bereits verschlechtert. Vom Geist der Aufklärung beflügelt, begannen liberale Ideologien wie der Darwinismus und die Bibelkritik ihren Marsch durch die theologischen Institutionen. Die Evangelikalen mobilisierten im Kampf gegen den Liberalismus ihre Kräfte für die Verteidigung des Glaubens und die Selbsterhaltung. Eine zunehmend pessimistische Weltsicht als Folge des Ersten Weltkriegs verstärkte den Trend zum Rückzug aus der gesellschaftlichen Verantwortung. In der Folge konzentrierte man sich auf die Evangelisation als alleinige Aufgabe der Kirche. Man sah in der Welt ein sinkendes Schiff, aus dem die letzten Seelen zu retten waren – ein Bild, das auf den Evangelisten und Erweckungsprediger Dwight Moody zurückgeht und bis heute den Missionsgedanken der Evangelikalen prägt.

Soziale Verantwortung

In den 1970er Jahren versuchten die Evangelikalen an das sozialethische Erbe der frühen evangelikalen Bewegung anzuknüpfen. Am Lausanner Kongress für Weltevangelisation 1974 begann die moderne evangelikale Bewegung sich erstmals gründlich mit der sozialen Aufgabe zu befassen. Das Verhältnis zwischen Verkündigung und sozialer Verantwortung wurde in die missionstheologische Diskussion aufgenommen und die soziale Verantwortung im Schlussdokument des Kongresses, in der Lausanner Verpflichtung, wie folgt beschrieben (Artikel 5):

Wir bekräftigen, dass Gott zugleich der Schöpfer und Richter aller Menschen ist. Wir müssen deshalb seine Sorge um Gerechtigkeit und Versöhnung in der ganzen menschlichen Gesellschaft teilen. Sie zielt auf die Befreiung der Menschen von jeder Art von Unterdrückung. Da die Menschen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, besitzt jedermann, ungeachtet seiner Rasse, Religion, Farbe, Kultur, Klasse, seines Geschlechts oder Alters, eine angeborene Würde. Darum soll er nicht ausgebeutet, sondern anerkannt und gefördert werden. Wir tun Buße für dieses unser Versäumnis und dafür, dass wir manchmal Evangelisation und soziale Verantwortung als sich gegenseitig ausschließend angesehen haben. Versöhnung zwischen Menschen ist nicht gleichzeitig Versöhnung mit Gott, soziale Aktion ist nicht Evangelisation, politische Befreiung ist nicht Heil. Dennoch bekräftigen wir, dass Evangelisation und soziale wie politische Betätigung gleichermaßen zu unserer Pflicht als Christen gehören. Denn beide sind notwendige Ausdrucksformen unserer Lehre von Gott und dem Menschen, unserer Liebe zum Nächsten und unserem Gehorsam gegenüber Jesus Christus. Die Botschaft des Heils schließt die Botschaft des Gerichts über jede Form der Entfremdung, Unterdrückung und Diskriminierung ein. Wir sollen uns nicht scheuen, Bosheit und Unrecht anzuprangern, wo immer sie existieren. Wenn Menschen Christus annehmen, kommen sie durch Wiedergeburt in sein Reich. Sie müssen versuchen, seine Gerechtigkeit nicht nur darzustellen, sondern sie inmitten einer ungerechten Welt auch auszubreiten. Das Heil, das wir für uns beanspruchen, soll uns in unserer gesamten persönlichen und sozialen Verantwortung verändern. Glaube ohne Werke ist tot.

Seit der Niederschrift dieses Artikels ist die soziale Verantwortung aus der evangelikalen Mission nicht mehr wegzudenken. Freilich geschah dies nicht ohne Widerspruch und unter heftigen Auseinandersetzungen. Die Frage nach der Einordnung der sozialen Verantwortung in den Missionsauftrag führte in der Folge zu beträchtlichen Spannungen in der evangelikalen Bewegung. Die späten 1970er Jahre waren durch offen geführte Kontroversen in dieser Frage geprägt, und erst Anfang der 1980er Jahre gelang es, sich auf einen Konsens zu verständigen.

Transformation

In den frühen 1980er Jahren gelangte das Thema der Transformation auf die Tagesliste der Evangelikalen. Unterdessen hatte sich der Konsens verfestigt, dass zur Aufgabe des Christen in der Welt die soziale Verantwortung gehört. Dies führte zur Frage, wie der sozialen Gerechtigkeit auf struktureller und institutioneller Ebene zum Durchbruch verholfen werden konnte. Man wollte nicht nur Not lindern, sondern früher ansetzen und sie möglichst verhindern. Am Missionskongress in Wheaton 1983 wurde das Transformationskonzept in die evangelikale Missionstheorie eingebracht. Mission und Entwicklungshilfe sollten sich nicht länger nur auf Verkündigung und Hilfeleistungen beschränken, sondern auf die Umwandlung (Transformation) der Gesellschaft hinarbeiten und Strukturen verändern. Nicht mehr nur der einzelne Mensch in seiner Verlorenheit und in seiner sozialen Not stand im Fokus des missionarischen Geschehens, sondern die gesamte Gesellschaft.

Während der Gedanke der Transformation in der Zwei-Drittel-Welt in der Folge immer stärker zum missionarischen Ziel avancierte, wurde diese Neuorientierung von den Evangelikalen im Westen mit Vorbehalten aufgenommen. Es wurde die Befürchtung geäußert, das historische Ziel der Mission – die Rettung von Menschen – könnte aus den Augen verloren werden. Und tatsächlich war nach Wheaton die Rettung von Seelen und der Aufbau der Kirche für viele Evangelikale nicht mehr das einzige Ziel der Mission. Der Missionsauftrag wurde um den Transformationsgedanken erweitert und dieser vor allem in den Ländern des Südens in der Praxis erprobt.

Inkarnation

Am Ende der 1980er Jahre wurde der Transformationsgedanke durch den Inkarnationsgedanken ergänzt. Am größten evangelikalen Missionskongress seit Lausanne, in Manila 1989, setzte sich die Überzeugung durch, dass Mission inkarnatorisch sein muss. Als Missionsbegründung wurde nicht mehr nur Mt 28 beigezogen, sondern es wurde früher angesetzt bei der Inkarnation (Menschwerdung) Christi. So wie Christus sich den Nöten der Menschen annahm und ihnen diente, müsse der missionarische Dienst in klarem Bezug zu den sozialen Nöten der Menschen bestehen. Es kam zu einer christologischen Begründung der Mission, die sich nicht nur auf das Kreuz und die Auferstehung berief, sondern das gesamte Leben Jesu als Modell der Mission begriff. Auf diese Weise bekam die evangelikale Mission eine ganzheitlichere Färbung, ohne dass die Priorität der Verkündung aufgegeben wurde. Im Manila-Manifest, dem Schlussdokument des Kongresses, heißt es:

Die Evangelisation ist vorrangig, weil es uns im Sinn des Evangeliums in erster Linie darum geht, dass alle Menschen Gelegenheit erhalten, Jesus Christus als Herrn und Retter anzunehmen. Aber Jesus hat das Reich Gottes nicht nur verkündigt, sondern er hat die Ankunft des Reiches durch Werke der Barmherzigkeit und durch Vollmacht unter Beweis gestellt. Wir sind heute zu einem ähnlichen Miteinander von Wort und Tat aufgerufen … Unsere fortwährende Verpflichtung zu sozialem Handeln ist nicht eine Verwechslung des Reiches Gottes mit einer christianisierten Gesellschaft. Sie ist vielmehr eine Anerkennung der Tatsache, dass das biblische Evangelium unausweichlich soziale Folgerungen hat. Wahre Mission muss immer „inkarnatorisch“ sein. Darum müssen wir demütig Zugang suchen zu der Welt anderer Menschen, indem wir uns mit ihrer sozialen Wirklichkeit identifizieren, mit ihrer Trauer und ihrem Leid, mit ihrem Ringen um Gerechtigkeit gegen Unterdrückungsmächte. Dies kann nicht ohne persönliche Opfer geschehen. (Manila Manifest 1989, Abschnitt 2, Absatz 4)

Ich werde die Entwicklung des Missionsverständnisses in der evangelikalen Bewegung in Kapitel 2 im Detail nachzeichnen. Für den Augenblick reicht es wenn wir feststellen, dass die veränderte Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu gewichtigen Veränderungen im evangelikalen Missionsverständnis geführt hat.

global

Die Globalisierung ist ein Phänomen mit nachhaltigen Auswirkungen auf das Missionsverständnis. Die globale Welt offenbart immer mehr soziale Verwerfungen, und durch die Medien flimmern sie in unsere Stuben. Der Klimawandel verändert das Denken der Menschen und verdüstert unsere Zukunftsperspektive. Das Bewusstsein steigt, dass wir uns einer Überbeanspruchung der Erde schuldig machen, die das Fortbestehen künftiger Generationen in Frage stellt. Und der exzessive Reichtum von einigen wenigen und die Armut eines großen Teils der Menschheit werden zunehmend als nicht hinnehmbar empfunden.

Diese globalen Herausforderungen führen dazu, dass viele Christen nicht mehr zufrieden sind mit den traditionellen Antworten auf die Frage, wozu der Christ und die Kirche in der Welt sind. Sie suchen nach einem neuen Paradigma – einem neuen biblischen Verständnisrahmen – um die Aufgabe der Kirche zu definieren. Sie tun dies, weil sie erkennen, dass die alten Denkmuster und die herkömmlichen theologischen Positionen nicht mehr ausreichen. Im Westen ist ein neues Interesse an der Gesellschaftsrelevanz des Glaubens und der sozialethischen Aufgabe der Kirche entstanden. Diese neue Suche ist zu begrüßen. Wenn sich die Welt verändert, muss sich auch die Mission verändern, denn in der Mission geben Christen Antworten auf die Nöte der Welt. Sie weisen auf den Gott hin, dessen Heilswille nicht nur dem einzelnen Menschen gilt, sondern die ganze Schöpfung umfasst.

Die in diesem Kapitel beschriebenen kulturellen, hermeneutischen, missiologischen und globalen Veränderungen haben dazu geführt, dass heute Mission zunehmend als Transformation verstanden wird. Transformation bedeutet, dass die Missionstätigkeit darauf zielt, den einzelnen Menschen und die gesamte ihn umgebende Lebenswirklichkeit umzuwandeln und in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes zu bringen.

Wenn wir von einer transformationsorientierten Mission sprechen, meinen wir eine Mission, die persönliche, kulturelle, soziale, gesellschaftliche, politische und ökologische Elemente einschließt. Alle diese Bereiche sollen unter die gute Herrschaft Gottes kommen und seinem Heil zugeführt werden. Mission ist so verstanden nicht etwas, das einzelne Christen tun, wenn sie in einem fernen Land aus dem Flugzeug steigen. Mission beginnt schon früher bei der Aufgabe des einzelnen Christen in seiner Umgebung und mit dem Auftrag der lokalen Kirche in ihrer Stadt oder Region. Mission ist nicht ein geografischer Begriff, sondern findet immer und überall statt. Dieses Missionsverständnis wird auch als ganzheitlich bezeichnet. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass Gott ganzheitliches Heil will und die Mission sich dieser Ganzheit verpflichten sollte.

Damit ist auch die Frage nach der Identität und dem Auftrag der Kirche in ihrem Umfeld berührt. Wenn die Mission die soziale Verantwortung einschließt, wenn sie inkarnatorischen Charakter haben muss und zur Transformation drängt, gilt das auch für die Kirche in ihrem Umfeld. Mission ist dann nicht nur das, wofür die Kirche Personal oder Finanzen zur Verfügung stellt. Mission ist so gesehen nichts anderes als die Identität der Kirche selbst. Kirche ist Mission. Ihr Einsatz für gerechte Verhältnisse in der Welt, ihre dienende Zuwendung zu bedürftigen Menschen in ihrem Umfeld, das Gebet für die eigene Stadt oder das Dorf, die Verkündigung des Evangeliums auf verständliche Weise – all das ist ihre Mission. In einer postmodernen Gesellschaft ist dies die Kirche der Zukunft.

Dieses umfassende Missionsverständnis hat neue Begriffe und Konzepte hervorgebracht. Der Begriff „missionale Kirche“ wird zur Umschreibung eines solchen ganzheitlichen Missionsverständnisses verwendet. Auch das Konzept der Emerging Church ist hier einzuordnen. Es handelt sich um eine kommende (emerging) Generation von Kirchen, die auf die Herausforderungen der Postmoderne mit Gesellschaftsrelevanz reagieren wollen. Emerging Kirchen verstehen sich als Kirchen für die Welt und wollen durch inkarnatorisches Handeln ihre Umgebung transformieren. Zu den vielfältigen Einflüssen, welche die Theologie der Emerging Church formen, gehören die Evangelikalen, welche seit den 1960er Jahren die evangelikale Mission zu mehr Weltzugewandtheit angestiftet haben.1 Nicht nur die evangelikale Mission hat sich im ausgehenden 20. Jahrhundert verändert. Mit etwas Verzögerung zeichnet sich dieselbe Veränderung auch in den evangelikalen Kirchen ab. Wir befinden uns mitten in der Entwicklung eines neuen missionarischen und kirchlichen Paradigmas.

Die Veränderungen, die ich in diesem Kapitel beschrieben habe zeigen an, dass in der evangelikalen Bewegung am Ende des 20. Jahrhunderts ein erweitertes Verständnis von Mission entstand. Dieses neue Verständnis wird Auswirkungen auf die missionarische Praxis, das Leben der Kirche und den einzelnen Christen haben. Die Stoßrichtung dieser Veränderung ist erstaunlich einheitlich. Es geht darum, dass die Kirche sich auf ihre missionarische Aufgabe besinnt und durch gesellschaftsrelevante Taten die Welt umwandelt. Mit diesem Buch will ich aufzeigen, wie die weltweite evangelikale Bewegung auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Missionsverständnis ist. Es geht um eine biblische Begründung des Auftrags der Kirche angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.

Anmerkungen

1Die Rede ist von den so genannten radikalen Evangelikalen. Brian McLaren, einer der Hauptvertreter der Emerging Church in den Vereinigten Staaten, ist namentlich von radikalen Hauptvertretern wie Jim Wallis, Ronald Sider und René Padilla beeinflusst worden (McLaren 2006, 10; 227). Mehr zu den radikalen Evangelikalen in Kapitel 2 „Die radikale Anstiftung“.

2 | DIE RADIKALE ANSTIFTUNG

Die evangelikale Bewegung ist ein vielschichtiges Phänomen. In Europa werden die Evangelikalen als Segment in der Gesellschaft wahrgenommen, das traditionelle Werte vertritt. Die Evangelikalen stehen für konservative ethische Positionen und neigen zu einer konservativen politischen Haltung – sofern gesellschaftliche Fragen in ihrem Denken überhaupt eine Rolle spielen. Sie interessieren sich mehr für die Veränderung des Herzens als für die Umwandlung der Gesellschaft.

Dieses Bild trifft nicht auf alle Evangelikalen zu. Es ist wenig bekannt, dass sich in der weltweiten evangelikalen Bewegung in den 1970er Jahren ein radikales Segment gebildet hat. Seitdem am Kongress für Weltevangelisation in Lausanne 1974 eine Gruppe von sich reden machte, die sich „Radical Discipleship Group“ nannte, hat sich ein radikales Segment gebildet, das sich durch die Betonung der sozialen Verantwortung auszeichnet. Der Begriff „radikal“ besagt, dass diese Evangelikalen Jesus radikal nachfolgen und wie er sozial handeln wollen. Angestiftet durch diese radikale Gruppe hat sich in den auf Lausanne folgenden Jahrzehnten das Missionsverständnis der evangelikalen Bewegung auf Transformation hin verändert.

Die radikalen Evangelikalen treten nicht als gesonderte Gruppe in Erscheinung und sie sind auch nicht einer bestimmten Kirche oder Denomination zuzuordnen. Der Begriff charakterisiert vielmehr evangelikal gesinnte Christen, denen die soziale Verantwortung am Herzen liegt, weil nach ihrem Verständnis radikale Nachfolge zur Nächstenliebe führt. Der radikale Evangelikalismus ist am stärksten in der Zwei-Drittel-Welt verbreitet. In der südlichen Hemisphäre denkt der überwiegende Teil der Evangelikalen radikal. Das ist bedeutsam, weil durch das numerische Kräfteverhältnis zwischen Nord und Süd immer öfter Stimmen aus dem Süden auch im Norden gehört werden. Diese Stimmen werden unser Verständnis von Kirche und Mission in Zukunft prägen.

Den radikalen Kräften gehört die Zukunft. Wir tun gut daran, dieses Segment zu verstehen und darauf zu achten, wie seine Vertreter auf den Wandel der Welt reagieren. Das wird uns helfen zu verstehen, wie im weltweiten Leib Christi die gegenwärtigen Herausforderungen bewältigt werden. Es wird blinde Flecken in unserer Sichtweise aufdecken und so unseren Blick für unsere Aufgabe schärfen.

In diesem Kapitel werde ich die radikale Anstiftung, die in Lausanne ihren Anfang nahm, darstellen und den Prozess beschreiben, der zur Transformations-Orientierung der evangelikalen Mission geführt hat. Als Orientierungspunkt dienen die wichtigsten evangelikalen Missionskongresse von 1966 bis in die Gegenwart.

Wheaton und Berlin (1966)

Im April 1966 versammelten sich knapp 1000 Delegierte in Wheaton, in den Vereinigten Staaten, zu einem bedeutenden Missionskongress. Es war die Zeit, in der Billy Graham der evangelikalen Bewegung durch seinen Dienst neuen Aufschwung gab. In seiner Person repräsentierte sich die so genannte neue evangelikale Bewegung, die sich aus dem Pessimismus des Fundamentalismus hatte lösen können und durch ihre Weltoffenheit Kräfte für die Evangelisation freisetzte. In Wheaton stand die Evangelisation im Vordergrund des missionarischen Auftrags. Gleichzeitig wurde bedauert, dass man sich zu wenig um soziale Fragen gekümmert hatte. In der Wheaton-Erklärung heißt es:

Wir haben schlimm gesündigt. Wir sind einer unbiblischen Isolation von der Welt schuldig geworden, die uns nur zu oft davon abgehalten hat uns ehrlich mit den Angelegenheiten der Welt zu befassen … Während die Evangelikalen im 18. und 19. Jahrhundert führend in der sozialen Verantwortung waren, haben viele im 20. Jahrhundert die biblische Perspektive verloren und sich einzig darauf beschränkt, ein Evangelium der individuellen Erlösung zu predigen ohne sich genügend ihrer sozialen und gemeinschaftlichen Verantwortung hinzugeben. (Wheaton Declaration 1966)

Diese Passage macht deutlich, dass das soziale Gewissen der Evangelikalen erwacht war. Man wollte an das sozialethische Erbe der frühen evangelikalen Bewegung anknüpfen und Versäumtes aufholen. Dieses Bestreben war zu einem beträchtlichen Teil dem Einfluss der Delegierten aus der Zwei-Drittel-Welt zu verdanken. Das ist erstaunlich, denn aus Afrika, Asien und Lateinamerika nahmen nur etwa 50 Personen am Kongress teil.1

Im selben Jahr fand in Berlin ein Weltkongress über Evangelisation statt. An diesem Kongress begannen erstmals Theologen aus der Zwei-Drittel-Welt Kritik am Westen zu üben und der Westen verschloss sich dieser Kritik nicht (Steuernagel 1988, 99). Zum ersten Mal konnte davon gesprochen werden, dass die Teilnehmer aus dem Westen und aus den übrigen Ländern als gleichberechtigte Partner teilnahmen, und zum ersten Mal erkannte man, wie wichtig der Beitrag dieser Länder für die Weltevangelisation ist (Johnston 1984, 158).

Der Kongress in Berlin befasste sich nur am Rande mit der sozialen Aufgabe. Billy Graham sprach sich für die Priorität der Evangelisation aus: „Die sozialen, psychologischen, moralischen und geistlichen Nöte und Bedürfnisse der Menschen werden zu einer brennenden Motivation für die Evangelisation. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass die Kirche einen viel größeren Einfluss auf die sozialen, moralischen und psychologischen Bedürfnisse der Menschen haben würde, wenn sie zu ihrer Hauptaufgabe zurückkehrte, das Evangelium zu verkündigen und Menschen zu Jesus Christus zu bekehren“ (Johnston 1984, 162–163).

Nach Wheaton und Berlin wurde die soziale Frage für die Evangelikalen zu einem wichtigen Thema. Am stärksten wurde sie in der Zwei-Drittel-Welt diskutiert. An einem Kongress über Evangelisation in Bogotá 19692 sagte Samuel Escobar: „Jede Evangelisation, die den sozialen Problemen keine Beachtung schenkt und die das Heil und die Herrschaft Christi nicht in dem Kontext verkündigt, in dem die Zuhörer leben, ist eine mangelhafte Evangelisation; sie verrät die biblische Lehre und folgt nicht dem Beispiel, das Jesus Christus, der uns als seine Botschafter hinaussendet, uns gegeben hat“ (Escobar 2002, 249).

Escobars Aussage unterscheidet sich von Billy Grahams Position dadurch, dass er die soziale Verantwortung nicht als bloße Brücke zur Evangelisation betrachtet. Er forderte, dass wir in der Evangelisation dem Beispiel Christi folgen. Escobar begründete die Zuwendung zur Welt christologisch und gab der sozialen Verantwortung damit einen eigenständigen Wert. Die Schlusserklärung des Kongresses zeigt, dass in Lateinamerika ein neues Verständnis von Kirche und Mission entstanden war:

Wir haben zusammen die Notwendigkeit erkannt, das christliche Leben in seiner ganzen Fülle zu führen und dem lateinamerikanischen Menschen das ganze Evangelium im Kontext seiner zahlreichen Bedürfnisse zu verkündigen … Der Prozess der Evangelisierung muss in konkreten menschlichen Situationen stattfinden. Soziale Strukturen beeinflussen die Kirche und diejenigen, die das Evangelium empfangen. Wo diese Tatsache nicht erkannt wird, wird das Evangelium verraten, und das christliche Leben verarmt. Für uns Evangelikale ist die Zeit gekommen, unsere soziale Verantwortung ernst zu nehmen. Dabei müssen wir auf ein biblisches Fundament bauen, zu welchem eine evangelikale Lehre sowie das konsequent weitergedachte und verwirklichte Beispiel Christi gehören. Das Vorbild Jesu Christi muss in der gefährlichen Situation Lateinamerikas, die von Unterentwicklung, Ungerechtigkeit, Hunger, Gewalt und Verzweiflung gekennzeichnet ist, inkarniert werden. Der Mensch ist nicht in der Lage, das Reich Gottes auf Erden zu bauen. Aber das Handeln der Evangelikalen wird zur Schaffung einer besseren Welt beitragen, die das Reich vorausahnen lässt, für dessen Kommen wir täglich beten. (Escobar 2002, 250–251)

Vereinzelt machten auch im Westen ähnliche Vorstöße von sich reden. 1973 fand in Chicago ein Treffen über die soziale Verantwortung der Evangelikalen statt.3 In der Chicago Declaration of Evangelical Social Concern bekannten sich die Teilnehmer der Vernachlässigung der sozialen Verantwortung schuldig – nicht zuletzt unter dem Eindruck des Vietnamkrieges:

Wir bekennen, dass Gott Liebe verlangt. Wir aber haben die Liebe Gottes denen nicht gezeigt, die unter sozialer Ungerechtigkeit leiden … Wir haben Gottes Gerechtigkeit gegenüber der ungerechten amerikanischen Gesellschaft weder proklamiert noch gezeigt. Obwohl der Herr uns dazu aufruft, die sozialen und wirtschaftlichen Rechte der Armen und der Unterdrückten zu verteidigen, haben wir überwiegend geschwiegen. (Chicago Declaration I 1985 [1973])

Die Chicago-Erklärung war bedeutsam, weil sie einen für westliche Verhältnisse unüblich selbstkritischen Ton anschlug. „Noch nie war der Ruf nach sozialem Engagement in so scharfen Worten laut geworden“ (Berneburg 1997, 69). Dass das Dokument breite Zustimmung fand – unter anderem bei Billy Graham – verdeutlicht die veränderte Atmosphäre unter den Evangelikalen hinsichtlich ihres Weltbezugs. Der Brasilianer Valdir Steuernagel (1988, 131) hält fest, dass seit Berlin nur wenige Jahre vergangen waren, „aber die Evangelikalen waren einen weiten Weg gegangen – von einer zurückhaltenden Zustimmung in Wheaton hinsichtlich der sozialen Verantwortung der Christen … zu einer Art von Evangelisation, die darauf ausgerichtet ist, das ganze Evangelium der ganzen Person zu bringen … wie es in Bogotá zum Ausdruck kam.“

Die Missionstheorie des evangelikalen Mainstreams fußte zu Beginn der 1970er Jahre zwar immer noch auf der traditionellen Begründung von Mt 28. Aber man war sich bewusst, dass Antworten gefunden werden mussten auf die Herausforderungen einer nachkolonialen, globalisierten Welt. Den evangelikalen Missionstheologen stand eine große Aufgabe bevor. Sie mussten biblische Antworten finden auf Herausforderungen, die sich der Mission so noch nie gestellt hatten. In Lausanne begann man sich dieser Aufgabe zu widmen und gab damit Raum für eine der größten missionstheologischen Veränderungen in der modernen Mission.

Lausanne (1974)

Der Weltmissionskongress im schweizerischen Lausanne ist der bedeutendste Missionskongress der modernen evangelikalen Bewegung. Die Evangelikalen waren repräsentativ vertreten. Die Teilnehmer kam je zur Hälfte aus dem Westen und aus der Zwei-Drittel-Welt.

Die Frage der sozialen Verantwortung war von Anfang ein wichtiges Thema. Billy Graham (1974, 55) äußerte in seiner Eröffnungsrede den Wunsch: „Lasst uns freudig in der sozialen Aktion wirken und doch darauf bestehen, dass dies allein noch nicht Evangelisation ist und auch nicht Evangelisation ersetzen kann. Diese Zusammenhänge verunsichern manche Gläubige. Vielleicht kann Lausanne helfen, dieses zu klären.“ Die Lateinamerikaner René Padilla und Samuel Escobar plädierten in ihren Referaten für die Integration der sozialen Aufgabe in den Missionsauftrag – und traten damit ein Bewegung los, die im auf Lausanne folgenden Jahrzehnt zu großen Veränderungen in der evangelikalen Missionstheologie führen sollte.

Trotz der Aufmerksamkeit, die man der sozialen Verantwortung schenkte, erachteten viele der gegen 4000 Teilnehmer diese als zu gering. Aus diesem Empfinden heraus entstand während des Kongresses die „Radical Discipleship Group“, die eine Erklärung mit dem Titel „A Response to Lausanne“ entwarf. In dieser Erklärung wurde ein ganzheitliches Missionsverständnis vorausgesetzt und damit begründet, dass das biblische Heil die gesamte Schöpfung umfasst. Kernforderung der Erklärung waren die Worte: „Wir müssen den Versuch, einen Keil zwischen Evangelisation und soziale Aktion zu treiben, als dämonisch zurückweisen“ (Padilla und Sugden 1985, 9). Der scharfe Ton der Erklärung markierte den Beginn einer teilweise hitzig geführten Debatte, die sich erst ein knappes Jahrzehnt später merklich abkühlen sollte. Die Tatsache, dass die Erklärung während des Kongresses von fast 500 Teilnehmern unterzeichnet wurde zeigt, dass die Frage nach der Einordnung der sozialen Verantwortung in den Missionsauftrag zur Kardinalfrage der Evangelikalen geworden war.

Mit „A Response to Lausanne“ wurde deutlich, dass ein beträchtlicher Teil der Evangelikalen ein Missionsverständnis nach Lausanne mitbrachte, das sich vom evangelikalen Mainstream unterschied. Das Missionsverständnis dieser radikal gesinnten Theologen hatte die ganze Welt mit ihren Nöten im Blickfeld. Es fußte auf der Überzeugung, dass Mission mehr ist als die Rettung einzelner Menschen. Dieses erweiterte Missionsverständnis hatte Anstöße von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, vom Missionsverständnis der Ökumene und von der kontextuellen Theologie aufgenommen.4

Der Vorstoß der Radical Discipleship Group war so beachtlich, dass die soziale und politische Betätigung im Artikel 5 der Lausanner Verpflichtung zur missionarischen Pflicht gezählt wurde. Dieser Umstand setzte manche Vertreter aus dem Westen in Aufruhr. Noch zehn Jahre nach Lausanne klagte der Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus, der Artikel 5 habe den radikalen Evangelikalen Anlass für ein verändertes Missionsverständnis gegeben, das die biblische Lehre von der Erlösung verdunkle. Beyerhaus ging mit dieser Entwicklung scharf ins Gericht und bezeichnete sie als „verräterische Aufgeschlossenheit“ für die kontextuelle Theologie (Beyerhaus 1984, 12–13). In der Zwei-Drittel-Welt und bei radikalen Theologen im Westen wurde die Integration der sozialen Verantwortung in die missionarische Aufgabe hingegen begrüßt. Während die einen das Ergebnis von Lausanne als Anbruch eines neuen Missionszeitalters begrüßten (Costas 1977, 138), befürchteten andere, dass eine Angleichung an die ökumenische Position erfolgen und dies zum Ende der traditionellen Mission führen könnte (Johnston 1984, 20).

Der evangelikalen Bewegung stand nach Lausanne eine Zerreißprobe bevor, die sie bis in die 1980er Jahre hinein beschäftigen sollte. Zunächst aber wurden die Evangelikalen namentlich in Lateinamerika und Afrika vom Ergebnis von Lausanne beflügelt. Für viele war Lausanne „eine sehr wichtige Bestätigung für viele Dienste, welche die Evangelikalen, vor allem in der Zwei-Drittel-Welt, ausgeführt hatten, jedoch zum Teil hatten schweigen müssen, damit man sie nicht missverstand, sie würden die Hingabe an den Auftrag der Evangelisation abschwächen“ (Samuel und Sugden 1999, ix).

Die Lausanner Verpflichtung ist das wichtigste Kongressdokument der modernen evangelikalen Bewegung. Die Tatsache, dass die soziale Verantwortung zur missionarischen Pflicht gezählt wurde, bedeutete für die Evangelikalen in der Zwei-Drittel-Welt eine Legitimation ihres Standpunkts. Die Stimme der marginalisierten Christen aus den ehemals kolonialisierten Ländern war in Lausanne auf offene Ohren gestoßen. Dadurch wurden sie ermutigt, eine eigenständige evangelikale Theologie zu formulieren. Dieser Umstand kann als Meilenstein der Entwicklung einer kontextuellen evangelikalen Theologie gelten.5

Die Wirkung von Lausanne

Es ist nicht erstaunlich, dass die Ergebnisse von Lausanne vor allem in Lateinamerika erfreut zur Kenntnis genommen wurden. Zum einen waren die Beiträge der Lateinamerikaner René Padilla und Samuel Escobar interessiert aufgenommen worden. Zum anderen war Lateinamerika der Kontinent, der unter Anregung der Befreiungstheologie schon vor Lausanne begonnen hatte, eine eigenständige evangelikale Theologie zu entwickeln.

1979 fand in Lima ein Kongress über Evangelisation statt, an dem die Evangelikalen über die evangelistische Aufgabe in ihrem Kontext nachdachten.6 Die Teilnehmer beriefen sich namentlich auf die Lausanner Verpflichtung. So heißt es im Lima Letter, dem Brief, der die Kongressergebnisse den Kirchen zukommen ließ: „Wir bestätigen unser Festhalten an der Erklärung des Ersten Lateinamerikanischen Kongresses über Evangelisation und an der Verpflichtung des internationalen Kongresses über Evangelisation im schweizerischen Lausanne im Juli 1974“ (Lima Letter 1985 [1979], 15).

Auch in Asien zeigte der Geist von Lausanne Wirkung. Hier waren es vor allem der Inder Vinay Samuel und sein britischer Kollege Chris Sugden, die die Evangelikalen Asiens ermutigten, eine authentische asiatische Theologie zu entwickeln (Samuel und Sugden 1980, 50–51). Dass diese Anstiftung erfolgreich war, zeigt die Madras Declaration of Evangelical Social Action India, die an einer Konferenz indischer Evangelikaler verabschiedet wurde.7

In meiner Dissertation habe ich gezeigt, dass in der Madras Deklaration drei Themen als Ausdruck radikaler Theologie in den Vordergrund treten (Hardmeier 2008, 36–37). Erstens wurde in der Madras Deklaration das Eintreten für soziale Gerechtigkeit vom Alten Testament und vom Gesamtwerk Christi her begründet und das Geschehen am Kreuz soziologisch gedeutet. Letzteres bedeutet, dass das Kreuz nicht nur als Heilsgeschehen betrachtet wurde, sondern dass von ihm auch Folgerungen für die sozialen Beziehungen abgeleitet wurden. Zweitens wurde ein klares Bekenntnis zum sozial-politischen Handeln abgelegt und dieses mit der Pflicht des Christen zur Nächstenliebe begründet. Drittens wurden die strukturellen Verwerfungen Indiens beklagt und wurde die Verpflichtung auf sich genommen, sich für gerechte Strukturen einzusetzen. Damit waren wichtige Eckpfeiler eines transformatorischen Missionsverständnisses vordefiniert. In Madras wurde deutlich, dass sich auch in Asien ein evangelikales Segment gebildet hatte, dessen Theologie radikaler Natur war. Es unterschied sich schon wenige Jahre nach Lausanne erheblich von der Theologie der Evangelikalen im Westen.

Von Lausanne gelangten entscheidende Impulse auch nach Afrika. 45 der über 400 afrikanischen Delegierten in Lausanne versammelten sich während der Konferenz zu einem informellen Austausch und begannen mit den Vorbereitungen für einen afrikanischen Folgekongress. Der Lausanner Kongress hatte „die afrikanischen Teilnehmer darin bestärkt, die Evangelisation in Afrika voranzutreiben, aber diesmal durch Afrikaner, auf afrikanische Art und bezogen auf aktuelle Nöte, Fragen und Herausforderungen dieses Kontinents“ (Kapteina 2001, 112).

Die in Lausanne angeregte afrikanische Konferenz fand 1976 als Pan African Christian Leadership Assembly in Nairobi statt. Im Zentrum der Konferenz stand die Suche nach der Bedeutung des Evangeliums für den afrikanischen Kontext. Die Teilnehmer „suchten primär nach Gegenwartsrelevanz der christlichen Verkündigung und konzentrierten sich daher mehr auf die Identitätsthematik des modernen Afrikaners. Sie wollten mit der Übersetzungsaufgabe der Theologie ernst machen und widmeten daher Themen kontextueller Theologie einen weiten Raum … [Es] fand eine erste theologische Einbeziehung der inneren und äußeren Umwelterfahrung des modernen Afrikaners in die Afrikanische Evangelikale Theologie statt“ (Kapteina 2001, 125–126).

Nairobi war für die Evangelikalen Afrikas ein wichtiger Kongress. Er ermöglichte einen konstruktiven Austausch zwischen westlichen, afrikanischen und lateinamerikanischen Evangelikalen und man scheute auch den Dialog mit ökumenischen Theologen nicht. Die Anstiftung zur gesellschaftlichen Relevanz ging in Nairobi und auch bei späteren afrikanischen Kongressen zu wesentlichen Teilen von radikalen Theologen Lateinamerikas aus. Sie regten dazu an, eine auf Transformation ausgerichtete Missionspraxis zu entwickeln. So forderte Orlando Costas an einem der Folgekongresse, der South African Christian Leadership Assembly 1979 im südafrikanischen Pretoria: „Um Christus in unseren jeweiligen Situationen der Unterdrückung zu inkarnieren, muss die Kirche als Ganzes und durch ihre Mitglieder in diese Situationen eintauchen und für ihre Transformation arbeiten, denn Christus kam nicht in die Welt um die Dinge zu belassen wie sie waren, sondern um eine neue Lebensweise zu bringen“ (Adeyemo 1979, 6). Diese Forderung fiel in Afrika und in der Zwei-Drittel-Welt überhaupt auf fruchtbaren Boden.

Der Westen

Im Westen wurde den sozialen und gesellschaftlichen Fragen weniger Aufmerksamkeit geschenkt als in der Zwei-Drittel-Welt. Vor allem aber führten sie zu etlichen Kontroversen, die in den nächsten Jahren die evangelikale Bewegung beschäftigen sollten.

Einer der Auslöser der Kontroverse war die Konsultation über den einfachen Lebensstil in Hoddesdon bei London, die im Jahr 1980 stattfand. Das Treffen wurden von den radikalen Theologen Ronald Sider, Vinay Samuel, Chris Sugden und René Padilla geprägt. Das Resultat des Konsultation, die Londoner Verpflichtung, widerspiegelt den radikalen Einfluss deutlich.8 So heißt es in der Präambel: „Wir sind betroffen von der Ungerechtigkeit der Welt, besorgt um ihre Opfer und tun Buße für unsere Mitschuld.“ Im ersten Absatz über die Schöpfung heißt es: „Gottes Schöpfung ist gekennzeichnet durch reiche Fülle und Mannigfaltigkeit, und er will, dass ihre Güter zum Wohl aller sorgsam verwaltet und geteilt werden. Wir verurteilen deshalb die Zerstörung der Umwelt, die Verschwendungssucht und gewinnsüchtige Vorratshaltung. Wir beklagen das Elend der Armen, die unter den Folgen dieser Übel leiden.“

Die weiteren Absätze sprechen sich für einen einfachen Lebensstil und für konkrete Nächstenliebe aus. Die Beschäftigung mit der sozialen Verantwortung in Lausanne hatte das soziale Gewissen der Evangelikalen im Westen nachhaltig wachgerüttelt. Der massive Reichtum des Westens wurde als Schuld und als missionarische Verpflichtung empfunden. Allerdings gehen ganze Passagen weit über das eigentliche Thema der Konferenz hinaus. In Abschnitt 7 über Gerechtigkeit und Politik heißt es:

Armut und übermäßiger Wohlstand, Militarismus und Rüstungsindustrie und die ungerechte Verteilung von Kapitel, Land und Rohstoffen werden bestimmt von Macht und Ohnmacht. Ohne eine Veränderung der Machtverhältnisse durch strukturellen Wandel können diese Probleme nicht gelöst werden. Die christliche Kirche ist zusammen mit dem ganzen Rest der Gesellschaft unvermeidlich in politisches Geschehen mit einbezogen, welches ja die „Kunst des Zusammenlebens“ ausmacht. Diener Christi müssen Gottes Herrschaft mit ihrem politischen, sozialen und wirtschaftlichen Einsatz und in ihrer Liebe zum Nächsten zum Ausdruck bringen durch ihre Mitarbeit an politischen Prozessen.

Noch nie war im Westen eine Konferenz mit so radikalen Ergebnissen zu Ende gegangen. Entsprechend unterschiedlich waren die Reaktionen auf die Londoner Verpflichtung: „Von den Teilnehmern wurde die Konferenz als historischer Wendepunkt im sozialen Bewusstsein der evangelikalen Bewegung gepriesen. Die Ergebnisse lösten jedoch bei der Leitung der Lausanner Bewegung nicht geringe Bestürzung aus“ (Berneburg 1997, 101). Vor allem der Mangel an Ausgleich zwischen evangelistischem und sozialem Dienst zugunsten des sozial-politischen Engagements stieß auf Ablehnung. Die sozialpolitische Schlagseite der Londoner Verpfichtung und die gegensätzlichen Reaktionen auf das Dokument ließen in der evangelikalen Bewegung eine Kluft in der Frage des Missionsverständnisses zu Tage treten: