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Kirchen und christlicher Glaube befinden sich in unserer westlichen Gesellschaft im Umbruch. Wir stehen in einer religiösen Zeitenwende. Vielen Christen brechen ihre Glaubensfundamente weg. Besonders betroffen sind die Evangelikalen: Manche suchen ihren Halt in einem biblizistischen Fundamentalismus, der sich aus unserer Kultur und Gesellschaft zurückzieht. Andere hinterfragen kritisch ihre überkommenen Glaubensüberzeugungen, wollen gesellschaftsrelevant sein und entwickeln sich zu "Postevangelikalen". Roland Hardmeier zeigt einen dritten Weg auf: Ein Evangelium der Mitte, das auf der Autorität der Bibel und den Fundamenten des christlichen Glaubens steht, sich aber gleichzeitig der Welt zuwendet und den Fragen der Zeit stellt. Es geht um einen dynamischen, lebensnahen und gesellschaftsrelevanten Glauben in der Welt der Postmoderne, der Verantwortung für die Welt wahrnimmt und das Evangelium von Jesus Christus in unsere Kultur übersetzt. Ein engagiertes Plädoyer für einen fundiert unfundamentalistischen Glauben! "'Wie kann unser Glaube anschlussfähig an die Postmoderne werden, ohne dass wir seinen Grundbestand und unsere ethischen Wertsetzungen preisgeben?' - Ich habe bisher kein Buch gefunden, das diese Schicksalsfrage der Evangelikalen jenseits von Fundamentalismus und Postevangelikalismus so sorgfältig, fair und gleichzeitig so gut lesbar beantwortet wie dieses hier. Ein Buch der Mitte im besten Sinne, auf dem man aufbauen kann." (Reinhold Scharnowski, Pastor und Publizist)
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Seitenzahl: 416
Roland Hardmeier
Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal
Bibelstellen folgen, wenn nicht anders angegeben, der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. © 2016 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.
Sonst:
LUT: Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
NGÜ: Neue Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen.
© 2011 Genfer Bibelgesellschaft.
© der deutschen Ausgabe:
2024 Brunnen Verlag GmbH, Gießen
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Satz: Brunnen Verlag GmbH
ISBN Buch 978-3-7655-2189-8
ISBN E-Book 978-3-7655-7862-5
Ich widme dieser Buch allen Männern und Frauen, die täglich die harte, aber lohnende Arbeit eines Pastors bzw. einer Pastorin tun. Ich hoffe, dass dieses Buch euch Mut macht, theologische Orientierung gibt und euch zu Umsicht in eurer anforderungsreichen Berufung verhilft.
„Roland Hardmeier gelingt mit seinem Buch nicht nur eine ausgezeichnete Analyse unserer theologischen Krise in der evangelikalen Welt. Er spricht auch die Herzen und die Sehnsucht nach einem Neuaufbruch der Gemeinde Jesu an. Er zeigt, welche Richtung die Gemeinde Jesu in den kommenden Jahren gehen kann. Darum empfehle ich das Buch gern allen Gemeindebauern!“
Reinhard Spincke, Gemeindeleiter Freie Evangelische Gemeinden Norddeutschland
„Roland Hardmeiers neues Buch über Evangelikale ist ein wahrer Lichtblick im Dschungel neuartiger Glaubensüberzeugungen. Mit fundierter Analyse, Fairness und einer gradlinigen Schreibweise bietet es eine dringend benötigte Orientierungshilfe für Christen. Zwischen den Polen des Fundamentalismus und des Postevangelikalismus navigiert Hardmeier meisterhaft und ermöglicht es dem Leser, klarer zu sehen und der Bibel als Offenbarung Gottes zu vertrauen. Ein unverzichtbares Werk für alle, die nach einer soliden Basis für ihren Glauben suchen.“
Stefan von Rüti, Gesamtleiter ISTL International
„Wie kann unser Glaube anschlussfähig an die Postmoderne werden, ohne dass wir seinen Grundbestand und unsere ethischen Wertsetzungen preisgeben?“ – Ich habe bisher kein Buch gefunden, das diese Schicksalsfrage der Evangelikalen jenseits von Fundamentalismus und Postevangelikalismus so sorgfältig, fair und gleichzeitig so gut lesbar beantwortet wie dieses hier. Ein Buch der Mitte im besten Sinne, auf dem man aufbauen kann.“
Reinhold Scharnowski, Pastor und Publizist
Darum geht es
Kapitel 1
Progressiv oder fundamentalistisch? – Warum wir ein Evangelium der Mitte brauchen
Welt im Umbruch
Das progressive Christentum ist da
Den Glauben neu konstruieren
Die Fundamentalisten reagieren
Krisenphänomene verstehen
Eine religiöse Landkarte unserer Zeit
Die Evangelikalen in den USA und Europa
Das Evangelium der Mitte
Kapitel 2
Vertrauensvoll wie Luther: evangelikales Schriftverständnis
Vertrauensvolles Lesen
Unfehlbar und inspiriert
Kann man den Evangelien vertrauen?
Widersprüche, oder doch nicht?
Legenden, Recherchen und Augenzeugen
Das verschmähte Alte Testament
Der Erfolg der Evangelikalen
Kapitel 3
Postevangelikale Taktgeberin: die moderne Bibelwissenschaft
Ad fontes!
Ich denke, also bin ich!
In Köln über den Rhein spazieren?
Zwei Weltanschauungen
Glauben in einer fluiden Gesellschaft
Kapitel 4
Was Fundamentalisten einfach nicht verstehen: die Welt
Gottes geliebte Welt
Dort weitermachen, wo Gott aufgehört hat
Wie relevant ist unser Evangelium?
Eine Philosophie der Liebe für die Postmoderne
Erlösung neu denken
Kapitel 5
Der Grundton, auf den alles gestimmt ist: das Königreich Gottes
Endzeiterwartungen im Judentum
Das Geheimnis des Königreiches
Eine Revolution des Gottesbegriffs
Kirche als Raum der Gnade
Arbeiten für eine bessere Welt
Träumen von der ewigen Stadt
Kapitel 6
Lauter Unsinn und viel Ärger: das Kreuz
Totales Unverständnis
Jesus auf dem Weg nach Jerusalem
Sokrates starb heiter und gelassen
Der Schmerz des Vaters
Die Revolution sozialer Beziehungen
Von Helden und Opfern
Die Umwertung aller Werte
Kapitel 7
Das ganze Evangelium für die ganze Welt: der Mensch Jesus
Prophetischer Dreiklang
Hilfe für Arme
Gerechtigkeit für Unterdrückte
Frieden für die Welt
Die Senfkornrevolution
Die Leuchtkraft wiederfinden
Kapitel 8
Wovon Progressive ständig reden: Gender
Genderfragen bewegen
Eine Freiheitsgeschichte
Ein wichtiger Unterschied
Sex in der altorientalischen Welt
Gottes Design für den Menschen
Und Jesus schwieg?
Paulus und der Eros
Die Deutung des biblischen Befundes
Bringt uns das Gendersternchen zu Fall?
Kapitel 9
Wenn Bäume in die Hände klatschen: Himmel und Hölle
Das Übel hat einen Namen
Störfaktor der Evolution
Eine zerstörerische Kraft
Die Hölle
Sehnsucht nach Gerechtigkeit
Auschwitz wiedergutmachen?
Kapitel 10
Verspielen die Evangelikalen ihre Zukunft? Christsein nach der Zeitenwende
Vertrauensvoll die Bibel lesen
Ein Grundbestand des Glaubens
Kirche als Gegenkultur
Verantwortliche Ethik
Dank
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
In diesem Buch geht es um einen dynamischen und lebensnahen Glauben in der Postmoderne. Und eine tiefgreifende Krise. Die westliche Gesellschaft befindet sich in einem epochalen Umbruch. Der Toleranzgedanke wird zur gesellschaftlichen Grundverfassung. Wer nicht „woke“ ist, wird ausgegrenzt. Kirche und Glaube sind von der gesellschaftlichen Pluralisierung existenziell betroffen. Wir stehen in einer religiösen Zeitenwende, die nach einer gründlichen Auseinandersetzung verlangt.
Für viele Christen brechen Glaubensfundamente weg. Besonders betroffen sind die Evangelikalen. Viele werden von drängenden Fragen umgetrieben: Kann man heute noch an ein blutiges Opfer glauben, das Jesus am Kreuz brachte? Ist es moralisch vertretbar, am Gedanken von Himmel und Hölle festzuhalten? Sollten wir in Genderfragen zur toleranten Postmoderne aufschließen? Und nicht zuletzt: Kann man der Bibel vertrauen oder sollten wir sie kritisch lesen?
Die gegenwärtige Krise führt zu einer Polarisierung der religiösen Landschaft. Die einen ziehen sich auf fundamentalistische Positionen zurück. Sie möchten den Glauben bewahren und lassen der Welt ihren Lauf. Die anderen suchen den Anschluss an die postmoderne Lebenswelt. Sie bauen herkömmliche Glaubenskonstrukte ab und umarmen den Zeitgeist.
Dieses Buch bietet eine Alternative. Es entwirft ein Evangelium der Mitte jenseits von fundamentalistischer Engführung und progressiver Auflösung des Glaubensbestands. Es inspiriert, fundiert unfundamentalistisch zu glauben, zu denken und zu handeln.
Für eine schnelle Übersicht eignen sich das erste und das letzte Kapitel: Das erste Kapitel beschreibt die gegenwärtigen Veränderungen in Gesellschaft und Kirche und klärt Begriffe wie „postevangelikal“ und „progressiv“. Die weiteren Kapitel bieten eine verständliche Auseinandersetzung mit Themen, die besonders unter Diskussion stehen und grundlegend für den christlichen Glauben sind. Das letzte Kapitel zeigt für evangelikale Christen und Gemeinschaften einen Weg in die Zukunft. Es beschreibt die Aufgaben, die wir anpacken müssen, wenn wir unsere Zukunft nicht verspielen wollen.
Seit einigen Jahren erlebe ich, wie sich bei Freunden der Glaube verändert oder das Fundament des Glaubens wegbricht. Es gibt eine zunehmende Zahl engagierter Christen, die ihren bisherigen Glauben hinter sich lassen und der Kirche den Rücken kehren. Sie verlassen ihre Gemeinschaften und ziehen sich in einen privaten Glauben zurück, den sie mit ein paar Gleichgesinnten auf ein Bier oder in der digitalen Kirche leben. Ein Dozentenkollege hat sich von seinen traditionellen Glaubensvorstellungen befreit und lobt jetzt eine amerikanische Pastorin, die Keuschheitsringe von jungen Frauen sammelt und sie in eine goldene Vagina umgießt. Ein anderer Freund, der wie ich evangelikal geprägt ist, hat seinen Glauben verloren. Er sagt jetzt, dass sein Glaube sich darauf beschränke, „dass es da oben jemand oder etwas gibt“.
Diese Geschichten reihen sich ein in Biografien von prominenten Persönlichkeiten, die ihren alten Glauben als eng und verurteilend empfinden und sich mit dem Etikett „evangelikal“ nicht mehr identifizieren können. Sie fühlen sich befreit, wenn sie nicht mehr an ein blutiges Opfer glauben müssen oder die Vorstellung von Himmel und Hölle hinter sich lassen können.
Meine eigene Glaubensgeschichte hätte ähnlich verlaufen können. Ich wurde in einem fundamentalistischen Milieu im Glauben erzogen. Unsere Welt war zunächst angenehm eindeutig: Ich wurde gelehrt, dass die Bibel Gottes Wort ist, das nicht irren kann. Wer diesen Glauben nicht teilte, konnte nicht richtig Christ sein. Jesus wurde unserer Auffassung nach geboren, um zu sterben. Dass zwischen seiner Geburt und seinem Tod ein Leben lag, das ein Vorbild bietet, wie man das Leben und die Welt gestalten kann, kam nicht in unser Blickfeld. Im Rückblick wurde mir klar, dass wir das Leben nicht gestaltet haben, wir warteten bloß das Ende ab.
Die Welt, in der ich aufwuchs, vermittelte mir die Gewissheit, zu den Auserwählten zu gehören, die treu an der Bibel festhielten, während andere ziemlich liberal und weiter vom Evangelium entfernt waren als wir. Der Begriff spielte damals noch keine so große Rolle, aber wir waren Fundamentalisten. Die Erwachsenen in der Gemeinde, die diesen Begriff für sich beanspruchten, trugen ihn mit Stolz.
Später bekam mein Fundament Risse. In der theologischen Ausbildung stieß ich auf eine Fülle von Literatur, die mir deutlich machte, dass unsere Sicht nur eine von vielen war. Ich begann die Bibel mit neuen Augen zu lesen. In mir wuchs die Bereitschaft, von anderen Ansichten zu lernen. Ganz langsam tat sich vor mir ein Weg aus der Enge in die Weite auf. Auf diesem Weg habe ich gelernt, dass es eine Differenz gibt zwischen der biblischen Wahrheit und meiner Erkenntnis. Heute verspüre ich nicht mehr das Bedürfnis, alles in der Bibel erklären zu müssen. Ich habe keine Angst mehr davor, die Kontrolle zu verlieren, wenn ich mit unbeantworteten Fragen leben muss. Mein Glaube hat sich verändert, aber mein Haus des Glaubens steht noch. Das Fundament ist in meiner Kindheit in jenem fundamentalistischen Milieu gelegt worden, als man mir die biblischen Geschichten erzählte. Im Hören auf sie wuchs ein Glaube, der allen Umbrüchen getrotzt hat und mich heute noch trägt.
Es geht mir wie dem Schriftsteller Thomas Hürlimann, der sich von der Religion seiner Kindheit löste und als Erwachsener neu für den Glauben sensibilisiert wurde:1 Ich möchte nicht zurück zum behüteten Glauben meiner Kindheit, der mir zwar ein tragfähiges Fundament vermittelte, aber auch viel Beengendes und Rechthaberisches enthielt. Noch weniger aber möchte ich in einer Welt leben, in der das Evangelium nur noch in homöopathischer Verdünnung verabreicht wird und die Moral sich auf den Satz beschränkt: „Du sollst den Abfall trennen.“ Die eine Welt ist mir zu pessimistisch und zu eng, die andere zu progressiv und zu haltlos.
Im Gespräch mit Christen und Leitern aus evangelikalen Kirchen und Verbänden spüre ich eine große Verunsicherung. Es gibt eine wachsende Zahl von Christen, die den Eindruck haben, „dass ihr bisheriger Glaube nicht mehr funktioniert, keine Begeisterung mehr weckt, keine Antworten auf brennende Fragen bietet und in seiner Perspektive vor allem rückwärtsgewandt ist“.2
Woher rührt diese Verunsicherung?
Wir befinden uns mitten in einem gesellschaftlichen Umbruch, der unsere Art zu denken, zu handeln und zu glauben verändert. Die Veränderung spiegelt sich in den nackten Zahlen wider:
In Deutschland liegt der Anteil der Evangelischen und Katholischen erstmals seit Jahrhunderten unter 50 Prozent. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist konfessionslos.
In den 1960er-Jahren waren 95 Prozent der Schweizer Bevölkerung Glieder der römisch-katholischen oder der evangelisch-reformierten Kirche. Lediglich 1 Prozent gehörte keiner Religionsgemeinschaft an. 2020 hatten die Religionslosen mit 30 Prozent die Evangelischen mit 20 Prozent überholt. Nur noch 50 Prozent der Bevölkerung haben eine zumindest nominelle Zugehörigkeit zu einer der Landeskirchen oder den Freikirchen.3
Wir befinden uns mitten in einem epochalen Umbruch. Das Zeitalter der Moderne geht in die Postmoderne über. Es entstehen neue Deutungsmuster, neue Lebenszusammenhänge und neue religiöse Identitäten.
Dass wir uns in einem tiefgreifenden Umbruch befinden, wurde erstmals spürbar, als ich in den 1960er-Jahren geboren wurde. Damals holte die Sittenpolizei in der Schweiz noch unverheiratete Paare aus den Betten und zeigte sie wegen Sittenlosigkeit an. Aber dann kamen die Beatles und die Rolling Stones mit ihrem völlig neuen Lebensgefühl, die Studenten protestierten gegen den bürgerlichen Muff und die sexuelle Revolution nahm ihren Lauf. Mit der Befreiung der Jugend von traditionellen Vorstellungen brach das an, was wir die Postmoderne nennen.
Wenn wir Christen die Gegenwart verstehen und unsere Zukunft nicht verspielen wollen, müssen wir ein Verständnis dafür entwickeln, wie Postmoderne und Glauben zusammengehen können.
Die Postmoderne prägt unser Denken und Handeln, obwohl sie möglicherweise ein bloßer Wimpernschlag in der Geschichte ist. Einige sehen schon das Ende der postmodernen Toleranz kommen, obwohl wir uns gerade erst an den Begriff gewöhnt haben. In Philosophie und Geschichtswissenschaft ist davon die Rede, dass die Postmoderne bereits wieder „tot“ sei und ein „neuer Realismus“ am Horizont der Geschichte stehe.4 Möglicherweise ist das mehr Wunsch als Realität. Wohin sich die Gesellschaft entwickelt, vermag niemand sicher vorauszusagen. Sicher ist gegenwärtig nur: Die westliche Welt befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Wir stehen in einer Zeitenwende.
Gleichzeitig ist unsere gegenwärtige Situation die konsequente Fortsetzung einer zweihundert Jahre währenden Entwicklung, die am besten mit dem Begriff „Freiheit“ erfasst werden kann. Die Postmoderne ist nichts grundsätzlich Neues, sie ist das jüngste Kapitel einer Freiheitsgeschichte, die mit der Aufklärung begann. Die prägenden Denkmuster sind Freiheit, Individualität und Pluralität.5 Im Gegensatz zur Moderne mit ihrer strengen christlichen Moral sind die Menschen in der Postmoderne freier. Jeder kann seine eigenen Wertsetzungen leben. Ein kultureller, philosophischer oder religiöser Denkrahmen, der die Gesellschaft eint, existiert kaum noch.
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war Europa ein christlicher Kontinent. Religion war Teil des öffentlichen Lebens. Ein Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte veranschaulicht das: Im Oktober 1955 kehrten die letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion nach Deutschland zurück. Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte ein entsprechendes Abkommen mit dem Kreml geschlossen. Als der Buskonvoi mit den Soldaten in das Lager Friedland einfuhr, stimmte die wartende Menge den Choral „Nun danket alle Gott“ an.
Heute wäre das undenkbar. Das Verhältnis zur Religion hat sich grundlegend verändert. In der Postmoderne ist Religion Privatsache. Wenn es um das öffentliche Leben geht, muss die Religion ebenso draußen bleiben wie der Hund vor dem Supermarkt. Wer mehr Religion in Gesellschaft oder Politik will, kann ja auswandern, zum Beispiel in den Iran. Die Religion befindet sich im säkularisierten Westen im permanenten Krisenmodus.
Der Pluralismus der Postmoderne ist kein völlig neues Phänomen. Er hat seine antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorformen. Neu ist, dass die postmoderne Pluralität radikaler ist als jede vorherige. Sie ist so radikal, dass sie nicht mehr durch Gegentrends aufgefangen werden kann und zur gesellschaftlichen Grundverfassung wird.6
In der Postmoderne ist alles möglich und alles im Fluss. Wir können unsere Sexpartner wählen, unsere Art zu glauben und sogar unser Geschlecht. Christliche Wertvorstellungen werden einem veralteten Weltbild zugeschlagen und radikal dekonstruiert. Ein Teil der Christenheit schaut zu und schweigt oder applaudiert.
Das Christentum in der westlichen Welt befindet sich in der größten Krise seit der Reformation. Viele Christen fragen: Wie gehen Postmoderne und Glauben zusammen? Kann man auch anders glauben? Die Bibel anders lesen? Muss man toleranter werden?
Fragen dieser Art hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Das aktuelle Fragen aber geht tiefer. Mit dem Anbruch des neuen Jahrtausends hat es auch die konservativen Gebiete der religiösen Landschaft erreicht. Die Evangelikalen, die stets als bibelfest galten, sehen sich einer massiven Dekonstruktion des Glaubens gegenüber, nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in ihren eigenen Reihen.
Nachdem der Evangelikalismus als religiöses Phänomen lange ignoriert worden war, hat er inzwischen das Interesse der Medien und der Wissenschaft geweckt. Das Wachstum evangelikal ausgerichteter Kirchen vor dem Hintergrund schrumpfender Landeskirchen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts fasziniert Soziologen und Religionswissenschaftler. Ein Ausdruck dieses Interesses ist das „Handbuch Evangelikalismus“, in dem Fachleute verschiedener Richtungen eine kritische, aber faire Würdigung des Phänomens des Evangelikalismus bieten.7
Mit dem neuen Jahrtausend hat sich die Situation der Evangelikalen dramatisch verändert. Von Wachstum ist keine Rede mehr. Evangelikale Gemeinschaften verlieren massiv Mitglieder. Sicher geglaubte Glaubenskonstrukte werden abgebaut. Die Krise des Christentums hat die Evangelikalen voll erfasst. Manche, die in evangelikalen Gemeinschaften zu Hause sind, möchten den Begriff nicht mehr für sich verwenden, obwohl sie sich mit klassischen „evangelikalen“ Glaubensinhalten nach wie vor identifizieren. Die Gründe dafür sind vielfältig: Das negative Bild, das in den Medien von den Evangelikalen gezeichnet wird, entspricht der Selbstwahrnehmung vieler nicht. Andere möchten sich nicht mit dem Begriff identifizieren, weil viele Evangelikale in den Vereinigten Staaten die Politik von Donald Trump unterstützen. Nochmals andere möchten sich einfach als Christen in evangelischer Weite verstehen und kein Etikett für sich in Anspruch nehmen.
Seit dem Anbruch des Jahrtausends kommt Kritik an evangelikalen Formen des Glaubens nicht nur von säkularer, sondern verstärkt auch von kirchlicher Seite. Grenzgänger zwischen progressiven und konservativen Formen des Glaubens üben substanzielle Kritik am Evangelikalismus.8 Das Problem mit den meisten Darstellungen ist, dass sie Fremdwahrnehmungen evangelikalen Glaubens bieten. Teilweise sind sie verzerrt, weil nicht zwischen Evangelikalen und Fundamentalisten unterschieden wird.
Im Fokus dieses Buchs stehen der evangelikale Glaube und die Herausforderungen, denen er sich gegenübersieht. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Evangelikalismus ist nötig. Aber sie muss fair sein und auch von innen kommen. Sie muss eine kritische Selbstreflektion bieten und Glaube und Gesellschaft in Beziehung zueinander setzen. Glaube hält epochalen Umbrüchen nicht stand, wenn er sich nur in der Vergangenheit verortet, er muss sich auch in der gegenwärtigen Lebensrealität bewähren. Und die ist heute eine völlig andere als zu jener Zeit, in der man öffentlich „Nun danket alle Gott“ sang.
Der postmoderne Rückbau des religiösen Weltgebäudes stellt die Evangelikalen vor die Gretchenfrage, wie sie es mit dem Glauben halten. Unter den Evangelikalen gibt es Tendenzen, sich in theologischen und ethischen Fragen dem liberalen Programm der Landeskirchen anzugleichen. Udo Schnelle, Professor emeritus für Neues Testament, kritisiert in einem „idea“-Artikel den liberalen Kurs der evangelischen Landeskirchen. Sie dienten sich dem Zeitgeist an und verspielten so ihre Zukunft.9
Sind die Evangelikalen daran, denselben Fehler zu begehen? Verspielen sie ihre Zukunft?
Dieses Buch bietet eine Innenperspektive evangelikalen Glaubens. Sachlich, fair und selbstkritisch. Ich analysiere die religiöse Landschaft mit besonderem Fokus auf den Evangelikalen, gehe den Ursachen der gegenwärtigen Krise nach und zeige einen Weg in die Zukunft.
Was bedeutet es, in der radikalen Pluralität der Postmoderne Christ zu sein, und was gehört ohne Wenn und Aber zum christlichen Glauben? Das ist die Frage, die sich der evangelikalen Bewegung schicksalshaft stellt.
Vor uns liegt eine richtungsweisende Suche nach der Wahrheit des Evangeliums. Fünfhundert Jahre nach der Reformation stehen wir erneut vor einer Weichenstellung. Die Reformatoren fragten sich, was die Wahrheit des Evangeliums für das katholische Europa sei, und fanden Antworten, die den Lauf der Geschichte beeinflusst haben. So wichtig und so richtig ihre Einsichten waren, konnten sie die Wahrheit des Evangeliums nur für ihre eigene Zeit beantworten.
Uns stellt sich die Frage nach dem Evangelium für unsere Zeit. Es ist dasselbe Evangelium, aber es sind andere Fragen, die nach Antworten verlangen. Wir müssen mit derselben Entschlossenheit, mit der Luther, Calvin und andere Reformatoren ans Werk gingen, fragen, was die Wahrheit des Evangeliums für unsere Zeit ist. Wir müssen Klarheit darüber haben, welche biblischen Wahrheiten unverhandelbar sind, welche religiösen Konstrukte wir abbauen müssen und in welchen Bereichen wir eine Neukonstruktion wagen sollten, ohne das Fundament einzureißen.
Wir müssen uns auf unbequeme Fragen einstellen und uns daran erinnern, dass zum Glauben denkerische Auseinandersetzungen gehören: Auf was können wir uns verlassen? Gibt es so etwas wie „die Wahrheit“ überhaupt oder war das eine Erfindung der Moderne? Können wir Gott erkennen oder sind wir wie die Blinden in der berühmten Karikatur, die den Elefanten berühren, der eine den Schwanz, der andere den Rüssel und alle meinen, sie würden die Wirklichkeit kennen?
Wir müssen durch hartnäckiges Fragen die biblische Welt und die heutige Lebensrealität zusammenbringen: Wie stellen wir uns als Christen ganz grundsätzlich zu gesellschaftlichem Wandel? Muss man in einer Welt, in der jeder nach seiner eigenen Wertsetzung lebt, die Ethik der Bibel dekonstruieren? Was steckt hinter dem viel bemühten Begriff „Dekonstruktion“ überhaupt? Waren biblische Werte schon damals, als die biblischen Schriften entstanden, nur eine menschliche Meinung? Wurden die Autoren der Bibel vom Heiligen Geist geleitet, als sie schrieben, oder sind ihre Texte ein bloßer Versuch, dem Heiligen auf die Spur zu kommen? Kann jemand, der an Himmel und Hölle glaubt, heute noch ernst genommen werden? Nicht zuletzt: Was bedeutet es ganz praktisch, das Evangelium heute glaubwürdig zu repräsentieren?
Auf diesen Fragenkatalog gibt es zwei gegensätzliche Sets von Antworten, die im gegenwärtigen Umbruch besondere Attraktivität ausstrahlen. Sie sind Ausdruck eines Risses in der Christenheit zwischen „konservativ“ auf der einen und „progressiv“ auf der anderen Seite und Ursache einer wachsenden Polarisierung.
Auf der einen Seite gibt es progressive Kräfte, die dem gesellschaftlichen Wandel positiv gegenüberstehen und Kritik an konservativen Formen des Christentums üben.
Seit der Jahrtausendwende formiert sich mit wachsender Geschwindigkeit eine progressive Bewegung mit liberaler Ausrichtung. Progressive Christen stellen ähnliche Fragen, wie sie im liberalen Christentum des 19. Jahrhunderts gestellt wurden. Alte Glaubenskonstrukte werden abgebaut und die Kirche kritisiert oder ganz verlassen. Weil viele Exits aus evangelikalen Gemeinden kommen, wird auch von den „Postevangelikalen“ gesprochen.10
Für viele von ihnen beginnt der Aufbruch über die Grenzen ihrer kirchlichen Zugehörigkeit hinaus mit einem Gefühl der Diskrepanz. Sie merken, dass die Art, wie in ihren Gemeinden die Bibel interpretiert wird, für sie nicht mehr stimmig ist. Sie fragen sich, ob man nicht auch anders glauben und die Bibel anders interpretieren kann. Christoph Schmieding benennt in seiner Internet-Kolumne einige der Fragen, die Postevangelikale umtreiben:11 Kann man noch an Himmel und Hölle glauben? Ist Gott als allmächtig denkbar angesichts des Leides in der Welt? Kann man die eigene Religion als exklusiv betrachten? Ist die Sexualmoral der Bibel heute noch eine moralische Referenz? Müssen wir die Bibel nicht auch kritisch lesen?
Postevangelikale Christen kritisieren konservative Formen des Glaubens als ungenügend, problematisch und verletzend. Viele von ihnen sind wie ich in Gemeinschaften mit fundamentalistischem Einschlag aufgewachsen. Sie haben negative Erfahrungen mit Leitungspersönlichkeiten gemacht und fühlen sich unverstanden oder beengt. Eine wachsende Zahl schließt sich Gruppierungen an, die stärker in die Gesellschaft integriert sind, oder lebt ihren Glauben privat. Für einige bricht das Glaubensfundament ganz weg. Sie verlassen als „säkulare Exits“ ihre Gemeinschaften und lassen den Glauben hinter sich.12
In der Diskussion hat sich für diese Vorgänge der aus der Philosophie entlehnte Begriff „Dekonstruktion“ durchgesetzt. Der Begriff bedeutet in unserem Zusammenhang, dass Glaubensüberzeugungen bewusst abgebaut werden. Mal sachlich, mal eruptiv, mal wissenschaftlich reflektiert. Hauptakteure sind Persönlichkeiten mit liberalem Hintergrund oder Grenzgänger zwischen progressiven und konservativen Formen des Glaubens.
Obwohl sich Postevangelikale an der Dekonstruktion des Glaubens beteiligen, darf man sie nicht darauf reduzieren. Ein beträchtlicher Teil möchte den Glauben nicht hinter sich lassen, sondern neue Glaubensformen finden und neue Inhalte erarbeiten. Martin Benz, der sich dem postevangelikalen Milieu zuordnet, drückt es so aus: „Ich möchte vorwärtsglauben, in die Zukunft glauben und mit meinem Glauben leidenschaftlich alt werden. Ich möchte nicht akzeptieren, dass Teile meines Glaubens immer irrelevanter werden und mit meinem Alltag wenig zu tun haben. Meine Lebensrealität muss in meinem Glauben ein Zuhause finden und nicht von ihm wegdriften.“13
Das eigentliche Anliegen des Postevangelikalismus ist nicht nur die Dekonstruktion des Glaubens, sondern seine Neukonstruktion unter den Voraussetzungen der Postmoderne.
Gegenwärtig befindet sich der Postevangelikalismus in einer Protestphase. Postevangelikale suchen ein neues Zuhause für ihren Glauben, indem sie sich von alten Konstrukten lösen und gegen diese protestieren. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Protest nicht das Eigentliche ist. Der mennonitische Theologe Lukas Amstutz nennt sechs positive Anliegen der Bewegung. Viele Postevangelikale haben zustimmend auf seinen Beitrag reagiert und können sich damit identifizieren:14
Die Bibel und ihre Auslegung: Postevangelikale beschäftigt die Unterschiedlichkeit biblischer Texte mit ihren teils spannungsvollen Aussagen. Einsichten der Bibelwissenschaften helfen ihnen, die Texte in ihrem Kontext zu lesen und ihre Weisheit in die moderne Lebenswelten zu übersetzen.
Ganzheitliches Evangelium: Postevangelikale sorgen sich nicht primär um das Seelenheil, sondern erwarten, dass die Gute Nachricht vom Reich Gottes bereits heute zu einem christlichen Lebensstil anstiftet, der auch soziale und ökologische Gerechtigkeit umfasst.
Das Verhältnis zur Welt: Postevangelikale erleben, dass auch außerhalb der Kirche viel Gutes geschieht. Sie erkennen darin das Wirken Gottes und sind bereit, Wege des Miteinanders zu suchen, die ein friedliches Zusammenleben fördern.
Gemeinschaft vor Strukturen: Postevangelikale pflegen neue Formen von Gemeinschaften, die Gruppenzugehörigkeit mit Flexibilität, Authentizität, Respekt vor der persönlichen Individualität und Platz für Scheitern zu verbinden suchen.
Glaubwürdiges Christsein: Postevangelikale scheuen sich nicht, Fragen und Zweifel offen zu formulieren. Schnellen und einfachen Antworten misstrauen sie. Sie ziehen es vor, mit gewissen Spannungen und Brüchen zu leben, anstatt eine christliche Doppelmoral zu leben.
Die Liebe Gottes als Hauptantrieb: Postevangelikale lassen sich von der Liebe Gottes motivieren, ihren Glauben mit anderen zu teilen. In dieser Liebe sehen sie auch ihre Offenheit gegenüber anderen Lebensentwürfen und -formen begründet.
Postevangelikale möchten evangelikale Engführungen vermeiden und ihren Glauben in evangelischer Weite neu konstruieren. Es geht ihnen darum, einen für die Postmoderne lebenstauglichen Glauben zu entwickeln. Sie möchten nicht Fremdkörper in der Gesellschaft sein, sondern mit dem Evangelium heilsam in die Welt hineinwirken.
Was bedeutet es, den Glauben neu zu konstruieren? Es geht in den meisten Debatten darum, den christlichen Glauben und die postmoderne Kultur zusammenzubringen. Eine wichtige Rolle spielt die Sexualethik. Progressive verschiedener kirchlicher Hintergründe versuchen, eine Ethik zu konstruieren, die mit der postmodernen Toleranz kongruent ist. Unter christlichen Vorzeichen schreiben sie an der Freiheitsgeschichte der westlichen Kultur mit und bringen ihre Ansichten ein. Viele von ihnen wollen das nicht ohne die Bibel tun und fragen deshalb, ob man bestimmte Texte nicht ganz anders lesen müsste.
Hilfe finden sie bei diesem Unternehmen in der bibelkritischen Universitätstheologie der modernen Bibelwissenschaft. Hierbei werden die biblischen Texte als zeitbedingt verstanden, so spreche Paulus in seiner Ablehnung homosexueller Praxis nicht als Apostel, sondern als Kind seiner Zeit.15 Ethische Wertsetzungen der Bibel müssten deshalb als Antwort auf den damaligen Kontext verstanden werden und könnten nur bedingt auf heute übertragen werden. Entscheidend in ethischen Fragen sei die Liebe, welche die Bibel ins Zentrum aller Beziehungen setze. Wenn zwei Menschen gleichen Geschlechts sich dauerhaft in Liebe verbinden, sei die Liebe als oberstes Gebot stärker zu gewichten als die Form des Zusammenlebens. Das Postulat von der Zeitbedingtheit biblischer Aussagen bietet Progressiven die Möglichkeit, biblische Texte und postmoderne Toleranz einander näherzubringen.
Manche progressiven Vordenker legen die Axt an die Wurzel des Baumes und erzählen die biblische Story völlig neu. In ihr verschwinden Gegensätze, die in traditionellen Ansätzen von grundsätzlicher Wichtigkeit sind. Die Gegensätze zwischen Himmel und Hölle oder zwischen Kirche und Welt verlieren an Erzählkraft oder spielen keine Rolle mehr. Die Vorstellung einer buchstäblichen Hölle wird einem veralteten Weltbild zugeschlagen. Die Bibel erzähle keine Geschichte über Verlorenheit und Rettung, sondern über Liebe und Befreiung.
Grundsätzlich ist in progressiven Formen des Glaubens der Versuch zu beobachten, die Differenz zwischen biblischen Positionen und der postmodernen Mehrheitskultur zu verringern. Um dies zu erreichen, wird eine neue Erzählstruktur des Evangeliums vorgeschlagen.
Traditionell steht das Opfer von Jesus am Kreuz im Zentrum der biblischen Story. Dieser traditionelle Opferbegriff wird von Progressiven umgedeutet. Die beiden englischen Wörter „sacrifice“ und „victim“, die beide „Opfer“ bedeuten, erklären die Umdeutung gut: Der Tod von Jesus war nach progressiver Lesart nicht ein „sacrifice“ zur Sühnung unserer Sünden, sondern Jesus starb als „victim“ einer ungerechten Gesellschaft. Jesus starb nicht „für“ unsere Sünden, sondern „wegen“ unseren Sünden.
Mit dieser Umdeutung entsteht ein neues Verständnis vom Evangelium und ein verändertes Verhältnis zur Welt: An die Stelle der Verlorenheit des Menschen und des Kreuzes treten die Liebe Gottes und seine Königsherrschaft. Es gehe im Evangelium nicht um individuellen Seelenfrieden und nicht um die Herausrettung aus der Welt in ein jenseitiges Reich. Es gehe um den Bau des Königreichs in dieser Welt und um Gottes heilsames Hineinwirken in die Gegenwart. Mit dieser Neuerzählung möchten progressive Kräfte die Tendenz zur Weltverneinung im Christentum überwinden.
Eine zunehmende Zahl von Evangelikalen begrüßt, dass in progressiven Denkansätzen eine latente Weltverneinung überwunden werden soll, aber sie fragen sich, ob hier nicht zu radikal umgebaut wird.
Bei den Exits, die sich in Büchern und Blogs zu ihrem Ausstieg aus evangelikalen Gemeinschaften äußern, kann ein starkes theologisches Interesse festgestellt werden. Viele Exits lassen den Glauben nicht uninteressiert hinter sich. Sie wollen für sich selbst tragfähige Bekenntnisse formulieren, sodass ihr Glaube nicht vorgefertigt ist, sondern authentisch gelebt werden kann. Gleichzeitig bringen sie eine antidogmatische Haltung in die Diskussion ein.16 Antidogmatisch heißt: Sie sind zurückhaltend, wenn es darum geht, aus der Bibel Wahrheiten bzw. Dogmen abzuleiten. Sie haben ein spürbares Unbehagen gegenüber Standpunkten, die „dogmatisch“ daherkommen oder potenziell ausschließenden Charakter haben.
Es geht den meisten Postevangelikalen nicht um eine generelle Absage an den Glauben. Sie versuchen, eine Brücke zwischen der Welt der Bibel und der Postmoderne zu schlagen. Sie sind gegen kulturell konservative Formen des Christentums, weil sie glauben, dass manche Glaubenssätze evangelikaler Gemeinden mehr das Zeitalter der Moderne mit ihren eindeutigen Standpunkten widerspiegeln als die Weite des Evangeliums.
Theologisch interessierte Postevangelikale haben eine klare Mission: Sie wollen die Substanz des Evangeliums aus der Moderne in die Postmoderne hinüberretten.
Progressive Christen stellen die richtigen Fragen. Sie haben ein feines Gespür für religiöse Fehlleistungen, von Denkverboten über Rechthaberei bis zu Machtmissbrauch. Ich habe progressive Freunde, die die richtigen Fragen stellen und innovative Vorschläge einbringen, wie man den Glauben neu konstruieren kann. Ihre Kritik deckt auf, dass es in manchen evangelikalen Gemeinden Unerlöstes, Beengendes und Weltfremdes gibt. Obwohl mich manches beunruhigt, was sie als Lösung des Problems vorbringen, höre ich ihnen gerne zu und bin bereit, von ihnen zu lernen. Ihre aufgeschlossene Art zu glauben inspiriert mich, den Herausforderungen der Gegenwart offen zu begegnen.
Auf der anderen Seite der religiösen Landkarte gibt es konservative Kräfte, die an traditionellen Glaubensinhalten festhalten und sie gegen liberale Auflösungserscheinungen verteidigen.
In diesem Bereich der religiösen Landschaft sind christliche Fundamentalisten und manche Evangelikale zu Hause. Die Fundamentalisten kann man auch zu den Evangelikalen zählen, aber Evangelikale sind bei Weitem nicht alle Fundamentalisten.17 Fundamentalisten stehen kulturellem Wandel grundsätzlich kritisch gegenüber. In gesellschaftlichen Fragen vertreten sie konservative Werte. Die Ehe ist für die Gemeinschaft zwischen Mann und Frau reserviert. Der Tod Jesu am Kreuz war ein Sühneopfer, das vor dem Zorn Gottes rettet, sofern Christus durch Buße und Glauben angenommen wird.
Der Fundamentalismus fällt durch eine dezidierte Weltverneinung auf. Während Progressive die Welt mit dem Evangelium gestalten wollen, wollen Fundamentalisten die Welt hinter sich lassen. Teile der Fundamentalisten ziehen sich ins gesellschaftliche Niemandsland zurück. Sie grenzen sich von der Welt ab, während Progressive keine Probleme damit haben, mit dem Zeitgeist zu gehen. Die beiden Ansätze, die wenig verbindet, bilden zwei markante Gegenpole in der religiösen Landschaft.
Während Progressive ein starkes Interesse an Theologie haben und eine antidogmatische Attitüde pflegen, ist es bei Fundamentalisten genau umgekehrt: Sie stehen der Theologie als Wissenschaft skeptisch gegenüber und favorisieren dogmatische Zugänge zur Bibel. Konkret bedeutet das: Fundamentalisten lehnen die meisten Ergebnisse der wissenschaftlichen Theologie aus universitärer Feder ab. Gleichzeitig haben sie die Tendenz, dogmatische Konstrukte zu errichten, die sich oft auf wenige Bibelstellen gründen.
Fundamentalisten haben tiefes Vertrauen in die Bibel als Wort Gottes. Anderseits bekunden sie Mühe mit offenen Fragen und lösen spannungsvolle Aussagen in der Bibel schnell dogmatisch auf. Sie glauben, dass sich durch ernsthaftes Bibelstudium jegliches theologische Problem lösen lässt. In dieser Hinsicht sind Fundamentalisten hoffnungslos modern. Obwohl Fundamentalisten der Moderne und der mit ihr verbundenen Aufklärung ablehnend gegenüberstehen, haben sie die moderne Idee von der menschlichen Machbarkeit übernommen. In der Moderne kam die Überzeugung auf, der Mensch könne durch Wissenschaft und Fortschritt jedes Problem lösen, wenn er sich ernsthaft genug bemüht. Beflügelt durch immer neue Erfindungen setzte sich die Idee der menschlichen Machbarkeit durch. Die meisten Fundamentalisten haben dieses Mindset unreflektiert in ihr Schriftverständnis integriert.
Wenn man konservative Standpunkte richtig einordnen will, muss man die Geschichte des Fundamentalismus kennen. Sie hilft insbesondere, die fundamentalistische Weltverneinung und die Wissenschaftsskepsis zu verstehen.
Die Wurzeln des Fundamentalismus liegen in den gesellschaftlichen Entwicklungen der Vereinigten Staaten um die Wende zum 20. Jahrhundert. Um diese Zeit veränderten die Denkweise der Aufklärung und der wissenschaftliche Fortschritt die westliche Kultur nachhaltig. Immer mehr protestantische Theologen wandten sich von traditionellen Glaubensinhalten ab. Sie vermochten ihren Glauben nicht mehr mit der wissenschaftlichen Wirklichkeit zu verbinden und wurden „modern“. Sie sprachen von Sünde nicht mehr als individueller Schuld vor Gott, sondern als gesellschaftlichem Problem. Ihrem Verständnis nach bedeutete Erlösung nicht die Vergebung von Schuld, sondern die Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen.18 In dieser Zeit fand die Evolutionstheorie von Charles Darwin ihren Weg von den Universitäten in die Schulen und auf die Kanzeln vieler Kirchen.
Der konservative Protestantismus in den Vereinigten Staaten war alarmiert. Er antwortete auf die Herausforderungen der Wissenschaft und die Säkularisierung der Gesellschaft mit den „Fundamentals“. So lautete der Name einer Serie von Aufsätzen, die eine Auflage von drei Millionen Exemplaren erreichten und weltweit Verbreitung fanden.
In den Fundamentals brachten angesehene Wissenschaftler theologische Standpunkte zur Geltung, die für den konservativen Protestantismus grundlegend waren. Der Ton der Fundamentals war ernsthaft, aber angemessen, die Inhalte der einzelnen Aufsätze gründlich und verständlich. Christen, die sich mit den Inhalten der Fundamentals identifizierten, wurden als „Fundamentalisten“ bekannt. Ab den 1920er-Jahren war der Begriff in den Vereinigten Staaten üblich. Der Begriff bedeutete ursprünglich also einfach „konservativ“.
Die Fundamentalisten argumentierten auf der Höhe der Zeit und konnten das Feld zunächst behaupten. Dann aber setzte eine Entwicklung ein, die den Fundamentalismus an Glaubwürdigkeit verlieren ließ. Es gab immer weniger hervorragende Wissenschaftler in den Reihen der Fundamentalisten. Als ihnen die Argumente ausgingen, setzten sie ihren Kampf mit Polemik fort und griffen die Gegner persönlich an.19 Fundamentalistisch gesinnte Christen begannen sich von der Mehrheitsgesellschaft zu distanzieren und sahen von Theaterbesuchen, weltlicher Musik und gesellschaftlichem Engagement ab.
In der Anfangszeit des Fundamentalismus setzte sich ein Narrativ durch, das fundamentalistische Christen bis heute prägt: Die Welt ist ein sinkendes Schiff. Warum ein Schiff reparieren, das untergeht?
Je stärker die Säkularisierung fortschritt, desto eifriger begannen sich die Fundamentalisten über das zu definieren, was sie bekämpften. Das prägt den Fundamentalismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen bis heute. Der Kampf gegen bestimmte Ansichten, vor allem gegen liberale und bibelkritische, gehörte von Anfang an zur fundamentalistischen Identitätskonstruktion. Der Satz „A fundamentalist is an evangelical who is angry about something“ von George Marsden zeigt, wo die Unterschiede zwischen Evangelikalen und Fundamentalisten liegen:20 Sie teilen die meisten Glaubensinhalte, aber nichtfundamentalistische Evangelikale sind weltoffener, während Fundamentalisten die Welt grundsätzlich als Problem wahrnehmen.
Bald nach dem Erfolg der Fundamentals kam es zu Argwohn und Spaltungen: „Der Wandel vollzog sich ganz allmählich. Ursprünglich eine Bewegung von echter Gelehrsamkeit mit positiven Aussagen und einer gewissen Breite der evangelischen Basis wurde der Fundamentalismus nach und nach zu einer negativen, defensiven und reaktionären Angelegenheit mit verengtem theologischem Horizont ohne akademisches Niveau und ohne literarische Produktivität.“21
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden unter den Fundamentalisten Stimmen laut, die Kritik an der eigenen Sache übten. Angesehene konservative Theologen und Wissenschaftler hielten an den Glaubensgrundsätzen der Fundamentalisten fest, distanzierten sich aber vom polemischen Stil und dem Gedanken der Weltverneinung. Die neuen Kräfte nannten sich „New Evangelicals“. Der Name war Programm. Der neue Evangelikalismus knüpfte an die Frühzeit der Evangelicals im England des 18. Jahrhunderts an. Damals prägten konservative Christen wie William Wilberforce die Gesellschaft, als sie erfolgreich den Kampf für die Abschaffung der Sklaverei führten.
Die neuen Evangelikalen strahlten mit Persönlichkeiten wie dem amerikanischen Evangelisten Billy Graham (1918–2018) und dem britischen Pastor John Stott (1921–2011) schnell in alle Welt aus.22 In Deutschland fanden erweckliche Kreise aus den Freikirchen, dem Pietismus und den Landeskirchen mit den neuen Evangelikalen aus Amerika zusammen. Dieses Zusammenfinden führte zum Aufbruch der modernen evangelikalen Bewegung im deutschsprachigen Raum, wie wir sie heute kennen.
Von der Mitte des 20. Jahrhunderts an entwickelte die weltweite evangelikale Bewegung eine beträchtliche Dynamik, die bis zum Ende des Jahrhunderts anhielt.23 Ihr Erfolg machte ein dynamisches Miteinander von konservativen Standpunkten und gesellschaftlicher Aufgeschlossenheit aus. Die neue Bewegung war theologisch und ethisch konservativ, aber offen für gesellschaftliche Veränderungen und soziale Anliegen. Dieses dynamische Miteinander prägt den evangelikalen Mainstream bis heute. Ein Teil aber blieb auf beiden Seiten des Atlantiks allen Neuerungen gegenüber ablehnend, sodass die evangelikale Bewegung bis heute einen starken fundamentalistischen Flügel hat.
Aus diesen geschichtlichen Streiflichtern wird deutlich: Der christliche Fundamentalismus ist nicht dasselbe wie der islamische Fundamentalismus, der militant ist. In Abgrenzung zum Militantismus bevorzugen christliche Fundamentalisten im deutschen Sprachraum den Begriff „Bibeltreue“ für sich. Deutlich wird auch: Evangelikale sind nicht per se Fundamentalisten, obwohl sie grundlegende Gemeinsamkeiten haben. Die Unterschiede zwischen beiden werden uns in den folgenden Kapiteln noch mehrfach beschäftigen.
Gesellschaftliche Umbrüche lösen Krisen aus. Krisen bergen Gefahren, können aber auch zu einem Aufbruch im Glauben führen, wenn es gelingt, die Herausforderungen anzunehmen, die gesellschaftlicher Wandel mit sich bringt. Dazu ist es notwendig, Krisenphänomene zu verstehen.
Die Positionen von Fundamentalismus und progressivem Christentum liegen weit auseinander, aber sie haben etwas Gemeinsames: Beide sind Krisenphänomene.
Der Fundamentalismus ist nach Jörg Lauster ein „Krisenphänomen der Moderne“.24 Um das zu verstehen, muss man wissen, wie tiefgreifend der Umbruch war, als das Mittelalter in die Moderne überging:
Europa befand sich vom 16. Jahrhundert an in praktisch allen Bereichen des Lebens im Umbruch. Die abendländische Kultur hatte sich nach der Reformation aus der Bevormundung der Kirche befreit und war „modern“ geworden. Die Industrialisierung, das Flagschiff der Moderne, brachte Fortschritt, führte aber zu sozialen Problemen in den Städten. Viele Menschen wurden aus ihrem sozialen Zusammenhang gerissen. Wirtschaftskrisen und Kriege führten zur Verelendung der Massen. Gleichzeitig ließen die bahnbrechenden Entdeckungen der Naturwissenschaften Zweifel am christlichen Weltbild aufkommen. In Charles Darwins Theorie der Arten, die ihm am Ende des 19. Jahrhunderts Berühmtheit einbrachte, war Gott verzichtbar. Das Narrativ, dass das Leben sich ohne Gott in Jahrmillionen entwickelte, wurde gesellschaftlich akzeptabel.
Viele wurden durch den plötzlichen Wandel verunsichert. Je mehr wissenschaftliche Fortschritte der moderne Mensch erzielte, desto weniger war er auf die Religion angewiesen, um das Leben zu bewältigen. Der moderne Mensch fühlte sich zunehmend unabhängig von Gott. Es kam zu einem Rückbau des religiösen Weltgebäudes, sodass die Frage aufkam, was man denn noch glauben konnte.25
Der Fundamentalismus reagierte auf diese Entwicklung „durch eine brachiale Setzung von Eindeutigkeit in der Diagnose und in den Therapievorschlägen für die Krise“.26 Die Fundamentalisten diagnostizierten eine böse Welt, für die es keine Aussicht auf Besserung gab. Als Therapie verordneten sie sich die Lektüre der Bibel als unfehlbares Lehrbuch und den Rückzug von weltlichen Angelegenheiten. Die Theorie von der Verbalinspiration, die in dieser Zeit populär war, besagt, dass jedes einzelne Wort der Bibel von Gottes Geist eingegeben ist und die Bibel darum nicht irren kann.
Es war kein Zufall, dass zur gleichen Zeit das Erste Vatikanische Konzil das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstamtes schuf. So unterschiedlich die Vorgänge waren, so sehr verband sie die Auseinandersetzung mit der Moderne. Sowohl Katholiken als auch Fundamentalisten versuchten angesichts der Auflösung christlicher Werte, die Wahrheit ihres Glaubens durch Eindeutigkeit zu sichern. Die katholische Kirche verteidigte durch das Dogma von der Unfehlbarkeit päpstlicher Lehraussagen ihre weltanschaulich bedrohte Autorität. Die Fundamentalisten vergewisserten sich mit der Lehre von der Verbalinspiration ihres Fundaments.27 Beide Vorgänge boten Sicherheit. Wenn der Papst nicht irren kann, ist der katholische Glaube ein verlässlicher Hort in unsicheren Zeiten. Wenn jedes einzelne Wort der Bibel vom Geist gewirkt ist, ist die Bibel kein menschliches, sondern ein göttliches Buch. Es ist ohne jeglichen Irrtum und so ein sicheres Fundament für den Glauben.
Die Krise der Moderne hilft uns, die Krisen zu verstehen, die nun durch die Postmoderne ausgelöst werden. So wie der Fundamentalismus ein Krisenphänomen der Moderne war, ist das progressive Christentum ein Krisenphänomen der Postmoderne. Auch hier muss man den Bogen weit spannen, um zu verstehen, was vor sich geht:
Bis zur Reformation lasen die Menschen die Bibel mit Vertrauen. Man war überzeugt: Die fünf Bücher Mose stammten von Mose, die Evangelien geben verlässlich Auskunft über Jesus. Die moderne Vernunft, die von der Aufklärung befeuert wurde, erschütterte dieses Vertrauen. Der wissenschaftliche Fortschritt förderte zur selben Zeit das Zutrauen in die menschliche Vernunft und Machbarkeit. Die Verhältnisse im Universum des menschlichen Denkens verschoben sich merklich. Je größer der Mensch wurde, desto kleiner erschien Gott.
Doch dann wurde auch die Vernunft selbst erschüttert. Je mehr man wusste, desto stärker trat ins Bewusstsein, was man noch nicht wusste und wir möglicherweise nie wissen können. Die Vernunft beantwortete viele Fragen, aber die letzten Fragen blieben unbeantwortet.
Im Grunde genommen ist die Postmoderne die Identitätskrise der modernen Weltanschauung. Denn: Wenn wir nichts sicher wissen können und nicht in der Lage sind, eine bessere Welt zu schaffen, ist alles relativ. In der Postmoderne ist von Gott über die News in den Medien bis zum eigenen Geschlecht alles relativ. Wissen wir überhaupt etwas, das felsenfest ist? Ist unser Erkennen nur eine phantomartige Wahrnehmung von etwas Unfassbarem? Leben wir mit bloßen Wahrnehmungen, die völlig unsicher sind? In der Postmoderne tendiert man dazu, auf Fragen wie diese mit „Ja“ zu antworten. Das stürzt den christlichen Glauben, der unter diesen Denkvoraussetzungen nicht wahr sein kann, in eine Krise. Aus postmoderner Sicht gilt:
Religion ist ein hilfloser und vormoderner Versuch, die Wahrheit zu fassen. Sie ist wie ein zappeliger Fisch, der uns entgleitet. Jeglicher Wahrheitsanspruch muss in eine Krise geraten, weil es absolute Wahrheit nicht geben kann.
Der Fundamentalismus kennt diese Krise nicht. Er hält der modernen Vernunft und dem postmodernen Relativismus den wuchtigen Gedanken der Offenbarung entgegen: Gott hat sich in der Geschichte Israels und in Jesus offenbart. Die biblischen Schriften bezeugen dieses Geschehen glaubhaft. Wir wissen durch die Bibel, was Gottes Wille ist und was Wahrheit ist. Dieses Fundament des Glaubens ist nicht hinterfragbar und bietet Sicherheit. In dieser Hinsicht stehen Fundamentalisten und Evangelikale Seite an Seite.
Fundamentalisten zeigen sich resistent gegen den Zeitgeist. Sie lassen sich nicht einreden, alles sei relativ, und müssen ihre Meinung nicht ständig der Gesellschaft anpassen. Meine fundamentalistischen Freunde beeindrucken mich durch ihren standhaften Glauben. Sie erinnern mich daran, dass der Heilige Geist selten mit dem Zeitgeist übereinstimmt. Fundamentalisten fordern uns heraus zu überdenken, ob unsere Art zu glauben nicht eine Anbiederung an den Zeitgeist ist. Sie sind unbequem und können stur sein, aber sie durchschauen die Flüchtigkeit von populären Meinungen besser als andere. Es wäre eine verpasste Chance, ihre Argumente als rückständig zur Seite zu schieben. Auf der Suche nach der Wahrheit des Evangeliums bieten sie über Generationen erprobte Glaubensbestände an. An ihnen muss sich messen, was das Prädikat „christlich“ verdient.
Bevor wir im nächsten Kapitel zu Themen gelangen, die gegenwärtig zur Diskussion stehen, lohnt es sich, einen Überblick über die religiöse Landschaft zu gewinnen.
Der Blick auf die Karte gleicht eher wandernden Dünen als klar abgrenzbaren Gebieten. Identitäten befinden sich im Wandel und Begriffe ändern sich. Es gibt „die“ Fundamentalisten nicht, so wie es „die“ Progressiven und „die“ Evangelikalen nicht gibt. Die Positionen zwischen den Standpunkten sind fließend. Zudem würde sich kaum ein Christ „Fundamentalist“ nennen. Es gibt zwar Christen mit einer fundamentalistischen Gesinnung, die Zuordnung „fundamentalistisch“ existiert jedoch fast nur als Fremdbezeichnung. Auch den Begriff „postevangelikal“ mögen viele nicht, obwohl sie Kritik an ihrer evangelikalen Heimat üben oder sie hinter sich lassen.
Trotzdem lohnt es sich, Unterscheidungen vorzunehmen. Ich stelle im Folgenden progressives und konservatives Christentum einander gegenüber. Worin der grundlegende Unterschied besteht, wird am Weltbezug deutlich: Vertreter eines progressiven Christentums sind grundsätzlich der Welt zugewandt. Sie sind bemüht, Glaubensinhalte neu zu bedenken, um sie mit der gesellschaftlichen Realität in Einklang zu bringen. Vertreter eines konservativen Christentums sind eher weltabgewandt. Sie bemühen sich, den Glauben angesichts unguter gesellschaftlicher Entwicklungen zu bewahren. Der Weltbezug als Referenz ist sinnvoll, weil die Haltung zur postmodernen Kultur die Frage ist, welche die Evangelikalen in den nächsten Jahren stark beschäftigen wird.
Die religiöse Landschaft
Progressives Christentum der Welt zugewandt
Konservatives Christentum eher der Welt abgewandt
Liberaler Flügel
Postevangelikaler Flügel
Evangelikaler Flügel
Fundamentalistischer Flügel
Dekonstruktion des Glaubens
Neukonstruktion des Glaubens
Bewahrung des Glaubens
Verteidigung des Glaubens
Heiliger Geist wirkt im Zeitgeist
Umarmen des Zeitgeistes
Halbdistanz zum Zeitgeist
Resistent gegen den Zeitgeist
Das progressive Christentum teilt sich in einen liberalen und einen postevangelikalen Flügel auf:
Der liberale Flügel speist sich aus dem liberalen Christentum, das auf das 19. Jahrhundert zurückgeht. Damals wurden erstmals an der kirchlichen Basis traditionelle Glaubensinhalte grundlegend hinterfragt. Beispielsweise hatten evangelische Pfarrer Mühe, im Gottesdienst das Apostolische Glaubensbekenntnis zu beten, und fragten sich, ob es nicht auch ohne geht. Dieses Hinterfragen wird im progressiven Christentum zur gezielten Dekonstruktion. Liberale Formen des Glaubens haben die Tendenz, im Zeitgeist den Heiligen Geist am Werk zu sehen. Das führt dazu, dass Liberale der Säkularisierung positiv gegenüberstehen. Sie sehen in ihr die Möglichkeit, individuelle Freiheiten zu fördern und eine tolerante Gesellschaft auf den Weg zu bringen.
Der postevangelikale Flügel arbeitet sich an den klassischen Inhalten evangelikalen Glaubens ab. Während Liberale die traditionelle Art zu glauben bekämpfen, kämpfen Postevangelikale mit eigenen Zweifeln. Zwar wird auch hier dekonstruiert, aber nicht um das religiöse Weltgebäude niederzureißen, sondern um den Glauben neu zu konstruieren. Hier spricht man vom „Postevangelikalismus“, weil seine Vertreter einen Glauben konstruieren, der sich am Evangelikalismus orientiert, aber gewisse Standpunkte hinter sich lässt. „Post“ bedeutet wörtlich „nach“. Es deutet eine Weiterentwicklung des Glaubens an, aber auch eine Entfremdung von evangelikalen Standpunkten. Postevangelikale umarmen den Zeitgeist. Sie stehen ihm nicht völlig unkritisch gegenüber, aber sie sehen in ihm die Möglichkeit, sich von theologischer Enge zu befreien und einen Glauben zu konstruieren, der mit der postmodernen Toleranz kongruent ist.
Das konservative Christentum teilt sich in einen fundamentalistischen und einen evangelikalen Flügel auf:
Der fundamentalistische Flügel ist ein prominenter Fleck auf der rechten Seite der religiösen Landkarte und des politischen Spektrums. Fundamentalisten neigen dazu, ihre Ansichten laut hörbar zu machen. In dieser Hinsicht ähneln sie ihren progressiven Antipoden liberaler Ausrichtung, die fundamentalistische Positionen stark abwerten. Fundamentalisten sind in ethischen, gesellschaftlichen und theologischen Fragen konservativ und tendieren zur Weltverneinung. Sie zeigen sich resistent gegen den Zeitgeist und befinden sich in Daueropposition zur Mehrheitsgesellschaft. Krisen verschaffen ihnen in der Regel Zulauf.
Der evangelikale Flügel teilt viele theologische Positionen mit dem Fundamentalismus, ist aber gesellschaftlich aufgeschlossener. Hier kann man vom „klassischen“ Evangelikalismus oder vom evangelikalen „Mainstream“ sprechen. Evangelikale in der Mitte zwischen Fundamentalismus und progressivem Christentum sind in zwei Welten zu Hause: Theologisch in der Welt der Bibel, gesellschaftlich ist man aufgeschlossen und will den Glauben mit der heutigen Lebenswirklichkeit verbinden. Der klassische Evangelikalismus steht in kritischer Halbdistanz zum Zeitgeist. Man möchte anschlussfähig an die Mehrheitskultur sein, aber nicht um jeden Preis.
Die religiösen Gebiete sind trotzdem nicht eindeutig voneinander zu trennen. Wegen der Fluidität religiöser Orientierungen gibt es fließende Übergänge. Dabei muss stets auch zwischen Theologie und Glaubensformen unterschieden werden. Manche Evangelikale sind in ihrer Theologie konservativ, in den Formen aber ausgesprochen progressiv, etwa wenn es um die Gestaltung des Gottesdienstes oder den Einsatz von Medien geht. Und viele im liberalen Flügel des Christentums bevorzugen konservative Gottesdienstformen mit liturgischen Elementen, sind in ihrer Theologie aber progressiv. Wenn ich von „progressiv“ und „konservativ“ spreche, beziehe ich mich auf die theologische Grundorientierung, nicht auf Glaubensformen.
Dann gibt es Christen aus Landeskirchen und Freikirchen, die für sich das Label „missional“ bevorzugen.28 Viele von ihnen stehen in der Mitte zwischen evangelikal und postevangelikal. Im Weltbezug stehen sie dem postevangelikalen Mindset nahe, in Bezug auf das Schriftverständnis sind sie klassisch evangelikal. Sie sind ein Beispiel dafür, dass neue religiöse Identitäten entstehen, die sich nur schwer bestimmten Gebieten zuordnen lassen. Ich werde im Schlusskapitel auf den missionalen Ansatz zurückkommen, weil er die Möglichkeit bietet, Polarisierungen zu überwinden.
Die Polarisierung der religiösen Landschaft ist das Symptom einer Krise. Sie trifft konservative Formen des Glaubens besonders hart. Gegenwärtig verlieren evangelikale Kirchen und Gemeinschaften viel Substanz an die Ränder. Das gilt nicht nur für die Bewegung in Europa, sondern unter anderen Vorzeichen auch für Nordamerika. Die gegenwärtig profilierteste Kritik am Evangelikalismus bietet David Gushee in seinem Buch „After Evangelicalism“. Gushee gehört zu den renommiertesten evangelikalen Ethikern der Vereinigten Staaten. Unterdessen hat er sich der Bewegung stark entfremdet. Seit 2017 bezieht er das Label „postevangelikal“ auf sich.29
Wenn man davon ausgeht, dass amerikanische Entwicklungen sich mit bis zu zwei Jahrzehnten Verzögerung bei uns niederschlagen, müssen uns die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten interessieren.
David Brooks, langjähriger Kolumnist der New York Times, hat sich in einem Artikel mit dem Zustand der Evangelikalen nach der Präsidentschaft von Donald Trump befasst. Bei seinen Recherchen stieß er auf eine Bewegung, die zerrissener ist denn je.30 Brooks identifizierte „Three Big Issues“, welche die Einheit der Evangelikalen in der Ära Trump zerrütteten: die Begeisterung der weißen Evangelikalen für Trumps Politik, Sexskandale von Leitern evangelikaler Kirchen und Organisationen sowie die Rassenfrage nach der Tötung von George Floyd.
Brooks sammelte Daten und Stimmen, die das Bild einer Bewegung in der Krise vermitteln. Viele der Befragten gaben an, langjährige Freundschaften seien wegen einem der „Big Issues“ zerbrochen. Ein besonderes Problem und eine amerikanische Besonderheit stellt das Verhältnis der Evangelikalen zur politischen Macht dar. Die Nähe vieler Evangelikaler zur Macht stößt viele ebenso ab wie der Machtmissbrauch von Leitern evangelikaler Organisationen, sodass sie den Bezug zur Bewegung und in manchen Fällen auch zum Glauben verlieren. Die nackten Zahlen bestätigen den Eindruck einer Krise. In etwas mehr als einem Jahrzehnt fiel in den Vereinigten Staaten der Anteil der weißen Evangelikalen an der Gesamtbevölkerung um fast zehn Prozent. Vor allem die jüngere Generation distanziert sich vom evangelikalen Mainstream.
Obwohl Amerika und Europa sich nur bedingt vergleichen lassen, betreffen die Entwicklungen in den Staaten auch uns. Durch die massive Unterstützung für Trumps Politik ist für viele Beobachter in den Vereinigten Staaten und Europa der Ruf des weltweiten Evangelikalismus nachhaltig beschädigt. Auch in Europa haben evangelikale Kirchen während der Coronakrise Mitglieder verloren. Auch bei uns sind Evangelikale anfällig für Verschwörungstheorien, wenn auch in geringerem Maß als in den Staaten. Auch bei uns hat die jüngere Generation Mühe, sich mit dem Label „evangelikal“ zu identifizieren.
Der größte Unterschied besteht in Sachen Politisierung und Säkularisierung. Während das Christentum in den Staaten hauptsächlich an der Rassenfrage und an politischer Polarisierung leidet, ist in Europa der Säkularisierungsdruck besonders groß. Insgesamt zeigt sich das Bild einer Bewegung im Umbruch, die viel von ihrer einstigen Geschlossenheit verloren hat. Obwohl es „die“ Evangelikalen nie gegeben hat, stellt sich die Frage, für was das Attribut „evangelikal“ in Zukunft noch steht. Können die Evangelikalen zu alter Stärke zurückfinden oder wird die Polarisierung voranschreiten und die Bewegung aufreiben?