Missionale Theologie - Roland Hardmeier - E-Book

Missionale Theologie E-Book

Roland Hardmeier

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Beschreibung

Missionale Theologie ist mit Begriffen wie "Ganzheitlichkeit" und "Gesellschaftsrelevanz" in aller Munde. Doch was ist missionale Theologie? Sie steht für einen theologischen Denkansatz, Mission ganzheitlich zu begreifen. Der Missionswissenschaftler Roland Hardmeier beschreibt in diesem Buch ihre geschichtlichen Meilensteine und theologischen Eckpunkte. Endlich eine umfassende historische Darstellung - dazu noch gut verständlich - der missionalen Theologie!

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Roland Hardmeier

Missionale Theologie

Evangelikale auf dem Wegzur Weltverantwortung

Zu diesem Buch

Missionale Theologie ist mit Schlagworten wie Ganzheitlichkeit und Gesellschaftsrelevanz in aller Munde. Doch was ist missionale Theologie? Aus welchen Quellen speist sie sich? Der Missiologe Roland Hardmeier beschreibt in diesem Buch ihre geschichtlichen Meilensteine und theologischen Eckpunkte.

Insbesondere stellt er die Entwicklung im evangelikalen Bereich dar und berücksichtigt dabei auch Dokumente und Autoren, die bisher auf Deutsch nicht zugänglich waren. Resultat ist eine umfassende und dennoch leicht verständliche historische Darstellung der missionalen Theologie.

„Vielen Dank für dieses Buch, das in die Hand aller gehört, die sich sachlich und engagiert mit dem Thema Missionale Theologie aus der Perspektive eines evangelikalen Autors befassen wollen – ja noch mehr: die an einer missionalen Lebensgestaltung interessiert sind.“

Dr. Bernhard Ott

u. a. Dekan der Akademie für Weltmission, Korntal

Über den Autor

Dr. Roland Hardmeier studierte Biblische Theologie an der Akademie für Weltmission in Korntal und Missiologie an der Universität von Südafrika. Von 1995 bis 2010 war er Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz.

Er ist Autor mehrerer Bücher, selbständiger Dozent und Referent und unterrichtet bei IGW International und anderen Institutionen.

Impressum

Dieses Buch als E-Book: ISBN 978-3-86256-762-1

Dieses Buch in gedruckter Form:ISBN 978-3-86256-061-5, Bestell-Nummer 590 061

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar

Bibelzitate, sofern nicht anders angegeben, wurden der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift entnommen. © 1980 Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart

Hinweis zur Übersetzung englischer Quellen: Bei der Übersetzung von offiziellen englischen Kongressdokumenten ins Deutsche wird in den Fußnoten der Übersetzer angegeben. Sofern nicht anders vermerkt, liegt die Übersetzung aller übrigen englischen Werke, die im Literaturverzeichnis als solche erfasst werden, auch ohne ausdrückliche Namensnennung beim Verfasser.

Lektorat: Roland Nickel, Altdorf/BöblingenUmschlaggestaltung: spoon design, Olaf JohannsonUmschlagbild: © Scorpp/Shutterstock.comSatz: Neufeld Media, Weißenburg in Bayern

© 2015 Neufeld Verlag Schwarzenfeld

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

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Zur Edition IGW

Die Edition IGW wird herausgegeben vom Institut für Gemeindebau und Weltmission (IGW), das angehende Pastoren und Gemeindeleiter sowie kirchliche und diakonische Mitarbeitende in regionalen Schulungszentren in der Schweiz, Deutschland und in Österreich theologisch ausbildet.

Die Edition IGW macht Forschungsergebnisse von Studierenden und Dozierenden bei IGW einer breiten Leserschaft zugänglich und will damit einen Beitrag leisten, der aktuellen gemeindebaulich-missionarischen Herausforderung in Europa zu begegnen.

IGW

Josefstraße 206

CH-8005 Zürich

www.igw.edu

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Buch

Über den Autor

Impressum

Zur Edition IGW

Vorwort von Bernhard Ott

1. Missional – Modewort oder Paradigmenwechsel?

Mission im Wandel

Wo liegt der Unterschied?

Quellen missionaler Theologie

2. Die Missio Dei und die missionstheologische Entwicklung in der ökumenischen Bewegung seit Willingen 1952

2.1Willingen – Mission in der Krise

Die Krise der Mission

Drei Missionsmodelle

Heftiges Ringen

Hartenstein und die Missio Dei

2.2Verhängnisvolle Entwicklungen nach Willingen

Vicedom und der nie eingelöste Scheck

Ein „neues“ Missionsverständnis

2.3Die evangelikale Alternative

Die Wheaton Erklärung 1966

Die Frankfurter Erklärung 1970

Lausanne in Sicht

2.4Ein Gott, der sendet

Gott sendet

Gott liebt

Gott beruft

2.5Mission in Christ‘s Way

Der Vater sendet Jesus

Jesus sendet seine Jünger

Der Heilige Geist befähigt zur Mission

2.6Kopernikanische Wende?

Unterschiedliche Lesarten

Missionales Potenzial

3. Die radikale Anstiftung und die Entwicklung eines ganzheitlichen Missionsverständnisses der Evangelikalen seit Lausanne 1974

3.1Von Berlin bis Chicago – radikales Erwachen

Meilenstein Berlin

Radikales Bogotà

Ein Workshop in Chicago

3.2Lausanne – Geburtsstunde des radikalen Evangelikalismus

Alle Welt soll sein Wort hören

Die Sondererklärung

Die Rolle von John Stott

Die Lausanner Verpflichtung

Lob und Kritik

Alternative und Aufbruch

3.3Der radikale Aufbruch im Jahrzehnt nach Lausanne

Zwei entscheidende Artikel

Ein verändertes Verhältnis zur Ökumene?

Zwei-Drittel-Welt

Und der Westen?

3.4Provokation und Konfrontation in Pattaya

Erneute Sondererklärung

Das Thailand Statement

Der ganze Christus für eine geteilte Welt

Neue Wege suchen

3.5Der geglückte Brückenschlag von Grand Rapids

Der Bericht „Verkündigung und soziale Verantwortung“

Kritik aus der Zwei-Drittel-Welt

Die Bedeutung von Grand Rapids

3.6Mission als Transformation

Track 1 – Die Kirche in ihrem Umfeld

Track 2 – Mission und Coca Cola

Track 3 – Transformation und menschliche Not

Radikale Erfolge

Westliche Besorgnis

Zwei Auffassungen unter einem Dach

3.7Das besorgte Südafrika

Das evangelikale Zeugnis

Auslösende Faktoren

Eine Antwort auf die Krise

Die Evangelische Allianz nimmt Stellung

3.8Manila – Mission im Geist der Inkarnation

Soziale Stimmen

Der Social Concern Track

Das Manila Manifest

Der Platz des Himmlischen Friedens

Zwiespalt und Vielfalt

3.9Beyond Manila – Mission wird integral

Die Oxford Konferenz

Die Weltweite Evangelische Allianz

Das Micah Network

Transformation in Pattaya

Holistic Mission

3.10 Kapstadt – Gott lieben und der Welt dienen

Edinburgh und der Wandel

Die Kapstadt Verpflichtung

Dominante Ethik

Bestätigte Evangelisation

Umfassende Mission

Ein entscheidender Artikel

Bilanz nach 100 Jahren

4. Die Vision einer Missional Church und die Entstehung des Gospel and Our Culture Networks in den 1980er-Jahren

4.1Lesslie Newbigin – Spiritus Rector der Missional Church

Nach Indien und zurück

Den Griechen eine Torheit

Der Riss im Abendland

Newbigin und die Evangelikalen

4.2The Gospel and Our Culture – Entstehung eines Netzwerks

Der Fehdehandschuh Newbigins

Das nordamerikanische Netzwerk

Der Durchbruch des Konzepts

Der Weg in die Postmoderne

4.3David Bosch – Paradigmenwechsel in der Mission

Missionar, Schriftsteller, Professor

Bosch und die Apartheid

Ein Standardwerk

Missionsparadigmen

Bosch, der Brückenbauer

Ein lebendiges Erbe

5. Paradigmenwechsel – Evangelikale auf dem Weg zur Weltverantwortung

5.1Radikale Anstiftungen

Die Armen und Gottes Mission

Kontextuelle Theologie

5.2Das ganze Evangelium

Der ganze Jesus

Ganzheitliche Mission

5.3Die Welt im Fokus

Positiver Realismus

Ein neues Selbstverständnis

5.4Zurück zu den Wurzeln

Die große Wende

Die zentrale Mitte

5.5Paradigmenwechsel

Literaturverzeichnis

Über den Verlag

Vorwort von Bernhard Ott

Wer wissen will, was drin ist, wenn missional draufsteht, muss Roland Hardmeiers Buch Missionale Theologie lesen. Dieses Buch hilft, den heute oft kontrovers diskutierten Begriff „missional“ von seinen historischen Wurzeln her besser zu verstehen und einzuordnen. Wer es gelesen hat, wird allerdings auch wahrnehmen, dass nicht überall missional drin ist, wo missional drauf steht.

Was Roland Hardmeier uns hier vorlegt, hilft, eine oft emotional geführte Diskussion zu versachlichen, indem es Fakten auf den Tisch bringt und damit eine nüchterne Beurteilung ermöglicht. Es ist jedoch nicht ein trockenes Sachbuch, sondern ein engagiertes Plädoyer für ein Missionsverständnis, welches das ganze Evangelium, das ganze Heil, den ganzen Menschen und die ganze Welt in den Blick nehmen will.

Hardmeiers Anliegen ist es, die Entwicklungen einer evangelikalen Missionstheologie hin zu einer missionalen Theologie darzulegen. Das tut er, indem er drei historische Linien dieser Entwicklung nachzeichnet: (a) Die Entwicklung der Missio-Dei-Theologie seit den 1950er-Jahren. (b) Die Entwicklungen der evangelikalen Missionstheologie seit Lausanne 1974 – insbesondere das Ringen um die Integration von Evangelisation und sozialer Verantwortung. (c) Die Wirkung des von Lesslie Newbigin inspirierten Gospel and Our Culture Network sowie der Beitrag des südafrikanischen Missionstheologen David Bosch.

Daraus weist der Autor auf einen Paradigmenwechsel im evangelikalen Missionsverständnis hin, von einer einseitig auf das individuelle und zukünftige Seelenheil ausgerichteten Evangelisation zu einem ganzheitlichen Sendungsbewusstsein der Kirche, die das ganze Heil für den ganzen Menschen und die ganze Welt im Blickfeld hat. Diese Stoßrichtung kommt im Untertitel des Buches zum Ausdruck: Evangelikale auf dem Weg zur Weltverantwortung.

Dabei verfällt Hardmeier nicht naiven und überoptimistischen Weltverbesserungsideologien, welche das volle Heil schon hier und jetzt haben wollen. Hier wird nicht eine heile Welt ohne Eschatologie propagiert. Dieses Buch ruft jedoch Evangelikale auf, „ihre prinzipielle Weltverneinung hinter sich zu lassen und ein positives Verhältnis zur Welt zu entwickeln, ohne die Hoffnung auf den wiederkommenden Herrn und sein Reich preiszugeben“ (Seite 216).

Roland Hardmeiers Buch legt den Grund für eine missionale Theologie. Historische Wurzeln und zentrale Anliegen werden offen gelegt. Bis zu einer umfassenden Theologie aus missionaler Perspektive sind allerdings weitere Schritte nötig, in welchen der missionale Ansatz konsequent in die klassischen Disziplinen und Themen der Theologie hinein weitergeführt wird. Erst dann ist erreicht, was David Bosch mit dem Satz „Von einer Theologie der Mission zu einer missionarischen Theologie“ gefordert hat.

Und noch etwas: Wer Roland Hardmeier kennt, weiß, dass der in diesem Buch dargestellte Paradigmenwechsel in der Missionstheologie auch die eigene Entwicklung des Autors reflektiert. Mit dieser Feststellung wird der sachliche Gehalt des Buches keinesfalls geschmälert. Es ruft uns jedoch in Erinnerung, dass Theologie von Menschen betrieben wird, die selbst unterwegs sind. In diesem Sinn lädt das Buch auch ein, die eigenen Entwicklungen im Missionsverständnis mit den Darstellungen des Autors ins Gespräch zu bringen.

Lieber Roland, vielen Dank für dieses Buch, das in die Hand aller gehört, die sich sachlich und engagiert mit dem Thema Missionale Theologie aus der Perspektive eines evangelikalen Autors befassen wollen – ja noch mehr: die an einer missionalen Lebensgestaltung interessiert sind.

Liestal, 2. Januar 2015

Dr. Bernhard Ott

Dekan der Akademie für Weltmission, Korntal

Studienleiter der Masterprogramme am Theologischen Seminar Bienenberg, Liestal

Vorsitzender der European Evangelical Accrediting Association

1.Missional – Modewort oder Paradigmenwechsel?

Seit einigen Jahren ist der Ausdruck „missional“ in der Theologie in aller Munde – auch in der evangelikalen Welt. Gemeinden geben sich eine missionale Ausrichtung. Theologische Ausbildungsstätten bieten missionale Programme an. Internationale Missionskonferenzen versehen den Auftrag der Kirche mit dem Attribut „missional“.1 In Büchern und Blogs wird eifrig diskutiert. Man spricht von Gesellschaftsrelevanz, der Ganzheitlichkeit des Evangeliums und davon, die Welt mit der Guten Nachricht zu transformieren. Kein Zweifel: Die Evangelikalen haben ihre Weltverantwortung entdeckt.

Die Reaktionen auf diese Entwicklung fallen unterschiedlich aus. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die in der missionalen Theologie einen Paradigmenwechsel erblicken. Sie glauben, dass wir uns in Richtung eines neuen Verständnisses von Kirche und ihrer Aufgabe in der Welt bewegen. Und dass diese neue Richtung notwendige Voraussetzung dafür ist, dass die Kirche in der postmodernen Welt das Evangelium glaubhaft bezeugen kann. Auf der anderen Seite stehen die, welche in der missionalen Theologie eine Gefahr erblicken und dabei auch schon mal von „Irrlehre“ und „antichristlichen Vorzeichen“ sprechen. Sie glauben, dass die eingeschlagene Richtung einer biblischen Grundlage entbehrt und zur Preisgabe des Evangeliums führt.2 Dazwischen gibt es eine „kritische Mitte“, die verschiedene Einsichten der missionalen Diskussion konstruktiv aufnimmt, den Anspruch der Bewegung insgesamt aber für gewagt hält.3 Hier ist man sich nicht sicher, ob „missional“ ein Modewort ist, das kommt und geht, wie viele andere theologische Begriffe in der Vergangenheit.

Mission im Wandel

Die protestantische Mission blickt auf ein Jahrhundert dramatischen Wandels zurück. Die erste ökumenische Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 löste eine enorme missionarische Begeisterung aus. Man ließ sich in die Verantwortung nehmen, das Evangelium in der ganzen Welt zu verkündigen, und sprach von einem „Wendepunkt in der Geschichte“, der „zu den größten Jahren in der Geschichte des Christentums“ führen könnte, wenn sie recht genutzt würden.4 50 Jahre später hatte sich die protestantische Mission zu einem humanistischen Unternehmen gewandelt, in welchem persönliche Evangelisation nur noch eine Randerscheinung war. In einer von Armut und Ungerechtigkeit zerrissenen Welt wollte man nicht mehr bloß das Evangelium verkünden, sondern zu sozialem Wandel und politischer Befreiung beitragen.

Angesichts der liberalen Einflüsse schieden die evangelikalen Kräfte in den 1960er-Jahren aus der ökumenischen Bewegung aus und begannen, eigene Missionskonferenzen abzuhalten. Doch auch hier klopften die Nöte der Gegenwart hartnäckig an die Tür und erzwangen einen Wandel. Das zeigen schon die verwendeten Schlagwörter. In den 1970er-Jahren war die Rede von der „sozialen Verantwortung“. Intensiv wurde darüber diskutiert, welchen Platz diese im Sendungsauftrag der Kirche hat. In den 1980er-Jahren war dann die Rede von der „Transformation der Gesellschaft“, auf welche die Kirche hinwirken sollte. Mit diesem Begriff wurde zum Ausdruck gebracht, dass Christen sich für die Umwandlung (Transformation) der gesellschaftlichen Strukturen engagieren sollten. Aus dieser Diskussion entwickelte sich in den 1990er-Jahren der Gedanke eines „ganzheitlichen Missionsverständnisses“, das auch als „integral“ bezeichnet wird. Es besagt, dass die Kirche die Aufgabe hat, sich sowohl für die Verbreitung des Evangeliums als auch für die Veränderung der Welt einzusetzen. Seit der Jahrtausendwende setzt sich im deutschsprachigen Europa immer mehr der Begriff „missional“ durch. Er wird vor allem in Bezug auf den Gemeindebau verwendet, scheint sich allerdings als Überbegriff für einen ganzheitlichen Sendungsauftrag zu etablieren.

Der Begriff „missional“ stammt aus dem Englischen und bedeutete ursprünglich dasselbe wie „missionarisch“. Älteste Belege gehen bis in das 19. Jahrhundert zurück.5 Nach Reppenhagen wurde der Begriff „missional“ in den 1970er-Jahren zum ersten Mal für die Beschreibung des missionarischen Wesens der Kirche verwendet.6 Reimer führt die heutige Bedeutung des Begriffs auf das Konzept der „Missio Dei“ auf der ökumenischen Weltmissionskonferenz in Willingen (1952) zurück, wo die Kirche von ihrem Wesen her als missionarisch verstanden wurde.7 In den 1980er- und 90er-Jahren begann sich der Begriff als Ausdruck eines Paradigmenwechsels von der sendenden zur gesandten Kirche zu etablieren.8 Schließlich brachte die Veröffentlichung des Buches Missional Church. A Vision for the Sending of the Church in North America (1998) den Durchbruch für den Begriff.

Verschiedene Theologen werden mit dem Begriff „missional“ in Verbindung gebracht. Die meisten Befürworter einer missionalen Theologie nennen als Anreger den britischen Missionar und Missionswissenschaftler Lesslie Newbigin und den südafrikanischen Missiologen David Bosch. Ihr Beitrag zur Entstehung missionalen Denkens werde ich in Teil 4 ausführlich würdigen. Zu nennen wäre auch der nordamerikanische Mennonit John Howard Yoder, dessen Ekklesiologie missional war, bevor der Begriff gebräuchlich wurde, und der die Evangelikalen maßgeblich in Richtung einer missionalen Theologie beeinflusste.9 In Deutschland ist der Missionswissenschaftler und Gemeindegründer Johannes Reimer der profilierteste Vertreter.

Wo liegt der Unterschied?

Was will die missionale Theologie und wofür steht sie? Im Vordergrund der missionalen Diskussion steht die missionarische Aufgabe der Kirche in der Postmoderne: „Die missionale Theologie will Impulse und Denkanstöße für Mission und Evangelisation der Kirche des 21. Jahrhunderts vermitteln. Sie will grundsätzliche Fragen zur Gestalt der Gemeinde in der postmodernen und nachchristlichen Kultur diskutieren.“ 10 Dabei geht es weniger um Gemeindemodelle als um eine Theologie der Kirche und ihres Auftrags: „Die missionale Theologie will keine Modelldiskussion führen, sondern intensiv über die Grundlagen der Kirche der Zukunft nachdenken.“11 Im Zentrum der missionalen Theologie steht der sendende Gott, der sein Volk beruft, missionarische Vertreter seiner Liebe und Herrlichkeit zu sein.12

Gilt eben Gesagtes nicht auch für das traditionelle Attribut „missionarisch“? Scharfe Abgrenzungen zwischen „missionarisch“ und „missional“ erweisen sich als schwierig, da beides damit zu tun hat, das Evangelium den Menschen zu bringen. Allerdings unterscheiden sie sich in der Art und Weise, wie dieser Auftrag verstanden wird. Auf die Gefahr hin, die Unterschiede zu überzeichnen, kann Folgendes gesagt werden:

Mission: Traditionell ist der Begriff „Mission“ ein geografischer Begriff. Mission fand in Übersee unter den nicht christianisierten Völkern statt.13 In der missionalen Theologie ist der Begriff „Mission“ ein Sendungsbegriff. Mission findet überall statt. Die Grenzen zwischen Heimat und Missionsland werden bewusst aufgehoben. Die missionale Theologie hat sich ganz besonders aus dem Bewusstsein entwickelt, dass der säkularisierte Westen Missionsland ist.

Missionsverständnis: Das traditionelle Missionsverständnis evangelikaler Prägung ist individualistischer Natur. Mission besteht in der Herausrettung von einzelnen Menschen aus der Welt. Der missionalen Theologie liegt ein ganzheitliches Missionsverständnis zugrunde. Sie möchte eine Theologie sein, welche die Kirche ausrüstet, den Menschen ganzheitlich, mit ihren geistlichen, leiblichen und seelischen Bedürfnissen, zu dienen.

Kirche: Die missionale Theologie ist eng mit der Ekklesiologie (Lehre von der Kirche) verbunden. Traditionell hat die Kirche eine Mission. Eine Kirche ist missionarisch, wenn sie Missionare aussendet oder die Mission finanziell unterstützt. Mission ist hier eine Tätigkeit der Kirche, ein Arbeitszweig unter anderen. Die missionale Theologie möchte in ihrem Verständnis von Kirche und Mission tiefer greifen. Die Kirche missioniert nicht nur, sie ist mit ihrem gemeinsamen Leben eine Demonstration der Botschaft, die sie verkündigt. Das Losungswort „Kirche ist Mission“ bringt diese Überzeugung treffend zum Ausdruck.

Fokus: Der Unterschied zwischen missional und missionarisch wird zuweilen auch mit Tun und Sein beschrieben. Missionarisch wird mit kirchlichen Handlungsformen in Verbindung gebracht, während missional eine Grundhaltung bezeichnet.

Demnach überschneiden sich „missionarisch“ und „missional“ inhaltlich, weisen aber durchaus eigene Akzente auf, weshalb gilt: Eine missionarische Kirche ist nicht zwingend missional, aber eine missionale Kirche ist immer auch missionarisch.

Zwei Missionsauffassungen

Wenn man das Missional Church Network nach der Bedeutung des Begriffs „missional“ befragt, erhält man einen guten Überblick über die Anliegen der Bewegung. Unter dem Titel „What is missional?“ werden drei Kernanliegen einer missionalen Kirche aufgeführt:

Erstens geht es in der missionalen Kirche um das missionarische Wesen Gottes und der von ihm gesendeten Kirche. Gott ist ein missionarischer Gott, der seine Kirche in die Welt sendet, so wie er selbst heilbringend wirkt.

Zweitens geht es in der missionalen Kirche um „inkarnatorischen Dienst“ in einem nachchristlichen Kontext. Das Modell von Kirche, die Menschen anzieht (attractional model), hat im nachchristlichen Westen seine Wirksamkeit eingebüßt. Die Kirche muss neue Wege wagen, sie muss zu den Menschen gehen und ihnen dienen (incarnational model).

Drittens geht es in der missionalen Kirche darum, Teil zu haben an Gottes Wirken in der Welt. Mission ist nicht ein bloßer Programmpunkt der Kirche, sondern ihr ureigenstes Wesen.14

Quellen missionaler Theologie

Missionale Theologie ist mehr als eine bestimmte Vorstellung, wie Kirche gelebt werden soll. Sie ist weder ein Konzept noch ein Programm, viel mehr eine Bewegung, die sich sauerteigartig über konfessionelle Grenzen hinweg ausbreitet. Sie ist im angelsächsischen Raum stark in Kirchen beheimatet, die der ökumenischen Bewegung nahestehen. In jüngster Zeit hat sie im deutschen Sprachraum auch unter Evangelikalen Fuß gefasst. Hier entsteht eine missionale Theologie evangelikalen Zuschnitts, die Impulse aus der ökumenischen Diskussion aufnimmt, aber auch eigene Quellen hat, aus denen sie sich speist.

Dieses Buch will die Geschichte der missionalen Theologie darstellen, mit besonderer Berücksichtigung ihrer evangelikalen Quellen und Ausprägung. Ich beschreibe einen geschichtlichen Weg auf dem fassbar werden soll, was missionale Theologie ist. Denn: Eine Bewegung versteht man am besten, wenn man mit ihrer Geschichte vertraut ist. Zudem gibt die Geschichte Auskunft über Einflüsse und Anliegen einer Bewegung und schafft Transparenz. Das ist für die missionale Theologie besonders wichtig, weil sie ein überkonfessionelles Phänomen darstellt.

Folgende drei Hauptquellen werde ich beschreiben:

Die erste Hauptquelle ist die Diskussion um den Begriff „Missio Dei“ in der ökumenischen Bewegung. Die entsprechende Diskussion begann an der fünften ökumenischen Weltmissionskonferenz im deutschen Willingen im Jahr 1952 und entwickelte eine beeindruckende Dynamik, obschon der Begriff „missional“ ursprünglich keine Verwendung fand. Missionale Vertreter berufen sich durchweg auf Willingen, um ihre Position zu erklären.

Die zweite Hauptquelle ist die Anstiftung zu einem ganzheitlichen Missionsverständnis in der evangelikalen Bewegung. Diese Anstiftung geht zurück auf den Weltevangelisationskongress im schweizerischen Lausanne im Jahr 1974. Der Begriff „missional“ wurde in Lausanne und in den Folgekonferenzen zwar nicht verwendet, doch das, was sich abzeichnete, wurde immer klarer zu einem umfassenden Sendungsverständnis, wie es die missionale Theologie darstellt. Diese Quelle hat in der Literatur bisher wenig Aufmerksamkeit erhalten, ist für die Entstehung der missionalen Theologie evangelikalen Zuschnitts aber entscheidend. Ich werde ihr besondere Aufmerksamkeit schenken, um so eine Lücke in der jüngeren Missionsgeschichte zu schließen.

Die dritte Hauptquelle ist die Vision einer „Missional Church“ und die Entstehung des Gospel and Our Culture Networks in Nordamerika. Das Netzwerk wurde in den 1980er-Jahren gegründet und hat dem Begriff „missional“ seine heutige Prägung gegeben. Durch die theologischen Beiträge des Netzwerks sowie anderer Netzwerke fand das Konzept der missionalen Kirche weite Verbreitung.

Hauptquellen missionaler Theologie

Aus Platzgründen ist die folgende Darstellung verkürzend. So müsste, um Vollständigkeit zu erreichen, die Emerging Church berücksichtigt werden, denn gerade der Emergent-Dialog im deutschsprachigen Europa und die Diskussion um eine missionale Theologie weisen Parallelen auf, auch wenn sie nicht gleichzusetzen sind. Das aber würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen.15 Auch auf den Beitrag der Pfingstkirchen kann hier nicht eingegangen werden.16 Megakirchen wie die Willow Creek Community Church von Bill Hybels haben in den letzten Jahren ihre soziale Verantwortung entdeckt und rüsten ihre Mitglieder aus, um sich weltweit für Bedürftige einzusetzen. Entwicklungen wie diese müssen ebenfalls unberücksichtigt bleiben. Auch die Vielzahl von Blogs und Internetseiten über missionale Aktionen werde ich nur am Rande berücksichtigen, weil die Fülle des Materials eine eigene Darstellung verlangen würde. Stattdessen werde ich den Schwerpunkt auf die Missionstheologie legen. Von ihr gingen bisher wenig beachtete, aber entscheidende Impulse aus, die zur Entstehung einer missionalen Theologie evangelikaler Prägung geführt haben.

2.Die Missio Dei und die missionstheologische Entwicklung in der ökumenischen Bewegung seit Willingen 1952

Selten hat ein einzelner Begriff so weitreichende Bedeutung für die Missiologie erlangt wie der Begriff „Missio Dei“. Er gilt als gegenwärtig bedeutendster Leitbegriff für ein missionales Verständnis von Kirche. „Wie kein anderer Begriff hat ‚Missio Dei‘ die ökumenische und missionstheologische Diskussion der letzten 50 Jahre geprägt.“ 17 Diese Feststellung trifft in jüngster Zeit auch für die evangelikale Theologie im deutschsprachigen Europa zu. Immer häufiger berufen sich missionale Theologen und Institutionen auf die Missio Dei und benennen sie als ihr Losungswort.

Das Konzept der Missio Dei besagt, dass die Sendung der Kirche in Gottes Wesen und Handeln verankert ist. Der Gott der Bibel offenbart sich als aus sich selbst herausgehender Gott. Er redet, er erschafft, er offenbart sich. Er handelt zum Heil der Menschen und sucht sie zu diesem Zweck, um sie aus ihrer selbst verschuldeten Verlorenheit zu retten. Die christliche Mission hat ihren Ursprung in diesem Heilshandeln Gottes. „Mission ist demzufolge nicht nur eine Aktivität der Kirche, sondern primär eine Aktivität Gottes. Zentrale Mitte der Mission ist nicht die Kirche, sondern Gott selbst. In der Mission ist Gott selbst am Werk.“ 18

Woher stammt der Begriff Missio Dei? Und was vermag er für die Missionstheologie zu leisten? Dieser Teil will eine Antwort auf diese Fragen geben und damit ein zentrales Charakteristikum der missionalen Theologie benennen.

2.1Willingen – Mission in der Krise

Von der missionstheologischen Bedeutung der Missio Dei spricht man seit der ökumenischen Weltmissionskonferenz von Willingen im Jahr 1952. Allerdings wurde der Begriff schon früher verwendet. Das lateinische Wort „missio“ bedeutet „Sendung“ und wurde ursprünglich in der Dogmatik für die sogenannten „innertrinitarischen Sendungsvorgänge“ benutzt. Der Begriff wurde im 4. Jahrhundert n.Chr. vom Kirchenvater Augustin geprägt, um darzustellen, dass der Vater den Sohn sendet und der Sohn und der Vater zusammen den Geist senden.19 Nun wurde diese „innertrinitarische Bewegung“ um eine weitere ergänzt: Vater, Sohn und Geist senden die Kirche in die Welt.20 Dass Gott ein sendender Gott ist, ist kein neuer Gedanke, aber erst in der Folge der Missionskonferenz von Willingen erlangte er missiologische Bedeutung.21

Die Krise der Mission

Die fünfte ökumenische Weltmissionskonferenz fand vom 5. bis 17. Juli 1952 im deutschen Willingen unter dem Thema „Die missionarische Verpflichtung der Kirche“ statt. Das Thema deutet an, dass es angesichts der Herausforderungen der Zeit um eine theologische Besinnung auf die Grundlagen des Missionsauftrags ging.22 Willingen fand in einer Zeit der Krise der Mission statt.23

Es waren insbesondere zwei Umstände, durch welche die großen Umbrüche im Bereich der Mission sichtbar wurden. Zum einen zeichnete sich das Ende der Kolonialepoche mit ihren überragenden missionarischen Erfolgen ab. Die christliche Mission in der Kolonialzeit war außerordentlich erfolgreich gewesen. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden enorme Kräfte für die Mission freigesetzt. Die Kirche breitete sich aus und veränderte nachhaltig das Gesicht von Kulturen, die bis dahin vom christlichen Glauben unberührt waren. Man konnte sich bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eines Gefühls der Überlegenheit der westlichen Kultur mit ihren christlichen Wurzeln kaum erwehren. Dieses Gefühl der Überlegenheit der westlichen Kultur und der mit ihr verbundenen Mission schwand. Die jungen Kirchen in den Missionsländern begannen selbstständig Mission zu treiben und traten den Weg in die theologische Mündigkeit an. Das führte zu einer Motivations- und Zielkrise der Mission.24 War die Rede von der „Kirchenpflanzung“ noch angebracht, wenn es immer mehr selbstständige Kirchen in den Missionsländern gab?

Der Westen verlor an allen Fronten seine dominante Stellung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mochte niemand mehr so recht daran glauben, dass die westliche Zivilisation in der Lage wäre, andere Kulturen positiv zu beeinflussen. Die Folge war neben der genannten Motivations- und Zielkrise eine Glaubwürdigkeitskrise der Mission, die eng mit der westlichen Zivilisation verbunden war. Die „Religion des weißen Mannes“ war durch den Krieg, der von einer „christlichen Nation“ ausging, in Misskredit geraten.25 Damit verschärfte sich die Krise der christlichen Mission, die schon mit dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hatte:

An den Gräueltaten dieses Krieges [des Ersten Weltkrieges] mit seinem maschinellen Massenmorden, den Giftgaseinsätzen und Millionen von Toten zerbrach der Traum westlicher Überlegenheit. Hatte man sich um die Jahrhundertwende noch als die fortschrittlichste Zivilisation betrachtet, gemessen an rationaler Weltdeutung, wissenschaftlichen Erfindungen, wirtschaftlichem Fortschritt, militärischer Vormachtstellung und religiös-weltanschaulich-ethischer Überlegenheit, so wurde diese Sichtweise Lügen gestraft: Das sich selbst als aufgeklärt und rational verstehende Europa hatte sich durch die Grausamkeiten des Weltkrieges gründlich diskreditiert. Die Ära des Imperialismus ging allmählich ihrem Ende entgegen, ein Neuerwachen des Selbstbewusstseins außereuropäischer Kulturen und Religionen setzte ein.26

Die Erschütterung Europas durch die beiden Weltkriege erschütterte auch die Mission und warf Fragen von großer Tragweite auf: „Das Ende der Kolonialreiche und damit das Ende der Epoche der engen Verbindung von europäischer Expansion und Mission zeichnete sich ab. Was bedeutete das für die Mission? Würde sie als Teil des westlichen Imperialismus mit diesem aus den unabhängig werdenden Kolonien ausgeschlossen werden?“ 27

Zum andern wurde die Missionsarbeit durch die weltweite Ausdehnung des Kommunismus infrage gestellt. Nur gerade vier Jahre vor Willingen waren nach der kommunistischen Machtübernahme in China alle christlichen Missionare des Landes verwiesen worden. Osteuropa war unter den kommunistischen Hammer geraten. Die marxistische Ideologie breitete sich in rasend schnellem Tempo über den Globus aus und brachte einen aggressiven Atheismus hervor. Mehr als ein Drittel der Menschheit blieb so für die christliche Mission verschlossen. War die Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 noch vom begeisterten Motto „Das Evangelium der Welt in dieser Generation!“ getragen gewesen, rückte jetzt die Durchdringung der Welt mit dem Evangelium in unbestimmte Ferne.

Drei Missionsmodelle

Die Krise der Mission war in Willingen evident, sodass von einer „Orgie der Selbstkritik“ im Missionsdenken des Westens gesprochen wurde.28 Dass dieses Bewusstsein schon die Konferenzvorbereitungen prägte, zeigte sich am Bericht, den die amerikanische Delegation für Willingen erstellte. Er trug den bezeichnenden Titel „Why Missions?“ Wie konnte unter den genannten Umständen Mission überhaupt noch begründet und durchgeführt werden? Als Antwort auf diese Frage kristallisierten sich in Willingen drei unterschiedliche Missionsmodelle heraus:29

Da war zunächst das heilsgeschichtliche Modell, das vor allem von der deutschen Delegation vertreten wurde. Die Mission steht nach diesem Modell ganz im Zeichen der Eschatologie. Mission kann nur im Blick auf das Ende richtig verstanden werden. Am Ende aber erscheint Gott in der Person seines Sohnes Jesus Christus als Richter, vor dem sich alle Menschen verantworten müssen. Die Mission ist der heilsgeschichtliche Sinn der Zwischenzeit zwischen der Himmelfahrt Christi und seiner Wiederkunft. Bevor sich diese ereignen kann, muss das Evangelium zur Rettung der Menschen verkündigt werden; dann wird das Ende kommen. In diesem Modell spielt die Kirche eine zentrale Rolle: „Die Kirche ist mit ihrer Mission das Werkzeug ihres Herrn bei der Durchführung seines Heilsplans.“ 30

Dem heilsgeschichtlichen stand das verheissungsgeschichtliche Modell gegenüber, das hauptsächlich von den Holländern eingebracht wurde. Für sie war die gegenwärtige Zeit nicht bloß eine Zwischenzeit zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft. Vielmehr ist ihrer Auffassung nach zu betonen, dass mit dem Kommen Jesu das Reich Gottes angebrochen ist. Nicht das kommende Reich, sondern das gegenwärtige Reich steht im Zentrum der Überlegungen. Es geht in der Mission um die Gegenwart des Königreichs Gottes unter den Menschen und um die Anteilhabe der Kirche an diesem Werk. Die Kirche „geht als Werkzeug des Herrn mit den Aposteln hin, das Reich Gottes der Welt anzuzeigen und Zeichen des Schalom Gottes aufzurichten.“ 31 Die Kirche hat also nicht nur durch Verkündigung, sondern ebenso durch die christliche Tat Anteil am Wirken Gottes in der Welt.

Ein trinitarisches Modell vertrat nicht zuletzt die gewichtige nordamerikanische Delegation. Nach diesem Modell ist Gott sowohl der Herr der Kirche als auch der Welt. Um Gottes Handeln in der Kirche und in der Welt zu begründen, wird auf die Trinitätslehre zurückgegriffen. Die missionarische Verpflichtung der Kirche ist in der aus sich herausgehenden Aktivität Gottes begründet, der alle Menschen in seine Gemeinschaft ruft. Die Betonung liegt auf dem Wirken Gottes in der Welt. Im Kommissionsbericht „Why Missions?“ heißt es: „He is not only the Head of the Church but ahead of both the Church and the world, ‚making all things new‘“.32 Die Kirche muss sich, um Anteil an Gottes Wirken zu haben, der Welt zuwenden. Ein Missionsverständnis, das sich mit der Rettung von Seelen begnügt, wird abgelehnt.33 Stattdessen geht es in der Mission, ähnlich wie im verheißungsgeschichtlichen Modell, um die Verwandlung der Welt: „Die Mission der Kirche ist nichts anderes als die dynamische und vollständige Antwort auf die dynamische Aktivität des dreieinigen Gottes im Evangelium und in der gegenwärtigen Situation und zielt auf die Transformation des individuellen wie kulturellen Lebens der Menschen.“ 34

Heftiges Ringen

Die unterschiedlichen Missionsmodelle zeigen, wie breit das missionstheologische Spektrum in Willingen war. Dass diese nicht auf einen einfachen Nenner zu bringen waren und dass damit Spannungen vorprogrammiert waren, liegt auf der Hand. Das von den Amerikanern vertretene Modell war äußerst optimistisch. Es war beeinflusst vom Social Gospel. Dieses ging von der Auffassung aus, dass sich das Heil in der Veränderung sozialer Strukturen zeigt und Demokratisierung und Fortschritt bewirkt.35 Ähnlich optimistisch war das Modell der Holländer. Es sah Gott dort am Werk, wo Fortschritt in der Weltgeschichte sichtbar wurde. Diesen Optimismus konnten die Deutschen nicht teilen. Sie hatten unter dem Nationalsozialismus Adolf Hitlers schmerzhaft erfahren, wie ein politischer Messianismus in die Katastrophe mündete.

Wie sollte der eschatologisch ausgerichtete Ansatz der Deutschen mit den optimistischen Ansätzen der Holländer und der Amerikaner unter ein Dach gebracht werden? Folge dieser kaum überbrückbaren Ansätze war ein heftiges Ringen um die richtige Verhältnisbestimmung der Mission. Sautter beschreibt eindrücklich, wie vor allem um die Bedeutung der Heilsgeschichte in der Mission debattiert wurde.36 Es gelang zwar, wichtige Anliegen des heilsgeschichtlichen Ansatzes aufzunehmen, aber im Grunde genommen hatten der holländische und der amerikanische Ansatz ein Übergewicht geschaffen. Günther fasst das Ringen um eine gemeinsame Sicht so zusammen:

Erst nach mehreren Anläufen gelingt es am Ende der Tagung, diese verschiedenen Begründungen der Mission in einer gemeinsamen Erklärung zusammenzufassen. Es ist ein Kompromiss, in dem diese Ansätze relativ unverbunden nebeneinander gestellt werden. Aber allen Erklärungsmustern ist ein wesentliches Element gemeinsam, nämlich dass die Mission letztlich in Gott selbst ihren Ursprung hat. Er selbst begründet die Mission. Sie ist letztlich Gottes Sache. Es ist sein Heilsplan, bei dem er die Mission der Kirche in der Zwischenzeit als sein Werkzeug benutzt. Es ist sein gegenwärtiges Reich, das die Kirche in ihrem Apostolat der Welt bezeugt. Es ist der dreieinige Gott selbst, der als Schöpfer, Sohn und Heiliger Geist missionarisch auf die Welt zugeht. Mit ihrer Mission reagiert die Kirche (nur) auf dieses Handeln Gottes. Nicht menschliches Wollen begründet also die Mission, nicht die Kirche ist der Träger der Mission, sondern sie geht von Gott selbst aus, die Kirche hat nur Anteil an dieser Mission, die immer Gottes Mission bleibt.37

Entsprechend dieses Ringens um eine gemeinsame Position heißt es in der Abschlusserklärung der Konferenz relativ unkonkret:

Die Missionsbewegung, von der wir Teil sind, hat ihren Ursprung in dem dreieinigen Gott. Aus den Tiefen seiner Liebe zu uns hat der Vater seinen eigenen Sohn gesandt, alle Dinge mit sich zu versöhnen (…) Als dieses Werk vollbracht (…) war, sandte Gott seinen Geist, den Geist Jesu (…) In Christus sind wir erwählt, mit Gott versöhnt durch ihn, zu Gliedern seines Leibes, Teilhabern seines Geistes und durch die Hoffnung auf sein Reich zu Erben gemacht, und durch eben diese Tatsachen sind wir zur vollen Teilnahme an seiner rettenden Sendung bestimmt. Man kann nicht an Christus teilhaben, ohne teilzuhaben an seiner Mission an die Welt. Die gleichen Taten Gottes, aus denen die Kirche ihre Existenz empfängt, sind es auch, die sie zu ihrer Weltmission verpflichten. ‚Wie mich der Vater gesandt hat, also sende ich euch.‘38

In der Erklärung der erweiterten Versammlung des Internationalen Missionsrates vom 19. Juli 1952, der im Anschluss an die Konferenz tagte, heißt es, diesen Faden aufnehmend, prägnant:

Die Berufung der Kirche zur Mission und zur Einheit entspringt aus Gottes eigenem Wesen, wie es uns entgegentritt in der gesamten biblischen Offenbarung über das Werk und den Plan Gottes in Christus.39

Damit war die Mission in Gottes Wesen und mit dem Hinweis auf Joh 20,21 in der Sendung Jesu verankert. Diese doppelte Verankerung der Mission sollte eine beeindruckende Wirkungsgeschichte erfahren. Wesentlichstes Ergebnis von Willingen war die Erkenntnis, dass die Mission ihren Ursprung in Gott selbst hat. Diese Verankerung der Mission im Wesen Gottes hatte zunächst eine befreiende Wirkung. Neu wurde bewusst: Christliche Mission ist Gottes Mission! Gott selbst ist in der Mission am Werk! Das wirkte angesichts des schwindenden Einflusses des Westens und der kommunistischen Drohkulisse wie eine Erlösung.40 So befreiend diese Erkenntnis angesichts der Krise der Mission war – sie konnte nicht über grundsätzliche Differenzen hinwegtäuschen. Man fand nur zu einer gemeinsamen Abschlusserklärung, weil die unterschiedlichen Sichtweisen nebeneinander gestellt wurden. So blieb das Wesen der Mission unscharf. Das sollte sich in den auf Willingen folgenden Jahren als verhängnisvoll erweisen.

Hartenstein und die Missio Dei

Das Konzept der Missio Dei geht, wie wir gesehen haben, auf Willingen zurück. Der Begriff kommt in den Dokumenten der Konferenz allerdings nicht vor und er wurde auch in den Diskussionen während der Konferenz nicht verwendet. Er wurde erst im Nachhinein von Karl Hartenstein, dem württembergischen Prälaten und ehemaligen Direktor der Basler Mission, kreiert, um die Stossrichtung des Missionsverständnisses von Willingen wiederzugeben.41 In den Worten von Hartenstein:

Die Mission ist nicht nur die Bekehrung der Einzelnen, sie ist nicht nur Gehorsam gegen ein Wort des Herrn, sie ist nicht nur Verpflichtung zur Sammlung der Gemeinde, sie ist Anteilhabe an der Sendung des Sohnes, der Missio Dei, mit dem umfassenden Ziel der Aufrichtung der Christusherrschaft über die ganze erlöste Schöpfung.42

Die gehaltvolle Zusammenfassung von Hartenstein gibt das breite Spektrum des Missionsverständnisses von Willingen treffend wieder. Von den Schwächen dieses Umstands war schon die Rede. Und die Stärken? Die Stärken der drei in Willingen vertretenen Modelle kommen einem missionalen Sendungsverständnis sehr nahe. Von Willingen aus lässt sich ohne weiteres eine ganzheitliche Sendungstheologie schmieden: Die Kirche folgt dem aus sich selbst herausgehenden Gott. Sie lässt sich in die Welt senden, um den Menschen die rettende Botschaft von Jesus Christus zu verkünden und Zeichen seines Friedensreiches aufzurichten. Wort und Tat finden auf dieser Grundlage zu einem wirkungsvollen Ganzen. Damit ist Mission als ganzheitliches Geschehen definiert. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass missionale Vertreter in der Diskussion um die Missio Dei einen der auslösenden Faktoren ihrer Theologie erblicken.

Missionsmodelle in Willingen

2.2Verhängnisvolle Entwicklungen nach Willingen

Die Weltmissionskonferenz in Willingen war die Initialzündung für das Konzept der Missio Dei und sollte in den folgenden Jahrzehnten eine beträchtliche missionstheologische Dynamik entwickeln.43

Vicedom und der nie eingelöste Scheck

Der lutherische Missionswissenschaftler Georg F. Vicedom legte mit seinem 1958 veröffentlichen Werk Missio Dei die erste systematische Abhandlung über das Konzept vor und trug damit entscheidend zu dessen Verbreitung bei. Bezug nehmend auf die missionstheologische Situation seiner Zeit sagt Vicedom zur Missio Dei:

Die Weltmissionskonferenz von Willingen 1952 hat den Begriff aufgenommen, um damit in der protestantischen Christenheit die Mission als Handeln des dreieinigen Gottes zu begründen. Er hat seitdem weithin das Denken in der protestantischen Missionstheologie bestimmt. Missio Dei erklärt die Sendung als Gottes eigene Sache, die er in seinem Sohn begonnen hat und die er durch den Heiligen Geist in seiner Kirche fortführt bis zum Ende der Zeit.44

Aus der Tatsache, dass Gott seinen Sohn sendet und diese Sendung durch den Heiligen Geist in der Kirche fortführt, folgert Vicedom:

Damit ist die Mission der Kirche an die Mission Gottes selbst angeschlossen. So steht die Kirche im Dienste Gottes zur Ausbreitung seines Evangeliums. Sie kann nicht Kirche sein, wenn sie nicht an der Sendung seines Sohnes beteiligt ist. Mission wird damit zur Grundfunktion der Kirche.“ 45

Unter dem Begriff „Sendung“ versteht Vicedom alles, was die Kirche zur Vermittlung des Heils zu tun gerufen ist:

Es wäre jedoch eine Verengung der Missio Dei, wollte man den Begriff nur auf die Sendung beziehen. Zu ihr gehört alles, was um der Heilsmitteilung willen getan werden muss und was Gott tut. Berufung, Vorbereitung, Sendung der Arbeiter wie die Durchführung ihrer vielfältigen Dienste sind Verwirklichung der von der Missio bestimmten Liebe Gottes.46

Georg Vicedom und Karl Hartenstein haben wesentlich zur Prägung des Begriffs Missio Dei und zu dessen Verbreitung beigetragen. Insbesondere haben sie die Missio Dei mit der Sendung der Kirche verknüpft und sie in einem heilsgeschichtlichen Ansatz untergebracht. Allerdings haben sie nach Schirrmacher den „wunderbaren Scheck“, den sie ausgestellt haben, nie eingelöst.47 Bei Hartenstein könne das auf die Kürze der von ihm stammenden Texte über die Missio Dei zurückgeführt werden. Vicedom hingegen habe trotz ausführlicher Beschäftigung mit dem Thema exegetische und systematische Ausführungen „über das innertrinitarische Sendungsverhältnis, über die Verbindung von Gott als Gesandtem zum Menschen als Gesandter, über das Verhältnis des Geistes Gottes, der seit Pfingsten Mission betreibt, zum missionalen Handeln der Kirche“ weitgehend vermissen lassen.48

So bleibt nach Willingen und dem Beitrag Vicedoms die Erkenntnis: Die christliche Mission wurzelt im Wesen Gottes, der ein sendender Gott ist. Die Mission der Kirche ist Teilhabe an der Mission Gottes. So wichtig diese Erkenntnis war, so vieldeutig blieb das Konzept seiner Unschärfe wegen.

Ein „neues“ Missionsverständnis

Das Konzept der Missio Dei wurde an den auf Willingen folgenden ökumenischen Weltmissionskonferenzen aufgenommen und weiterentwickelt.49 Allerdings nicht im Sinne Hartensteins, der die Missio Dei eng mit der Missio Ecclesiae verband: „Die Sendung des Sohnes zur Versöhnung des Alls durch die Macht des Geistes ist Grund und Ziel der Mission. Aus der ‚Missio Dei‘ allein kommt die ‚Missio Ecclesiae‘. Damit ist die Mission in den denkbar weitesten Rahmen der Heilsgeschichte und des Heilsplanes Gottes hineingestellt.“ 50 Für Hartenstein und die deutsche Delegation in Willingen gehörte das missionarische Handeln der Kirche untrennbar zur Missio Dei in der Welt.

Nun aber kam es in der ökumenischen Diskussion zu einer einseitigen Weiterentwicklung des an sich so wertvollen Konzepts. In den 1960er-Jahren übernahmen immer mehr ökumenische Theologen den Begriff der Missio Dei im Sinn des holländischen und des amerikanischen Modells.51 Der missionstheologische Fokus richtete sich weg von der Kirche auf das Wirken Gottes in der Welt – ein Umstand, der in der ökumenischen Bewegung nicht nur auf Zustimmung stieß, sondern auch substanzielle Kritik hervorrief.52 Die Mehrheit aber hatte zu einem „neuen“ Missionsverständnis gefunden: An Gottes Mission teilhaben bedeute, in der Welt mit Gott zusammenzuarbeiten. Ziel sei es, Gottes Schalom aufzurichten. Die Rolle der Kirche sei es, „diese Mission zu bezeugen – weil von ihr zu erwarten ist, dass sie weiß, was vor sich geht – und sich ihr anzuschließen, und zwar in dem Sinne, dass sie mit den Bewegungen in der Welt zusammenarbeitet, die den Schalom fördern, sei es nun, dass sie eine christliche Basis haben oder nicht.“ 53

Die Unterscheidung von Heilsgeschichte und Weltgeschichte, die in Willingen auf Drängen der deutschen Delegation noch aufrechterhalten worden war, wurde nun ganz aufgegeben.54 Damit einher ging ein verändertes Heilsverständnis und als Folge davon eine inhaltliche Neuausrichtung der Mission. Das Ziel war jetzt nicht mehr die Aufrichtung der Herrschaft Jesu durch die Verkündigung des Evangeliums, sondern die Herbeiführung des innerweltlichen Schalom durch christliches Handeln. Die Kirche war nicht mehr beauftragt, das Evangelium zu bezeugen und zum Glauben zu rufen, sie war jetzt nur noch Partnerin im Kampf für Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen und politischer Unterdrückung.

Zur vollen Blüte kam dieses veränderte Heilsverständnis an der siebten ökumenischen Weltmissionskonferenz von Bangkok 1973. Das Eintreten für das Heil wurde zum politischen Kampf, durch den der Mensch Anteil habe am Erlösungswerk Gottes in der Welt. Heil bedeute Friede in Vietnam oder Nordirland. Im Bericht der Sektion II „Heil und soziale Gerechtigkeit“ heißt es:

In dem umfassenden Heilsbegriff erkennen wir vier soziale Dimensionen des Erlösungswerkes: 1. Das Heil wirkt im Kampf um wirtschaftliche Gerechtigkeit gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. 2. Das Heil wirkt im Kampf um die Menschenwürde gegen politische Unterdrückung durch Mitmenschen. 3. Das Heil wirkt im Kampf um Solidarität gegen die Entfremdung der Menschen. 4. Das Heil wirkt im Kampf um die Hoffnung gegen die Verzweiflung im Leben des Einzelnen.55

Heil wird hier seiner eschatologischen Dimension beraubt und auf ein zwischenmenschliches Ereignis reduziert. Bangkok führte zu einer Umdeutung des Heilsverständnisses und damit zu einer radikalen Neuorientierung der Mission. Nicht mehr der Glaube an Christus und der Ruf zum Glauben standen im missionarischen Fokus. Es ging jetzt um die Verwirklichung des Heils im Diesseits durch den politischen Kampf. Die Missio Dei war auf Grund gelaufen.

Es kommt nicht von ungefähr, dass der Begriff der Missio Dei als „Containerbegriff“ bezeichnet wird, in den jeder das hineinlesen kann, was er will. So erstaunt es nicht, dass sich in der ökumenischen Missionstheologie das Schlagwort Missio Dei zwischen Willingen und Bangkok von seiner ursprünglichen Bedeutung emanzipierte und seine eigentliche Bedeutung ins Gegenteil verkehrt wurde. Diese Emanzipation hatte eine dreifache Auswirkung:

Erstens wurde mit der Umdeutung des Missio Dei-Begriffs zu einem innerweltlichen Kampfgeschehen die Tür zum Religionspluralismus aufgestoßen. Man war jetzt überzeugt, dass Gott sein Heil in der Welt auch ohne die Kirche wirkt. Gott sei in der Welt befreiend am Werk und bediene sich dazu auch revolutionärer Bewegungen. Gott sei auch in den nicht christlichen Religionen Heil schaffend am Werk. Islam, Hinduismus und Buddhismus seien legitime Heilswege. Verkündigung müsse durch Dialog ersetzt werden.56

Zweitens wurde die Kirche durch die einseitige Fokussierung auf Gottes Wirken in der Welt ihrer missionarischen Bedeutung beschnitten. Wenn Gott für die Mission verantwortlich ist, wenn sie von ihm ausgeht und wenn sie sein Werk ist, dann ist die Kirche nicht für die Missio Dei zuständig und wird dazu auch nicht benötigt. „Eine kirchenorientierte Mission mit dem Ziel einer Einfügung von Menschen in den Leib Christi und der Sammlung der Glaubenden, wie sie noch in der Vergangenheit praktiziert wurde, kann es somit nicht mehr geben.“57

Drittens kam die von den westlichen Ländern angeführte Mission zu einem Stillstand. Angesichts der missionstheologischen Entwicklungen wundert es nicht, dass in Bangkok ein Moratorium (Aufschub) für die Aussendung westlicher Missionare verlangt wurde.58 Die Krise von Willingen führte zum totalen Stillstand von Bangkok. Die Missio Dei hatte keines der drängenden missionstheologischen Probleme lösen können und war selbst zum Problem geworden.

Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten war die Missio Dei ins Gegenteil ihrer ursprünglichen Bedeutung verkehrt worden. Zumindest gilt das für das heilsgeschichtliche Verständnis von Mission, wie es Walter Freytag und Karl Hartenstein in Willingen vertraten. Nur so ist es zu verstehen, dass das Konzept der Missio Dei zur Begründung dafür wurde, die Kirche müsse überhaupt keine Mission mehr treiben.

2.3Die evangelikale Alternative

Man kann von einer Säkularisierung des Missio Dei-Begriffs zwischen Willingen 1952 und Bangkok 1973 reden. Mission wurde als Befreiung und Humanisierung verstanden, nicht mehr als das Angebot der Rechtfertigung durch den Glauben an Christus.59 Diese Veränderung im Missionsverständnis zeigte eine weitere Auswirkung: Die evangelikalen Kräfte schieden aus dem ökumenischen Prozess aus. Zwischen 1966 und 1974 fanden intensive Diskussionen zwischen Evangelikalen und Ökumenikern statt, in der Hoffnung, die sich öffnenden missionstheologischen Differenzen überbrücken zu können – ohne Erfolg.60 Der Bruch zwischen beiden Lagern trat immer sichtbarer zu Tage.61

Die Wheaton Erklärung 1966

Je mehr sich die Ökumeniker einem humanistischen Ziel der Mission verpflichtet fühlten, desto stärker begannen die Evangelikalen, eine Alternative zu entwickeln. Sie wollten das traditionelle Missionsverständnis beibehalten, es gleichzeitig aber mit den Herausforderungen der modernen Welt in Verbindung bringen. Zu diesem Zweck, und um die evangelikal gesinnten Kräfte zu bündeln, begannen sie, eigene Missionskonferenzen abzuhalten.