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Dieses Buch bietet Tiefgang, Trost und Weitblick. Der Autor geht der Frage nach dem Leid sowohl in verschiedenen Weltanschauungen als auch in der Bibel nach und stellt die einzigartige Antwort des christlichen Glaubens dar. Durch die ehrliche Auseinandersetzung mit eigenem und fremdem Leid entsteht eine Sicht, die Mut macht, mit Schmerzen zu leben und dennoch Ja zum Leben zu sagen.
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Seitenzahl: 508
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Roland HardmeierDu bist da in meinem Schmerz
www.fontis-verlag.com
Meiner FrauElisabeth Hardmeier-Gurtnerin Dankbarkeit
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Der Fontis-Verlag wird von 2021 bis 2024vom Schweizer Bundesamt für Kultur unterstützt.
© 2023 by Fontis-Verlag Basel
Die Bibelzitate stammen zum Großteil aus:Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift 1980 und 2016. In wenigen Fällen aus: Gute Nachricht Bibel 2018, «Hoffnung für alle» (2015) oder Lutherbibel 2017.
Umschlag: CaroGraphics, Carolin Horbank, LeipzigBild Umschlag: Blue Planet Studio – stock.adobe.com E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Stefan Jäger
ISBN (EPUB) 978-3-03848-710-4
Bevor wir loslegen: Die Dame in Schwarz
Teil I: Das unlösbare Rätsel
Kapitel 1: Das Problem des Bösen
Kapitel 2: Die Antwort der Religionen
Kapitel 3: Was geschieht mit uns, wenn wir leiden?
Teil II: Freunde auf dem Weg
Kapitel 4: Wenn Gott wettet
Kapitel 5: Der mit den Pferden läuft
Kapitel 6: Wüstenerfahrungen
Kapitel 7: Durch Schwachheit zur Stärke
Kapitel 8: Von Gott verlassen
Kapitel 9: Ein Opfer verändert die Welt
Teil III: Tanzen mit dem Wind
Kapitel 10: Beten aus der Tiefe des Herzens
Kapitel 11: Dem verborgenen Gott vertrauen
Kapitel 12: Gerechtigkeit wird dann sein
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Es liegt mehr als zehn Jahre zurück, aber ich kann mich noch gut erinnern: Ich sitze in einem Zimmer, das breit genug ist, dass ein Bett, ein Schrank und am Fenster ein Tisch Platz haben. Ein Freund hat mich eine Stunde zuvor am Eingang der Klinik abgesetzt, weil ich physisch und psychisch zusammengebrochen war.
«Da bin ich also», ging es mir durch den Kopf, «ein gestrandeter Pastor und Dozent. Einer, der anderen half bis zum Umfallen und jetzt selbst Hilfe braucht.» Ich glaubte damals, schnell zu Kräften zu kommen und in meinen Dienst als Pastor zurückzukehren. In Wahrheit stand ich in den Ruinen meines Lebens. Ich konnte nicht wissen, dass Aufenthalte in weiteren Kliniken folgen sollten und ich weder meinen Job noch meine Gesundheit wiederbekommen würde. Seither sind chronische Migräne meines vestibulären Systems, Schwindel, Schlafstörungen, Erschöpfung und Arbeitseinschränkungen meine täglichen Begleiter.
Manchmal fühlt es sich an, als würde das, was ich glaube, unter dem Druck des Leidens wegbrechen. Trotzdem bin ich gehalten. Ich bin manchmal am Boden, aber nicht am Ende, manchmal verzweifelt, aber nie verlassen. Etwas hat sich in den Jahren des Leidens fast unbemerkt meiner bemächtigt: die Gewissheit, dass der lebendige Gott da ist in meinem Schmerz. Von dieser Hoffnung handelt dieses Buch.
Vor einigen Jahren erkrankte Alexandra, eine Mutter mit drei schulpflichtigen Kindern aus unserer Kirche, an Krebs. Sie kämpfte tapfer und war voller Glauben. Als es ihr besser ging, fragte sie mich, ob ich ihr helfen würde, ein Buch über ihre Erfahrung zu schreiben. Doch dann verschlechterte sich ihr Zustand. Der letzte Kontakt, an den ich mich erinnere, fand statt, als ich in einer Klinik auf Epilepsie untersucht wurde. An einem Ende der Leitung ich, völlig erschöpft wegen Schlafentzug, mit einem Dutzend Elektroden auf meinem Kopf, die fast wie Rasta-Locken aussahen. Am anderen Ende Alexandra auf einer Krankenstation mit Schmerzen und schwächer werdender Stimme. Da waren wir beide, gebeutelt vom Leben, aber gehalten vom Lebendigen. Weil es solche Erfahrungen gibt, schreibe ich dieses Buch.
Leiden ist wie eine Dame in Schwarz, die uns zu Tisch bittet. So etwa hat es der berühmte Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung ausgedrückt. Wenn die Dame in Schwarz auftrete, empfehle es sich, sie nicht wegzuschicken, sondern als Gast zu Tisch zu bitten und zu hören, was sie zu sagen habe.
Meine eigene Schmerzerfahrung und die vieler Leidender haben mich gelehrt, dass die Dame in Schwarz viel zu sagen hat. Im Schmerz leiden wir an der Verborgenheit Gottes, bis wir entdecken, dass Verborgenheit nicht dasselbe ist wie Abwesenheit. Gott ist ein verborgener Gott (Jesaja 45,15), aber er ist niemals ein Gott, der nicht da ist. Vielleicht erfahren Leidende die Gegenwart Gottes am intensivsten und hören sein Reden am klarsten.
Leiden wirft aber zuerst einmal Fragen auf. Warum gibt es so viel Schmerz auf der Welt? Diese Frage ist mehr als ein philosophisches Gedankenspiel. Es ist keine Ausrede leidensscheuer Menschen. Es ist die Frage aller Fragen. Sie beschäftigt alle Menschen, ob Christen, Muslime, Hindus oder Atheisten. Warum ist die Welt voller Übel? Warum gibt es Krieg? Warum sterben Mütter an Krebs? Alexandra starb wenige Wochen nach unserem Gespräch. Gott, wo warst du an jenem Tag im September, als Alexandra starb?
In diesem Buch stelle ich mich diesen Fragen. Nicht mit stoischer Ruhe, sondern ehrlich, schonungslos und eruptiv. Kein Schmerz kann überwunden werden, wenn man wegschaut, sondern nur, wenn man ihm ins Angesicht blickt. Diesem schwierigen Themenfeld dient der erste Teil «Das unlösbare Rätsel». In ihm gehe ich der Frage nach, warum das Böse in der Welt existiert. Ich untersuche, wie in der Philosophie, den Religionen und im Atheismus das Problem des Bösen behandelt wird und welche inneren Prozesse Leidende durchmachen. Ich werde Ihnen in diesem Teil mehr über meine Leidensgeschichte erzählen, durch die ich gelernt habe, dass die Ruinen unseres Lebens den Blick zum Himmel freigeben.
Der zweite Teil, «Freunde auf dem Weg», geht Menschen in der Bibel nach, die gelitten und in ihrem Leiden erfahren haben, dass Gott wirkt. Sie sind uns zur Seite gestellt wie Freunde, die uns begleiten. Zu diesen Menschen gehören Leute wie Hiob, der erwählte Leidende im Alten Testament, und David mit seinen Wüstenerfahrungen. Am Leiden dieser und anderer biblischen Figuren habe ich gelernt, dass die meisten Leiden keine Strafe für gestern, sondern Vorbereitung für morgen sind. Diese Erkenntnis hat mich durch viele dunkle Täler begleitet. Sie hat das Potenzial, unseren Blick auf das Leiden völlig zu verändern und in den Widerwärtigkeiten des Lebens Gott zu entdecken, der beständig am Werk ist. Die Reise dieses Teils endet am Kreuz, wo Gott selbst unser Leiden teilt und durch das Opfer seines Sohnes die Welt verändert.
Der dritte Teil, «Tanzen mit dem Wind», befasst sich mit der Frage, wie wir Leiden aushalten und wachsen können. Glaube entsteht nicht, wenn wir uns ducken und dem Leid aus dem Weg gehen. Unser Glaube wächst und wir steigen zu unserer wahren Größe empor, wenn wir Gott im Leiden vertrauen. Kernstück dieses Teils ist das Beten aus der Tiefe des Herzens. Wir lernen das schonungslos ehrliche Beten der Psalmen, das sich bis zur Anklage steigern kann, als einen Akt des Glaubens kennen. Gott liebt unsere Gebete, die aus der Tiefe unseres Herzens kommen, und nimmt sie an.
Das abschließende Kapitel richtet den Blick auf die neue Schöpfung, von der die Bibel in kräftigen Bildern spricht. Der Blick auf das Jenseits ist mehr als ein Trostpflaster. Leid ist wie ein transzendentes Gerücht über eine andere Welt, um es mit Philip Yancey zu sagen.1 Die Erwartung einer Zeit ohne Tränen erfüllt uns mit einer vibrierenden Hoffnung und hilft uns, das Leiden zu tragen, das vorübergehend ist.
Wenn Leidende im Schmerz nicht zerbrechen, sondern mit dem Wind tanzen, sind sie nicht allein, sondern haben Freunde. Ich wüsste nicht, was mit mir wäre ohne Liebe, Freunde und Gebete.
Danken will ich zuerst meiner Frau Elisabeth. Du bist das Beste, was ich auf Erden habe. Du hast in guten und bösen Tagen Wort gehalten. Mitten in den dunkelsten Zeiten haben wir in den Bergen unsere silberne Hochzeit gefeiert. Wir haben ein Chalet in Wengen gemietet, am Fuße von Eiger, Mönch und Jungfrau, wo im Winter die berühmten Lauberhorn-Skirennen stattfinden. Dort hatten wir uns, noch keine zwanzig Jahre alt, ineinander verliebt. In den vielen Jahren seit jenem wunderbaren Winter sind manche unserer Träume an meiner Gesundheit zerschellt. Unsere Ehe hat mein fragmentiertes Leben zusammengehalten.
Danken will ich auch meiner Familie, meinen Eltern, meinen fünf Geschwistern, meinen Freunden, unseren Betern und Menschen wie Alexandra. Menschen, die ihr Leid mit Würde tragen und nicht bitter werden, strahlen Schönheit aus. Ich habe in dieser Schönheit die Herrlichkeit Gottes gesehen.
Danke auch meinen Begleitern in diesem Herzensprojekt. Ihr habt das Manuskript gelesen, wertvolle Hinweise gegeben, unzählige Korrekturen getippt, bei einem guten Essen in einer gemütlichen Stube oder einem Latte macchiato bei der Italienerin mit mir über das Leiden und den Glauben reflektiert. Euch gehört mein besonderer Dank: Stefan und Jacqueline Ochs, Corinne und André Meier, Hans und Maja Toniolo, Stefan Hardmeier, Michael Girgis, Silvana Möhl, Hanspeter Schmutz, Ernst Gassmann und Peter Henning. C.S. Lewis schreibt in einem Essay über die Liebe, dass die Menschheit die Freundschaft biologisch betrachtet nicht brauche. Freundschaft besitze keinen Wert für den Lebenskampf, aber sie gehöre zu jenen Dingen, die das Leben lebenswert machen. Ihr seid der Beweis dafür, dass Lewis recht hat.
Leiden ist ein unlösbares Rätsel, mit dem sich alle Menschen in allen Religionen und Kulturen beschäftigen. Die Bibel ist nicht nur ein Buch über Gott und den Glauben, sondern auch über das Leiden. Sie spricht häufiger über das Leiden als jedes andere Werk der Weltliteratur. Ihre Antworten greifen tiefer, weil sie ein Buch ist, das im Leiden geboren wurde.
Wenn man sich mit dem Leiden beschäftigt und keine oberflächlichen Antworten will, muss man sich mit dem Bösen in der Welt befassen. Das Böse ist ein Problem, das sich nicht kleinreden lässt. Es betrifft ausnahmslos jeden Menschen auf dieser Erde. Solange uns kein Leid bedroht und keine Krankheit aus der Bahn wirft, ist dieses Problem möglicherweise klein oder theoretischer Natur. Das ist anders, wenn die Diagnose des Arztes unser Leben mit einem Schlag verändert oder jemand, der uns nahesteht, das Opfer eines Verbrechens wird.
Das Problem des Bösen wirft früher oder später die Frage nach Gott auf. Keiner der großen Denker, die sich mit dem Leiden befasst haben, hat dieser Frage ausweichen können. Dabei war es ganz unerheblich, was für eine Weltanschauung diese Leute hatten. Der Philosoph Bertrand Russell (1872–1970) fragte einmal: «Stellen Sie sich vor, Sie wären allmächtig und könnten in das Weltgeschehen eingreifen. Würde die Welt dann nicht anders aussehen?» Für Russell, der Atheist war, war die Welt nicht gut genug, um an Gott zu glauben:
«[Es] ist höchst erstaunlich, dass Menschen glauben können, diese Welt mit allem, was sich darin befindet, und mit all ihren Fehlern sei das Beste, was Allmacht und Allwissenheit in Millionen von Jahren erschaffen konnten. Ich kann das wirklich nicht glauben. Meinen Sie, wenn Ihnen Allmacht und Allwissenheit und dazu Jahrmillionen gegeben wären, um Ihre Welt zu vervollkommnen, dass Sie dann nichts Besseres als den Ku-Klux-Klan oder die Faschisten hervorbringen würden?»2
Das von Russell vorgebrachte Argument wird vom Protest-Atheismus häufig verwendet. Es stellt ein echtes Problem dar, weil es die Frage nach Gottes Güte und Allmacht aufwirft. Es ist ein Argument, das seinen Ursprung im Denken des 19. Jahrhunderts hat, dem Jahrhundert der großen Religionskritik, in welcher Karl Marx die Religion als «das Opium des Volkes» bezeichnete und Sigmund Freud die Religion wie eine Krankheit untersuchte.
Die Rolle der Religion hat sich in den vergangenen hundert Jahren verändert. Früher war die Religion für viele Menschen gleichbedeutend mit Trost und Hoffnung. Sie war Sinnstifterin, und sie wurde als hilfreich empfunden, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. Heute ist die Religion selbst zum Problem geworden. Viele Menschen glauben, dass die Welt ohne Religion besser wäre. Wäre die Politik nicht menschlicher, wenn im Iran keine islamischen Geistlichen an der Macht wären? Wäre die Gesellschaft nicht freier, wenn die Religion nicht Jahrhunderte lang die Unterdrückung von Frauen legitimiert hätte? Alle diese Fragen münden in die große Frage ein: Wenn es Gott gibt, warum lässt er das Übel in der Welt zu? Warum löst Gott das Problem des Bösen nicht, wenn er doch allmächtig ist?
Die meisten Menschen würden die Frage von Bertrand Russell vermutlich mit Ja beantworten. Wenn sie allmächtig wären, würden sie verhindern, dass Frauen vergewaltigt und Kinder Opfer von Verbrechen werden.
Die Frage, warum Gott das nicht tut, ist keine Ausrede von Menschen, die einfach nicht an Gott glauben wollen. Es ist die eine große Frage, welche die ganze Welt bewegt.
Seit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) wird von dieser Frage als der «Theodizee» gesprochen. Es handelt sich um ein Kunstwort, das sich aus den griechischen Wörtern «theos» (Gott) und «dike» (Gerechtigkeit) zusammensetzt. In der philosophischen Diskussion wird unter diesem Begriff das Problem der Güte Gottes angesichts des Übels in der Welt diskutiert.
Das Theodizee-Problem wird von zwei Seiten angegangen: Es wird sowohl in Bezug auf Gott selbst als auch in Bezug auf den Glauben an ihn erörtert.3
Auf der einen Seite geht es um die Rechtfertigung Gottes vor dem Tribunal der menschlichen Vernunft. Wie kann Gott wirklich Gott sein, wenn er das Übel in der Welt zulässt? Kann ein Gott, der Übel nicht verhindert, gerecht sein?
Auf der anderen Seite geht es beim Theodizee-Problem um die Rechtfertigung des Glaubens. Christen glauben an Gottes Allmacht, aber Gott benutzt sie offenbar nicht, um das Übel aus der Welt zu schaffen. Wie kann man den Glauben an einen allmächtigen Gott angesichts einer Welt voller Leid rechtfertigen?
Die Tatsache des Übels in der Welt wirft die Frage auf, ob es nicht unmoralisch ist, einen solchen Gott anzubeten. Jürgen Moltmann spricht von einer offenen Wunde:
«In dieser Welt kann keiner die Theodizeefrage beantworten und niemand sie abschaffen. Leben in dieser Welt heißt mit dieser offenen Frage zu existieren […] Die Theodizeefrage ist keine Frage, die man wie andere Fragen stellen oder nicht stellen kann, sondern die offene Wunde des Lebens in dieser Welt. Die wirkliche Aufgabe des Glaubens und der Theologie ist es, das Überleben mit dieser offenen Wunde zu ermöglichen.»4
Die offene Wunde des Lebens ist nirgends schmerzhafter ins menschliche Bewusstsein getreten als im Holocaust. Zwischen 1933 und 1945 brachten die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler sechs Millionen Juden, Sinti, Roma, Behinderte, Homosexuelle und politisch Andersdenkende um. Zu den erschütterndsten Zeugnissen dieser dunklen Periode gehört das autobiografische Buch «Die Nacht» des jüdischen Schriftstellers Elie Wiesel.
Wiesel wuchs als gläubiger Jude im ungarischen Siebenbürgen auf, besuchte die Synagoge und studierte die Tora. Im Alter von fünfzehn Jahren wurde er mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester Tzipora nach Auschwitz deportiert. Während seine Mutter und seine Schwester ermordet wurden, blieben Elie und sein Vater Schlomo die ganze Zeit im Arbeitslager zusammen.
Als die Gefangenen in Auschwitz ankamen und die Gaskammern sahen, begannen viele das Totengebet Kaddisch aufzusagen. Elie hörte, wie sein Vater vor sich hin murmelte: «Sein Name sei erhöht und geheiligt», als der Rauch von verbranntem Menschenfleisch in den Himmel stieg. Das war für den jungen Eliezer unerträglich. «Zum ersten Mal fühlte ich Aufruhr in mir aufwallen. Warum sollte ich Seinen Namen heiligen? Der Ewige, der König der Welt, der allmächtige und furchtbare Ewige schwieg, wofür sollte ich ihm danken?»5 Die erste Nacht im Konzentrationslager war die schlimmste:
«Nie werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat. Nie werde ich diesen Rauch vergessen. Nie werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufstiegen. Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten. Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat. Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen. Nie werde ich das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie.»6
Am nächsten Tag hatte Elie das bleierne Gefühl, er hätte aufgehört, ein Mensch zu sein:
«Die Nacht war vorüber. Der Morgenstern glitzerte am Himmel. Auch ich war ein völlig anderer Mensch geworden. Der Talmud-Schüler, das Kind, das ich einst gewesen, war in den Flammen untergegangen, und es blieb nur noch eine Hülle übrig, die mir ähnelte. Eine schwarze Flamme hatte meine Seele durchzüngelt und sie verzehrt.»7
Zusammen mit seinem kranken Vater überlebte Elie die Todesmärsche im Winter 1945 nach Buchenwald. Dort wurde Schlomo Wiesel drei Monate vor der Befreiung auf seiner Pritsche von einem SS-Mann erschlagen, als er sich schon nicht mehr rühren konnte. Elie lag auf der Pritsche über seinem Vater, unfähig, sich zu bewegen oder ihm zu Hilfe zu eilen oder nur schon ihm zu antworten. Er erinnert sich:
«Nun röchelte mein Vater, und ich hörte meinen Namen: ‹Eliezer›. Ich sah ihn noch stoßweise atmen und rührte mich nicht. Als ich nach dem Appell von meiner Pritsche stieg, konnte ich noch seine Lippen murmeln sehen. Über ihn gebeugt, betrachtete ich ihn eine gute Stunde lang, um sein blutüberströmtes Gesicht, seinen zerschmetterten Schädel im Gedächtnis zu bewahren. Dann war Nachtruhe, und ich kletterte auf meine Pritsche über meinem Vater, der noch immer lebte. Es war der 28. Januar 1945.Am 29. Januar erwachte ich im Morgengrauen. Anstelle meines Vaters lag ein anderer Kranker auf der Pritsche unter mir. Vermutlich hatte man ihn vor Tagesanbruch in die Gaskammer gebracht. Vielleicht atmete er noch. Es wurden keine Gebete über seinem Grab gesprochen, zu seinem Andenken wurde keine Kerze entzündet. Sein letztes Wort war mein Name gewesen. Ein Ruf, den ich nicht beantwortet hatte.»8
Am 10. April 1945 wurde Buchenwald von amerikanischen Truppen befreit. Elie Wiesel überlebte eine schwere Vergiftung, nachdem er zwei Wochen zwischen Leben und Tod schwebte. Als er wieder aufstehen konnte, wollte er sich im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand betrachten. Er hatte sich seit seiner Deportation nach Auschwitz nicht mehr gesehen.
«Aus dem Spiegel blickte mich ein Leichnam an. Sein Blick verlässt mich nicht mehr.»9
Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs werfen die Frage auf, wie man angesichts des Holocaust noch an Gott glauben kann. Das Erleben des jungen Elie Wiesel bringt das Dilemma in seiner ganzen Schärfe ins Bewusstsein. In den ersten Wochen nach der Ankunft im Lager sprach abends auf den Pritschen manch einer von Gott und seinen geheimnisvollen Wegen, von den Sünden des jüdischen Volkes und von der zukünftigen Erlösung. In Elie kamen erste Zweifel auf. «Ich leugnete zwar nicht Gottes Existenz, zweifelte aber an seiner unbedingten Gerechtigkeit.»10
Elies Glaube wurde erschüttert, als das ganze Lager einer besonders schrecklichen Hinrichtung beiwohnen musste. Während normalerweise Erwachsene für irgendwelche Vergehen gehängt wurden, wurde nach einem vermuteten Sabotageakt zusammen mit zwei Erwachsenen ein Kind, ein sogenannter «Pipel», zum Tod verurteilt. Als die Kolonne am Ende des Tages von der Arbeit zurückkam, sahen sie auf dem Appellplatz drei Galgen. «Antreten!» Als der Lagerchef das Urteil verlas, waren alle Augen auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biss sich auf die Lippen. Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf die Stühle. «Es lebe die Freiheit!», riefen die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg. Hinter Elie fragte eine Stimme: «Wo ist Gott, wo ist er?»
Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. «Mützen ab!» brüllte der Lagerchef mit heiserer Stimme. «Mützen auf!»
Dann mussten die Gefangenen an den Gehängten vorbeimarschieren. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr, ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus. Der Knabe lebte noch. Mehr als eine halbe Stunde hing er vor den Augen der Gefangenen, die ihm ins Gesicht sehen mussten. Er lebte noch, als Elie an ihm vorüberschritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen.
Hinter Elie fragte derselbe Mann: «Wo ist Gott?» Elie hörte eine Stimme in sich antworten: «Wo er ist? Dort hängt er am Galgen.»11
Die Feier des jüdischen Neujahrsfests Rosch Haschana wurde für Elie unerträglich. Als die Nacht hereinbrach, versammelten sich auf dem Appellplatz Tausende, um nach dem Gebet dicke Suppe zu essen und den Ewigen zu preisen. Halbverhungerte mit schmerzverzerrten Gesichtern. Elies Geist war in Aufruhr:
«Wer bist du, mein Gott, dachte ich zornig, verglichen mit dieser schmerzerfüllten Menge, die dir ihren Glauben, ihren Zorn, ihren Aufruhr zuschreit? Was bedeutete deine Größe, Herr der Welt, angesichts all dieser Schwäche, angesichts dieses Verfalls und dieser Fäulnis? Warum noch ihre kranken Seelen, ihre siechen Körper heimsuchen?»12
«Lobet den Ewigen, gepriesen sei der Name des Ewigen!» Tausende von Lippen wiederholten die Lobpreisung wie im Sturm gebeugte Bäume. Elie betete nicht mehr, er klagte Gott an:
«Warum, warum soll ich ihn preisen? Jede Faser meines Wesens sträubte sich dagegen. Nur weil er Tausende seiner Kinder in Gräben verbrennen ließ? Nur weil er sechs Gaskammern Tag und Nacht, Sabbat und Festtag arbeiten ließ? Nur weil er in seiner Allmacht Auschwitz, Birkenau, Buna und so viele andere Todesfabriken geschaffen hat? Wie soll ich zu ihm sagen: ‹Gepriesen seist du, Ewiger, König der Welt, der du uns unter den Völkern erwählt hast, damit wir Tag und Nacht gefoltert werden, unsere Väter, unsere Mütter, unsere Brüder in den Gaskammern verenden sehen? Gelobt sei dein heiliger Name, du, der du uns auserwählt hast, um auf deinem Altar geschlachtet zu werden?›»13
Elie fühlte sich allein auf der Welt, ohne Gott, ohne Mitleid, ohne Liebe. An diesem Abend von Rosch Haschana fühlte er sich inmitten der jüdischen Gemeinde als ein fremder Beobachter.14
Elie war noch keine zwanzig Jahre alt und hatte in Auschwitz gesehen, wie Tausende in die Gaskammern gingen, wie sie sich in den elektrischen Stacheldraht warfen, um nicht mehr leiden zu müssen, wie sie einander für ein Stück Schimmelbrot umbrachten, wie sie gedemütigt, erhängt, erschossen und verbrannt wurden.
Was soll man angesichts dieses unvorstellbaren Ausmaßes an Leid sagen? Vielleicht ist es das Beste, zu schweigen, so wie Hiobs Freunde keinen Schaden anrichteten, als sie schwiegen, und es dann doch nicht lassen konnten und durch ihr Reden Hiobs Leiden noch verschlimmerten. Wer kann es einem jungen Mann verdenken, dass er seinen Glauben zwischen Gaskammern und Gräbern verlor? Wer versteht nicht die Verzweiflung? Den Aufruhr?
Der berühmte französische Schriftsteller François Mauriac tat, was Hiobs Freunde nicht vermochten: Er schwieg und hörte zu, als Elie Wiesel ihm gegenübersaß und seine Geschichte erzählte. Mauriac berichtet im Vorwort von Wiesels Bestseller, wie die Begegnung mit Elie Wiesel endete, der damals als junger Journalist für eine Zeitung in Tel Aviv arbeitete und ihn aufsuchte:
«Was konnte ich, der ich glaube, dass Gott die Liebe ist, meinem jungen Gesprächspartner antworten, dessen blaue Augen den Widerschein der Trauer jenes Engels bewahren, die eines Tages in den Gesichtszügen des gehängten Knaben erschienen war? Was habe ich ihm gesagt? Habe ich ihm von jenem Israeliten gesprochen, von dem Bruder, der ihm vielleicht glich, von jenem Gekreuzigten, dessen Kreuz die Welt besiegt hat? Habe ich ihm bestätigt, dass das, was für ihn ein Stein des Anstoßes wurde, für mich der Eckstein geworden ist und dass die Übereinstimmung zwischen dem Kreuz und dem Leiden der Menschen in meinen Augen der Schlüssel zu dem unergründlichen Geheimnis bleibt, in dem sein Kinderglauben verlorengegangen ist? Dennoch ist Zion aus den Gaskammern und Beinhäusern wieder erstanden. Das jüdische Volk ist aus seinen Millionen von Toten auferstanden. Durch sie lebt es von neuem. Wir kennen den Wert eines einzigen Tropfens Blut, einer einzigen Träne. Alles ist Gnade. Wenn der Ewige der Ewige ist, gehört ihm das letzte Wort eines jeden von uns. Das hätte ich dem jungen Juden sagen sollen. Stattdessen habe ich ihn nur weinend umarmen können.»15
Elie Wiesel machte sich als Aktivist und Autor über den Holocaust einen Namen. 1986 erhielt er den Friedensnobelpreis für seinen Kampf gegen Gewalt, Unterdrückung und Rassismus.
Die unausweichliche Frage, die sich angesichts des Übels in der Welt stellt, lautet, wie sich Gott und das Übel zusammen denken lassen. Ist es denkbar, dass angesichts einer Welt voller Leid und Schmerz ein gütiger und allmächtiger Gott existiert? Spätestens nach dem Holocaust ist das eine offene Wunde, die nach einer Antwort verlangt. Es gibt vier Aussagen, die in das rechte Verhältnis zueinander gebracht werden müssen, wenn man Gott und das Übel zusammen denkt:
Gott ist gut.
Gott ist allmächtig.
Gott ist allwissend.
Die Welt ist voller Übel.
Nach menschlichem Ermessen können diese vier Aussagen nicht gleichzeitig wahr sein. Wenn Gott allmächtig und allwissend ist, warum greift er nicht in das Weltgeschehen ein? Wenn Gott gut ist, warum ist die Welt nicht besser? Diese Fragen sind so alt wie die Menschheit. Der griechische Philosoph Epikur (341–271 v. Chr.) brachte das Dilemma in den Worten zum Ausdruck:
«Ist Gott willens, aber nicht fähig, Übel zu verhindern? Dann ist er nicht allmächtig. Ist er fähig, aber nicht willig, Übel zu verhindern? Dann ist er nicht allgütig. Ist er jedoch sowohl fähig als auch willens, Übel zu verhindern? Dann dürfte es in der Welt kein Übel geben.»
Die moderne Art, das Problem zu lösen, besteht darin, die Existenz Gottes zu verneinen. Das ist die Position des Atheismus (es gibt keinen Gott) und in weniger strengem Sinn des Agnostizismus (man kann nicht wissen, ob es Gott gibt). Wenn Gott nicht existiert, erübrigt sich die Frage nach seinem Eingreifen in die leidvolle Welt. Diese Art, das Problem zu lösen, kann als «modern» bezeichnet werden, weil sie mit dem Weltbild der Moderne populär wurde, die das mittelalterliche Weltbild ablöste und den Menschen an Gottes Stelle setzte. Die quälende Frage: «Gott, warum leide ich?», ist für einen Atheisten keine Frage und keine Qual. Es gibt niemanden im Himmel, an dem er verzweifeln müsste, weil er nicht eingreift, obwohl er könnte. Das Problem dieser Position ist, dass das Leiden keinem Ziel dient und keinen Sinn macht. Es gibt im atheistischen Weltbild keine Vorsehung, keine göttliche Liebe, nur blindes Schicksal.
Wenn man aus weltanschaulichen Gründen an der Existenz Gottes festhält, besteht die Möglichkeit, das Problem des Bösen zu lösen, darin, das traditionelle Gottesbild zu hinterfragen. In der Theologie spricht man in diesem Zusammenhang von der «Modifikation der Eigenschaften Gottes».16 Der Begriff «Modifikation» wird im Sinne von «Anpassung» oder «Abänderung» verwendet und bezieht sich auf das traditionelle Gottesbild. Im Fokus stehen die Eigenschaften der Güte, der Allmacht und der Allwissenheit. Es geht darum, ein neues Gottesbild zu denken, das den Erfordernissen des Theodizee-Problems standhält. Ziel dieses Neudenkens ist es, aufzuzeigen, dass Gott nicht für das Übel in der Welt verantwortlich gemacht werden kann.
Im Rahmen einer Neubewertung der Eigenschaften Gottes besteht die erste Möglichkeit darin, die Güte Gottes zu hinterfragen. Das Problem des Leidens besteht ja darin, dass Gott als gut gedacht wird, so dass er nicht Ursache des Übels sein kann. Diese absolute Position wird modifiziert, und also wird gesagt: «Gott ist nicht gütig, jedenfalls nicht immer und überall, und nicht so, wie wir es uns vorstellen. Seine Güte ist beschränkt, weil er Leiden verhindern könnte, es aber nicht in jedem Fall tut.» Gott wird im Rahmen dieser Neubewertung immer noch als mächtig gedacht, aber nicht mehr als der, der zwingend Übel verhindern will.
Die wenigsten Denker erklären in diesem Zusammenhang Gott zum bösen Gott. Die meisten, die in diese Richtung denken, sprechen von Gott als dem «ganz anderen» und von den «dunklen Seiten» Gottes. Die dunklen Seiten, die in Gottes Verborgenheit gründeten, dürften nicht übergangen werden, lautet eine der meistgenannten Überlegungen. Gott könne nicht auf menschliche Vorstellungen von Liebe und Güte reduziert werden, er handle jenseits der menschlichen Vorstellungskraft.17 Wir werden noch sehen, dass es tatsächlich ein Problem darstellt, wenn wir unsere menschlichen Vorstellungen von Liebe und Güte unbedacht auf Gott übertragen.
Trotzdem löst die Modifikation der Güte Gottes das Problem nicht, wie Klaus von Stosch zu bedenken gibt:
«Wenn Auschwitz die Folge einer dunklen Seite Gottes ist, dann ist hier dunkel nur eine beschönigende Umschreibung von bösartig. Und wenn der Völkermord von Ruanda und das Erdbeben von Lissabon ein schreckenerregendes Werk Gottes sind, dann kann dieser Gott nach menschlichen Maßstäben nur noch als verabscheuungswürdig bezeichnet werden.»18
Das Argument, das von Stosch vorbringt, ist einleuchtend, denn der Holocaust war nicht Gotteswerk, sondern Menschenwerk. Trotzdem haftet dem Argument eine gewisse Einseitigkeit an. Bis zum Anbruch der Moderne im 17. Jahrhundert haben Theologen und Denker gewisse Übel durchaus Gott zugeschrieben, und selbst die meisten Leidenden stimmten ihnen zu. Aus Gründen der Weltanschauung, mit der wir uns später befassen, kam für frühere Generationen die Modifikation der Güte Gottes nicht in Frage.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, Gottes Allmacht zu hinterfragen. In den meisten Religionen wird Gott als allmächtig gedacht. Gott steht über Raum und Zeit. Er ist keinen Einschränkungen unterworfen. Diese absolute Position, die auch für den christlichen Glauben zentral ist, wird modifiziert, indem gesagt wird: «Gott ist gütig, kann aber nicht jedes Leid verhindern, weil seine Macht, in den Verlauf der Geschichte einzugreifen, beschränkt ist.» Gott ist, wenn man diese Möglichkeit in Betracht zieht, gütig, gleichzeitig ist er in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt, entweder weil er auf seine Allmacht verzichtet oder nie Allmacht besessen hat.
Die Modifikation der Allmacht Gottes spielt in der Prozesstheologie, die auf den amerikanischen Philosophen und Mathematiker Alfred North Withehead (1861–1947) zurückgeht, eine zentrale Rolle.19 In der Prozesstheologie wird die Welt als ein ständiger Prozess von Werden und Vergehen aufgefasst. Gott steht nicht über der Schöpfung (wie im klassisch christlichen Weltbild), sondern ist in einen evolutionären Prozess eingebunden, ohne Allmacht zu besitzen. Es wird davon ausgegangen, dass die Welt Gott vorgegeben war – so wie der Ton dem Töpfer. Gott kann den Ton nicht beliebig formen (das würde bedeuten, dass er allmächtig wäre), sondern er ist an die Vorgaben des Ton-Materials gebunden.
In der Prozesstheologie ist die Welt ein Spielfeld der Evolution, in der Gott nicht der Lenker der Geschichte, sondern eine Kraft unter anderen Kräften ist. Es gibt keinen Bauplan der Wirklichkeit, den Gott festgelegt hat, und keine Vorsehung. Der Ausgang der Weltgeschichte ist offen, nicht einmal Gott weiß, was in Zukunft genau sein wird. Trotzdem wird Gott nicht untätig gedacht. Er greift mit seiner kreativen Liebe in den Weltlauf ein, um ihn zum Guten zu bewegen, aber er kann nicht über die Welt verfügen, weil Mensch und Materie eine gewisse Eigenmächtigkeit besitzen. Der Gott der Prozesstheologie ist gütig, aber nicht allmächtig.20
Was die Modifikation der Allmacht Gottes im Leiden praktisch bedeutet, zeigt der amerikanische Rabbi Harold Kushner in seinem Buch «Wenn guten Menschen Böses widerfährt». Anlass war eine persönliche Tragödie in der Familie. Als Kushners Sohn Aaron drei Jahre alt war, diagnostizierte der Kinderarzt Progerie, bei der Kinder vorzeitig altern. Der Kinderarzt eröffnete den Eltern, «Aaron würde niemals größer als etwa einen Meter werden und keine Haare an Kopf und Körper haben. Er würde auch als Kind wie ein kleiner alter Mann aussehen und nicht viel älter als zehn, zwölf Jahre alt werden.»21
Rabbi Kushner verspürte ein tiefes Gefühl der Ungerechtigkeit: «Ich war doch kein schlechter Mensch gewesen! Ich hatte zu tun versucht, was Gott wohlgefällig war. Ich glaubte, Gottes Wegen zu folgen und Sein Werk zu tun. Wie konnte gerade meiner Familie dies widerfahren? Wie konnte Er mir das antun?»22
Zwei Tage nach seinem vierzehnten Geburtstag starb Aaron an vorzeitiger Vergreisung. Aarons Krankheit warf bei den Kushners die Frage auf, warum guten Menschen Böses widerfährt. Beim Studium des Buches Hiob kam der Rabbi zum Schluss, «dass Gott alle Mühe damit hat, das Chaos und den Schaden durch das Böse in Grenzen zu halten».23 Gott möchte zwar, dass die Gerechten ein glückliches Leben haben, «aber manchmal bringt das selbst Er nicht zuwege. Selbst für Gott ist es zu schwierig, Chaos und Grausamkeit von unschuldigen Opfern fernzuhalten.»24
Offenbar haben Millionen von Lesern Trost in Kushners schwachem Gott gefunden. Sowohl die amerikanische als auch die deutsche Ausgabe war ein Bestseller. Kushners Lösung ist keine wirkliche Lösung, sondern ein schwacher Trost. Die Modifikation der Allmacht Gottes, wie Kushner sie vorträgt, hat enorme Auswirkungen. Sie ist weit mehr, als dass man nur ein kleines Wörtlein wie «allmächtig» aus dem Schatz des Glaubens streicht. Wenn Gott unser Glück will, ist er gut, wenn er nicht verhindern kann, dass Böses dieses Glück stört, ist er schwach. Mich lässt diese Vorstellung mit dem Gefühl zurück, dass meine Krankheit eine Panne ist, die Gott beheben möchte, aber nicht kann. Mit dieser Gottesvorstellung fühle ich mich nicht getröstet, sondern alleingelassen. Ich möchte lieber einen starken Gott, dessen Wege ich nicht ergründen kann, als einen gütigen Gott, der schwach ist.
Die dritte Möglichkeit, Gott und das Übel zusammen zu denken, besteht darin, Gottes Allwissenheit zu hinterfragen. Bei dieser Möglichkeit wird erneut eine grundlegende Eigenschaft Gottes eingeschränkt, indem gesagt wird: Gott ist nicht verantwortlich für das Böse in der Welt, weil Gott bei der Erschaffung des Menschen nicht wissen konnte, welches Übel durch die Freiheit des Menschen entstehen würde.
Die Modifikation der Allwissenheit Gottes ist konsequent zusammen mit dem Gedanken der menschlichen Freiheit zu denken. Als Gott den Menschen schuf, gab er ihm die Möglichkeit, sich in Freiheit für oder gegen ihn, für oder gegen das Böse zu entscheiden. Diese Freiheit führte zu dem, was das «malum morale» genannt wird. Es handelt sich um das vom Menschen verursachte Böse, wenn er anderen Menschen Schaden zufügt. Wenn wir davon sprechen, dass jemand unmoralisch handelt, weil er Geld unterschlagen oder jemanden belogen oder verletzt hat, bezieht sich das auf das «malum morale». Im Anschluss an Leibniz ist es üblich geworden, neben dem «malum morale» auch das «malum metaphysicum» und das «malum physicum» voneinander zu unterscheiden.25 Das «malum metaphysicum» bezeichnet die geschöpfliche Unvollkommenheit und Endlichkeit. Ihr Endresultat ist der physische Tod. Das «malum physicum» ist das in der Natur vorhandene Übel, beispielsweise wenn ein Tsunami Menschenleben fordert. Im Gegensatz zum «malum morale» kann es keinem Willen zugeordnet werden. Es stellt ein passives Übel dar, welches den Geschöpfen zustoßen, ihr Leben gefährden oder beeinträchtigen kann.26 In der Philosophie und der Theologie ist es seit Leibniz üblich, den Leidensdiskurs entlang dieser dreifachen Unterscheidung zu führen. In der Übersicht sieht diese Unterscheidung so aus:
Das «malum metaphysicum» bezeichnet die geschöpfliche Unvollkommenheit, die «über» (meta) den physischen Dingen steht.
Das «malum physicum» ist das in der Natur vorhandene Übel, zu dem Naturkatastrophen und Krankheiten gehören.
Das «malum morale» ist das willentlich von Menschen verursachte Böse, das anderen Menschen Schaden zufügt.
Die geschöpfliche Unvollkommenheit und das natürliche Übel sind Ursachen vieler Leiden. So ist jede Krankheit letztlich eine Folge dieser Form des Leidens. Das Leiden, das am schwierigsten zu ertragen ist, ist das von den unmoralischen Entscheidungen des Menschen verursachte «malum morale». Menschen lügen, morden, bauen Bomben und errichten Vernichtungslager. Sie benutzen den Verstand, der eine gute Gabe des Schöpfers ist, um anderen Menschen Schaden zuzufügen. Hat Gott einen Fehler begangen, als er den Menschen mit Willen und Verstand schuf und so die Möglichkeit kreierte, dass der Mensch diese gute Gabe missbraucht, um Böses zu tun? Wenn durch die Einschränkung der Allwissenheit Gottes nachgewiesen werden kann, dass Gott beispielsweise nicht voraussehen konnte, dass Katastrophen wie Auschwitz geschehen würden, wäre Gott vor dem Tribunal der menschlichen Vernunft entlastet. Gott bliebe dann der gute Gott, aber der Satz «Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein?» (1Mo 18,14) würde seine unbedingte Gültigkeit verlieren.27
Die Modifikation der Allmacht Gottes, wie sie von der Prozesstheologie vorgeschlagen wird, spielt im Leidensdiskurs eine wichtige Rolle, weil sie die Möglichkeit in Aussicht stellt, Gott vom Vorwurf zu entlasten, für das Übel in der Welt verantwortlich zu sein. Einen Gott, der das Übel verhindern möchte, aber nicht kann, kann man nicht anklagen. Die Entlastung Gottes vor dem Tribunal der menschlichen Vernunft kann prozesstheologisch in den folgenden drei Sätzen dargestellt werden:
Gott lenkt als «Poet der Welt» (Alfred North Withehead) die Geschichte durch seine Güte, Liebe und Geduld.
Gott ist in seiner Macht, Gutes zu tun und Übel zu verhindern, eingeschränkt, weil er keine Allmacht besitzt.
Gott ist nicht für das Übel in der Welt verantwortlich, weil er das Gute nicht verfügen und das Übel nicht (in jedem Fall) verhindern kann.
Die Prozesstheologie bietet eine Lösung des Theodizee-Problems unter modernen Denkvoraussetzungen. Mit der Streichung des Allmachtsprädikats wird Gott vom Vorwurf entlastet, für das Übel verantwortlich zu sein.
Was wie ein attraktives Angebot aussieht, stellt ein ernsthaftes Problem dar. Die Modifikation der Eigenschaften Gottes, allen voran seiner Allmacht, ist mit einer biblischen Weltanschauung nicht vereinbar. Die Bibel beschreibt Gott als allmächtig, allgegenwärtig und allwissend (Ps 139,2 ff.; Ps 91,1; Offb 4,8). Sie lässt dem Gedanken eines Gottes, der in seiner Macht und Handlungsfähigkeit eingeschränkt ist, keinen Platz. Die Aussagen, dass Gott gut, allgegenwärtig und allmächtig ist, sind darum mit der Feststellung, dass die Welt voller Übel ist, zusammen zu denken, auch wenn das mit der Vernunft nur schwer in Einklang zu bringen ist.
Gottes Güte, Allmacht und Allwissenheit waren für die Verfasser der Bibel nicht verhandelbar, und ein schwacher Gott war für sie undenkbar. Die Menschen der Bibel haben sich vor Gottes Größe und Allwirksamkeit gebeugt und in dieser überragenden Schau Trost in ihrem Leiden gefunden. Sie haben freilich auch an ihrem Glauben an Gott gelitten und Gott sogar Untätigkeit und Ungerechtigkeit vorgeworfen. Das Buch Hiob und die Psalmen reflektieren dieses Dilemma eindrücklich. Trotzdem hätte keiner von ihnen das moderne Angebot angenommen, Gott kleiner zu denken, nur um den Schmerz zu lindern.
Der Gott der Prozesstheologie stellt auch ganz praktisch ein Problem dar. Ein gütiger Gott, der helfen will, aber nicht kann, mag den Schmerz für einen Augenblick lindern, weil die Frage entfällt, warum Gott seine Macht nicht nutzt, um zu helfen. Trotzdem wird das Übel nicht kleiner, wenn wir Gott klein denken. Das Übel wird unlösbar, weil Gott nicht in der Lage ist, das Gute, das er uns zudenkt, zu verwirklichen. Loichinger und Kreiner weisen darauf hin, dass die Modifikation der Allmacht Gottes einen tiefen Einschnitt in den christlichen Glauben bedeutet. Sie fragen, ob der nicht allmächtige Gott der Prozesstheologie für den Glauben überhaupt noch eine Zuflucht sein kann. Ihre Antwort:
«Zumindest kann er [Gott] seine Verheißungen nur bedingt einlösen. Gewiss ist er vollkommen gut und vollkommen gütig. Gewiss will er für den Menschen nur das Beste mit seiner zärtlichen Vision vom Guten und Schönen, mit seiner Idee einer erlösten und heilen Welt. Aber Gott kann die zukünftige Verwirklichung seiner Verheißungen, Visionen und Ideen nicht definitiv garantieren. Mit der Streichung des Allmachtsprädikats vollzieht die Prozesstheologie daher nicht irgendeine Korrektur am Gottesglauben, sondern genau genommen zerstört sie den christlichen Gottesbegriff und mit ihm die christliche Glaubenshoffnung.»28
Keiner der Versuche, durch die Modifizierung der Eigenschaften Gottes Leid und Schmerz zu lindern oder zu erklären, kann überzeugen. Eine Linderung dieser Art ist nur um den Preis eines schwachen, kleinen und uninformierten Gottes zu haben. Dieser Preis ist nicht nur unbiblisch, er ist am Ende schlicht zu hoch, weil mit einem Gott, der zwar helfen möchte, es aber nicht tun kann, keinem Leidenden geholfen ist.
Das Problem des Bösen lässt sich von Gott her nicht lösen. Gott ist stets größer als unsere Erklärungen. In diesem Sinn ist Jürgen Moltmann recht zu geben, wenn er sagt, dass niemand die Theodizee-Frage beantworten kann. Das Problem des Bösen kann aber noch von einer anderen Seite angegangen werden: Anstatt Gottes Eigenschaften anzutasten, wird versucht, das Übel neu zu bewerten und ihm durch verschiedene Überlegungen einen Sinn abzugewinnen. Bei dieser Suche nach einer Lösung hinterfragt man nicht Gott, sondern die menschliche Wahrnehmung und Bewertung des Übels. Vereinfachend gesagt geht es darum, einen Satz wie «Krankheit ist immer nur schlecht» zu relativieren, indem daraus die Wörter «immer» und «nur» entfernt werden. Dadurch entsteht die Möglichkeit, dass eine Krankheit oder ein anderes Übel unter Umständen einen Sinn hat.
Versuche in diese Richtung werden gemacht, seit der Mensch literarisch tätig ist. Wir können buchstäblich Tausende von Jahren zurückgehen und feststellen, dass entsprechende Wege oft beschritten wurden im Versuch, die quälende Frage nach dem Zweck des Leidens zu beantworten. Wir können zurückgehen in die Zeit der Reformation oder in die Zeit der Alten Kirche und zu den Anfängen des Christentums und noch weiter zurück zu den Psalmen, dem Buch Hiob und noch älteren literarischen Zeugnissen der Ägypter und Babylonier, um festzustellen, dass immer wieder Versuche unternommen wurden, dem Leiden einen Sinn abzugewinnen.
Diese vielfältigen Versuche lassen sich auf die Gefahr hin, sie zu stark zu kategorisieren, in zwei Strategien unterteilen. Man spricht in diesem Zusammenhang von sogenannten «Bonisierungsstrategien» einerseits und von «Depotenzierungsstrategien» andererseits.29 Praktisch alle Versuche, dem Leiden einen Sinn abzugewinnen, können diesen beiden Strategien zugeordnet werden. Sie lassen sich wie folgt darstellen:
Bonisierungsstrategien suchen das Übel zu entübeln, indem der Versuch unternommen wird, dem Leiden Sinn zu geben. Im Hintergrund der Wortbildung steht das lateinische Wort «bonum» für gut. Es wird danach gesucht, dass das Leiden für etwas gut ist. – Ich werde die Erklärungen, die sich dieser Strategie zuordnen lassen, unter dem Begriff «Entübelung des Übels» behandeln.
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Depotenzierungsstrategien suchen das Übel erträglich zu machen, indem sie durch Relativierungen verschiedener Art dem Übel seine Macht nehmen. In der Regel geschieht das, indem der Blick auf höhere Dinge gelenkt wird, beispielsweise auf ein von Leiden freies Jenseits. Der Begriff der Potenz steht für Macht. Wenn das Übel in einer glaubhaften Weise relativiert werden kann, wird es entmachtet und erscheint unter Umständen sogar als sinnvoll. – Ich werde die Erklärungen, die sich dieser Strategie zuordnen lassen, unter dem Begriff «Relativierung des Übels» behandeln.
Es ist für Leidende eine enorme Entlastung, wenn ihr Leiden nicht sinnlos ist, sondern in irgendeiner Weise zum Guten für sie selbst oder für andere beiträgt. Leiden hat hauptsächlich dann einen Sinn, wenn ihm ein höherer Wert zugeschrieben werden kann. Wenn Leiden beispielsweise dazu führt, dass ich selbst in meinem Glauben auferbaut werde oder andere durch meine Standhaftigkeit in ihrem Glauben gestärkt werden, hat mein Leiden positive Auswirkungen und ist möglicherweise erträglicher geworden. Aus Schlechtem kann Gutes hervorgehen, zu dem es ohne das Übel möglicherweise nicht gekommen wäre. In solchen Fällen liegt eine Funktionalisierung des Übels vor.31
Obwohl das Übel eine positive Funktion ausüben kann, bleibt es ein zweischneidiges Schwert. Wenn Schwierigkeiten und Böses überhandnehmen, kann es in Menschen das Gute wecken, das Gott in sie hineingelegt hat, so dass sie ungeahnte Tugenden entwickeln. Das ist offensichtlich, wenn wir daran denken, in was für einer Welt wir leben. Wenn wir immer noch im Paradies lebten und es keinen Rassismus und keine Armut in der Welt gäbe, hätte es keinen Martin Luther King und keine Mutter Teresa gegeben, die durch ihre Solidarität und ihr Mitleid die Welt ein Stück besser machten. Das Beispiel von außergewöhnlichen Menschen weckt die Hoffnung, dass das Übel etwas Gutem dienen kann.
Aus Leiden kann also Gutes kommen, aber das Leiden darf nicht romantisiert werden. Gut ist nicht das Übel an sich, gut kann sein, was Menschen daraus machen. In vielen Fällen aber wächst aus dem Übel mehr Schlechtes als Gutes. Es gab in der Zeit des Zweiten Weltkriegs viele Menschen, die unter dem Einsatz ihres Lebens Juden versteckten, ihnen Pässe verschafften und sich mit ihnen auf andere Weise solidarisierten. Die Geschichten von Leuten wie Oskar Schindler und Corrie ten Boom, die Tausende von Juden vor den Vernichtungslagern retteten und dabei ihr eigenes Leben riskierten, hat eindrücklich vor Augen geführt, dass Menschen edel handeln können, wenn das Schicksal sie herausfordert.
Aber es gab auch die anderen Geschichten, und sie waren in der Mehrheit. Es gab die geschlossenen Grenzen, es gab die Begeisterung für die rassistische Ideologie der Nazis, es gab die Vernichtungslager, die heute Museen und Stätten des Gedenkens sind. Sie sind eine Erinnerung daran, dass wir als moralische Wesen in der Pflicht gegenüber dem Nächsten stehen. Die Erinnerung des Bösen fördert Werte wie Solidarität und Toleranz. Aber nicht nur. Es ist verstörend und unerträglich, dass auch die bösen Geschichten fortgeschrieben werden. Dass Adolf Hitlers Ideen heute noch Anhänger finden, zeigt, dass das Übel nicht automatisch zur Besinnung führt, sondern weiterexistieren kann. Von der positiven Funktion des Übels können wir darum nur mit großer Zurückhaltung sprechen.
Vielleicht sollten wir, wenn wir Menschen in Krisen begleiten, ganz darauf verzichten, dem Übel eine Funktion zuzuschreiben, und es ihnen überlassen, ihrem Leiden einen Wert beizumessen. Vorschnelle Erklärungen vergrößern das Leiden in der Regel, anstatt es zu lindern. Philip Yancey erzählt in seinem Buch «Wo ist Gott in meinem Leid?», dass er eines Tages einen Hilferuf von seinen Freunden John und Claudia Claxton erhielt.32 Sie waren Anfang zwanzig und hatten gerade geheiratet, als bei Claudia Krebs in den Lymphknoten diagnostiziert wurde. Die Ärzte gaben Claudia eine fünfzigprozentige Überlebenschance. Die Bestrahlungen zerstörten Claudias Attraktivität fast über Nacht. Sie war ständig müde, die Haare fielen ihr aus, ihr Hals war eine offene Wunde, und sie erbrach fast alles, was sie zu sich nahm.
Claudia bekam viel Besuch von Leuten ihrer Kirche, die sie ermutigen wollten, aber wie Hiobs Freunde ihr Leid nur noch verschlimmerten. All diese netten Leute meinten zu wissen, welche Funktion Claudias Leiden in ihrem Leben hatte. Ihr Pastor erweckte in Claudia das Gefühl, dass sie mit ihrer Krankheit eine besondere Aufgabe habe. Er sagte: «Claudia, du bist dazu auserwählt, für Christus zu leiden, und er wird dich dafür belohnen. Gott hat dich auserwählt, weil du so stark und moralisch integer bist, so wie er auch Hiob auserwählt hat. Und er will dich als Vorbild für andere gebrauchen.»33 Sie solle nicht bitter sein, so der Pastor weiter, sondern sich als privilegiert betrachten, denn was für sie eine Not sei, sei für Gott eine Gelegenheit.
Als Philip Yancey Claudia besuchte, war sie aufgrund der vielen Erklärungen völlig verwirrt. Yancey vermochte gar nicht viel darauf zu antworten und hörte ihr einfach nur zu.
Es fügt dem Übel ein weiteres Übel hinzu, wenn wir meinen, wir könnten Kranken flugs erklären, warum sie leiden müssen. Der Pastor wollte Claudia ermutigen, stieß sie aber weiter ins Elend. Hätte er gesagt: «Claudia, wie du dein Leiden erträgst, ist für mich ein großes Vorbild», hätte er sie auferbaut, anstatt sie mit seinen Erklärungen zu verwirren. Auch der gut gemeinte Hinweis, Gott habe Claudia zum Leiden erwählt, weil sie so stark und integer sei, war zweischneidig. Hätte Gott Claudia denn verschont, wenn sie nicht so stark gewesen wäre? Hätte sie einfach weniger integer sein sollen, so dass Gott ihr diese Prüfung nicht zugemutet hätte?
Eine lange, bis auf das Alte Testament zurückgehende Tradition erkennt im Leiden eine Form der Prüfung und Erziehung. In diesem Fall kann von der Pädagogisierung des Leidens gesprochen werden.34 Das Leiden wird als Pädagoge gesehen, der den Leidenden etwas lehrt, so wie ein Erzieher erzieht und ein Lehrer lehrt. Diese Vorstellung ist in den Religionen weitverbreitet. Der Apostel Paulus wusste, dass Gott ihm einen «Pfahl im Fleisch» zumutete, damit er wegen seiner hohen Offenbarungen nicht hochmütig wurde (2Kor 12,7). Paulus fand Frieden in dieser Sicht auf sein Leiden, weil er nicht bemühende Freunde hatte, die es ihm dauernd an den Kopf warfen, sondern weil er von Gott eine Antwort erbat und diese auch ganz persönlich erhielt.
Ganze biblische Bücher wurden geschrieben, um die Leser im Glauben zu erziehen. Als die Israeliten wegen des Ungehorsams gegen Gott in das babylonische Exil mussten, setzte eine Zeit der Besinnung ein. Erweckte Israeliten machten sich in dieser dunklen Periode daran, Israels Geschichte aufzuschreiben und zu deuten. Das Resultat sind die Geschichtsbücher des Alten Testaments, die mit dem Buch Josua beginnen und mit dem zweiten Könige-Buch enden. Wenn Sie die Schlusskapitel dieses großen Geschichtswerks lesen (2Kö 17,7 ff.), sehen Sie, dass es geschrieben wurde, um die Israeliten im Glauben zu erziehen. Sie sollten wissen, warum Gott Leid über sein Volk brachte, und aus dem Exil, das ihnen ein strenger Erzieher war, im Glauben gestärkt hervorgehen. Die Bücher Esra, Nehemia und Esther malen eindrücklich vor Augen, dass Gottes Erziehung ihr Ziel erreichte.
Es wäre eine Katastrophe für Leidende, wenn ihr Schmerz keinerlei pädagogische Wirkung hätte. Oft ist der einzige Trost der Gedanke, dass das Leid für irgendetwas gut sein muss. Die Frage nach dem Warum und dem Wozu des Leides ist existenziell wichtig. Leiden ist schlimm, sinnloses Leiden ist unerträglich. Als ich mitten im dunklen Tal war und es keinen Anhaltspunkt gab, wozu mein Leiden gut sein könnte, schrieb ich in mein Tagebuch: «Ich fühle mich wie ein Baum, der Schatten wirft und keine Früchte trägt. Ich fürchte, dass die Zeit, in der ich mich befinde, unfruchtbare Zeit ist, die weder mir noch anderen etwas nützt.»
Nöte und Herausforderungen können Menschen verändern, so dass sie gereift aus dem Ofen des Leidens hervorgehen. Gerade weil das so ist, besteht die Gefahr, dass Außenstehende das Leid romantisieren und damit verharmlosen. Es ist nicht nur so, dass Menschen im Leiden reifen, es gibt auch Menschen, die im Leiden zusammenbrechen und ihren Glauben verlieren. Der vielzitierte Satz, dass Gott uns nicht mehr zumutet, als wir ertragen können, stimmt nicht für jede Situation. Es gibt Leiden, das so verheerend ist, dass es keinen pädagogischen Nutzen hat. Worin liegt der Nutzen, dass Millionen von Bürgern der ehemaligen Sowjetunion in den sibirischen Arbeitslagern umkamen? Ihr Leiden hat die Welt nicht besser gemacht. Niemand wird behaupten wollen, dass der Völkermord von Ruanda pädagogisch wertvoll war. Es ist in Ruanda im Nachgang des Genozids zwar zu eindrücklicher Versöhnungsarbeit gekommen. In jedem Fall aber überwiegen die desaströsen Auswirkungen des Abschlachtens den Nutzen der Aufarbeitung des Konflikts.
Es ist ein Unterschied, ob wir mit klugen Erklärungen Leidende aufzumuntern versuchen oder ob sie selber einen pädagogischen Nutzen in ihrem Leiden erkennen. Die Besucher der von Yancey beschriebenen jungen Claudia verwirrten sie mehr, als dass sie von ihnen aufgemuntert wurde. Zu ihren Besuchern gehörte ein Diakon ihrer Kirche, der ihr sagte: «In deinem Leben muss es etwas geben, das Gott nicht gefällt. Du musst irgendwo ungehorsam gewesen sein. Solche Dinge passieren nicht rein zufällig. Gott gebraucht Umstände, um uns damit zu warnen oder zu strafen.»35 Eine andere Frau, die Claudia besuchte, erklärte, dass Krankheit ein Werk des Teufels und niemals Gottes Wille sei.36 Kein Wunder, fand Yancey eine völlig verunsicherte Frau vor, als er sie im Krankenhaus besuchte.
Wenn es etwas gibt, das Leiden mindert, sind es nicht kluge Erklärungen, sondern das Mitleiden von Freunden, die das persönliche Opfer eines Besuchs, einer Nachtwache oder sonstiger praktischer Unterstützung bringen und so dem Leidenden zeigen, dass er nicht vergessen ist.
Ein weiterer Versuch, der den Bonisierungsstrategien zugeordnet werden kann, lenkt im Leiden den Blick auf das Schöne. Es wird darauf hingewiesen, dass das Gute und Schöne in vielen Fällen erst durch das Schlechte und Böse ernsthaft gewürdigt werden kann. Dieser Versuch, der mit dem Gedanken von Gegensätzen arbeitet, kann als Ästhetisierung bezeichnet werden.37 Der Versuch der Ästhetisierung ergibt sich aus der Feststellung, dass das Leben voller wirkungsvoller Gegensätze ist. Der Bösewicht in der Geschichte lässt den Protagonisten edler erscheinen, Dissonanzen verlangen nach Auflösung durch Harmonien, Licht scheint in der Dunkelheit am hellsten.
In den ersten Jahrhunderten des Christentums wirkten Versuche dieser Art überzeugend. Bis in das Mittelalter hinein erfreuten sie sich großer Beliebtheit. Der Kirchenvater Augustin sagte, der Mensch werde durch das Leid gehärtet, um das Glück ertragen zu können, so wie der Ton im Feuer gebrannt wird, um Wasser fassen zu können. Möglicherweise aus demselben Grund fand Augustin Gefallen an den Höllenqualen der Gottlosen. Er glaubte, dass die Gerechten sich an ihrem himmlischen Glück umso mehr freuen können, wenn sie beständig das Brennen der Verlorenen in der Hölle vor Augen haben.38 Tertullian, der zweihundert Jahre vor Augustin lebte, bemerkte einmal, er werde jubeln, lachen und entzückt sein, wenn er die Kaiser, die jetzt vergöttlicht werden, in der Finsternis werde klagen hören.39 Heute wirken solche Versuche befremdend. Man braucht die Vorstellung von Höllenqualen nicht mehr, um sich den Himmel auszumalen.
Ästhetisierungsversuche sind philosophisch abstrakt und vermögen in den seltensten Fällen zu überzeugen. Sie nehmen ein groteskes Missverhältnis in Kauf. Braucht es wirklich so viel Leid, wie es in der Welt vorkommt, um das Schöne und Gute im Leben zu schätzen? Wäre die Welt wirklich farbloser ohne Vergewaltigungen, Verkehrsunfälle und Kriegsopfer? Ästhetisierungsversuche laufen Gefahr, das Leiden des einzelnen Menschen zu verharmlosen, um ein harmonisches Gesamtbild der Welt zu zeichnen. Während die Pädagogisierung des Leides in der Bibel eine wichtige Rolle spielt, sind Ästhetisierungsversuche dort abwesend.40
Gewiss kann aus dunklen Tälern Schönes entstehen. Wenn Menschen um uns herum im Versuch, unserem Leiden einen Sinn zu verleihen, jedoch in einseitige Erklärungen verfallen – vielleicht weil sie sonst nicht wissen, was sie sagen sollen –, kann das schmerzhaft sein. Als ich tief im Leiden steckte, meinen Job verloren hatte und nicht mehr arbeiten konnte, führte ich ein Telefongespräch mit einer Bekannten, die mich und meine Frau in unserer Jugendzeit begleitet hatte. Wir hatten lange nichts voneinander gehört, und nachdem ich mich nach ihrem Ergehen und dem ihrer Kinder erkundigt hatte, wollte sie wissen, wie es uns geht. Ich erzählte ihr, wie ich meine Gesundheit und meinen Job verloren hatte und kaum noch in der Lage war zu arbeiten, wie ich meinen Alltag um meine Krankheit herum organisieren müsse und vieles wegfalle, was mich früher ausgefüllt hatte, so dass ich einfach zu Hause sei und darauf vertraue, dass Gott mich aus dem Tal führt. Ihre Reaktion darauf bestand in einem einzigen Satz: «Das ist ja wunderbar, Roland, jetzt hast du mehr Zeit zum Beten!»
Ich fühlte mich völlig unverstanden. Mein Leiden, mein Ringen, auch der seelische Schmerz, wurden in keiner Weise gewürdigt. Der Satz war eine Mischung aus einer Bonisierungsstrategie («Wunderbar, Roland, jetzt wissen wir, dass du nicht mehr zu arbeiten vermagst, damit du mehr beten kannst») und einer Relativierung des Übels («Dein Leid ist nicht so schlimm, weil du dadurch mehr Zeit für das Wichtigste hast: das Gebet»). Mit dieser Form der Problemlösung, die wir den Depotenzierungsstrategien zugeordnet und als «Relativierung des Übels» bezeichnet haben, müssen wir uns als Nächstes befassen.
Ein Übel hat das Potenzial, Macht über uns auszuüben, so dass sich alles in unserem Leben nur noch um unser Leiden dreht. Chronisch Kranke kennen dieses Phänomen gut. Sie verlieren einen Teil ihrer Selbstbestimmung, weil ihre Krankheit darüber entscheidet, ob sie einen Besuch empfangen, eine Einladung zum Essen annehmen oder einen Ausflug planen können. Das Leiden wird zu einer alles bestimmenden Macht, die an allen Ecken und Enden ihren Tribut fordert. Diese Macht kann gebrochen werden, wenn der Blick vom Übel auf höhere Dinge gelenkt wird. Wenn dies geschieht, kann im positiven Sinn des Wortes von einer Relativierung des Übels gesprochen werden.
Im theologischen Leidensdiskurs kennt man zwei hauptsächliche Arten der Relativierung. Die erste versucht, dem Übel die Macht zu nehmen, indem sie den Blick auf das Jenseits richtet. Im Vordergrund steht der Gedanke, dass die Herrlichkeit der neuen Schöpfung von ungleich größerem Gewicht ist als die Leiden der Gegenwart. Im Weiteren geht es um den Glauben, dass Gott am Jüngsten Tag ausgleichende Gerechtigkeit schaffen wird. Kein Leid, kein Schmerz und keine Ungerechtigkeit, so das Argument, könnten so schrecklich sein, dass sie in der zukünftigen Welt nicht von Gott geheilt und wieder gut gemacht werden könnten.41 Der Gedanke des Gerichts ist keine Verharmlosung des Übels; im Gegenteil, er nimmt es ernst und besteht darauf, dass die Welt eines Tages vom Schöpfer selbst ins Lot gebracht wird.
Der Blick auf das Jenseits spielt im Neuen Testament eine wichtige Rolle. Der Apostel Paulus spricht im Römerbrief davon, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die vor uns liegt (Röm 8,18). Paulus vermochte seine eigenen Leiden im Blick auf das Jenseits zu ertragen. Paulus fühlte sich zu bestimmten Zeiten zwar niedergestreckt, wie er im zweiten Korintherbrief schreibt, aber nicht vernichtet, weil er wusste, dass das Beste jenseits dieser Welt noch vor ihm lag (2Kor 4,7 ff.).
Die Offenbarung des Johannes schließt mit einer gewaltigen Schau von der kommenden Welt, in der es keine Tränen, keine Trauer und keinen Tod mehr geben wird: «Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal» (Offb 21,4). Viele Christen haben durch die Jahrhunderte hindurch in Leid und Verfolgung in diesen Worten Trost gefunden. Sie haben durch ihren Glauben an die kommende Welt das Leiden in dieser Welt nicht verharmlost oder so getan, als gäbe es das Leiden nicht. Sie haben es im besten Sinn des Wortes relativiert, weil der Blick auf den Himmel die Erde erträglich machte.
Nach dem Holocaust vermögen nicht mehr viele Menschen so zu denken. Über den Himmel als Ausgleich für das Leiden zu sprechen, wird als Verharmlosung des Bösen empfunden. Dorothee Sölle hat dieses Empfinden in ihrem bekannten Satz «Kein Himmel kann Auschwitz wieder gut machen» auf den Punkt gebracht.42 Wenn dieser Satz stimmt, sind Gottes Gerechtigkeit und Güte nachhaltig beschädigt, so dass man vom Tod Gottes sprechen muss. Ein Gott, der das Gute will, aber nicht in der Lage ist, die Schöpfung ultimativ diesem Guten zuzuführen, ist in seinem Vorhaben gescheitert.
Die Menschen der Bibel hätten Sölles Satz niemals zugestimmt, nicht weil ihnen Leiden unbekannt gewesen wäre, sondern weil sie Gott im Leiden am Werk sahen und den Himmel vor Augen hatten. Der Blick auf das Jenseits war für sie kein Trostpflaster, das irdische Enttäuschungen überdeckte, sondern eine Hoffnung, die sie beflügelte. Der Apostel Paulus schrieb mit Blick auf seine zahlreichen Schwierigkeiten: «Die Nöte, die wir jetzt durchmachen, sind nur eine kleine Last und gehen bald vorüber, und sie bringen uns etwas, was von unvergleichlich viel größerem Gewicht ist: eine unvorstellbare und alles überragende Herrlichkeit, die nie vergeht» (2Kor 4,17).43 Diese Worte haben Gewicht, weil sie nicht von jemandem geschrieben wurden, der Leiden theoretisch erörterte oder durch Gitter hindurch einen Blick in römische Kerker wagte. Sie wurden von Paulus geschrieben, der im Gefängnis lag, verraten, verlassen und verprügelt wurde, und doch einer der lebendigsten und hoffnungsvollsten Menschen war. Kein anderer Verfasser des Neuen Testaments hat so nachhaltig und überzeugend darauf verwiesen, dass der Blick auf das Jenseits das Übel in einer ganz praktischen Art relativiert, wie der Apostel Paulus.
Die zweite Art, dem Übel seine Macht zu nehmen, wird nach einer alten Tradition als Schule der Seele bezeichnet. Sie legt den Fokus darauf, dass durch die Auseinandersetzung mit eigenem und fremdem Leiden unser Charakter gebildet wird. Dieser Versuch weist starke Ähnlichkeiten mit dem Gedanken der Pädagogisierung des Leidens auf. Er steht in der Denktradition des Kirchenvaters Irenäus von Lyon (135–200 n. Chr.) und wird deshalb als «Irenäische Theodizee» bezeichnet. Wenn von Leiden als Schule der Seele gesprochen wird, wird die Aufmerksamkeit in der Regel darauf gelenkt, dass Leiden innere Prozesse anstoßen können, welche die Seele vervollkommnen. Während die Kirchenväter gerne von der Seele sprachen, wenn sie den Blick darauf lenkten, dass wir innerlich reifen, sprechen wir heute von Charakterbildung oder Persönlichkeitsbildung.
Leiden als Schule der Seele kann nur in einer unvollkommenen Welt durchlaufen werden. Wenn wir jenseits des Paradieses Versuchungen überwinden und richtige Entscheidungen treffen, ermöglicht uns das, als Persönlichkeit zu reifen und einen authentischen Glauben zu entwickeln. Leiden schafft die Voraussetzung, an Gott zu glauben, ohne dass dieser Glaube berechenbar wird. Würden wir in einer Welt leben, in der gute Taten sofort belohnt und schlechte stets bestraft würden, würden wir Gott um der Vorteile willen lieben, die aus dieser Gesetzmäßigkeit entstünden. Damit aber wäre echte Liebe zu Gott und zu den Menschen gar nicht möglich. Wer hingegen in einer unvollkommenen Welt in seiner Liebe zu Gott gefestigt wird und gelernt hat, seinen Mitmenschen gegenüber selbstlos zu handeln, dessen Persönlichkeit ist in der Schule der Seele gereift. Auf diese Weise wird das Übel in seinen vielfältigen Formen zu einem Mittel, durch das wir zu unserer wahren Größe emporsteigen können.
Die Bibel ist voller eindrücklicher Geschichten von Männern und Frauen, die durch verschiedene Übel in Form von Herausforderungen, Verlusten und erlittenen Ungerechtigkeiten zu dem wurden, was sie nach Gottes Willen sein konnten. Sie haben die Schule der Seele durchlaufen und sind aus der Asche zu ihrer wahren Schönheit aufgestiegen. Wenn ein bestimmtes Maß an Leiden nötig ist, damit wir zu dem Menschen werden, der wir nach Gottes Willen sein können, dann ist Gott gerechtfertigt, der uns dieses Leiden zumutet.
Trotzdem muss jeder Versuch, Leid zu bonisieren oder zu relativieren, an seine Grenzen stoßen. Timothy Keller spricht in seinem Buch «Gott im Leid begegnen» von Stärken und Schwächen der Irenäischen Theodizee. Die Stärke dieser Denkrichtung besteht darin, dem Leiden Sinn zu verleihen. Das Leiden als Schule der Seele «zwingt uns auf heilsame Weise, unsere Sicht vom Leben zu hinterfragen. Ist es das höchste Gut, dass es uns gut geht und uns nichts Böses passiert, oder dass wir geistlich und ethisch wachsen?»44